»EINE ROSE ALLEIN IST EIN KLEINES WUNDER, DAS UNS ZUGERAUNT WIRD.«
Magazine LIRE
Rose hat mit ihren vierzig Jahren das Gefühl, noch gar nicht richtig gelebt zu haben. Als Botanikerin kennt sie Blumen, aber sie betrachtet sie nicht; nichts kann sie berühren. Dann reißt ein unerwarteter Anruf sie aus ihrem Alltag: Sie soll für die Testamentseröffnung ihres Vaters nach Kyoto fliegen. Als sie widerwillig zustimmt, ahnt sie nicht, wie sehr das fremde Land mit seinen Tempeln und Zen-Gärten sie aufwühlen wird. Auf der Reise begegnet sie Paul, dem Vertrauten ihres Vaters, dessen Hingabe sie neuen Mut schöpfen lässt. Kann sie sich an seiner Seite auf die Schönheit des Lebens einlassen?
»Ein Roman, wie es ihn nur selten gibt: schön, zart, intelligent.« Le Figaro Littéraire
»Eine leuchtende Meditation über Trauer.« Booklist
Roman
Aus dem Französischen
von
Norma Cassau
Ullstein
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www.ullstein.de
Das französische Original erschien 2020
unter dem Titel Une Rose seule
bei Actes Sud.
List ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH
© Actes Sud, 2020
© der deutschsprachigen Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Sabine Kwauka
Titelabbildung: © shuttertock / paseven (Kranich/Sonne)
Autorinnenfoto: © Boyan Topaloff
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ISBN: 978-3-8437-2726-6
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für Chevalier, immer
für meine Toten
auf dem dach der hölle
Man erzählt, dass im alten China, in der Dynastie der Nördlichen Song, ein Prinz jedes Jahr ein Feld mit tausend Pfingstrosen anlegen ließ, deren Blüten an der Schwelle zum Sommer in der Brise wogten. Sechs Tage lang saß er auf dem Boden des Holzpavillons, von wo er sonst gerne den Mond bewunderte, trank von Zeit zu Zeit eine Tasse milden Tee und betrachtete die Blumen, die ihm wie Töchter waren. Im Morgengrauen und in der Abenddämmerung schritt er das Feld ab.
Am siebten Tage ordnete er das Massaker an.
Die Diener legten die ermordeten Schönen nieder, den Stängel gebrochen, den Kopf gen Osten, bis auf dem Feld nur eine einzige Blume übrig blieb, die ihre Blütenblätter dem ersten Monsunregen darbot. In den folgenden fünf Tagen verharrte der Prinz in seinem Pavillon und trank dunklen Wein. Sein ganzes Leben steckte in diesem zwölfmal wiederkehrenden Lauf der Sonne; das ganze Jahr dachte er nur an diese Zeit. War sie vorüber, sehnte er sich nach dem Tod. Aber die Stunden, die er der Wahl der Auserkorenen widmete, und die Freude, die er von ihrem wortlosen Beisammensein empfing, enthielten so viele Leben in einem einzigen, dass er in den Monaten der Trauer kein Opfer sah.
Was er beim Anblick der Überlebenden empfand? Traurigkeit, die wie ein funkelnder Edelstein war und von so reinem, so intensivem Glück durchwirkt, dass sein Herz zu flattern begann.
Als Rose erwachte und um sich sah, ohne zu verstehen, wo sie sich befand, fiel ihr Blick auf eine rote Pfingstrose mit runzeligen Blütenblättern. In ihr regte sich etwas, das sich nach Sehnsucht oder vergangenem Glück anfühlte. Für gewöhnlich zielen solche inneren Regungen aufs Herz, bevor sie wie ein Traum zusammenfallen, manchmal aber verhilft die erneuerte Zeit dem Geist zu frischer Klarheit. Das war es, was Rose an diesem Morgen in Anbetracht der Pfingstrose verspürte, die aus einer erlesenen Vase heraus ihre goldfarbenen Staubblätter darbot. Einen Augenblick war ihr, als könnte sie endlos in diesem kahlen Zimmer bleiben, dabei diese Blume anschauen, sich lebendig fühlen wie nie. Sie betrachtete die Tatamis, die Papierwände, das sonnenbeschienene Geäst vor dem geöffneten Fenster, die knittrige Pfingstrose; endlich betrachtete sie sich selbst, wie eine Unbekannte, der sie am Vorabend begegnet war.
