Don’t worry,
be happy
Gelassen Eltern werden –
Gelassen Eltern sein
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015
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Umschlaggestaltung: Kathrin Keienburg-Rees
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ISBN (E-Book) 978-3-451-80521-9
ISBN (Buch) 978-3-451-31572-5
Für Thomas
Inhalt
Einleitung
Von der Abenteurerin zur Hebamme
Die Geburt von Matthis
»Richtige« Regeln für den natürlichen Vorgang?
Kapitel I
Vor der Schwangerschaft
Warum bekommen wir eigentlich Kinder?
Gibt es einen optimalen Zeitpunkt?
Früher Kinderwunsch
Kinderkriegen im Studium
Später Kinderwunsch
Dem Storch auf die Sprünge helfen
Vom Segen der Schwangerschaft
Kapitel II
Vor der Geburt
Schwanger werden ist (meist) nicht schwer
Freude und Angst
Gefühlswelten und körperliche Veränderungen bei Frauen und Männern
Die Leiden des Herrn Smith
Wenn der Bauch wächst – und was das so mit sich bringt …
Alleinerziehend
Viele verschiedene Familienmodelle
Das natürlichste Wunder der Welt
Als Hebamme im Sudan und in Indien
Was ist üblich?
Der Mutterpass
Schwangerenvorsorgeuntersuchungen
Was sind Risiken?
»Ja« oder »nein« zur Untersuchung
»Hauptsache gesund«
Alter
Die Philosophie der informierten Entscheidung
Geburtsorte
Außerklinische Geburt
Klinische Geburt
Der hebammengeleitete Kreißsaal
Gebärpraxis
Kapitel III
Geburt
Die Geburt meiner Tochter
Geburtserlebnis
Der errechnete Geburtstermin
Hebammenhilfe gibt es seit Jahrtausenden
Kaiserschnitt
Endlich die ganze Geschichte von Matthis’ Geburt
Kapitel IV
Nach der Geburt
Das pflegeleichte Baby
Schlaf’, Kindlein, schlaf’!
Warum Babys schreien
Ist das Elternglück immer glücklich?
Die Großeltern wissen alles (besser)
Natürlich stillen?
Schnuller
Alkohol?
Säuglingsnahrung – eine sichere Sache?
Die Familie pflegen und schützen
Auszeiten
Arbeit
Alle Kinder lernen Laufen
Matthis’ erstes Jahr
Nachwort
Dank
Anmerkungen
Was man zu verstehen gelernt hat,
fürchtet man nicht mehr.
Marie Curie, 1867–1934
Seit ich ein kleines Mädchen war, träumte ich von Abenteuern in der großen weiten Welt. Ich verschlang Bücher über Reisen in unerforschte Gegenden. Wenn Abenteuerfilme liefen, bettelte ich alle Großen an, mit mir ins Kino zu gehen. Auf meinen Bildern ritt ich auf Kamel-, Elefanten- und Pferderücken, saß an Lagerfeuern oder segelte auf riesengroßen Schiffen. Immer schien dabei die Sonne. Ich verbrauchte eine Menge gelbe Farbe und alle Bilder zeigten Szenen aus warmen Gefilden. Auch vom Wundern war ich sehr angetan. Ob nun im Alten Testament, meinem Chemiebaukasten oder in Alice im Wunderland. Alles, was ich nicht verstand, war ungeheuer spannend. Als es schließlich um das »richtige« Leben und eine Berufswahl ging, wollte ich unbedingt Reisejournalistin werden, vielleicht auch Filmemacherin. Und zwar eine, die Dokumentarfilme über das Leben in unbekannten Ländern drehen sollte. Beide Berufe versprachen große Abenteuer. Ich wollte partout keine Langeweile und unbedingt Kontakt mit vielen Menschen und Kulturen – Wunder wären auch nicht schlecht gewesen, aber dazu fiel mir kein Beruf ein.
An der Universität orientierte ich mich dann erst einmal in Richtung Medienwelt. In den Semesterferien konnte ich meine Entdeckerinnenlust auf Reisen im VW-Bus durch die Sahara oder auf dem Hippie Trail gen Indien ausleben. Glücklich war ich über die Möglichkeit, neben und nach der Universität als Praktikantin – das gab es auch schon 1979 – beim BBC und als Journalistin beim Frauenfunk im WDR zu arbeiten. Meine Recherchen drehten sich bei der BBC um politische Themen wie etwa dem Drama in der US-Botschaft 1979, als 400 iranische Studenten die US-Botschaft in Teheran stürmten und 52 US-Diplomaten für 444 Tage gefangen hielten. Der Befreiungsversuch misslang; eine Demütigung für die Supermacht USA, die den damaligen Präsidenten Carter die Wiederwahl kostete. Das war spannend und auch abenteuerlich, aber ich saß nur am Schreibtisch und sehnte mich danach, zu reisen und Menschen vor Ort zu treffen. Beim WDR kam ich meinen Berufsträumen dann ein wenig näher. In einer meiner ersten selbstständig recherchierten Reportagen berichtete ich von der Arbeit einer freiberuflichen Hebamme in Köln. Ich führte Interviews vor Ort, durfte bei einer Geburt anwesend sein und kam danach morgens um fünf Uhr glücklich in meine Wohnung. Dieses Glücksgefühl verstand ich damals nicht so recht. Es hielt zwei Tage an, für den Hörfunktext schrieb ich von einem Wunder, bei dem ich Zeugin sein durfte. War das der fehlende Baustein zu meinem Glück im Berufsleben – das Wunder? Ich war noch nicht sicher und so machte ich mit meinem ersten Gehalt eine Reise in den Südosten Indiens. Die Reisejournalistin in mir wollte und sollte über die Gesundheit von Frauen in dieser Region recherchieren. Ich besuchte Gesundheitsstationen, Krankenhäuser und interviewte für die Gesundheitspolitik verantwortliche Menschen. Einen direkten Zugang zum Leben der in Tamil Nadu lebenden Frauen bekam ich auf diesem Weg aber nicht. Also suchte ich nach Hebammen und mir begegnete Amisha, eine der traditionellen Hebammen in der Nähe von Pondicherry. Ihr bin ich heute noch sehr dankbar. Sie sagte (sinngemäß): »Mädchen, guck nicht nur, sondern hilf mir!« Also half ich; anfänglich als praktischer Fahrdienst. Da sie selbst gewöhnlich auf einem Fahrrad die Strecken meisterte, war mein gemietetes Motorrad eine enorme Beschleunigung. Wir wohnten in nebeneinanderliegenden Hütten. Ich allein, sie zusammen mit ihrem Mann Shivaj und den fünf Kindern. Tag und Nacht waren wir unterwegs, um bei Geburten zu unterstützen und in den ersten Tagen nach der Geburt Mutter und Kind zu betreuen. Mein Leben war wie ein Traum. Bei jeder Geburt spürte ich diesen schon in Köln erlebten Zauber, der mich in seinen Bann zog. Die Stärke und Intuition der gebärenden Frauen, ihr Glaube an die »Richtigkeit« all der Dinge, die sie um die Geburt herum erlebten, faszinierten und befremdeten mich zugleich. Es lief nicht immer alles reibungslos und medizinische Hilfe war etliche Meilen entfernt.
