Ethik des Lebens
Grundlagen und
neue Herausforderungen
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013
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Umschlaggestaltung: Verlag Herder
ISBN (E-Book) 978-3-451-80064-1
ISBN (Buch) 978-3-451-30758-4
Inhalt
Vorwort
Einführung: Was ist Leben?
I. Blick von unten: Die biologische Standarddefinition
II. Die Entstehung des Lebens
III. Wechsel der Wahrnehmungsperspektive
1. Der lebendige Körper als funktionale Ganzheit
2. Das Wechselverhältnis zwischen Teil und Ganzem
3. Leben als Ausdruck einer Innenwelt
4. Leben als Manifestation von Freiheit
5. Leben als Begegnung
6. Leben als Sterbenmüssen
Erster Teil
Grundlagen der Lebensethik
1. Kapitel
Theologische Lebensethik und säkulare Bioethik
I. Phasen und Schwerpunkte der Bioethik
II. Verdeckte philosophische Vorentscheidungen
1. Das ethische Begründungsmodell
2. Das ethische Prinzip: keine Gewalt gegen Unschuldige
3. Das ethische Auswahlkriterium: Personsein und Menschsein
III. Wie soll sich eine christliche Lebensethik zur säkularen Bioethik verhalten?
2. Kapitel
Grundlagen der Lebensethik aus philosophischer Sicht
I. Der Streit um die Teleologie
1. Wirkursachen und Zweckursachen
2. Die Ausweitung des teleologischen Denkens in der stoisch-christlichen Tradition
3. Die Zurückdrängung des teleologischen Denkens durch diemoderne Naturwissenschaft
4. Philosophische Verabschiedung oder Erneuerung des teleologischen Denkens?
II. Physiozentrisches, biozentrisches oder anthropozentrisches Lebensmodell?
1. Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben
1.1 Darstellung
1.2 Würdigung und Kritik
1.3 Exkurs: Die »Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben« in Schweitzers Nachlasswerk
a. Die gesuchte Einheit von Religion, Naturphilosophie und Ethik
b. Die Absicht der Natur: die geistig-kulturelle Höherentwicklung der Menschheit
c. Vom naturhaften Willen zum Leben zur geistigen Bejahung allen Seins
d. Die innere Entwicklungslogik des moralischen Bewusstseins
e. Die Einheit von Mystik und Ethik
f. Das Scheitern einer Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben
2. Der Gleichheitsgrundsatz und die Rechtsgemeinschaft der Natur
2.1 Darstellung
a. Das naturphilosophische Argument: die Gemeinschaft aller Seienden
b. Das moralphilosophische Argument: die Vollendung des ethischen Universalismus
2.2 Würdigung und Kritik
3. Die Personwürde des Menschen und der Eigenwert des außermenschlichen Lebens
4. Die Überwindung einer falschen Alternative
4.1 Weltbild und Interpretament
4.2 Ist die Anthropozentrik mit der Evolutionslehre vereinbar?
4.3 Die Aktualität der Naturphilosophie Schellings
III. Die naturalen Voraussetzungen des Menschseins
1. Identität der Person und Kontinuität des Leibes
2. Selbsterfahrung und Leiblichkeit
3. Intersubjektivität und Leiblichkeit
4. Lob des Speziesismus
IV. Das Verhältnis von Person und Natur
3. Kapitel
Grundlagen der Lebensethik aus theologischer Sicht
I. Die falsche Alternative: Schöpfung oder Geschichte?
II. Der Begriff des Lebens im Alten Testament
1. Das Bekenntnis zu Jahwe als dem lebendigen Gott
2. Der lebendige Mensch: relationales Sein
3. Der lebendige Mensch: verantwortliches Sein
4. Der lebendige Mensch: personales Sein
5. Der lebendige Mensch: ganzheitliches Sein
5.1 Der verlangende Mensch
5.2 Der bevollmächtigte Mensch
5.3 Der vergängliche Mensch
III. Der Begriff des Lebens im Neuen Testament
1. Die Einmaligkeit des gegenwärtigen Lebens
2. Die Endgültigkeit des ewigen Lebens
IV. Die biblischen Grundlagen des Tötungsverbotes
1. Die Eingrenzung des Tötungsverbotes
2. Die Ausweitung des Lebensschutzes
3. Von der negativen Schranke zum positiven Gebot
V. Das Bild Gottes im Menschen
1. Gottebenbildlichkeit und Personsein
2. Notwendige Unterscheidungen
2.1 Person und Persönlichkeit
2.2 Person und Individuum
2.3 Person und Subjektivität
3. Ökumenische Differenz im Personverständnis?
