Über dieses Buch

Couto, Gitarrist von Super Mama Djombo, erfährt vom Tod seiner großen Liebe und ehemaligen Sängerin der Band, Dulce. Die Nachricht erschlägt ihn. Couto zieht von Bar zu Bar, denkt zurück an die erfolgreichen Jahre mit seiner Band in Guinea-Bissau und fällt eine Entscheidung: ein Treffen mit den alten Kollegen, ein Konzert in der Hauptstadt zu Ehren Dulces.

Sylvain Prudhomme (*1979) wuchs in Afrika auf, wo er nach dem Studium der Literatur in Paris mehrere Jahre arbeitete. Er wurde u. a. mit dem Prix littéraire Georges Brassens, dem Prix littéraire de la Porte Dorée, dem Prix Révélation de la Société des Gens de Lettres und dem Prix Femina ausgezeichnet.

Claudia Kalscheuer (*1964) übersetzt seit 1994 aus dem Französischen. 2002 wurde sie mit dem André-Gide-Preis, 2010 mit dem Internationalen Literaturpreis ausgezeichnet.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Sylvain Prudhomme

Ein Lied für Dulce

Roman

Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer

E-Book-Ausgabe

Mit einem Bonus-Dokument im Anhang

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 1 Dokument

Die Originalausgabe erschien 2014 im Verlag Gallimard, Paris.

Deutsche Erstausgabe

Die Übersetzung dieses Werks wurde unterstützt vom Centre National du Livre, Paris

Originaltitel: Les Grands (2014)

© by Editions Gallimard, Paris, 2014

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Heike Ossenkop

ISBN 978-3-293-30971-5

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Version vom 14.10.2020, 22:08h

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Für Aurélie

Die Straßen führten in drei Richtungen, allesamt: Frauen, Wein, Geld. Man musste wirklich ein Idiot sein, um anderswo zu suchen.

Sony Labou Tansi, Verschlungenes Leben

I muri.

Zé sprach die beiden Worte so sanft wie nur möglich ins Telefon, um ihnen etwas von ihrer Schärfe zu nehmen.

I muri, Couto, sie ist tot, er wiederholte I muri, als fürchte er, die beiden Worte hätten beim ersten Mal nicht ausgereicht, als hätte er selbst das Bedürfnis, sie noch einmal zu sagen.

Couto, hörst du mich, du sagst gar nichts.

Couto nahm wahr, wie das Nachmittagslicht durch eine kleine Fensterluke in das Zimmer mit dem alterslosen, farblosen Linoleum strömte, sah die schwebenden Staubpailletten im Sonnenstrahl und die feuchte, modernde Decke über ihm, die heruntergebrannten Kerzen auf dem Fensterbrett, die Schale mit dem Räucherwerk, die neben dem Bett ihren herben Geruch verströmte, das verblichene Foto von Zé und Malan und allen anderen, wie sie dreißig Jahre zuvor auf Bubaque im Bissagos-Archipel ein paar Stunden vor ihrem ersten Konzert auf der Insel euphorisch aus dem Hubschrauber gestiegen waren.

Er begegnete Esperanças Blick, die nackt neben ihm lag, und wusste sofort, dass sie ahnte, was los war, sah, wie sie die Beine anzog, mit dem Laken das Dreieck unter ihrem Bauch bedeckte wie etwas nunmehr Obszönes, wie sie sich im Bett vergrub und die Augen schloss.

Esperança, du bist wie die Hunde, die sich vor dem Gewitter verkriechen, dachte Couto, du bist anrührend wie die Tiere, die den Donner nahen fühlen und sich lange vor dem ersten Grollen an die Hausmauern drücken, als wollten sie in den Wänden aus Lehm und Stroh verschwinden. Esperança, eben noch waren wir ganz Liebkosungen und verschmolzene Münder und Beine, begierig aufeinander, und nun liegen wir still, das Laken hochgezogen, beide kalt in diesem Bett, Seite an Seite, du und ich. Esperança, hatte ich gesagt, dein Geschlecht ist so köstlich, bu panpana i sabi demais, dein Geschlecht dein geliebter Cashewapfel ist so himmlisch und saftig wie eine reife Frucht und auch deine Brüste die ich umfasse und in den Mund nehmen möchte sind himmlisch wie reife Früchte. Und du antwortetest, als du mein Geschlecht zärtlich in die Hand nahmst, Couto, wie himmlisch ist auch dein Geschlecht, bu obu i sabi demais, ich möchte es stehlen, es mit nach Hause nehmen, so hätte ich es bei mir, auch wenn du nicht da wärst, und könnte es in Gedanken an dich benutzen, das wäre schön.