Vier Monate hatte ich in Tamil Nadu verbracht; eine sehr intensive Zeit mit vielen Frauen erlebt – und auf dem Rückflug wusste ich dann plötzlich: Ich werde Hebamme! Das ist mein Platz im Leben, ein Platz, der mir die Erfüllung aller meiner Träume von Abenteuer ermöglichen würde, der mich dem Wunder des Menschseins deutlich näher brachte als alle journalistische Berichterstattung es je tun könnte.
Mein Hebammenleben begann 1981 als junge Mutter in der Hebammenschule in Berlin Neukölln. Die Frauenklinik leitete Professor Erich Saling, der Vater der Perinatalen Medizin. Der 1925 geborene Arzt und Forscher wollte sich nicht damit abfinden, dass sich so gut wie niemand um das Ungeborene kümmerte und drohende Gefahren perinatal, also schon vor, während und kurz nach der Geburt, abzuwenden suchte. Er war derjenige, der das ungeborene Kind als »Patienten« entdeckt hatte. Zeitlebens entwickelte er immer wieder Früherkennungsmethoden und Behandlungsverfahren, um die Frühgeburtlichkeit zu senken. So wichtig seine Forschungsarbeit war, so einschränkend war diese Forschung für viele werdende Mütter. Sie mussten Regeln, Untersuchungen und Eingriffen zustimmen, die dem Versuchsdesign zuträglich waren, aber nicht dem Gebärprozess.
Zu Beginn meiner Ausbildungszeit sah sich Prof. Saling mit zahlreichen Schwierigkeiten konfrontiert. Viele von seinen Hebammenschülerinnen, und ich gehörte dazu, kritisierten das »ärztliche Patriarchat«, die »Medikalisierung des natürlichen Vorgangs Schwangerschaft und Geburt«, die »kalte Atmosphäre« in Krankenhäusern allgemein und besonders in den Geburtskliniken, die Forschung betrieben.
Wir fanden, dass die Zeit in Deutschland reif war für ein Infragestellen der Routineabläufe der Geburtsmedizin. Wir besichtigten Geburtsstationen, kritisierten selbstbewusst, was uns missfiel, und gründeten Schwangerengruppen in vielen Stadtteilen West-Berlins. Wir dachten über Alternativen zu Krankenhäusern und über Hausgeburten nach.
Das klingt vielleicht heute merkwürdig, aber damals war es Standard, dass zu Arbeitsbeginn im Kreißsaal nahezu alle Frauen auf der linken Seite liegend, versorgt mit einer Periduralanästhesie, an diversen Infusionen angeschlossen auf ihre Babys warteten. Wir als Hebammenschülerinnen waren Expertinnen darin, rollbare Tische mit steril verpackten Instrumenten zu füllen und unseren ärztlichen Kollegen anzureichen. Danach räumten wir alles fachgerecht beiseite und dokumentierten die Eingriffe. Nicht, dass dies keine wichtigen Arbeiten gewesen wären, aber die Begleitung einer jungen Familie bei der Geburt hatte ich mir anders vorgestellt. Ein Glück, dass ich es schon anders erlebt hatte – sowohl in Indien als auch bei der Geburt meiner Tochter!
So gründeten wir 1982 den Verein »Geburtshaus für eine selbstbestimmte Geburt«. Aus dem Verein entstand 1983 eine Beratungsstelle mit einem wegweisenden neuen Konzept für schwangere Frauen und Eltern nach der Geburt. Eines unserer erklärten Ziele war das Recht auf selbstbestimmte Geburt und die Schaffung frauenfreundlicher Alternativen zur klinischen Geburtshilfe. Unsere »Bibel« war die Diplomarbeit der Soziologin Hanne Beittel mit dem Titel Macht, Herrschaft und Gewalt. Zur Situation von Frauen in unserer Gesellschaft am Beispiel der Geburtshilfe. Mir ist bis heute ein zentraler Satz dieser Arbeit in Erinnerung: »Wenn wir die Gewalt, die unser aller Leben bedroht, abbauen wollen, dann haben wir die Möglichkeit, das zu tun, indem wir uns gegen die Gewalt in der Geburt wehren, uns wehren, dass aus der Schwangerschaft eine Krankheit und aus der Geburt ein medizinischer Eingriff wird, dem wir Frauen machtlos gegenüberstehen.«1
Um auch von anderen Menschen zu lernen, blickten wir über den Tellerrand und begannen uns mit Frauengesundheitsprojekten in anderen Ländern auszutauschen. Forschungsprojekte im Verbund der Berliner Frauenforschung zu Themen wie Gebärhaltungen und Betreuung bei vorzeitigen Wehen folgten in den Jahren darauf. Fünf Jahre später wurde das erste Geburtshaus Deutschlands in Berlin-Charlottenburg eröffnet, das aus diesem Verein hervorging. Schnell erkannte ich, um gesellschaftlich etablierte Gewohnheiten zu verändern, würde ich viel Mut, Energie und eine gewisse Hartnäckigkeit brauchen. Während dieser Zeit waren es vor allem die Geburten von Babys, die meine Energie- und Glücksakkus wieder aufluden. Auf meine Tätigkeit als Hebamme bereitete mich nicht nur meine gute Ausbildung vor, sondern auch und vor allem meine eigene Erfahrung als junge Mutter. Das Erkunden verschiedener Gebärumgebungen führte mich in große und kleine Kliniken. In einer von einem anthroposophisch orientierten Frauenarzt geleiteten Gebärpraxis lernte ich ein etwas anderes