Stück für Stück kehrte die Erinnerung an den Abend zurück – der Flughafen, die lange nächtliche Fahrt, die Ankunft, der von Laternen erhellte Garten, die auf der Veranda kniende Frau im Kimono. Links der Schiebetür, durch die sie eingetreten war, rieselten von den Zweigen einer immergrünen Magnolie, die aus einer dunkelbauchigen Vase emporwuchsen, Lichtschauer. Man hätte meinen können, es regnete glitzerndes Wasser auf die Blumen, die Schatten auf den Wänden funkelten, ringsumher war eine seltsame, flirrende Dunkelheit. Rose hatte darin raue Mauern ausgemacht, Steinplatten, die den Weg zur Veranda ebneten, unsichtbare Geister; das Halbdunkel war belebt und von Seufzern durchdrungen.
Die Japanerin hatte sie zu ihrem Zimmer geführt. Im angrenzenden Raum stieg Wasserdampf aus einem großen Becken aus glattem Holz. Rose hatte sich ins heiße Wasser gleiten lassen, bezaubert von der Sparsamkeit dieser feuchten und stillen Krypta, dem Holzdekor, den klaren Linien. Als sie aus dem Bad gestiegen war, hatte sie einen Kimono aus leichter Baumwolle angelegt, als würde sie ein Heiligtum betreten. So hatte sie sich auch zwischen die Laken gelegt mit einem unerklärlichen Gefühl der Hingabe. Im nächsten Moment war es verflogen.
Jemand klopfte zurückhaltend, und die Tür glitt säuselnd auf. Die Frau vom Vorabend kam und stellte mit kleinen präzisen Schritten ein Tablett vor dem Fenster ab. Sie sagte ein paar Worte, zog sich in sanften Gleitbewegungen zurück, kniete sich hin, verbeugte sich, schloss die Tür. In dem Moment, als sie verschwand, sah Rose ihre gesenkten Lider zucken und war beeindruckt von der Schönheit ihres braunen Kimonos, der mit einem von rosafarbenen Pfingstrosen bestickten Obi gegürtet war. Der Nachhall ihrer kristallklaren, zum Satzende hin gebrochenen Stimme tönte im Raum wie ein Gong.
Rose sah sich die unbekannten Speisen genauer an, die Teekanne und die Schale Reis; mit jeder ihrer Bewegungen hatte sie das Gefühl, etwas zu entweihen. Durch den schlichten Rahmen eines Schiebefensters mit papierunterlegtem Glas schaute sie auf die ziselierten, zitternden Blätter eines Ahorns und, jenseits davon, auf ein größeres Panorama: einen Fluss mit wild bewachsenen Ufern, Kieswege auf beiden Seiten des Steinbetts, dazwischen weitere Ahorne und Kirschbäume. Zwischen den trägen Wassern stand inmitten einer Furt ein Graureiher. Oberhalb dieser Kulisse zogen Schönwetterwolken. Wo bin ich?, fragte sie sich, und obwohl sie wusste, dass die Stadt Kyōto war, entglitt ihr die Antwort wie ein Schatten.
Es klopfte erneut. »Ja?«, antwortete sie, und die Tür öffnete sich. Da war wieder der Pfingstrosengürtel; dieses Mal fragte die kniende Frau: »Rose san get ready?«, und zeigte auf die Badezimmertür. Rose nickte. Was mache ich hier bloß?, dachte sie, und obwohl sie wusste, dass sie gekommen war, um das Testament ihres Vaters zu hören, entglitt ihr die Antwort abermals.