3.1 Außenbeziehung und Selbstsein der Person
3.2 Abhängigkeit und Eigenständigkeit des Geschöpfs
3.3 Komplementäre Denkformen
4. Konsequenzen für die Ethik
4.1 Die unverlierbare Würde aller Menschen
4.2 Die unverlierbare Würde jedes einzelnen Menschen
VI. Die Welt als Gottes Gleichnis
1. Die Welt als Darstellung Gottes: das antik-mittelalterliche Modell
2. Die Welt als Darstellung Gottes: das frühneuzeitliche Modell
3. Die Welt als Darstellung Gottes: das gegenwärtige Modell
4. Konsequenzen für die Ethik
4. Kapitel
Ethische Prinzipien der Lebensethik
I. Die Garantie der Menschenwürde
1. Die geschichtliche Herkunft der Menschenwürde-Vorstellung
2. Die sachliche Begründung der Menschenwürde-Vorstellung
3. Der normative Gehalt der Menschenwürde-Vorstellung
4. Zur neueren juristischen und biopolitischen Diskussion um die Menschenwürde
5. Beruht die Menschenwürde auf einer kulturellen Zuschreibung?
II. Die Tragweite des Tötungsverbotes
1. Die Begründung des Tötungsverbotes
1.1 Töten als Verweigerung der dem Anderen geschuldeten Anerkennung
1.2 Töten als Verletzung der Ehre des Schöpfers und als Eingriff in sein Hoheitsrecht
1.3 Töten als Verstoß gegen die Heiligkeit des Lebens
2. Der Umfang des Tötungsverbotes
2.1 Die direkte Tötung des Unschuldigen
2.2 Töten in Notwehr
2.3 Die Todesstrafe
2.4 Töten im Krieg
3. Die gesellschaftliche Friedensfunktion des Tötungsverbotes
4. Töten und Sterbenlassen
4.1 Handlungstheoretische Überlegungen
4.2 Künstliches Ereignis oder natürlicher Tod?
III. Ethische Bewertungsmaßstäbe menschlichen Handelns in biomedizinischen Konfliktfeldern
1. Die Rechtfertigung der Ziele
2. Die Überprüfung der Mittel
3. Die Verantwortung für die Folgen
4. Eine Konfliktregel: Zuerst das Gerechte, dann das Gute
5. Die Relevanz ethischer Urteilskriterien auf dem Feld der Biopolitik
6. Zusammenfassung
Zweiter Teil
Konkrete Problemfelder
5. Kapitel
Die Verantwortung für das eigene Leben: Gesundheit und Krankheit
I. Definitorische Grenzziehungen
1. Der naturwissenschaftliche Krankheitsbegriff
2. Der soziologische Krankheitsbegriff
3. Der anthropologische Krankheitsbegriff
4. Zwischenergebnis
II. Kulturgeschichtliche Skizze zum Verhältnis von Gesundheit und Krankheit
III. Die religiöse Deutung der Krankheit
1. Krankheit und Heilung im Alten Testament
1.1 Die religiöse Isolation des Kranken
1.2 Das Heilungsmonopol Jahwes
1.3 Die Grenze des alttestamentlichen Krankheitsverständnisses
2. Krankheit und Heilung im Neuen Testament
2.1 Die Krankenheilungen Jesu
2.2 Der Glaube der Geheilten
2.3 Die Kritik am Vergeltungsdenken
2.4 Das Mitleiden mit Christus
3. Religiöse Deutungsmuster des Krankseins
6. Kapitel
Ethische Probleme im Zusammenhang mit der Ausweitung diagnostischer Verfahren
I. Diagnostische Erfassung ohne Therapie?
II. Monokausale Erfassung genetischer Risiken?
III. Welche Schlüsse legen erhöhte genetische Krankheitsrisiken nahe?
IV. Mut zur Risikoschwangerschaft oder Fremdbestimmung des ungeborenen Lebens? Das Dilemma der Pränataldiagnostik (PND)
1. Offene und verdeckte Zielsetzungen
2. Die Ausweitung des Einsatzspektrums
3. Das Dilemma der Entscheidungssituation
4. Moralische Bewertung
5. Exkurs: Die Problematik der »Kind-als-Schaden«-Urteile
V. Erweiterung elterlicher Entscheidungsfreiheit? Die ethische Problematik der Präimplantationsdiagnostik (PID)
VI. Individuelles Risiko oder Solidarität der Gesellschaft?
7. Kapitel
Ethische Probleme im Zusammenhang mit der Ausweitung therapeutischer Verfahren
I. Grenzen der Intensivmedizin
1. Das Wohl des Patienten und die Pflicht zur Lebenserhaltung
2. Ordentliche und außerordentliche, verhältnismäßige und unverhältnismäßige Mittel
3. Die Gewährleistung der Voraussetzungen eines personalen Lebensvollzugs
4. Die Problematik der künstlichen Beatmung
5. Die Problematik der künstlichen Ernährung und Hydrierung
5.1 Notwendige Unterscheidungen
5.2 Künstliche Ernährung als Bestandteil der Basispflege?
5.3 Die Notwendigkeit der Einzelfallprüfung
5.4 Die Pflicht zur Nahrungsaufnahme in der moraltheologischen Tradition
5.5 Verwirrung um eine Papstansprache
5.6 Die Bestimmung des Menschen zum geistig-personalen Dasein
II. Kriterien der Organtransplantation
1. Die Problematik der Todesfeststellung (Hirntoddefinition)
1.1 Einwände gegen das Hirntodkriterium
1.2 Subjekt, Definition und Kriterium des Todes
1.3 Der Hirntod als reales Zeichen des Todes
1.4 Der Hirntod als Ende der leib-seelischen Einheit des Menschen
1.5 Der Hirntod als notwendige Bedingung für die Organentnahme
1.6 Die falsche Parallele zwischen der Ausbildung der Gehirnanlage am Anfang und dem Hirntod am Ende des Lebens
2. Die Pietätspflicht gegenüber dem menschlichen Leichnam
3. Die ethische Bewertung der Organspende: Christenpflicht oder echte Freiwilligkeit?
3.1 Die Freiwilligkeit der Gabe und das Angewiesensein des Spenders auf sie
3.2 Die ethische Verpflichtung zu einer wohlerwogenen Entscheidung
3.3 Die Goldene Regel als Entscheidungshilfe
4. Die rechtliche Regelung der Organspende: Zustimmung, Information oder Widerspruch?
4.1 Rechtliche Regelungsmodelle
4.2 Finanzielle Anreize zur Organspende?
III. Chancen und Grenzen der Gentherapie
1. Somatische Gentherapie
2. Keimbahntherapie
8. Kapitel
Ethische Probleme der biomedizinischen Forschung
I. Die Forschung mit adulten oder embryonalen Stammzellen
1. Biologische Aspekte
2. Ethische Analyse
2.1 Ziele und Mittel der Stammzellforschung
2.2 Die Rolle der überzähligen Embryonen
2.3 Die Gewinnung von Stammzellen aus Nabelschnurblut
2.4 Die Logik moralischen Argumentierens
II. Klonen zu Forschungszwecken
1. Biologische Aspekte
2. Ethische Aspekte des reproduktiven Klonens
3. Ethische Aspekte des Forschungsklonens
III. Chimärenbildung und Erzeugung von Mensch-Tier-Hybriden
1. Biologische Aspekte
2. Ethische Analyse
9. Kapitel
Die Verantwortung für das fremde Leben:
Abtreibung und Euthanasie
I. Sprachliche Abgrenzungen
II. Kulturgeschichtliche Skizze
1. Die Entwicklung des Abtreibungsverbotes
1.1 Das altorientalische, jüdische und römische Recht
1.2 Die ablehnende Haltung der frühen Kirche
1.3 Die Gesetzgebung des neuzeitlichen Staates
2. Die Entwicklung des Euthanasiegedankens
2.1 Der gute Tod in der antiken Literatur
2.2 Ärztliche Sterbehilfe in den medizinischen Lehrbüchern der Neuzeit
2.3 Euthanasie zwischen Mitleidsethik und Sozialdarwinismus
III. Die anthropologische Deutung des menschlichen Lebensbeginns
1. Die Erkenntnisse der modernen Humanbiologie
1.1 Die Befruchtung als Beginn der vollen Schutzwürdigkeit des Menschen
1.2 Alternative Anknüpfungspunkte
1.3 Zwei Argumentationsregeln: Unparteilichkeitsstandpunkt und tutioristisches Vorsichtsprinzip
1.4 Überprüfung alternativer Kandidaten für den menschlichen Lebensbeginn
1.5 Die Befruchtung als das willkürärmste Kriterium
2. Die anthropologische Bedeutung der menschlichen Embryonalentwicklung
2.1 Der Aspekt der Identität
2.2 Der Aspekt der Potentialität
2.3 Der Aspekt der Kontinuität
2.4 Diskussion von Einwänden
IV. Die moralische Bewertung von Abtreibung und Euthanasie
1. Die moralische Bewertung der Abtreibung
1.1 Das Lebensrecht des Kindes und das Selbstbestimmungsrecht der Mutter
1.2 Das Lebensrecht des Kindes und die Konfliktsituation der Mutter
1.3 Das Lebensrecht des Kindes und die Verantwortung des Vaters
2. Die moralische Bewertung der Euthanasie
2.1 Fördert die Euthanasie die Freiheit der Sterbenden?
2.2 Ist die Euthanasie die einzige Hilfe?
2.3 Ist die Unterscheidung von Töten und Sterbenlassen moralisch irrelevant?
2.4 Ist die Suizidbeihilfe die bessere Alternative zur Tötung auf Verlangen?
2.5 Sind Dammbruchargumente unbegründet?
V. Die religiöse Einstellung zu Lebensanfang und Lebensende
10. Kapitel
Die menschliche Verantwortung für das tierische Leben
I. Begriffliche Vorklärungen
1. Sind Tiere Personen?
2. Haben Tiere Rechte?
II. Kulturgeschichtliche Skizze
III. Ethische Prinzipien
1. Der doppelte Ausgangspunkt der Tierethik
1.1 Geschichtliche Entwicklungsstationen
1.2 Die moralische Selbstachtung des Menschen
1.3 Die Empfindungsfähigkeit des Tieres
1.4 Der inhärente Eigenwert der Tiere und die Selbstzwecklichkeit des Menschen
2. Praktische Konfliktfelder der Tierethik
2.1 Tierversuche
2.2 Nutztierhaltung
2.3 Artenschutz
IV. Das Mensch-Tier-Verhältnis in biblisch-theologischer Sicht
1. Die Stellung der Tiere im Alten Testament
2. Die Stellung der Tiere im Neuen Testament
Schlussbetrachtung
Christliche Grundhaltungen der Lebensethik
I. Ehrfurcht und Staunen
1. Die Balance von Nähe und Abstand
2. Die Ehrfurcht als Selbstkundgabe des Geschöpfs vor Gott
3. Die Ehrfurcht als Wahrnehmung der Majestät Gottes im anderen Menschen
4. Die Ehrfurcht als Dankbarkeit für den Dienst der Schöpfung
4.1 Der Text des Sonnengesangs
4.2 Der biographische Hintergrund
4.3 Der theologische Hintergrund
II. Mitleid und Fürsorge
1. Mitleid als Solidarität im Leiden
2. Die Umdeutung des Mitleidsmotivs
III. Selbstbegrenzung und Maß
1. Die Erkenntnis unserer Grenzen
2. Die Annahme unserer Grenzen
Personenregister
Sachregister
Auf keinem anderen Gebiet der Wissenschaft, mit Ausnahme der Kernenergie, ist die Ambivalenz der Moderne derzeit so deutlich erkennbar, wie auf dem Feld biomedizinischer Forschung. Sie dient dem Streben nach Autonomie und Emanzipation des Menschen und steht so im Dienst einer aufgeklärten Humanität, die sie durch eine der neuzeitlichen Wissenschaft immanente Tendenz zur Fragmentarisierung, Funktionalisierung und Vergegenständlichung des Menschen zugleich verdeckt. Sie fordert die Freiheit und Würde ein, die sie dem Menschen aufgrund einer tiefsitzenden Skepsis abspricht. Zudem hat die Moderne sich selbst radikalisiert, nicht nur durch die Beschleunigung des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschrittes, sondern ebenso durch den Verlust von Gemeinsamkeiten, die ihr am Anfang und auf dem Höhepunkt der Aufklärung noch als sicheres Fundament gemeinsamer Verständigungsprozesse unter dem Vorzeichen der Vernunft galten. Inzwischen hat sich der weltanschauliche und religiöse Pluralismus, der in der Forderung nach unbedingter Achtung vor jedem Menschen ein letztes Band der Gemeinsamkeit bewahrte, in einen Pluralismus anthropologischer Grundüberzeugungen gewandelt. An die Stelle verbindender Auffassungen über die Fundamente des Menschseins und die im Menschsein als solchem verankerten moralischen Rechte tritt eine bunte Palette von Menschenbildern. Sie reicht von dem Glauben an die Gottebenbildlichkeit und Geschöpflichkeit des Menschen bis zu weltanschaulichen Auffassungen, die in ihm einen Titanen der Macht, einen hedonistischen Glückssucher, einen ruhelosen Selbstdesigner oder auch nur einen determinierten Automaten sehen. Dabei liegen die beiden letztgenannten Sichtweisen, so sehr sie einander zu widersprechen scheinen, oft nahe beieinander.
Der Utilitarismus feiert seinen Wiedereinzug in das Theoriegebäude der Ethik durch die Hintertür: Nachdem er in der politischen Ethik mangels eines überzeugenden Gerechtigkeitskriteriums lange Zeit in Misskredit geraten war, erscheint er vielen auf dem Gebiet der Bioethik angesichts eines unversöhnlichen Pluralismus ethischer Standpunkte als kleinster gemeinsamer Nenner, der Verständigungsprozesse und Mehrheitsentscheidungen ermöglicht. Die Achtung vor der unantastbaren Würde jedes Menschen und seiner unveräußerlichen moralischen Rechte schnurrt zur Respektierung von Interessen zusammen. Zugleich nimmt der Autonomiebegriff eine neue, ihm ursprünglich fremde Bedeutung an: Er meint in weiten Strömungen der aktuellen Bioethik nicht mehr die Aufgabe, aus eigener Einsicht in das moralische Gesetz zu handeln oder die Fähigkeit zu vernünftiger Selbstgesetzgebung, sondern das Recht, eigene Wünsche zu äußern und durchzusetzen. Diese Verschiebung im Autonomiekonzept hat erhebliche Auswirkungen auf dem Gebiet der Bioethik: Die Bereitschaft, jeden Menschen, auch den schwachen und hilflosen, als Geschöpf Gottes und als Person zu achten, weicht der Aufforderung, Interessen geltend zu machen und Präferenzen zu äußern. Wer dazu nicht in der Lage ist, zählt nicht. Er wird zur quantité négligeable, wenn die moralische Gemeinschaft, die aus der vorbehaltlosen Anerkennung der Rechte jedes Menschen hervorgeht, sich in eine Gemeinschaft aufgeklärter Interessenvertreter verwandelt. Auf weite Strecken gerät das Unternehmen »Bioethik« auf diese Weise zur theoretischen Legitimation einer schleichenden Entsolidarisierung, die sich unter dem Deckmantel von Autonomie und Freiheit vollzieht.