medizinisches Menschenbild kennen, hier zeigte sich deutlich, wie unterschiedlich die »Bräuche« um die Geburt herum die Sichtweise auf das Leben bestimmen können. Wie selbstverständlich führten wir Schwangerenvorsorgeuntersuchungen durch, wenn kein Arzt anwesend war – 1985 war das keine Aufgabe, die von Hebammen übernommen wurde. Hausgeburten begleitete ich des Öfteren, wenn der Gebärvorgang so weit fortgeschritten war, dass wir es weder in die Gebärpraxis noch in eine Klinik schafften. Diese Erfahrungen bereiteten mich auf Einsätze im Rahmen des Deutschen Entwicklungsdienstes vor, die mich in Dörfer im Sudan und wieder nach Südindien führten. Zurück in Berlin eröffnete ich schließlich meine eigene Hebammenpraxis, die bis heute existiert. Hier ging ein großer Traum von mir in Erfüllung. Auch heute noch, nach vielen Jahren, liebe ich die Arbeit in meiner Praxis und könnte mir keine erfüllendere Tätigkeit vorstellen. Zeitgleich konnte ich eine Gebärpraxis auf einem Klinikgelände mitbegründen, begann an Hebammenschulen zu unterrichten und hielt Vorträge über meine Erfahrungen in der außerklinischen Geburtshilfe auf Kongressen. An Konzepten für interdisziplinäre Zusammenarbeit arbeitete ich mit Menschen verschiedener Berufsgruppen im Zentrum für Gesundheitsethik an der evangelischen Akademie in Hannover und entwickelte als Mitglied einer Expertinnengruppe mit Kolleginnen zusammen Qualitätskriterien für unseren Beruf. Der Deutsche Hebammenverband ermöglichte uns das Erforschen von wissenschaftlichen Zusammenhängen um das Elternwerden und -sein. In dieser Zeit begann ich auch wieder mit dem Schreiben. Neben Beiträgen in Lehrbüchern für Hebammen und Ärzte und in wissenschaftlichen Zeitschriften verfasste ich Empfehlungen zur Qualitätssicherung im Hebammenberuf. 2005 bekam ich die Chance, Ratgeber für werdende Eltern zu schreiben. Dazu kamen Vorträge, Fernseh- und Hörfunkgastbeiträge. Das war klasse, nicht nur, weil ich meinen Tätigkeitsbereich öffnen konnte, sondern auch, weil mir diese Einnahmen meine Art der Hebammenarbeit überhaupt erst möglich machten. Für mein Konzept der Familienbegleitung hatte ich Zeitbegrenzungen nie eingehalten oder auf besondere Wirtschaftlichkeitskriterien geachtet. Ohne meine Bücher hätte ich nicht weiter als Hebamme arbeiten können …
Meine Reiselust blieb. Zur besonderen Freude meiner Familie muss ich immer wissen, wo und wie Babys in den verschiedenen Ländern geboren werden und weitete so mein Netzwerk aus. Das schönste an meinem Beruf bleiben aber die täglichen Hausbesuche. Die große Freude, Babys bewundern zu dürfen, ist so lebendig wie in meinen Anfangszeiten. Dankbar bin ich auch über die Offenheit und die vielen Fragen der Menschen, die ich bei der »Hebammerei« begleiten darf. Es sind die werdenden Eltern, die mich immer wieder motivieren, über Themen zu schreiben und somit vielleicht auch andere werdende Eltern zu unterstützen.
Heutzutage sind die meisten schwangeren Frauen, aber auch die werdenden Väter von möglichen Gefahren, vom Risikodenken bestimmt. Diese Ängste werden von außen geschürt.
»Gelassen Eltern werden – Gelassen Eltern sein« scheint ein weit entfernter Idealzustand.
Ein Motto von mir, ausgeliehen von Marie Curie – »Was man zu verstehen gelernt hat, fürchtet man nicht mehr« – ist genau das, was mir Eltern am Ende der Begleitung immer wieder bestätigten. In diesem Sinn möge Sie das Buch auch bei den etwas schwierigeren Entscheidungen, die in Schwangerschaft, bei der Geburt und beim Elternsein auftreten könnten, unterstützen. Selbstverständlich kann dieses Buch keinen umfangreichen, Fakten spendenden Ratgeber ersetzen. Ich zeige Ihnen Perspektiven, wie Sie bei der Gründung Ihrer Familie einen eigenen Weg finden mögen – einen Weg, der auf einem hilfreichen Maß an Wissen und Gelassenheit beruht, damit Sie auf Ihre eigene rationale und emotionale Einschätzung in dieser aufregenden Zeit vertrauen können.
Mit meinem Buch möchte ich aus der Flut der Informationen Wege zur Orientierung aufzeigen, die zu mehr Gelassenheit führen können. Das zielt nicht nur auf die Betroffenen, die schwangeren Frauen und werdenden Väter, sondern auch auf die Menschen, die mit dem Thema in ihrem Leben konfrontiert werden, wie Menschen mit Kinderwunsch, werdende Großeltern oder Profis im Medizinbereich. Ein generelles Umdenken scheint in vieler Hinsicht nötig!
Beginnen möchte ich mit einem Wunder. Zumindest für mich und die allermeisten Eltern ist die Geburt ihres Kindes ein Wunder – ein kleines oder auch ein großes. Jede Geburt ist der Übergang der Lebensphase vom »Gelassen Eltern werden« zum »Gelassen Eltern sein«. Und so erzähle ich Ihnen zuerst von der Geburt von Matthis, einem wunderschönen kleinen Jungen.
