Über dieses Buch

Der junge Jakob Spengler muss vom Waldrand aus zusehen, wie Söldner sein Dorf zerstören und alle Bewohner ermorden. Die Gesichter der vier Anführer brennen sich für immer in sein Gedächtnis. Die Suche nach den Mördern führt ihn um die halbe Welt - bis er schließlich seinem letzten Feind gegenübersteht: dem Mann, der einst alles angeordnet hat.

Gisbert Haefs (*1950) ist Autor und Übersetzer. Er hat u. a. die Erfolgsromane Alexander und Hannibal verfasst und ist Übersetzer der Werke von Rudyard Kipling, Ambrose Bierce, Jorge Luis Borges, Sir Arthur Conan Doyle u. a. Zudem ist er Autor von Funkfeatures, Hörspielen und Kriminalromanen.

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Gisbert Haefs

Die Rache des Kaisers

Historischer Roman

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

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Die Erstausgabe erschien 2009 im Verlag Page & Turner/Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House.

© by Gisbert Haefs 2009

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Sven Schrape

ISBN 978-3-293-31062-9

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Erster Teil

1

Als ich die ersten Schüsse hörte, war ich tief im Wald. Ich hatte kaum Erfahrung mit Feuerwaffen und überlegte einige Momente, was dieses ferne Geräusch bedeuten mochte. Dann erinnerte ich mich an die Soldaten des Kurfürsten, an die Vorführung ihrer neuen Hakenbüchsen, und ich lief los, denn die Schüsse kamen vom Tal her. Vom Dorf, wo die anderen waren, die Eltern und die Geschwister … Ich dachte nicht mehr. Etwas wie schwerer, klumpiger Brei schien mich auszufüllen, wollte in die Kehle steigen; ich würgte es hinunter, und ohne nachzudenken, wusste ich, dass es Angst war. Der Tau auf den Moosflächen, eben noch köstlich frisch zwischen den Zehen, schnitt eisig in die bloßen Füße.

Am flachen Stein unter der Eiche hielt ich an, um die beiden Körbe mit Pilzen und Beeren zu den Schuhen, der Jacke und der kleinen Armbrust zu stellen. Vorhin, beim Ausziehen der Schuhe und der Jacke, hatte ich noch an das teils vorwurfsvolle, teils belustigte Lächeln der Mutter gedacht, als sie die herbstliche Kälte im Wald erwähnte. »Zieh dich wärmer an, Jakko, und zieh nicht gleich wieder alles aus, wenn ich dich nicht mehr sehe.« Die Mutter. Der Vater. Die beiden Schwestern. Der kleine Bruder. Die hundert anderen Männer, Frauen und Kinder im Dorf. Ich unterdrückte das Keuchen und lauschte. Schüsse, kein Zweifel. Waffengeklirr. Und Schreie.

Wieder musste ich schlucken, mehrmals. Ich schnappte nach Luft und rannte weiter, zum Waldrand oberhalb des Dorfs. Der rechte Fuß verfing sich in einer Ranke, und ich schlug lang hin.

Der Sturz brachte mich zu Bewusstsein. Ohne den Efeu und den Fall wäre ich aus dem lichten Gehölz aufs Feld gerannt, zum Dorf, sagte ich mir. Wozu? Um mit bloßen Händen Kugeln zu fangen und Säbel stumpf zu machen?

Um mit den anderen zu sterben, ohne ihnen helfen zu können.

Ich lag wenige Schritte vom Waldrand entfernt im Gesträuch. Langsam, vorsichtig kroch ich in den Farn, bis ich eine Stelle erreicht hatte, von der aus ich zwischen den Wedeln ins Tal sehen konnte.

Ich erinnerte mich an den letzten Blick zurück, vorhin, eben erst. Das Gutshaus noch halb im Schatten, die Häuser, Ställe und Schuppen des Dorfs davor, in Form eines Hufeisens angelegt. Bauern auf dem Weg zu Äckern und Feldern, hier und da die Rauchsäule eines Herds oder Kamins.