Zudem wird das Verheißungspotential der modernen Lebenswissenschaften in der öffentlichen Debatte gezielt eingesetzt, um das Bild einer besseren, gesünderen und glücklicheren Zukunft entstehen zu lassen. Ob die erhofften Fortschritte und der Durchbruch zu neuartigen Therapien für bislang unbehandelbare Krankheiten jemals kommen werden, ist ungewiss, doch soll die Berufung auf das hohe Gut der Gesundheit mögliche Zweifel auf dem Weg dorthin ausräumen und moralische Einwände zum Schweigen bringen. Die Sozialwissenschafterin Elisabeth Beck-Gernsheim bringt die Stimmungslage auf den Punkt, unter der moralische Kontroversen über bioethische Fragen häufig geführt werden: »Gegen Gesundheit kann man nicht argumentieren, schon gar nicht in einer Gesellschaft, die keinen Gott, keine allgemeinverbindliche Moral oder fest vorgegebene Traditionen mehr kennt.«
In diesem Buch unternehme ich den Versuch, von einem christlichen Standpunkt aus moralische Argumente zu erörtern, die auch für Nicht-Christen gültig sind. Dabei argumentiere ich nicht gegen Gesundheit, denn das wäre in der Tat wenig erfolgreich und geradezu widersinnig, sondern für einen moralisch vertretbaren Weg, die physischen Übel und Krankheiten, die das menschliche Leben bedrohen, künftig noch besser zu bekämpfen und entsprechend das hohe Gut der Gesundheit durch Forschung und therapeutische Maßnahmen noch besser zu schützen. Dass eine theologische Lebensethik in der Erörterung rationaler Argumente ihre eigenen Prämissen aufdeckt, widerlegt nicht ihren Anspruch, ihren Standpunkt durch öffentlichen Vernunftgebrauch zu begründen, um auf diese Weise zu allgemein zustimmungsfähigen Urteilen zu gelangen. Entsprechend den Spielregeln einer rationalen Verständigung verstehen sich die dargelegten Argumente als ein Angebot, das beim Leser auf ein kritisches Mitgehen und auf Zustimmung hofft. Auch auf dem umstrittenen Feld der Bioethik gilt, dass moralische Argumente dann erfolgreich sind, wenn sie den Leser dazu befähigen, sein eigenes Urteilsvermögen zu schärfen, voreiligen Schlussfolgerungen durch die Beibringung besserer Gründe zu widersprechen und den eigenen Standpunkt am Ende besser zu verstehen.
Seitdem dieses Buch vor fast zwanzig Jahren in der ersten Auflage erschien, hat sich die bioethische Diskussionslandschaft in vielem verändert. Unvorhersehbare Entwicklungen führten zu neuen Herausforderungen, die damals nicht einmal dem Namen nach bekannt waren, in anderen Gebieten drängten sich Fragestellungen in den Vordergrund, die bis dahin auch in Fachkreisen nur am Rande diskutiert wurden. Um auf diese neueren Entwicklungen eingehen zu können, entschloss ich mich zu einer grundlegenden Neubearbeitung des Buches, die sowohl die theoretischen Grundlagenprobleme wie auch die konkreten Anwendungsfelder der Bioethik berücksichtigt. Über weite Strecken der Darstellung ist so ein neues Buch entstanden, auch wenn die grundlegenden Maßstäbe zur Beurteilung neuer Entwicklungen dieselben blieben. Während die bioethische Debatte der vergangenen zwanzig Jahre in allen Kapiteln berücksichtigt wurde, sind die Ausführungen zur Stammzellforschung, zur Präimplantationsdiagnostik, zum biomedizinischen oder reproduktiven Klonen sowie zur Chimärenbildung und die Frage der Suizidbeihilfe bei schwer kranken und leidenden Menschen neu in das Buch aufgenommen. Die zweite Auflage der Neubearbeitung berücksichtigt darüber hinaus die wieder entfachte Diskussion um das Hirntodkonzept und die Bedeutung der dead-donor-rule, die rasante Entwicklung der genetischen Diagnostik sowie die Kontroverse um die Frage, ob die Suizidbeihilfe mit dem ärztlichen Ethos vereinbar ist oder nicht.
Mein besonderer Dank gilt meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am moraltheologischen Lehrstuhl der Universität Freiburg. Allen voran danke ich der langjährigen Sekretärin Frau Ingelore Schmidt, ohne deren Sorgfalt und Übersicht dieses Buch nicht entstanden wäre. Für wertvolle Verbesserungsvorschläge danke ich Frau Dr. Verena Wetzstein und dem Assistenten Dr. Tobias Hack. Karoline Beck, Angelika Beinert, Sonja Keller, Ulrich Feger, Martin Stritt, Johannes Reichart und Lukas Schmitt unterstützten mich bei der Literaturbeschaffung sowie beim Mitlesen der Korrekturen und Anfertigung der Register. Für die Mithilfe bei der zweiten Auflage danke ich den Sekretärinnen Melanie Dotzauer und Dr. Maria Senoglu sowie Philipp Haas und Katharina Ruder.
Freiburg i. Br. im Mai 2013 Eberhard Schockenhoff
Was ist Leben? Wodurch unterscheidet sich lebendiges Sein von dem unbelebter Körper? Die Antwort auf diese Fragen fällt verschieden aus, je nachdem, unter welchem Blickwinkel sie gestellt werden. Die biologische Standarddefinition, die sich auf alle Erscheinungsweisen des Lebens von den einfachsten Bakterien bis zum Menschen anwenden lässt, sieht Leben durch Stoffwechsel, Wachstum und Fortpflanzung (Selbstreproduktion) bestimmt. Voraussetzung dieser drei Grundfunktionen des Lebens ist das Vermögen zur Selbstorganisation, das wiederum an die Fähigkeit zur Informationsspeicherung und ihr materielles Substrat, den Besitz von ein oder zwei DNS-Strängen (Desoxyribonuklein-Säure) gebunden ist. Unter dieser Rücksicht scheint das Leben nichts anderes zu sein, als ein physikalisch-chemischer Prozess oder eine emergente Eigenschaft der Materie, die beim Übergang von der unbelebten Welt zur organischen entstanden ist. Aber wird man der Eigenart und Vielfalt des Lebens gerecht, wenn man es aus Leblosem herleitet und nur als allgemeines Phänomen, als Leben »an sich«, als Durchgangsprozess durch seine bestimmten Formen beschreibt, in denen es dem beobachtenden Blick des Betrachters entgegentritt?