Das Erste, was ich von Matthis zu sehen bekam, war sein dichtes dunkles Haar. Ich schaute ruhig zu, wie er sich langsam Stück für Stück ans Licht der Welt vorarbeitete. Als sein Köpfchen geboren war, öffnete er die Augen – und das obwohl sein restlicher Körper noch in seiner Mutter steckte. Er schaute mit seinen großen Augen ganz ruhig – für eine Wehenpause lang – und schloss sie wieder, als er seine Schultern durchs Becken seiner Mutter drehte. Nachdem er ganz geschlüpft war, schimpfte er mit dunkler Stimme. Matthis ruderte etwas mit Armen und Beinen und entspannte sich erst ein wenig, als ein angewärmtes Handtuch und die Umarmung seiner Eltern folgte. Die beiden lachten und weinten, streichelten ihn und erzählten ihm, wie sehr sie ihn erwartet hatten. Auch ich spürte, wie Tränen in meine Augen traten. Ich fühlte in seiner Nabelschnur ein Pulsieren der Gefäße für einige Minuten. Er wurde in diesem kurzen Zeitraum noch von seiner Mutter mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt. Matthis konnte gut atmen, hatte eine rosige Haut, große Möbelpackerhändchen und Basketballerfüßchen, in seinen Hautfalten saß noch etwas Käseschmiere. Ganz wach hörte er auf die Stimmen seiner Eltern und betrachtete erst seine Mutter und dann seinen Vater über 30 Minuten lang sehr intensiv. Er folgte seinem Vater mit den Augen, als dieser herumging, um etwas zu trinken zu holen, wobei er den Kopf drehte, um ihn im Auge zu behalten. Nach dieser ersten Zeit auf der Welt wurde sein kleiner Körper wieder etwas unruhiger. Er bekam Durst und Hunger. Um das klar zu machen, öffnete er seinen Mund und leckte die Lippen. Sein Kopf bewegte sich hin und her. Er fing an zu schmatzen und steckte ein Fäustchen in den Mund. Als seine Mutter ihn an die Brust legte, musste er ein bisschen üben, um die Brustwarze und Teile des Warzenhofes in seinen Mund zu bekommen. Er wurde dabei ein wenig ungeduldig und begann zu schimpfen. Als es ihm endlich geglückt war, half ihm das Nuckeln an der Brust, sich zu entspannen. Matthis begann in dieser Zeit, seine Mutter nicht nur über die Augen, sondern auch über das Fühlen, das Riechen, über das Hören und das Schmecken zu erfahren.
Er trank konzentriert und kräftig für zehn Minuten und nuckelte danach mit kleinen Pausen weitere 15 Minuten. Als er schließlich die Brustwarze losließ, wirkte er ein wenig schläfrig. Die erste Untersuchung, die ich an ihm vornahm, ließ er geduldig über sich ergehen. Als er gewogen wurde, fühlte sich die Metallschale der Waage offensichtlich unangenehm an, er begann leise zu quengeln, und die Vitamin K Tropfen, die ich ihm gab, ließen ihn das Gesicht verziehen. Bevor er einschlief und sich etwas von der Geburt erholte, wurde er ein weiteres Mal gestillt. Matthis ist um 9.28 Uhr geboren, an einem Freitag im Februar.
Der Zauber einer Geburt hat mich immer berührt – so auch bei Matthis. Ganz egal, an welchem Ort die Babys zur Welt kamen – und es waren sehr viele verschiedene Orte, an denen ich das erleben durfte. Vom Hüttenboden über das heimische Bett oder die Badewanne, bis hin zum Kreißsaalbett, dem Gebärhocker, der Matte auf dem Boden oder dem OP-Tisch. Mir kamen oft die Tränen. Meistens konnte ich sie ganz gut verstecken. Alle anderen Anwesenden waren beschäftigt und wenn es mich zu sehr erwischt hatte, konnte ich immer noch »dringend« ein weiteres Tuch holen gehen und die Spuren meiner Gefühle heimlich beseitigen. Ich war immer sehr ergriffen und gleichzeitig glücklich, wenn die Babys gut geschlüpft waren und es den Müttern ebenfalls gut ging.
Mein professioneller Blick beschreibt diese Geburt allerdings etwas anders. Matthis kam aus Expertinnensicht ohne Komplikationen in einer Gebärpraxis zur Welt. Seine Eltern verließen die Praxis gemeinsam mit ihm einige Stunden nach seiner Geburt. In Deutschland werden ungefähr 1,5 Prozent aller Babys außerhalb einer Klinik geboren. Er ist also kein statistisches »Durchschnittsbaby«. Aber welches Baby ist das schon? Matthis hat neben seinem Übergang vom Bauch seiner Mutter in diese Welt schon unglaublich viele wichtige körperliche Entwicklungsschritte und Erfahrungen für sein Leben gesammelt. Dazu gehören die Umstellungsprozesse in seinem Körper genauso wie das Gefühl, angenommen zu sein, Nahrung und Wärme zu bekommen, geliebt zu sein und medizinische Versorgung zu erhalten.
Alle Eltern möchten gern die ersten wichtigen Umstellungsprozesse ihrer Babys spätestens am fünften Tag nach der Geburt erklärt bekommen. Matthis’ Eltern schon etwas früher. Und so erklärte ich ihnen von diesen vielen Vorgängen, die in so kurzer Zeit abgelaufen waren. Ihr Baby war in seinem Bauchleben in der Gebärmutter durch die Nabelschnur auch ohne selbst zu atmen optimal mit Sauerstoff versorgt. Nach dem Durchtrennen der Nabelschnur hat Matthis seine Sauerstoffversorgung selbst übernehmen müssen und eigenständig zu atmen begonnen. Da die Lunge in seiner Bauchzeit außer Betrieb war, floss das von der Mutter mit Sauerstoff beladene Blut direkt von der rechten in die linke Herzkammer. Ein Loch im Herzen, das diesen Durchfluss gewährleistete, das sogenannte Foramen ovale, schloss sich in Sekundenschnelle. Für den Anschluss des Lungenkreislaufs waren diese entscheidenden Veränderungen erforderlich. Das war mit großen Umstellungsprozessen in Kreislauf, Lungen und auch dem Herzen verbunden. Beim ersten Atemzug füllten sich seine Lungen mit Luft und die Lungenbläschen entfalteten sich. Nach Aufnahme der eigenen Sauerstoffversorgung durch seine Atmung erschlaffte die Nabelschnur, die er nun nicht mehr brauchte. Mit einem Durchmesser von 1,5 Zentimeter, war sie nur 60 Zentimeter lang, spiralförmig gewunden und von der gelblichen Eihaut umgeben. Zum Anfang der Schwangerschaft enthielt seine Nabelschnur noch vier Blutgefäße, von denen sich die rechte Nabelschnurvene zwischen dem 28. und 32. Tag seiner Embryonalentwicklung zurückbildete. Danach verblieben drei Gefäße, zwei Nabelarterien, die kohlendioxidreiches und nährstoffarmes Blut von Matthis zur Plazenta seiner Mutter leiteten, und eine Nabelvene, die Blut von der Plazenta zu ihm leitete.