Inzwischen stand die Sonne höher, das Gutshaus war nicht mehr halb im Schatten, sondern ganz unter einer Wolke. Aus dem Dach leckten Flammenzungen, als wollten sie den Rauch kosten. Den Rauch verschlingen, sich von dem Rauch nähren, den sie selbst schufen. Auch die meisten anderen Häuser brannten. Zwischen ihnen liefen kleine schwarze Gestalten umher, und immer, wenn ich einen Schuss hörte, fiel eine von ihnen um.

Drüben, jenseits des Dorfs, rannte jemand den Feldweg hinauf, der zum östlichen Wald und den Köhlerhütten führte. Ein Reiter folgte ihm. Etwas blitzte im Morgenlicht auf, und der Fliehende fiel.

Männerstimmen wie fernes Poltern von Stiefeln auf Bohlen. Ein langes Kreischen: der Flug eines entsetzten Vogels, und der Vogel löst sich auf und lässt den Flug, den Schrei, jäh ins Nichts stürzen. Es gab viele Frauen und Mädchen im Dorf, aber in allen Schreien, die ich hörte, waren nur die Stimmen der Mutter und der Schwestern.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort gelegen und gestarrt und lautlos geweint, wie oft ich die Tränenschleier zerrissen und verwischt habe, um das Grauen sehen zu können. Sehen zu müssen. Ich weiß auch nicht mehr, wer der Junge war, der dort lag und zitterte. Ein Fremder, dessen lange Verwandlung zu dem, was ich heute bin, in diesen Momenten begann.

Vielleicht dachte dieser fünfzehn Jahre alte Fremde an den Wall, der das Dorf nicht hatte schützen können. Ein immer wieder ausgebesserter Erdwall mit Mauerstücken und Palisaden. Oben lag das Gutshaus, dessen Erdgeschoss nach außen keine Fensteröffnungen hatte. Am unteren – von dort, wo ich lag, linken – Ende des Hufeisens das Tor, nachts und bei Gefahr verschlossen. Morgens wurde es geöffnet, und niemand hatte etwas von einer Gefahr gewusst. Abends hatten wir dort die Pilger eingelassen, drei müde Männer, die zu den Gebeinen der Drei Könige nach Köln unterwegs waren, in Erfüllung eines Gelübdes. Wahrscheinlich habe ich, um nicht an die anderen zu denken, an sie gedacht, deren Pilgerfahrt zu einem blutigen Ende gelangt war.

Immer noch stiegen Rauchsäulen von den Gebäuden auf, aber nicht aus Herden oder Kaminen, und sie wurden dünner. Im Gutshaus, das fast ganz aus Stein gebaut war, hatte das Feuer das Dach gefressen, dann keine weitere Nahrung gefunden und war erloschen.

Niemand schrie mehr. Es gab Bewegungen dort unten, aber keine Hast oder gar Flucht. Männer stiegen auf Pferde, andere trugen Gegenstände aus halb zerstörten Häusern zu Karren, und vom Herrenhaus her schwankten Gestalten unter aufgetürmten Lasten.

Die Sonne stand noch nicht im Zenit. Mittlerer Vormittag; Brandschatzung und Gemetzel mochten etwas mehr als zwei Stunden gedauert haben. Ich fragte mich, wo diese zwei Stunden geblieben waren; es kam mir so vor, als hätte ich mich eben erst in den Farn gelegt.

Ist es möglich, dachte ich, inwendig so zu gefrieren, dass die Zeit stillsteht? Gibt es zwei Zeiten – eine innere, die gefrieren kann, während die andere, die äußere weiterfließt? Ich konnte mich nicht einmal erinnern, vor diesem Gedanken einen anderen gedacht zu haben. Es war, als höbe ich den Kopf aus einem langen, zähen Strömen des Entsetzens, um nach Luft zu schnappen.

Die Männer dort unten hatten wahrscheinlich ein paar Karren und Packtiere mitgebracht; sie würden alle nutzbaren Tiere und Fuhrwerke des Dorfs mit Plündergut beladen – und die Übrigen? Was sollte mit den Tieren geschehen, die sie nicht mitnahmen?