Eine wissenschaftliche Erklärung des Lebens, die dieses unter reduktionistischer Perspektive als ein physikalisch-chemisches Geschehen beschreibt, das ubiquitär über alle Formen des Lebendigen hinweg Stoffwechsel, Wachstum und Fortpflanzung ermöglicht, erkauft ihre Objektivität durch einen hohen Preis: Sie muss von dem absehen, was das Leben jeweils zu einem Lebendigen, einem individuell geformten Sein macht, dem die rätselhafte Eigenschaft des Lebendig-Seins zukommt. Das Leben als solches lässt sich zwar anhand der genannten biologischen Minimalbestimmungen in seinen Differenzmerkmalen zur unbelebten Welt beschreiben, aber es kommt in dieser biologischen Arbeitsdefinition noch nicht zum Vorschein, wer dieses lebendige Etwas ist, von dem Stoffwechsel, Wachstum und Fortpflanzung ausgesagt werden. Die wissenschaftliche Bestimmung der Eigenschaft »Leben« kann erklären, wodurch sich eine Blume oder eine Pflanze, eine Palme oder ein Frosch von einem unbelebten Ding wie einem Stein oder einem Stück Holz unterscheiden. Aber sie gibt noch keine Auskunft über den jeweiligen Träger dieses so bestimmten Lebens, über das Sub-jektum, dem Leben zukommt.
Die Auskunft, wo immer Leben erscheine, beruhe es auf chemischen Prozessen, die dem Lebewesen Informationsgewinnung- und Verarbeitung ermöglichen, verleitet zudem zu Fehlschlüssen, die eine wichtige Eigenart des Lebendigen verkennen: Das Verhältnis zwischen der Basisinformation, die Leben ermöglicht und den konkreten Erscheinungsformen des Lebens, darf nicht nach der Analogie von Software und Hardware bei einem Computer gedacht werden, die sich beim Gebrauch der Metapher »Information« aufdrängt. Während die Hardware eines Computers jede beliebige Software aufnehmen kann, kennzeichnet es lebendige Körper, dass ihr Lebensprinzip – die antike Naturphilosophie nannte es seit Aristoteles ihre Seele – auf diesen bestimmten Körper bezogen ist. Leben gibt es nicht wie die Materie als noch ungeformten Stoff, als reines Ausgedehntsein, das sich erst nachträglich in seine konkreten Erscheinungsweisen differenziert, sondern Leben ist immer nur in lebendiger Form und als konkrete Gestalt – als diese Pflanze, dieses Tier oder dieser Mensch – gegeben. Die Priorität der Form gegenüber dem Stoff, die alles Lebendige gegenüber der unbelebten Materie auszeichnet, wiederholt sich auf allen Stufen des Lebens. Schon eine Pflanze und erst recht ein Tier sind mehr als nur austauschbare Exemplare ihrer Art oder eine beliebige Durchgangsstelle für den biologischen Gesamtprozess des Lebens. Auf jeder Stufe, bereits auf der untersten des Einzellers, ist Leben nur in der Besonderheit konkreter Form und Gestalt, niemals als ungeformte Kraft oder gestaltlos-sphärische Energie über den konkreten Lebensformen oder durch sie hindurch gegeben.1
Ein anderer Weg, die Eigenart des Lebens zu begreifen, eröffnet sich, wenn wir nach seinen Entstehungsbedingungen fragen. Unseren eigenen Planeten, die Erde, gibt es seit ungefähr 4,5 Milliarden Jahren; die ältesten Spuren des Lebens, die als Gesteinsablagerungen von Pflanzen oder Tieren entdeckt wurden, sind etwa 3,5 Milliarden Jahre alt. Wie kam es dazu, dass Leben auf der Erde entstehen konnte? Wie konnten sich aus den anorganischen Elementen Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff und Schwefel Eiweißverbindungen als Trägerstoffe des Lebens entwickeln? Unter welchen Bedingungen führte die chemische Evolution zum spontanen Auftreten des Lebens? Oder ist das Leben gar, wie eine besonders verwegene Theorie annimmt, erst durch einen Meteoriteneinschlag auf die Erde gelangt? Abgesehen von dem spekulativen Charakter dieser Annahme erklärt sie nicht, warum einfaches organisches Leben die notwendigen Bedingungen auf der Erde fand, unter denen es sich weiterentwickeln konnte. Daher verschiebt diese Theorie die Ursprünge des Lebens nur in noch rätselhaftere Weiten des Weltalls, ohne sie selbst zu erklären.
Die moderne Kosmologie, die die Entstehungsgeschichte des Universums seit dem »Urknall« rekonstruiert, kann den Ursprung des Lebens über die einzelnen Stufen der physikalischen, chemischen und biologischen Evolution in umgekehrter Richtung bis auf seine einfachsten materiellen Strukturen zurückführen. Sowohl die Entwicklung des Universums als auch, in diese eingebettet, die Entstehung des Lebens verliefen nach so genannten Naturkonstanten, die den Annahmen des Standardmodells der Weltentstehung zufolge unveränderlich sind. Wären diese Konstanten, zu denen vor allem die gleich bleibende Gravitation, die Lichtgeschwindigkeit, das Massenverhältnis zwischen Elektron und Proton sowie eine so genannte Feinstrukturkonstante gehören, nur um einen geringfügigen Wert von ihrem faktischen Verlauf abgewichen, wäre das Universum in einen gasförmigen Urzustand zurückgesunken, ohne komplexere Erscheinungsformen des Lebens hervorzubringen. Auch die entgegengesetzte Möglichkeit, eine zu rasche Expansion des Universums, hätte dieselben Auswirkungen gehabt und zu einem vorzeitigen Ende der physikalischen Entwicklung geführt. Erst die unwahrscheinliche Summe vielfältiger, höchst kontingenter Gleichförmigkeiten, die aus dem Anfangszustand des Universums in keiner Weise ableitbar sind, schuf den überaus schmalen Korridor, in dem die Evolution des Lebens die erforderlichen Bedingungen für ihren Fortgang fand.
Die grundlegenden Eigenschaften der Materie, die sich in den ersten Sekundenbruchteilen nach dem »Urknall« gebildet haben müssen, sind in ihrem Zusammenspiel und ihrer Feinabstimmung für alle weiteren physikalischen, chemischen und biologischen Vorgänge verantwortlich, die zur Entstehung organischen Lebens auf Erden führten und schließlich das Auftreten des Menschen ermöglichten. Computer-Simulationen zeigen, dass schon geringfügige Abweichungen im Verhältnis der physikalischen Kräfte zueinander die weitere kosmologische Entwicklung, das Entstehen der chemischen Grundelemente und die biologische Evolution der Organismen, unmöglich gemacht hätten. Die Wärmestrahlung aufgrund des Abstandes unseres Planeten zur Sonne, das Magnetfeld der Erde, das Verhältnis von Wasser- und Landflächen zueinander, die Häufigkeit des Kohlenstoff-Atoms in Relation zu anderen chemischen Elementen – wäre auch nur eine dieser Bedingungen nicht in der gegebenen Weise erfüllt gewesen, hätte die »Kette« der Lebewesen schon in ihren Anfangsgliedern nicht entstehen können. Auf jeder Entwicklungsstufe mussten sich Feinabstimmungen, Wechselwirkungen und Ordnungsstrukturen immer höherer Komplexitätsgrade einstellen und erhalten, damit pflanzliches, tierisches und menschliches Leben auf Erden auftreten konnte.2 Die extreme Unwahrscheinlichkeit des Verlaufs, den die physikalische und chemische Evolution vor der Entstehung des Lebens nahm, lässt dabei völlig offen, ob das Geschehen in irgendeiner Weise zielgerichtet verlief, so dass die Anfangsstufen auf die Ermöglichung der späteren Entwicklung hingeordnet sind. Besagt die verlässliche Feinabstimmung unter den Naturkonstanten lediglich, dass sich Leben nur unter den tatsächlich gegebenen Bedingungen entwickeln konnte, wie eine schwache Deutung des anthropischen Prinzips annimmt? Oder verlief die physikalische und chemische Evolution des Lebens so, wie es tatsächlich der Fall war, damit organisches Leben entstehen konnte, das auf einer höheren Entwicklungsstufe schließlich Bewusstsein, Wille und Geist hervorbrachte?