Nachdem das Blut in der Nabelschnur aufgehört hatte zu pulsieren, klemmte ich sie an zwei Stellen mit einem Zwischenraum von fünf Zentimetern ab und Matthis’ Mutter durchtrennte sie in der Mitte mit einer Nabelschere. Sie hatte sich gewünscht, diesen symbolischen Akt selbst auszuführen – oft übernehmen das auch die Väter.
Der Blutfluss zwischen Matthis und der Plazenta seiner Mutter wurde nun endgültig unterbrochen. So konnte er auch kein Blut verlieren, als sich die Plazenta löste. Genial!
Auf dem Weg durch den Geburtskanal hat Matthis’ Mutter ihm eine Gründerpopulation an Bakterien mitgegeben. Es sind vor allem Milchsäurebakterien, die aus der Vaginalflora stammen.
Wenn Matthis per Kaiserschnitt geborenen worden wäre, würden ihm diese Pionier-Keime aus der Vagina seiner Mutter fehlen. Bei Kaiserschnittbabys entdeckten Forscher vor allem Bakterien auf dem Körper, die sie der Haut der Mutter und des Arztes zuordnen konnten. Noch Monate später unterscheidet sich das Mikrobiom von Kaiserschnittbabys und vaginal geborenen Kindern. Das Mikrobiom bezeichnet die Gesamtheit aller den Menschen, oder andere Lebewesen besiedelnden Mikroorganismen. Offenbar werden also schon bei der Geburt wichtige Weichen gestellt.
Kurz nach der Geburt sind dann weitere Keime willkommen im Ökosystem Mensch. Doch die Gästeliste ist nicht zufällig. In Muttermilch oder Kunstmilch sind unterschiedliche Bakterien enthalten. Muttermilch ist nicht steril und enthält Bifidusbakterien sowie Nährstoffe, die gezielt das Wachstum der Bakterien fördern. Durch das Stillen siedeln sich hauptsächlich Bifidusbakterien und Lactobazillen im Darm der Neugeborenen an. Werden die Kinder mit Kunstmilch ernährt, besiedeln andere Bakterien den Darm. Die Zusammensetzung gleicht dann eher derjenigen eines Erwachsenen und enthält auch mehr Krankheitserreger. Wer und was diese Besiedelung reguliert, beginnen die Forscher erst langsam zu verstehen. Bakterien sind überall und doch für uns Menschen unsichtbar. Sie besiedeln Matthis’ Haut, Lunge, Darm und sämtliche Körperöffnungen. Doch welche Funktion sie dort genau erfüllen, weiß man noch nicht. Immer deutlicher zeichnet sich jedoch ab, dass Bakterien nicht nur im Darm wirken. Ihre Stoffwechselprodukte beeinflussen Immunsystem, Knochen, Lunge, Herz – und sogar das Gehirn. Neben Milchsäure produzieren die kleinen Helfer noch viele andere Stoffe, die den Körper beeinflussen. Dazu gehören zum Beispiel Enzyme, Hormone oder Antibiotika, also Stoffe der körpereigenen »Pharmaküche«, die helfen, Krankheiten zu bekämpfen.
Gerät das Gleichgewicht in der menschlichen Bakteriengemeinschaft durcheinander, kann der Mensch leicht krank werden. Für die Entwicklung des Immunsystems von Matthis scheint es nach dem heutigen Wissensstand wichtig zu sein, dass der Körper nach und nach Kontakt zu möglichst vielen Bakterien bekommt.
Weitere wichtige Schritte für Matthis’ Entwicklung sind die Momente, die er mit seinen Eltern erlebt. Sie gehören zu seinen grundlegenden Bindungserfahrungen. Er lernt so, was er zu erwarten hat, wenn er hungrig ist, Angst hat, müde oder krank ist, sich traurig fühlt, oder aus einem anderen Grund die Nähe seiner Eltern braucht.
1981 zeigte ein Psychologenteam der Uni Regensburg, was es bewirkt, wenn ein Neugeborenes seine ersten 45 Lebensminuten auf dem Bauch seiner Mutter liegen darf. Jene Babys wurden in der Folgezeit viel häufiger gestillt. Mit drei Monaten schrien sie weniger, wirkten ruhiger und entspannter. Der Blickkontakt, den sie mit ihren Müttern hielten, war häufiger und dauerte länger. Alles Zeichen einer engen Bindung. Das Gehirn eines Babys ist so gestaltet, dass es sich entsprechend seiner individuellen Umgebung und seiner Beziehungen vernetzen und anpassen kann. Als Folge der emotionalen Reaktionen seiner Eltern auf die unterschiedlichen Bindungsbedürfnisse eines Babys knüpfen sich Informationspfade im Gehirn. Diese Wege sind der Grundstein, um im späteren Leben Stress zu bewältigen, mit Wut und Aggressionen umgehen, mitfühlend und liebevoll sein zu können, Motivation zu haben, eigene Träume zu realisieren und an sich selbst zu glauben, auch entspannt zu sein und Ruhe empfinden zu können. Mit dieser Erfahrung entwickelt sich Matthis in den nächsten beiden Lebensjahren weiter und lernt durch die Art des Umgangs seiner Eltern mit ihm auch das Gefühl der Liebe kennen.
Matthis’ erste Erfahrungen mit einer medizinischen Versorgung erfolgten bei seiner ersten Vorsorgeuntersuchung, auch U1 abgekürzt, kurz nach dem ersten Trinken an der Brust seiner Mutter. Je nach Geburtsort des Babys findet die U1 im Kreißsaal, im Geburtshaus oder zu Hause unmittelbar nach der Geburt statt.
Mit dem sogenannten Apgar-Test orientieren sich Ärzte und Hebammen[2] direkt nach der Geburt und nach weiteren fünf und zehn Minuten über den Zustand des Neugeborenen. Der Test geht auf die amerikanische Ärztin Virginia Apgar aus den 1950er-Jahren zurück. Ein Punktesystem gibt über den Gesundheitszustand des Babys Auskunft. Je mehr von den möglichen zehn Punkten erreicht werden, desto besser der Zustand des Babys. Untersucht und bewertet werden Atmung, Puls, Grundtonus, Hautfarbe und Reflexe.
Matthis hatte eine Punktzahl von neun (direkt nach der Geburt) und zehn (nach fünf und zehn Minuten) erreicht. Er war auch wirklich sehr fit!