Ich schloss die Augen. Warum dachte ich jetzt an Kühe, Schweine und Gänse? Um nicht an die Toten zu denken, sagte ich mir. Ich muss an die Toten denken. Ich will an die Toten denken. Ich möchte …

Plötzlich füllte ein dumpfes Dröhnen das Tal, eine Welle, die zu mir emporbrandete und dann verebbte. Ich öffnete die Augen und starrte hinunter, sah aber nichts, was diesen Ton hätte verursachen können.

Wie eine wunde Glocke, dachte ich. Die kleine Kirche!

Ich konnte das alte Bauwerk nicht sehen, nahm aber an, dass sie auch das Kirchlein angezündet hatten. Die Flammen mussten alles zerstört oder geschwächt haben, und wahrscheinlich war nun die Glocke aus dem Turm gefallen.

Noch heute erinnere ich mich an die Anblicke und Gerüche, die rauchenden Häuser im Tal, die Riechspur eines Luchses oder einer Wildkatze nicht weit vom Farn, in dem ich lag, den Hauch von Geißblatt im Vormittagswind; und ich erinnere mich an meine Gedanken. Fiebergedanken, deren einziger Sinn es war, nicht an das zu denken, was sich dort unten zugetragen hatte. Denken als Flucht, als Ausweg, zur Verschleierung des Gesehenen; denken, um nicht zu denken; erinnern, um zu vergessen. Ich zählte Farnwedel und bewegte den Kopf, bis eine bestimmte Gruppe von Wedeln genau senkrecht zur Firstlinie des Herrenhauses stand und zwei andere, einzelne, die letzte Rauchsäule zu stützen schienen.

Und ich dachte an die wunde Glocke. Den Todesseufzer der Glocke, die aus ihrer Befestigung zu Boden stürzte. Aus dem Himmel auf die Erde. In der Kirche – in jeder Kirche, so hatten die Eltern gesagt, als ich kleiner war – wohnte Gott. Und vielleicht wohnte Er nicht in einem kostbaren Gefäß, sondern in den Mauern, im Turm, in der Glocke. Nun, da Seine Behausung zerstört und das Erz, das Ihm als Stimme gedient hatte, gestürzt war, konnte Er nicht mehr dort sein. Vielleicht erfüllte Er das Tal, zu Licht geworden, oder schweifte als Rauch, trauernder Rauch, durch die Reste des Dorfs. Aber das Licht im Tal war nicht anders als sonst, und der meiste Rauch hatte sich verzogen. Wenn Gott nun das Dröhnen gewesen wäre? Verhallt, Gott und der Schall verschollen.

Hatte Gott aber in der Kirche gewohnt, wie konnte Er dann zulassen, dass all dies geschah? Er hätte es verhindern können und hatte es dennoch geschehen lassen. Waren Ihm die Menschen gleichgültig? Dann sollte Er auch ihnen gleichgültig sein. Oder war all dies eine Prüfung? Für wen?

Außer mir und den Männern dort unten, den Mördern, war niemand mehr übrig. Ein ganzes Dorf ausgelöscht, um mich zu prüfen? Wozu?

Vielleicht ging es aber gar nicht um mich oder um das Dorf, sondern um jene, die dort geplündert und gemordet hatten. War es eine Prüfung für sie, die sie bestanden oder bei der sie versagt hatten? Welcher Gott würde ein ganzes Dorf abschlachten lassen, um die Schlächter zu prüfen? War es am Ende nicht mein, unser Gott, sondern ihrer – ein Schlächtergott?

Ich versuchte, mich an Stellen aus der Schrift zu erinnern. Dort gab es so viel Blut, so viel Vernichtung der Feinde Gottes, so viele Heimsuchungen seines Volkes … visitationes populi sui. Eher gleichzeitig als nacheinander kamen mir zwei Gedankenketten in den Sinn, die sich um die Sinne schlangen und das Denken fesselten. Das Grauen. Der Gott. Entweder will Gott das Grauen verhindern und kann es nicht, dachte ich, oder Er kann, will aber nicht, oder Er kann nicht und will nicht, oder Er kann und will. Wenn Er will und nicht kann, ist Er nicht allmächtig. Wenn Er kann und nicht will, ist Er krank. Wenn Er weder will noch kann, ist Er ohnmächtig und krank. Wenn Er will und kann – warum tut Er es dann nicht?