Diese starke Deutung des anthropischen Prinzips, nach der die gesamte Naturgeschichte auf die Entstehung des menschlichen Lebens ausgerichtet ist, wird von den meisten Physikern und Biologen wegen ihrer Nähe zu einer teleologischen Weltdeutung abgelehnt. Doch bleibt auch die schwache Variante unbefriedigend, da sie die Erklärungsbedürftigkeit des Lebens ebenso wenig beseitigt wie die Auskunft, das blinde Zusammenspiel kausaler Mechanismen mit unvorhersehbaren Zufallsfaktoren habe den Menschen hervorgebracht. Lässt sich berechtigterweise noch von einem Würfeln der Evolution sprechen, wenn die Würfel immer wieder so fielen, wie sie von der Zukunft aus gesehen fallen mussten, um diese erklären zu können?3 Wie ist es um den Zufall bestellt, wenn dieser immer zur rechten Zeit und am notwendigen Ort zur Stelle ist? Die Unklarheit der Metapher vom Würfeln des Zufalls und die extreme Unwahrscheinlichkeit, unter der die Entstehung des Lebens in der Anfangsgeschichte des Universums nach der kosmologischen Rekonstruktion seiner Ursprünge stand, führen an die Grenzen einer naturwissenschaftlichen Erklärung des Lebens. Der Versuch, das Leben in Begriffen des Leblosen zu erklären, indem es seiner Komplexität entkleidet und auf ein Zusammenwirken seiner einfacheren Bauteile zurückgeführt wird, führt nicht dazu, dass wir nun besser verstünden, was Leben ist und warum es entstand.
Das Scheitern dieser Erklärungsversuche findet seinen letzten Grund, wie Hans Jonas gezeigt hat, in dem Wissensideal der neuzeitlichen Naturwissenschaft. In ihr wurde »das Leblose, das Wissbare par excellence, der Erklärungsgrund von allem … und damit auch (der) anerkannte Seinsgrund von allem«4. Die physikalisch-chemische Analyse des Lebens, die dieses zum einen auf seine elementaren materiellen Bausteine und zum anderen auf gleichartige, in der gesamten Natur gültige Gesetzmäßigkeiten zurückführen möchte, führt zu dem Dilemma, dass nunmehr »das Leben wissenschaftlich verstehen heißt, es begrifflich dem assimilieren, was nicht Leben ist«5. Um diese Fixierung auf das Leblose, Materielle und Anorganische zu überwinden, fordert Jonas eine philosophische Biologie als Philosophie des Lebendigen, die von dem methodischen Postulat einer Einbeziehung des Lebens in seine Beschreibung ausgeht. Was Leben ist, kann nur im Ausgang vom Leben selbst und nicht durch die Einklammerung seiner charakteristischen Phänomene verstanden werden. Daher bedarf die naturwissenschaftliche Bestimmung des Lebens, bei der das eigene Erleben des Beobachters ebenso ausgeschlossen bleiben muss wie die Einfühlung in andere Lebewesen, der Ergänzung durch eine erweiterte Wahrnehmungsperspektive. Diese eröffnet sich, wenn man die Grunderfahrung des Lebens aus der theoretischen Einstellung zu ihm nicht länger ausblendet, sondern der umgekehrten Anweisung folgt: »Der Beobachter des Lebens muss vorbereitet sein durch das Leben.«6 Oder, noch prägnanter: »Leben kann nur von Leben erkannt werden.«7
Der Wechsel von einer äußeren Beobachterperspektive zur Teilnehmerperspektive, der den Blick auf das Leben leiten soll, zeigt sich darin, dass es ihm nicht mehr um die Dekonstruktion des Lebendigen, um die analytische Zergliederung organischer Lebensformen geht, sondern darum, die charakteristische Eigenart des Lebens aus seiner spezifischen Differenz zu der unbelebten Körperwelt zu bestimmen. Diese kommt aber nicht in den einzelnen Elementarteilen, sondern nur in der Struktur der lebendigen Formen und Gestalten des Lebens zum Ausdruck. Die Besonderheit des Lebens wird nicht an der untersten Berührungsschicht mit der anorganischen Materie, der Kontaktschwelle zur unbelebten Natur, sondern nur auf den höheren Lebensstufen erkannt, die ihre eigenen Lebensäußerungen hervorbringen. Statt die Phänomene von Bewusstsein, Subjektivität und Freiheit, die sich auf den höheren Stufen des organischen Lebens zeigen, in einer wissenschaftlichen Beschreibungssprache auf materielle Gegebenheiten (wie genetische Strukturen in der Soziobiologie oder neuronale Korrelate in der Hirnforschung) zurückzuführen, blickt eine erweiterte Wahrnehmungsperspektive von der erreichten Höhenlage aus auf die Vorstufen von Bewusstsein, Geist und Freiheit zurück, die diesen Erscheinungsformen des Lebens in seiner Entwicklungsgeschichte den Weg bereiten.
Schon die Wahrnehmung eines belebten Körpers durch das menschliche Auge lässt eine erste Differenz zu unbelebten Dingen erkennen, die als reine Objekte der Außenwelt gegeben sind. Während diese durch ihr räumliches Ausgedehntsein bestimmt und in einen kontinuierlichen Wirkungszusammenhang der äußeren Welt eingespannt sind, weist der lebende Körper einen größeren Spielraum gegenüber seiner Umgebung auf, in dem er sich frei bewegen und autonom verhalten kann.8 Die Begrenzung des toten Körpers wirkt nach allen Seiten hin als eine Schranke, die nur abschließende Funktion hat; dagegen erscheint die räumliche Grenze eines Lebewesens, die sich als Haut um seinen Körper legt, als eine zu ihm selbst gehörige Grenze, die den organischen Körper zu seiner Umwelt hin nicht nur abschließt, sondern zugleich aufschließt.9 Lebendige Wesen behaupten daher nicht einfach ihren einmal erreichten monotonen »Wasbestand« an einer fixen Stelle des Raum-Zeit-Kontinuums; sie sind vielmehr durch ein prozesshaftes Werden geprägt, das zugleich Stehen und Übergehen, In-sich-Sein und Offenstehen für anderes ist.10 Daher sind Lebewesen anders als unbelebte Körper, die eine Stelle in der äußeren Welt ausfüllen, durch eine spezifische »Bezogenheit von Organismus und Umgebungsfeld« charakterisiert,11 die im Stoffwechsel und in der Empfänglichkeit des organischen Körpers für sinnliche Reize der Außenwelt ihren Ausdruck findet.