In der weitläufigen leeren Badezimmerkapelle trocknete an der Luft, wie ein frisches Gemälde, neben dem Spiegel eine weiße Pfingstrose mit flüchtig in karminrote Tinte getunkten Blütenblättern. Das Morgenlicht, das sich durch eine mit Bambus verstrebte Luke ergoss, warf Glühwürmchen an die Wände, und einen Augenblick, vom Funkeln geflutet wie von einem Kirchenfenster, glaubte sie sich in einer Kathedrale. Sie kleidete sich an, ging auf den Flur, dann nach rechts, kehrte vor einer geschlossenen Tür um, folgte den Windungen der Dielen und Papierwände. Nach einer Biegung wich das Papier dunklem Holz, von dem sich Schiebetüren abhoben, und nach einer weiteren Biegung kam sie in einen großen Raum, in dessen Mitte ein Ahorn lebte. Seine Wurzeln wuchsen in samtige Moosfalten hinein, ein Farn neben einer steinernen Laterne schmiegte sich an seinen Stamm, rings um den Baum verlief eine Glasfront, die zum Himmel offen war.
Rose nahm die zerteilte Welt splitterhaft wahr, sie sah den Holzfußboden, die niedrigen Stühle, die Lacktische und rechts, in einer großen Tonvase, ein Arrangement aus Zweigen, gespickt mit unbekannten Blättern, die feenleicht vibrierten. Der Ahorn aber brach den Raum auf, ihre Wahrnehmungen ertranken in dem Riss, und Rose spürte, dass er sie an sich zog, ihren Atem ansaugte, dass er aus ihrem Körper ein Bäumchen mit wisperndem Astwerk machen würde.
Nach einer Weile entzog sie sich dem Bann, ging um den Innengarten herum, dorthin, wo große Fenster den Blick auf den Fluss freigaben, und öffnete einen Flügel, der geräuschlos über die Holzschienen glitt. Entlang der mit Kirschen bewachsenen Ufer liefen morgendliche Jogger, wie das Herzpochen von Raum und Zeit, und Rose wünschte, sich in ihrem Lauf ohne Vergangenheit und Zukunft, ohne Bindungen und Geschichte aufzulösen, wünschte sich, nur noch ein beweglicher Punkt zu sein im Zug der Jahreszeiten und Berge, der die Städte bis zu den Ozeanen durchquerte.
Sie ließ ihren Blick weiter in die Ferne schweifen. Das Haus ihres Vaters lag oberhalb eines Kieswegs, den man zwischen den Zweigen der Bäume erkennen konnte. Am anderen Ufer der gleiche Kiesweg, die gleichen Kirschbäume, die gleichen Ahorne, und, noch weiter weg, den Fluss überragend, eine Straße, andere Häuser – die Stadt. Dann endlich, als Abschluss am Horizont, die sich wellenden Berge.
Sie kehrte zurück zum heiligen Baum. Die Japanerin erwartete sie.
»My name Sayoko«, sagte sie.
Rose nickte.
»Rose san go for a stroll?«, fragte Sayoko. Dann, mit einem ungewöhnlichen Akzent:
»Promenade?«
Da waren sie wieder, die gebrochen nachhallenden Satzenden, die perlmutternen Augenlider. Rose zögerte.
»The driver outside«, sagte Sayoko. »Wait for you.«
»Oh«, sagte Rose, »all right.«
Sie fühlte sich gedrängt, und der Baum hinter Sayoko rief sie wieder zu sich, seltsam und lockend.
»I forgot something«, sagte sie und lief hinaus.
Im Badezimmer stand sie der weißen Pfingstrose gegenüber, ihren blutrot lackierten Blütenblättern, ihrer Schneeblütenkrone.
»Hyoten«, murmelte sie. Sie verweilte einen Moment, dann nahm sie ihren Leinenhut, verließ die Kapelle der Stille und des Wassers und ging zum Hauseingang. Im Tageslicht tänzelten die Magnolien wie Schmetterlinge – wie machen sie das?, fragte sie sich gereizt.
Als sie vor das Haus trat, verbeugte sich ihr Fahrer vom Vorabend, im schwarzen Anzug und mit weißer Mütze. Ehrerbietig hielt er ihr die Tür auf und schloss sie sanft hinter ihr. Im Rückspiegel betrachtete sie seine mandelförmigen Augen, die schmale Striche aus schwarzer Tinte waren und blinzelten, ohne die Iris zu entblößen. Etwas gefiel ihr an diesem tiefgründigen Blick. Bald lief ein Lächeln über sein ansonsten undurchdringliches Gesicht, und er strahlte sie jungenhaft an.