Weit hinten, in einer scheußlichen Ecke meiner inneren Scheune, wie ich es heute nennen möchte, flimmerten zwei andere Gedanken, flüchtige Irrlichter, trotzdem jedoch Teile der ersten dieser beiden Ketten: Wir sollen keinen Gott außer Ihm anbeten – heißt das nicht, es gibt andere Götter, aber ihr gehört mir? Und: Vielleicht ist dieser unser Gott das Grauen, und andere …

Aber dann bildete sich die zweite Kette, aus schweren, ungefügen Gliedern, Satzgliedern gleich: Wenn die Heilige Schrift, wie die Kirche sagte, nur auf Latein gelesen werden durfte, war Latein die Sprache Gottes, die Regeln des Lateinischen waren die Regeln des Himmels, und mit den schnell flackernden Gedanken auf Deutsch war Deus gar nicht zu erfassen.

Es beruhigte mich. Es beruhigte mich nicht. Während ich da lag und starrte und grübelte, die Gedankenketten zu lösen und die Kettenglieder zu verstecken suchte, bildeten sie sich neu. Ketten, vielleicht Schlangen, wie jene eine im Paradies. Prüfung für mich, ob ich mich von irdischem Grauen verführen lassen würde, die Helligkeit des Himmels zu leugnen.

Aber verführt wird man doch nur zu etwas Angenehmem, Verlockendem, nicht zu Entsetzen. Und die Männer dort unten hatten Entsetzliches getan. Von dem sie nun fortstrebten, aus dem Tal. Ich sah, wie sich der Zug aus Reitern, Karren und Fußsoldaten bildete; und ich kroch rückwärts aus dem Farn, bis ich mich sicher glaubte und mich aufrichtete.

Weiter links, außerhalb des Tores, kurz bevor der Weg das Tal verließ, mussten die Mörder näher an den Wald herankommen, in einer langen Biegung. Dorthin lief ich, so schnell ich konnte, um eine Stelle zu finden, von der aus sie besser zu sehen waren. Es gab keinen Grund, sie besser sehen zu wollen, aus der Nähe, dennoch trieb mich etwas dazu.

Die Vorhut – ein paar Männer, die nicht besonders aufmerksam wirkten, sondern plauderten und lachten – hatte bereits das Ende des Tals erreicht, als ich mich hinter efeuüberwucherten Buchenschösslingen fallen ließ. Sie bildeten eine Art Hecke, und von dort bis zu den Männern, bis zur Straße waren es kaum mehr als fünfzehn Schritte. Ich wollte die Uniformen sehen, mich bemühen, sie mir einzuprägen, aber die Fußsoldaten, die locker vorbeischlenderten, trugen keine Uniformen. Also keine plündernden Soldaten, sondern Räuber? Einer, dessen Gesicht ich erkennen konnte, war abends als Pilger ins Dorf gekommen.

Sie hatten geschossen; die schweren Hakenbüchsen oder leichteren Arkebusen mussten auf den Karren liegen, ebenso Vorratsbeutel und alles andere. Vier Reiter waren etwa in der Mitte des Zugs. Aber nicht nur wegen der Pferde fielen sie mir auf; ihre Kleider und Hüte waren anders, prächtiger als die der Übrigen. Offiziere, vielleicht Hauptleute – Hauptleute einer schweifenden Räuberbande. Keine Uniformen, keine Abzeichen; selbst wenn ich mehr von der Welt gesehen hätte, könnte ich keine Ränge unterscheiden und nicht an den Uniformen erkennen, woher diese Männer kamen, diese Mörder. Nur die Gesichter könnte ich mir einzuprägen versuchen.

Um sie besser aufspüren und finden zu können. Plötzlich war dieser Gedanke da – kein bewusst gefasster, gereifter Entschluss, sondern etwas wie eine Offenbarung, neu und doch fast vertraut. Selbstverständlich. Mit brennenden Augen musterte ich die Gesichter und bemühte mich, möglichst viele Einzelheiten zu behalten.