Der belebte Körper unterscheidet sich vom unbelebten des Weiteren durch eine in ihm selbst liegende Beweglichkeit, die auf ein motorisches Zentrum verweist, das seine Außenwahrnehmung durch ein fremdes Auge auch im Ruhezustand prägt. Der unbewegte Körper eines Lebewesens, das schläft oder sich absichtlich still verhält, verrät noch immer jene »Lockerung in ihm selbst«, die von außen oder aufgrund ihrer inneren Mechanik bewegten toten Körpern (z. B. »tanzenden« Gläsern auf einer von Hand bewegten Tischplatte oder einem Perpetuum Mobile) gerade nicht zukommt.12 Der Philosoph Helmuth Plessner sieht die selbstzentrierte, eigenmotorische Daseinsweise von Lebewesen durch eine eigentümliche »Positionalität« gegenüber ihrer Umgebung bestimmt, die den Rückschluss auf eine selbstbezügliche Innenwelt erlaubt, die sich im äußeren Verhalten manifestiert. Im Körper eines Lebewesens zeigt sich deshalb nicht nur ein Objekt der Außenwelt, sondern zugleich der Ausdruck einer eigenständigen Innenwelt, die Manifestation eines seelischen Erlebens, das je nach der Stufenhöhe des Organismus einen unterschiedlichen Grad an Bewusstheit und Reflexivität gewinnt. Als Wissenschaft vom Lebendigen kann die Biologie daher nicht einfach die Kategorien der unbelebten Welt verwenden, um ihre lebendigen Objekte zu bezeichnen. Sie muss vielmehr eigene »Formbegriffe« ausbilden, die von spezifischer Struktur sind und jene Unabhängigkeit gegenüber den kausalen Einwirkungen der Umwelt bezeichnen, die dem jeweiligen Organismus seine Funktionsfähigkeit in einem offenen Spielraum gegenüber seiner Umwelt verleihen.13
Im Anschluss an Biologen wie Jakob von Uexküll und Ludwig von Bertalanffy wird dafür in der Regel der Begriff eines »lebendigen Systems« gebraucht, der den früheren Terminus »Organismus« oder die klassische Bezeichnung »beseelter Körper« ersetzt. Der Systembegriff eignet sich zur Charakterisierung lebendiger Formen und Ganzheiten, weil jedes System einen inneren Einheitspunkt aufweist und durch ein wechselseitiges Aufeinander-Einwirken des Ganzen und seiner Teile gekennzeichnet ist. Jeder lebendige Körper ist nach einem Definitionsvorschlag Plessners »auf einen in ihm liegenden Zentralpunkt bezogen, der keine räumliche Stelle hat, aber als Zentrum des umgrenzten Körpergebietes fungiert und damit das Körpergebiet zu einem System macht. Die Beziehung erstreckt sich auf alle den Körper aufbauenden Elemente (Teile) und auf den Körper als ganzen«14. In seiner vollkommenen Form ist der Systembegriff nur auf den tierischen und menschlichen Organismus anwendbar, weil beide im Unterschied zur Pflanze über ein zentrales Repräsentationsorgan verfügen, das eine stärkere »Abklammerung des Lebewesens gegen seine Umgebung«15 bewirkt und die Einheit des Ganzen zu sich selbst vermittelt. Erst auf dieser Stufe kann von einem Lebewesen sinnvoll gesagt werden: »Sein Körper ist sein Leib geworden, jene konkrete Mitte, dadurch das Lebenssubjekt mit dem Umfeld zusammenhängt (…). Das Selbst (…) besitzt jetzt den Körper als seinen Leib.«16 Im Gegensatz zu dieser geschlossenen Organisationsform tierischer Lebewesen ist die Pflanze durch ihre offene Form (sie ist in ihrem Wachstum nie »fertig« wie ein Tier), durch ihre der Umgebung direkt zugewandte Flächenentwicklung, durch die Ermangelung von Zentralorganen und die fehlende Fähigkeit zur Ortsbewegung gekennzeichnet.17
Daher lassen sich nicht alle Elemente des Systembegriffs auf pflanzliches Leben anwenden, so dass diese nur in analogem Sinn als »lebendige Systeme« zu bezeichnen sind. Dies muss insofern nicht erstaunen, als Pflanzen zwar mit Tieren gemeinsam die Grundeigenschaften des Lebendigen teilen, jedoch innerhalb der Gruppe der Lebewesen keine evolutionäre Vorstufe der Tiere darstellen. Sie stammen zwar ähnlich wie Mensch und Affe von gemeinsamenVorfahren, den Einzellern ab, repräsentieren dann jedoch getrennte Entwicklungslinien, die von Anfang an zu unterschiedlichen Organisationsformen des Lebendigen führten.18
Philosophisch lassen sich die Ursprünge der Rede von »lebendigen Systemen« und »Funktionsganzheiten« bis auf Kant und Aristoteles zurückführen. In seinem Spätwerk, in dem er sich um eine eigenständige Grundlegung der Biologie als Wissenschaft vom Lebendigen im Gegensatz zur Mechanik der unbelebten Natur bemühte, benutzte Kant bereits den Begriff der Selbstorganisation, um das Lebendigsein von Lebewesen zu kennzeichnen. Im Unterschied zu Apparaten und Maschinen, die nur über Bewegungsenergie verfügen, besitzen Lebewesen »in sich bildende Kraft«, durch die sie als Produkt der Natur als »organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen ein Naturzweck genannt werden können«19. Kant erkannte bereits, dass auf der Ebene des Lebendigen ein neues Verhältnis zwischen Teil und Ganzem erscheint, das für das Verständnis lebendiger Systeme von entscheidender Bedeutung ist. Anders als komplizierte Maschinen, die aus Teilen zusammengesetzt und daher auch in diese zerlegbar sind, ist die Organisationsform von Lebewesen durch ein schwebendes Wechselverhältnis zwischen beiden bestimmt, so dass die Funktion des Ganzen nur aus dem Zusammenwirken der Teile (Organe) erklärbar ist und diese ihre Funktion umgekehrt nur innerhalb des Ganzen ausüben können. »In einem solchen Produkte der Natur wird ein jeder Teil, so wie er nur durch alle übrigen da ist, auch als um der anderen und des Ganzen willen existierend, d. i. als Werkzeug (Organ) gedacht; welches aber nicht genug ist (…), sondern als ein die anderen Teile (folglich jeder den anderen wechselseitig) hervorbringendes Organ, dergleichen kein Werkzeug der Kunst, sondern nur der allen Stoff zu Werkzeugen (selbst denen der Kunst) liefernden Natur sein kann.«20