Nach seiner ersten ausgiebigen Brustmahlzeit untersuchte ich bei Matthis, ob er die Geburt gut überstanden hatte. Seine Eltern schauten interessiert dabei zu. Mit den Babys rede ich immer und erzähle ihnen, was ich mit der Untersuchung bei ihnen vorhabe. Meiner Erfahrung nach sind dann alle Babys ruhiger und schimpfen weniger. Ich horchte das Herz und die Lunge ab, betrachtete seinen Körper genau und beurteilte angeborene Reflexe. Außerdem überprüfte ich, ob er mit Fehlbildungen, Gelbsucht oder Schwellungen zur Welt gekommen war und ob er die volle Reife für seine Schwangerschaftswoche erreicht hatte. Zudem habe ich Körperlänge, Gewicht und Kopfumfang gemessen. Als Matthis’ »Werte« klar waren, schickten seine Eltern diese Details über ihre Smartphones in die Welt.
Für mich ist diese Schnelligkeit der Kommunikationswege so rasch nach einer Geburt immer noch ein wenig fremd. Wollen die stolzen Eltern vielleicht das Wunder verdoppeln? Anstelle der einige Tage nach der Geburt geschriebenen Karte posten Mütter und Väter bereits auf dem Gebärbett mit ihren vor Glück und Erschöpfung zitternden Fingern das Bild ihres dann oft etwas runzligen und schläfrig in die Welt blinzelnden Babys.
Manche richten auch gleich schon mal den ersten E-Mail-Account für ihr Baby ein. Zu den ersten vermittelten Daten gehören immer Gewicht, Länge, Kopfumfang und Geburtszeit und manchmal auch der Gemütszustand der Eltern. Schön finde ich, dass die frischgebackenen Eltern sich dabei so viel Mühe geben, aber aus meiner Sicht könnten sie ihren Eifer ein wenig zurückschrauben und ihr kleines Wunder erst einmal in Ruhe und für sich genießen. An solchen Dingen merke ich immer, dass ich schon eine »alte Amme« geworden bin …
Etwas Blut aus der durchtrennten Nabelschnur nutzte ich, um die Sauerstoffversorgung während der Geburt zu ermitteln. Der pH-Wert gibt Auskunft über den Säure-Basen-Haushalt im Blut, der eine Abschätzung der Sauerstoffversorgung von Matthis erlaubt. Dafür hatte ich nach dem Abnabeln und vor der Geburt der Plazenta bereits zwei Blutproben aus der Nabelschnur entnommen. Eine aus der Vene und eine andere aus einer der beiden Arterien. Falls Matthis durch eine Sauerstoffunterversorgung während der Geburt Stress gehabt hätte, wäre eine Übersäuerung im Blut entstanden. Der pH-Wert ist dann niedriger als gewöhnlich. Diese Untersuchung gehört heute an vielen Geburtsorten zur Routine. Da in der Nabelschnur keine Nerven liegen, ist sie für alle Babys vollkommen schmerzfrei. Ein optimaler Nabelarterien-pH-Wert liegt bei 7,30 oder höher. Normal gelten die Werte noch zwischen 7,12 und 7,29. Werte unter 7,12 zeigen eine grenzwertige Übersäuerung an. Bei einem pH-Wert unter 7,00 kommt es häufiger zu Anpassungsproblemen bei Babys. Es ist sinnvoll, dann den Kinderarzt zu rufen oder das Baby eventuell zur Sicherheit in eine Kinderklinik zu verlegen. Meistens sind die Kleinen in der Lage, den pH-Wert innerhalb von zwei Stunden nach der Geburt durch das Aufnehmen der eigenen Atmung in den Normalbereich zurückzuführen oder dem Normalbereich anzunähern. Diesen ersten erhobenen Blutbefund trug ich in den Mutterpass und das Kinderuntersuchungsheft ein.
Alle Babys und Kinder bekommen seit 1976 in Deutschland kostenlose Vorsorgeuntersuchungen angeboten. Seit 1991 sind diese in allen Bundesländern einheitlich. Die erste Untersuchung beginnt direkt nach der Geburt. Die letzte findet dann im Alter von 16 bis 17 Jahren statt. Bei den Untersuchungen schauen Kinderärzte, bei der ersten Untersuchung auch die Hebamme oder Frauenärztin, ob sich das Baby gesund entwickelt hat. Die Ergebnisse der Untersuchungen werden in das »gelbe Heft« eingetragen, das alle Eltern am Geburtsort des Babys bekommen.
An die U1 schließen Beratungen über empfohlene Prophylaxen an. Matthis’ Eltern informierte ich über die in unserer Region übliche Vitamin-K- und Augen-Prophylaxe. Sie entschieden sich für die Gabe von Vitamin K. Vitamin K ist ein fettlösliches Vitamin, das mit der Nahrung und über die Muttermilch aufgenommen werden kann. Es wird aber auch von Bakterien produziert, die im Darm vorkommen. Dieses Vitamin ist in der Leber an der Bildung einiger grundlegender Blutgerinnungsfaktoren beteiligt und daher lebensnotwendig. Seit 1994 gilt die Empfehlung der Ernährungskommission der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde, dass alle Neugeborenen dreimal zwei Milligramm Vitamin K in gelöster Form erhalten sollen. Die Gabe erfolgt jeweils nach der Geburt bei der U1 sowie bei der zweiten und dritten Vorsorgeuntersuchung. Hintergrund für diese Empfehlung ist, dass ein Mangel an Vitamin K zu verstärkten Blutungen bei Säuglingen zwischen der ersten und zwölften Lebenswoche führen kann. Während in der ersten Lebenswoche in der Regel nur leichtere Blutungen im Darm, an der Nabelwunde oder nach einer Blutentnahme auftreten können, sind Blutungen zwischen der dritten und zwölften Lebenswoche weitaus problematischer. Sie könnten das Gehirn betreffen und dauerhafte Schäden hervorrufen. Da der Vitalstoff in der Schwangerschaft nur sparsam dosiert zum Baby gelangt, ist sein Vitamin-K-Speicher nicht sehr groß. Zwar enthält die Vormilch eine größere Menge davon, aber in der reifen Muttermilch lässt der Gehalt deutlich nach. Gestillte Babys sind erst nach einigen Wochen in der Lage, selbstständig Vitamin K zu bilden. Künstlicher Säuglingsnahrung dagegen ist das Vitamin zugesetzt. Bei Flaschenkindern wird der Darm rascher von Kolibakterien besiedelt, die Vitamin K erzeugen.