Zwei von ihnen ritten vor, zwei hinter dem Karren in der Mitte des Zugs. Der Erste, vorn links, hatte ein schmales, fast spitzes Gesicht mit buschigen weißen Brauen und einem gestutzten weißen Schnurrbart, wirkte jedoch gar nicht alt. Als er sich umwandte und einem der hinter ihm Reitenden – vielleicht auch denen auf dem Karren – etwas zurief, sah ich unter der Krempe des Huts die langen, zu einer Art Pferdeschwanz gebundenen Haare im Nacken; auch sie waren weiß. Ich dachte dann Hermelin, schließlich Wiesel.

Der zweite Offizier, vorn rechts, wandte sich dem ersten zu und schien eine Bemerkung zu machen. Die fleischigen, fast wulstigen Lippen bewegten sich, das übrige Gesicht, eine breite, seltsam leblos wirkende Fläche, machte die Mundbewegungen nicht mit. Das Gesicht einer Maske oder eines zermalmenden Götzen – Moloch, sagte ich mir. Als er die linke Hand hob, um den Hut zurechtzurücken, sah ich ein metallisches Blitzen; alles ging jedoch zu schnell, als dass ich es genauer hätte bestimmen können. Vielleicht ein eiserner Handschuh oder ein klobiger Ring.

Auf dem Bock des Karrens saßen zwei Männer; sie schienen mit den Augen an den wogenden Hintern der beiden Pferde zu hängen, als hätten sie derlei nie vorher gesehen. Der Linke hatte eine Nase, die einem Schweinerüssel glich; der Rechte hatte den Kopf gesenkt, sodass ich das Gesicht nicht sehen konnte.

Auf der Ladefläche des Karrens, umgeben von Beuteln und Säcken, saß ein Priester, oder jedenfalls ein Mann in dunkler Kutte und mit Tonsur. Er hatte die umwickelten, von etwas wie einer dünnen Kette zusammengebundenen Unterarme auf die Knie gelegt. Die Entfernung sowie das Spiel der Lichter und Schatten – eben fuhren sie unter einer Linde vorbei – mochten mir etwas vorgaukeln, aber ich war mir ziemlich sicher, dass der Priester oder Mönch die Lippen wie im Gebet bewegte. Und dass ihm Tränen die Wangen herabrannen. Es waren fleischige Wangen, fast Beutel, und von der Mitte des Schädels bis zur halben Stirn hatte er ein flammendes Brandmal. Ein Gefangener vielleicht, den sie mit Feuer gefoltert hatten.

Links hinter dem Karren ritt ein Riese, an die sechseinhalb Fuß groß, falls der mächtige Oberkörper nicht zu winzigen Beinen gehörte. Groß, breite Schultern, aber nicht fett – ein Hüne voller Muskeln. Außer der fleischigen Nase war nichts in seinem Gesicht auffällig, aber insgesamt wirkten die Züge bedrohlich; es war das Gesicht eines grimmen, fressgierigen Bären. Auf dem Kopf trug er einen schlichten Helm. Die linke Ohrmuschel fehlte. Der einohrige Bär, dachte ich. Er hielt die Zügel in der rechten Hand und ließ die linke baumeln: eine Pranke, groß wie ein Essbrett oder eine kleine Schaufel. Ein Sonnenstrahl fiel darauf, und ich sah, ehe der Widerschein mich blendete, eine schwarze Linie am Mittelfinger, die der dicke Ring sein musste, der den Licht speienden Stein trug.

Der vierte Reiter, rechts hinter dem Karren, trug einen ausladenden Hut mit wippenden Federn, die das Gesicht teils verdeckten, teils verschatteten. Sichtbar und denkwürdig war nur die Nase, lang und gekrümmt wie der Schnabel eines Raubvogels. Außerdem war sie wohl irgendwann einmal gebrochen, sodass sie nicht nur an der Oberlippe, sondern auch noch am linken Mundwinkel zu schnüffeln schien. Sperber, dachte ich – nein, Mordfalke.

Mehr musste ich aber von seinem Gesicht nicht sehen, denn ich kannte es bereits. Es gehörte einem der Pilger, die wir abends aufgenommen hatten. Erbärmlich und entstellt und arm war er mir vorgekommen; nun wirkte er bedrohlich und unheimlich, ein fleischgewordener Fluch.

Ich blickte nach links, zum Talausgang: Ob es dort eine Stelle gab, noch näher am Weg, zu der ich mich schnell und unauffällig begeben könnte?