Noch prägnanter beschreibt Kant das Wechselverhältnis zwischen Teil und Ganzem, wenn er auf die teleologische Verfasstheit, d. h. die innere Zweckmäßigkeit von Lebewesen zu sprechen kommt: »Ein organisiertes Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mitte ist.«21 Entgegen allen Versuchen der neuzeitlichen Naturwissenschaft, die Eigenart des lebendigen Seins durch seine Gemeinsamkeiten mit dem leblosen und anorganischen Sein zu bestimmen, besteht Kant darauf, dass man in dieser Blickrichtung bestenfalls ein »Analogon des Lebens« finden könne, das dessen einzigartige Stellung in der Natur jedoch nicht zu erklären vermöge. Die besondere Vollkommenheit von Lebewesen, deretwegen sie »Naturzwecke« genannt werden, liegt für Kant gerade darin, dass sie durch keine Analogie zu irgendwelchen physischen Vermögen in der uns bekannten Natur hinreichend verstehbar sind. Selbst die Analogie eines Kunstwerkes, das durch das schöpferische Wirken des Menschen entstand, liefert nur ein schwaches und entferntes Analogon, das die Hervorbringung von Lebewesen durch die sich selbst organisierende Natur nicht erklären kann.22
Die an der phänomenologischen Wahrnehmung des lebendigen Körpers in seiner Abhebung von der unbelebten Welt der Körperdinge abgelesenen Merkmale des Lebendigen lassen sich durch weitere Kennzeichen ergänzen, die der Reflexion auf die Selbsterfahrung des Lebens zugänglich sind, wie sie unser eigenes Erleben des Leibes ermöglicht. Diesen Weg ist wiederum Jonas gegangen. Er benutzt die höchsten Äußerungen des Lebens, das Erscheinen von Bewusstsein und Freiheit sowie seinen Begegnungscharakter und seine konstitutive, in Vulnerabilität und Sterblichkeit zum Ausdruck kommende Begrenztheit als methodischen Leitfaden, um Aufschluss über die Eigenart des Lebendigen zu gewinnen, die dieses auf allen Stufen prägt. Das erste Kennzeichen des Lebendigen, das aus dieser Perspektive erfasst werden kann, ist auch für ihn die Sichtbarmachung einer Innenwelt, die Manifestation von Bewusstsein, durch die sich seelisches Erleben einen Ausdruck verschafft. Mechanistisch-quantitative Erklärungen des Lebens versagen nicht erst angesichts des Menschen in seiner schöpferischen Freiheit, seinem reflexiven Selbstbewusstsein und seiner Fähigkeit zur begrifflichen Abstraktion, sondern bereits vor der Aufgabe, die Innenwelt zu verstehen, die jedem organischen Leben eigen ist. Ihr bleibt der springende Punkt verschlossen, durch den sich lebende Körper in der organischen Natur von unbelebten unterscheiden: die Dimension der selbstzentrierten Innerlichkeit. Wo Lebendiges gegeben ist, da tritt es dem Betrachter als ein eigenes »Zentrum der Welterschließung« gegenüber; dieser begegnet im fremden Lebewesen dem Ausdruck einer unerforschlichen Innenwelt, die ihm zunächst verschlossen ist.23
Diese Innenwelt kann sich in den spezifischen Lebensäußerungen dieses lebendigen Wesens, in seinen Trieben und Begierden, in Verfolgung und Flucht, in Sorge und Angst oder in den entsprechenden Körpersignalen dieser inneren Gestimmtheiten kundtun, doch bleibt auf jeder Stufe eine unübersteigbare Grenze, die dem Verstehen fremder Innerlichkeit gezogen ist und auch durch Einfühlung und analoge Interpretation nicht übersprungen werden kann. Entscheidend bleibt immer, dass mir im anderen Lebewesen ein eigenes Zentrum begegnet, das aus sich heraus auf seine Umwelt oder Mitwelt ausgerichtet ist. Wo immer sie auftreten, repräsentieren Lebewesen autonome Zentren der Selbstgegebenheit und Selbsttranszendenz; die Manifestation einer fremden Innerlichkeit ereignet sich auf allen Stufen des Organischen, nicht erst in der zwischenmenschlichen Begegnung oder im Verhältnis zu vertrauten Haustieren oder Jagdgefährten des Menschen. »Wo anders als am Anfang des Lebens kann der Anfang der Innerlichkeit gesetzt werden?« fragt Jonas und schließt daraus auf die Ergänzungsbedürftigkeit einer rein naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise des Lebens: »Wenn aber Innerlichkeit koextensiv mit dem Leben ist, dann kann eine rein mechanistische Interpretation des Lebens, d. h. eine Interpretation in bloßen Begriffen der Äußerlichkeit, nicht genügen.«24
In der Beteiligungsperspektive, die nach der Innenwelt des Lebendigen und seiner selbstzentrierten Individualität fragt, tritt ein weiterer Grundzug organischen Lebens hervor: seine Freiheit. Dieser durchgängige Charakter allen lebendigen Seins kann zunächst Befremden hervorrufen. Die Erkenntnis, dass Freiheit die eigentümliche Seinsart des Lebendigen ist, erscheint jedoch nur so lange merkwürdig, als der Begriff der Freiheit in seiner Höchstform als moralische, von der Einsicht in ethische Prinzipien geleitete Handlungs- und Wesensfreiheit verstanden wird. Während dieser Vollbegriff der Freiheit erst auf der Ebene des Menschen erreicht wird, lassen sich die Vorstufen einer »keimhaften Freiheit« bis zu den organischen Grundschichten der belebten Natur verfolgen, aus der sie sich Zug um Zug entwickelt haben.25 Auf der untersten Ebene erscheint bereits das Phänomen des Stoffwechsels als ein rudimentäres Freiheitsgeschehen, als »Primärmodus organischer Freiheit«, durch den sich jedes Lebewesen im Dasein erhält.26 Jedes lebendige System weist insofern eine freiheitliche Grundstruktur auf, als es sein Selbst nicht als festen stofflichen Bestand besitzt, sondern nur in einer andauernden Neuaneignung fremden Stoffes, im Durchgang der aufgenommenen Nährstoffe durch die eigene Form existiert, die nur vorübergehend der eigenen Körpersubstanz assimiliert werden. »Es ist niemals stofflich dasselbe und dennoch beharrt es als dieses identische Selbst gerade dadurch, dass es nicht derselbe Stoff bleibt.«27
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