Sie überquerten eine Brücke und fuhren jetzt am anderen Ufer in Richtung Berge. In einem Wirrwarr aus Beton, Elektrokabeln und Leuchtreklamen entdeckte sie die Stadt; hier und dort erhoben sich aus dieser Flut von Hässlichkeit die Umrisse eines Tempels. Die Berge rückten näher, die Gegend wurde vornehmer, und schließlich erreichten sie einen Kanal, der von Kirschbäumen gesäumt war. Sie ließen das Auto unterhalb einer Straße stehen, an der sich Buden aneinanderreihten und Touristen flanierten. Am Ende des Anstiegs gingen sie durch ein hölzernes Portal – »Silver Pavilion«, sagte der Fahrer. Sie war beeindruckt von seiner sich verflüchtigenden Anwesenheit, als entfernte er sich von sich selbst und hin zu ihr, um nur für sie da zu sein. Sie lächelte ihm zu, er machte ein kleines Zeichen mit dem Kopf.
Es war eine alte Welt aus Holzgebäuden und Dächern mit grauen Schindeln. Vorneweg standen fremdartige große Kiefern in Moosbeeten; Steinwege wanden sich zwischen Streifen von grauem Kies; mit der Harke hatte man parallele Linien hineingezeichnet und einige Azaleen dazwischengesetzt. Sie schritten durch die Tür, die zu den Hauptgärten führte. Rechts, am Ufer eines Teichs, erhob sich der alte Pavillon mit seinen geschwungenen Dächern, und Rose hatte den merkwürdigen Eindruck, als atmete er, als hätte sich organisches Leben in diese alterslosen Gemäuer und Gänge zurückgezogen, in die Öffnungen aus weißem Papier, die längliche milchige Spiegelungen aufs Wasser warfen. Gegenüber ragte ein großer Kieshügel mit abgeflachter Spitze auf, links lag eine weitläufige Fläche aus dem gleichen Kies, von parallelen Furchen durchzogen und am Rand wellenförmig zum Ufer hin auslaufend. Betrachtete man das Gesamtbild, fiel der Blick zuerst auf den Steinsee, dann auf die Nachbildung eines Berges mit flacher Spitze, auf den Pavillon mit den geflügelten Dächern; etwas weiter sah man Teiche mit quecksilbrigem Wasser, Kiefern, die so beschnitten waren, dass sie wirkten wie sich aufschwingende Vögel, dann wieder einige Azaleen; überall an den Ufern, umgeben von flachem und leuchtendem Moos, ruhten jahrhundertealte Steine. Schließlich führten die Gärten zu einem Aussichtspunkt, an dem sich die Besuchermenge staute. Zwischen den anderen Menschen und Rose schichteten sich die Blattlawinen der am Hang angelegten Ahornbäume auf.
Sie fühlte sich benommen von der Schönheit, dem Stein und dem Holz; es lähmte sie, war ihr zu viel. Ich kann das nicht noch einmal durchleben, sagte sie sich mit einer Mischung aus Erschöpfung und Entsetzen. Aber gleich darauf: Hier ist etwas. Ihr Herz schlug schneller, suchend sah sie sich nach einer Sitzgelegenheit um. Es war wie im Land ihrer Kindheit. Sie lehnte sich an die Holzveranda des Pavillons; ihr Blick blieb an einer Azalee hängen; das Entsetzen und die Freude, die die zartlila Blütenblätter ihr einflößten, vermischten sich zu einem neuen Gefühl, und ihr war, als befände sie sich im Herzen einer heiligen Stätte aus reinem eiskaltem Wasser.
Sie folgten dem Besucherpfad, hielten kurz auf der kleinen Holzbrücke an, die das graue Wasser überspannte und zu den Ahornbäumen und höher in die Gartenanlage führte. Rings um die Teiche wuchsen andere große, sonderbare Kiefern. Rose schaute nach oben, der verästelte Blitz der Nadelzweige am Himmel traf sie; dieses vegetabile Leuchten, in dem die Kraft der Erde lag, floss aus den dunklen Stämmen her; sie fühlte sich mitgerissen von dem Strom, der sich zwischen Wolken und Moos entlud.