Aus den Augenwinkeln sah ich eine flüchtige Bewegung. Als ich mich umdrehen wollte, flog ein Schatten durch die Luft. Das Gewicht eines Mannes lastete plötzlich auf mir, drückte mich beinahe in den Boden, und eine harte Hand presste sich auf meinen Mund.

Als ich aufhörte, mich vergeblich zu wehren, ließ der Druck ein wenig nach. Der Mann näherte seinen Mund meinem Ohr und flüsterte: »Kein Laut.«

Unter der pressenden Hand zu nicken, war nicht ganz einfach, aber ich brachte zumindest ein Zucken zustande.

»Still, ja?«

Er rutschte zur Seite, sodass ich mich aufrichten konnte. Nun erst sah ich, dass hinter ihm ein zweiter Mann stand. Er hielt einen gespannten Bogen in den Händen; die Spitze des Pfeils schien vor meinem linken Auge zu glitzern.

Etwas an den Männern wirkte fremd, aber das bemerkte ich erst nach und nach. Zuerst sah ich nur die Pfeilspitze, dann die Kleidung – schlichte Sachen, wie einfache Reisende sie tragen – und erst danach, im Zwielicht des Waldes, die Gesichter.

Sie waren dunkler als alle, die ich bis dahin gesehen hatte. Die Haut war braun, aber ein anderes Braun als jenes, das die Gesichter von Feldarbeitern am Ende des Sommers zeigen. Auch die Haare und die Augen waren dunkel, und die Züge insgesamt irgendwie anders geschnitten, ohne dass ich die Andersartigkeit hätte benennen können.

Beide trugen Stiefel, darüber weite Beinkleider und offene Reisemäntel oder Umhänge; die Gürtel waren zu sehen, und an ihnen hingen Dolche in gewöhnlichen Scheiden. Ich erinnerte mich plötzlich an Bilder von Fremden, die so ähnlich ausgesehen hatten; aber deren Dolche und Scheiden waren krumm und verziert gewesen. Krumme Messer an den Gürteln wären mir beinahe vertraut vorgekommen; die gewöhnlichen Stichwaffen machten alles noch fremder.

Das stimmt natürlich so nicht; dieser Anblick ist eine Dreingabe meines erfindungsreichen Gedächtnisses. So habe ich sie oft gesehen, aber an jenem Tag im Wald hatten sie kriechen müssen und die Umhänge zurückgelassen, und da sie auf dem Bauch lagen – auch der Zweite, der mit dem Bogen, hatte sich hingelegt –, kann ich weder Gürtel noch Dolche bemerkt haben. Wahrscheinlich habe ich auch die oben niedergelegten Gedanken über das, was Gott kann und nicht will oder will und nicht kann, viel später zum ersten Mal gedacht – nicht damals, mit fünfzehn, überwältigt vom Entsetzen, das weder Luft zum Atmen noch Raum zum Grübeln ließ.

Damals wusste ich auch nicht, in welcher Sprache sich die beiden berieten, als die Mörder das Tal verlassen hatten. Arabisch – inzwischen habe ich davon mehr vergessen, als ich noch beherrsche. Aber das hat keine Bedeutung für die Geschichte, die zu erzählen man mich gedungen hat. Ebenso wenig das, was in den folgenden fünf Jahren geschah. Ohne die Kenntnisse und Fertigkeiten, die ich in diesen Jahren erwarb, hätte ich all das, was aufzuschreiben ist, weder erlebt noch überlebt. Insofern hat es eine gewisse Grundbedeutung, wie die Mauern sie haben, die den Palast oder den Kerker tragen. Ob das Leben, von dem ich zu berichten habe, Palast war oder Kerker, mögen andere erwägen; hierzu ist es nicht nötig, die Grundmauern des Gebäudes genau zu kennen. Aus diesen fünf Jahren sei also nur verzeichnet, was für die Erfassung des übrigen Berichts unabdingbar ist.