Die Augen-Prophylaxe soll eine Infektion der Augen des Babys bei der Geburt verhindern. Diese Prophylaxe mit der Gabe von einem Tropfen Silbernitratlösung oder einem Antibiotikum lehnte Familie Peters ab. Beide Methoden sind nicht gegen alle Erreger wirksam und haben Nebenwirkungen. Silbernitrat reizt die Augen und kann schmerzhaft sein. Antibiotika können resistente Keime fördern. Da Frau Peters am Ende der Schwangerschaft auf vaginale Infektionen untersucht worden war und bei ihr kein auffälliger Befund festgestellt worden war, wollten Peters keine Tropfen für Matthis. Sie wussten ja auch, dass im Wochenbett sowohl der Kinderarzt als auch ich nach einer Infektion schauen werden und diese dann gegebenenfalls behandelt werden kann.
Dieser kurze Blick auf den Übergang vom Eltern werden zum Eltern sein und den vielen »Wissensthemen« drum herum macht deutlich, mit welchen für sie neuen Gedanken und auch Entscheidungen sich werdende Eltern heute beschäftigen können und müssen. Meine Aufgabe in der Begleitung ist es, darzustellen, worum es eigentlich geht. Die Beratung hat sich in den letzten Jahren sehr verändert, Medizin und Wissenschaft haben große Fortschritte gemacht und das alte Wissen über Schwangerschaft, Geburt und Elternschaft scheint an Bedeutung zu verlieren.
Frauen wussten bis vor 50 Jahren recht wenig von dem, was in ihrem Körper wirklich vor sich ging. Schwangerschaft und Geburt waren Wunder des Lebens, von Geheimnissen umgeben, und sind erst in den letzten Jahrzehnten in den Bereich des Verständnisses gelangt. Nicht nur die neueren Erkenntnisse der Medizin und anderer Wissenschaften, sondern auch die Abschaffung des »Herrgott in Weiß« und das Infragestellen des tradierten Hebammenwissens ebneten den Weg zu vermeintlicher Selbstverantwortung und Patientenhoheit. Die Fenster nach innen, die uns nun geöffnet sind, haben viel Segen und gleichzeitig aber viel Verunsicherung gebracht. So beobachte ich seit Jahren zunehmend, dass die Zeiten, in denen Frauen ihre Schwangerschaft als natürlichen Vorgang betrachteten und relativ gelassen und entspannt durchlebten, vorbei sind. Offensichtlich ist das Bewusstsein für mögliche Probleme umso größer, je besser die medizinische Betreuung, je umfassender die verfügbaren Informationen sind. Und schon beginnt die Anspannung für werdende Eltern.
Junge Familien leben heute in Deutschland unter dem Druck von hunderten Regeln zum Umgang mit Schwangerschaft, Geburt und mit ihrem Baby. Alle Beteiligten werden überflutet von Empfehlungen und Hinweisen auf »richtiges« Verhalten. Dazu kommen die vielen Informationen aus dem Internet. Am Ende steht häufig die Erkenntnis, dass es vielleicht falsch sein könnte, sich auf das eigene Bauchgefühl zu verlassen. Dabei kommt für werdende Eltern keine Entspanntheit und Gelassenheit auf, die für eine gesund verlaufende Schwangerschaft sehr hilfreich wäre.
Die Regeln für das »richtige Verhalten« beim Kinderkriegen werden häufig nicht nur aufgrund individueller Erfahrungen von Freunden, Bekannten oder Menschen diverser Berufsgruppen ausgesprochen, sondern auch mit Erkenntnissen der Forschung begründet. Dabei können wissenschaftliche Studien sehr fragwürdig interpretiert und Erkenntnisse unvollständig verbreitet werden. Beispielhaft möchte ich dies anhand von Veröffentlichungen zum Thema »Väter bei der Geburt« beschreiben. So hörte ich recht aktuell die etwas sorgenvoll gestellte Frage: »Meinen Sie, dass es wirklich schadet, wenn ich meine Partnerin zur Geburt begleite?« Solche Fragen erschüttern mich, denn sie zeigen eine tiefe Verunsicherung und spiegeln den Druck, ja das Richtige zu tun, wider. Was steckte nun hinter der Frage des werdenden Vaters?
»Neue Forschungsergebnisse zeigen, dass die Anwesenheit von Vätern bei der Geburt mehr Schaden als Hilfe ist – und sie die Schmerzen der Mutter während der Geburt verstärkt.« So lautete die Schlagzeile im Januar 2015 in Großbritannien. The Times titelte sogar: »It’s official: men really shouldn’t be at the birth.« (Es ist offiziell: Männer sollten wirklich nicht bei der Geburt dabei sein.)
Worauf nahmen die Journalisten Bezug? Eine Forschungsgruppe am University College London, dem King’s College London und der University of Herfordshire in England hatten Frauen auf ihre Schmerzintensität und -verarbeitung untersucht; mit und ohne den Partner. Sowohl Gehirnstrommessungen als auch die direkte Befragung der Frauen belegt: Bei einer beachtlichen Anzahl steigert die Anwesenheit des Liebsten die Schmerzempfindung.
Und so waren sich die Medien einig, es sei für alle Beteiligten besser, wenn Väter der Geburt eines Kindes fernblieben. Diese Schlussfolgerung steht in direktem Gegensatz zur realen Situation: In Großbritannien sind, Schätzungen zufolge, rund 95 Prozent der Väter bei Geburten anwesend; in Deutschland sind es 90 Prozent. Was sollten nun all diese Männer tun? Auf den Fluren ausharren, bis ihnen die freudige Nachricht überbracht wird?
Blicken wir nun genauer auf die wissenschaftliche Erkenntnis. Die britische Psychologin Charlotte Krahé veröffentlichte gemeinsam mit fünf Kollegen einen Tag vor den Meldungen ihre Studie »Attachment style moderates partner presence effects on pain« (»Die Art der Bindung beeinflusst, ob die Anwesenheit des Partners Auswirkungen auf das Schmerzempfinden hat«) in der Zeitschrift Social Cognitive and Affective Neuroscience. Die Studie sollte zeigen, ob das Schmerzempfinden von Frauen durch ihre Partner beeinflusst werden kann. 39 Frauen wurden schmerzhaften Laserimpulsen ausgesetzt – bei An- und Abwesenheit des Partners, aber auch, während der Partner, hinter einem Vorhang sitzend, scheinbar nicht anwesend ist. Die Frauen, die in alltäglichen Stresssituationen keine Nähe zum Partner suchten, sich nicht vom Partner emotional unterstützt fühlten und lieber auf sich selbst vertrauten, empfanden stärkere Schmerzen bei der Anwesenheit ihres Partners. Katernia Fotopoulou, eine weitere Autorin dieser Studie, erklärte: »Individuen, die Nähe vermeiden, können erleben, dass eine Anwesenheit anderer ihre Bewältigungsstrategie zu Gefahren blockiert, die sie bevorzugen, wenn sie alleine auf sich gestellt sind.«2
Die Studienergebnisse können nicht auf die Geburtssituation übertragen werden. An der Untersuchung nahmen 39 heterosexuelle Paare teil, die mindestens ein Jahr eine Beziehung zueinander hatten, weder zur Zeit der Studie noch davor jemals Erkrankungen oder Behandlungen hatten, die einen Einfluss auf ihr Schmerzempfinden haben könnten. Die Frauen waren durchschnittlich 25 Jahre alt und nicht schwanger.