Der Fahrer schritt ruhig voraus, drehte sich hin und wieder um, wartete geduldig auf sie, ging wieder los, wenn sie ihm ein Zeichen gab. Seine friedliche Ausstrahlung gab Rose Sicherheit, gab der Welt ein Körnchen von der Wirklichkeit zurück, die der Garten so kraftvoll in den Bäumen auflöste. Der inzwischen von großem grünem Bambus gesäumte Weg führte zu einer Steintreppe; am Rand hätte sie das samtige Moos, in dem die Ahorne wurzelten, mit den Fingern berühren können. Stufe um Stufe ordneten sich die Äste neu zu einem perfekten Tableau. Dieser Anblick ergriff sie und verwirrte sie zugleich – wobei sich diese Verwirrung, wie sie sich erstaunt eingestand, gut anfühlte. Endlich kamen sie zu dem kleinen Aussichtspunkt. Unterhalb waren der Pavillon, die Holzgebäude, die Dächer mit den grauen Schindeln, die Kiesskulpturen; jenseits davon Kyōto und jenseits davon weitere Berge. »We are East«, sagte der Fahrer und zeigte zum Horizont: »West mountains.«
Sie lotete die Stadt aus. Alles in ihr hing mit der Anwesenheit der Berge zusammen, die sie im Osten, Norden und Westen rechtwinklig umschlossen. In Wirklichkeit waren es große Hügel, deren Relief dem Betrachter den Eindruck von Höhe vermittelte. Grün und blau ergossen sich im Morgenlicht ihre baumbestandenen Ausläufer zur Stadt hin. Die Stadt ihr gegenüber schien, abgesehen von einer kleinen grünen Anhöhe, hässlich und zubetoniert. Roses Blick schwenkte zurück zu den Gärten, deren Präzisionnach etwas.
Rose wandte sich ihr zu, sah ihr faltendurchzogenes Gesicht, das graue Haar, das schön gearbeitete Jackett.
»Wundervoll, nicht wahr?«
»Das ist das Ergebnis von jahrhundertelanger Hingabe und Entsagung.«
»So viel Leid für einen einzigen Garten«, sagte sie beiläufig, doch währenddessen sah sie Rose durchdringend an.
Wieder lachte sie, strich nachlässig über das Geländer.
Sie wollte von dem eisigen Wasser erzählen, zögerte, ließ es bleiben.
»Ist das Ihr erster Aufenthalt in Kyōto?«
»Japan ist ein Land, in dem viel gelitten wird, aber man schenkt dem keine Beachtung«, sagte die Engländerin. »Als Belohnung für den Gleichmut gegenüber dem Unglück erhält man diese Gärten, in denen die Götter ihren Tee trinken.«
»Meinen Sie nicht?«, fragte die Engländerin.
Die Engländerin wandte sich ab, vertiefte sich in die Betrachtung des Pavillons.
Rose drehte sich zum Fahrer um. Er sah der Engländerin, deren Gestalt unter den Ästen der Ahorne verschwand, mit einer Mischung aus Feindseligkeit und Furcht nach. Rose machte sich auf den Weg zurück nach unten. Als sie eben den Fuß auf die letzte Stufe der schwarzen Steintreppe setzte, die zum Teich vor dem Pavillon führte, blieb sie stehen, plötzlich ergriffen von dem Gedanken, dass niemand irgendwo auf sie wartete. Sie war gekommen, um der Testamentseröffnung eines Vaters beizuwohnen, den sie nicht gekannt hatte; ihr ganzes Leben bestand aus diesem Reigen von Phantomen, die ihre Schritte bestimmten und ihr nichts dafür gaben; immer ging sie nur Leere und Eiswasser entgegen. Sie erinnerte sich an einen Nachmittag im Garten ihrer Großmutter, an das Weiß des Flieders, an die kleinen zarten Blümchen am Rand des Grundstücks. Die Worte der Engländerin kamen ihr wieder in den Sinn und mit ihnen ein Gefühl von Auflehnung.