Der Mann, der sich auf mich geworfen und mir den Mund zugehalten hatte, war Grieche und muss damals um die fünfunddreißig gewesen sein. Je nachdem, wo wir uns gerade aufhielten, nannte er sich Georg, Georges oder Giorgio; unter uns hieß er Jorgo. Er war versklavt worden und ein Diener von Kassem ben Abdullah. Den zweiten Diener sah ich nicht gleich; Ibrahim, der Jude war, eigentlich Abraham hieß und sich Avram nannte, hütete die Pferde, während die anderen durch den Wald schlichen. Und Kassem, natürlich, mein Herr, mein Vater, Freund und Leiter – aber über ihn und die anderen wird später genug zu schreiben sein.

Nachdem die Mörder fort waren, warteten wir eine Weile, um sicher zu sein, dass sie nicht zurückkommen würden. Dann gingen wir ins Tal zu den Ruinen und den Toten.

Da dies nicht die Geschichte meiner Empfindungen ist, brauche ich mich nicht an das Grauen zu erinnern. Einhundertneun Tote; ich wäre der hundertzehnte gewesen. Kassem wollte weiterreiten; die beiden anderen zeterten und flehten (so klang es, und so sah es aus), bis er bereit war, länger zu verweilen. Schließlich fasste er selbst mit an. Meine Eltern und Geschwister legten wir in ein kleines Grab, auf dem ich ein Holzkreuz errichtete. In den Querbalken ritzte ich die Namen, abgekürzt, so gut es ging. Für die anderen Dorfbewohner gab es ein großes gemeinsames Grab.

Später erfuhr ich, dass Jorgo und Avram sich dafür eingesetzt hatten, mich mitzunehmen, wenigstens bis zum nächsten größeren Ort. Ich war zu ausgehöhlt, als dass ich Gedanken auf meine Zukunft hätte verschwenden können. Später überlegte ich, ob es eine andere Möglichkeit gegeben hätte – für mich, nicht für Kassem, Jorgo und Avram. Sie hätten mich zurücklassen oder erschlagen können.

Und ich? Hätte ich denn zurückbleiben sollen, um allein das Dorf wieder aufzubauen, allein die Felder zu bestellen? Seit wir aus der Stadt in dieses Dorf gekommen waren, hatte ich das Bauernleben gehasst – vier Monate, seit der Flucht. Ich wusste nicht einmal, warum wir dorthin geflohen waren, mit der Billigung des Grafen, dem die Ländereien und das Gutshaus gehörten. Aber was wusste ich schon? Die Eltern hatten mich lesen, schreiben und rechnen gelehrt, dazu Latein und Französisch, und nichts davon war auf den Äckern hilfreich, abgesehen vielleicht davon, dass ich beim Melken und Roden und Graben nutzlosen Gedanken und Wünschen hatte nachhängen können, die die Arbeit nicht leichter, sondern noch scheußlicher machten. Mehr konnte ich nicht mitnehmen; mehr als das, was sich in meinem Kopf befand und was ich am Leib trug, hatten die Mörder und Plünderer nicht zurückgelassen.

Eines gab es noch …, aber da ich die Fremden, die bei mir waren, nicht kannte und ihnen nicht vertraute, konnte ich das Versteck nicht aufsuchen und öffnen. Das wollte ich bei nächster Gelegenheit tun, später, bald.

Einen Gegenstand allerdings fand ich, den ich mitnehmen konnte und der mir in all den Jahren das Denken und Lachen und Leben erleichtert, oft auch erst ermöglicht hat. Und angeblich war es dieser Gegenstand, der Jorgo und Avram dazu brachte, sich für mich zu verwenden: mich mitzunehmen, zu ihrer Unterhaltung und Erbauung.

In den Trümmern unseres Hauses fand ich, zu meinem Erstaunen unversehrt, den kleinen harten Kasten mit meiner Fiedel: Freundin, die ich weinen lassen konnte, wenn ich keine Tränen zeigen durfte, die oft spottete, wenn ich ein ernstes Gesicht zu machen hatte, die manchmal Kehlenschlitzer tanzen ließ, bis sie meinen Hals vergaßen, und die zuweilen zwischen mir und dem Hungertod eine Wehr aus Brotstückchen und kleinen Münzen errichtete.

Fast fünf Jahre des Lernens und des Reisens vergingen, bis ich ins Tal zurückkehrte.