Entscheidend war aber, dass die Paare während der Schmerzauslösung keinen Körperkontakt haben und keine Gespräche führen durften. Das entspricht selbstverständlich nicht dem üblichen Verhalten von Paaren in ähnlichen Situationen und schon gar nicht bei einer Geburt! Untersuchungen an der Universität von Virginia hatten 2006 klar gezeigt, dass verheiratete Frauen, die von ihren Männern die Hand behalten bekamen, ein verringertes Schmerzempfinden zeigten.
Tja, es ist in diesem Fall hilfreich zu erkennen, dass wissenschaftliche Untersuchungen über die Medien in die Öffentlichkeit gebracht werden und somit die höchste Aufmerksamkeit hervorrufen sollen. Gern gewürzt mit praktischen Ratschlägen für individuelles Verhalten.
Oft sind es auch die Wissenschaftler selbst, die zu der Veröffentlichung in begleitenden Gesprächen Zusammenhänge suggerieren, die weit über das hinausgehen, was sie untersucht haben. Ein Grund dafür könnte die Tatsache sein, dass Fördermittel meist schwer zu erhalten sind. Eine zusätzlich zum Forschungsinhalt konstruierte Verbindung zu grundlegenden wichtigen gesellschaftlichen Themen kann dabei helfen, finanzielle Unterstützung zu erlangen.
Ob das in diesem Fall so geschah, war für mich nicht mehr sicher auszumachen. In der genannten wissenschaftlichen Veröffentlichung selbst wurde in der Diskussion der Ergebnisse jedoch keine Verbindung zur Geburt hergestellt.
Dies ist kein Einzelfall. Immer wieder werden wissenschaftliche Untersuchungen zu Schlagzeilen gemacht. In den meisten Zeitschriften werden Studien ohne Darstellung der Methode oder der Aussagebeschränkungen dargestellt. Dabei können medizinische Studien mit ihrem Ansatz und ihrer Methode sehr wohl verständlich erläutert werden. Es ist, als ob man den Leserinnen und Lesern keine detaillierten Sachverhalte im Wissenschaftsressort zumuten möchte. So werden Ergebnisse in falsche Zusammenhänge gestellt und schlechte wissenschaftliche Arbeiten ohne kritische Einschränkungen zur Übertragbarkeit veröffentlicht. Im Internet findet dies seinen Höhepunkt, problemlos können hier Darstellungen zusätzlich von eigenen Interessen oder Weltbildern der Herausgeber einseitig veröffentlicht werden. Das erzeugt eine breite Verunsicherung und kreiert unangemessene Regeln zum »richtigen Verhalten«. Das eigene Bauchgefühl bleibt dabei leider auf der Strecke.
Bezogen auf ihre Untersuchung erklärte Katernia Fotopoulou allgemein, aber nicht gezielt auf die Geburtsbegleitung: »Die Studie legt nahe, dass die Unterstützung von Partnern während einer Schmerzperiode der individuellen Persönlichkeit und ihrer Bewältigungsstrategien zugeschnitten werden muss.«3 Das ist genau das, was heute grundlegend für die Begleitung von Vätern bei der Geburt gilt: Nur wenn es gerade in der Situation von der Frau gewünscht wird und daher helfen kann, ist ein direkter Kontakt sinnvoll. Das ist meist der Fall. In vielen Momenten sind die Frauen während des Geburtsvorgangs sich selbst genug und lehnen körperlichen Kontakt ab. Das hatte ich in einigen Phasen der Geburt meiner Tochter bei mir selbst und bei vielen Frauen als begleitende Hebamme beobachtet. Wie es auch immer läuft: Die Anwesenheit der Väter ermöglicht den werdenden Müttern einen Halt, eine Unterstützung und einen gemeinsamen Weg in den neuen Lebensabschnitt und die Begrüßung des gemeinsamen Babys. Und auch für viele werdende Väter stehen die Vorteile klar im Raum: Fast alle Männer, die ich während der Geburt oder im Wochenbett kennenlernte, berichten mit Begeisterung von der Geburt und sind dadurch von Anbeginn mit der Mutter gemeinsam an der Meisterung der Situation mit dem Baby beteiligt. Wichtig beim Thema Geburtsbegleitung ist lediglich, dass beide Partner es wollen.
In meinen Gesprächen mit werdenden Eltern werde ich immer wieder mit den Tipps der Freunde, Bekannten und der Familie konfrontiert. Diese fühlen sich oft für die Paare genauso fremd an wie die Ratschläge zum »richtigen« Verhalten aus dem Internet und den Medien.
So ist es in diesem Buch wie auch in den gemeinsam mit den Paaren geführten Gesprächen für mich ein Anliegen herauszufinden, was werdende Eltern unterstützen kann, um gelassen ihren eigenen Weg zu finden. Es geht wirklich nicht darum, die Schwangerschaft, Geburt und Elternzeit als einen permanenten Hindernislauf mit Sorgen und Ängsten erleben zu müssen, sondern Informationen zu erhalten, die Hand und Fuß haben. Es wird einiges geben, was Sie als werdende Eltern getrost vergessen können, und es gibt genauso Hinweise, die Ihnen helfen können, zu entspannen und sich auf Ihr Baby zu freuen.
Man lernt sich kennen, verliebt sich und irgendwann gründet man eine Familie – so ist der Lauf der Dinge. Für drei Viertel der Deutschen spielt Familie nach wie vor eine sehr wichtige Rolle, auch wenn ihre Bedeutung über die Jahre abgenommen hat.4