Couto, meldete sich Zé am Telefon wieder, und seine Stimme war jetzt weit weg, unwirklich, alles ringsum wie in der Schwebe.

Was ist passiert.

Man weiß es nicht, Couto.

Wie, man weiß es nicht.

Niemand weiß etwas.

Wer hat es dir dann gesagt.

Bruno.

Bruno, dieser Lump.

Hör auf.

Couto wartete wortlos auf den Schmerz, darauf, dass die Trauer über die Nachricht sich in seinem ganzen Körper ausbreitete. Aber nichts geschah. Da war nur eine Benommenheit, eine Betäubung, die ihn langsam erfasste und die ihm zuerst als das Gegenteil eines Schmerzes erschien, vielmehr als ein völliges Erschlaffen, ein Ausschalten seines ganzen Wesens. Er war unfähig, noch irgendetwas zu spüren, das geringste Leid zu empfinden, die kleinste Träne zu vergießen, die Augen hoffnungslos trocken, der Atem leicht stockend von etwas, das genauso gut nur eine tiefe Müdigkeit hätte sein können. Das war es also, was Dulces Tod in ihm bewirkte?

Und jetzt?

Das sagte er laut, zu sich selbst ebenso wie zu Zé.

Wollen wir uns treffen, fragte Zé. Soll ich den anderen sagen, dass sie vorbeikommen sollen.

Couto atmete tief durch.

Ich glaube, ich möchte lieber allein sein.

Er dachte an das Licht draußen. An den Schatten der Bäume entlang der steilen Gassen. An die roten und gelben Sonnenschirme auf dem Markt von Bandim, der um diese Uhrzeit vor Leben wimmeln musste.

Ich glaube, ich möchte lieber ein bisschen raus an die Luft.

Dann treffen wir uns eben später, sagte Zé. Am späten Nachmittag.

Couto war einverstanden.

Bei Diabaté.

Bei Diabaté, ja.

Der Gedanke an die Tische im Freien besänftigte ihn. Dort wusste er, dass es gut sein würde, dass er froh wäre, die anderen wiederzusehen.

Er legte auf und reckte sich.

Esperança rückte näher, fuhr ihm mit der Hand durch die Haare, streichelte ihm langsam den Kopf und die Schläfen. Wie ein Tau legte sie ihre Hand auf seine Hüfte, um ihm zu sagen, ich bin da, ich halte dich.

Esperança, die Wunderbare.

Esperança, die jedes weiße Haar auf seinem Kopf kannte, die glorreiche Heldennamen für ihn erfand, mein altersgrauer Irrer, mein schöner schwarzer Greis, mein silberhaariger Mandinka, der bald aussehen wird wie ein Weiser, aber Gott sei Dank noch immer ein Kind ist.

Ihre Bluse und ihr Rock lagen auf dem Boden, neben ihren auf dem Linoleum gestrandeten Unterhosen. Ein lächerliches, formloses Wäschehäufchen.

Sie wusste so gut wie er, was Dulces Ende bedeutete. Wie viel Geduld es sie beide kosten würde, bis dieser Tod nicht mehr zwischen ihnen stünde, bis er verblasste und es wieder nur sie und ihn gäbe. Und man konnte nichts anderes tun, als zu warten.

Diese Teufelin, die du immer lieben wirst, sagte sie immer lachend, wenn im Radio ein Lied von Dulce lief. Diese Zauberin, gegen die ich keine Chance habe.

Dulces Stimme rieselte durchs Zimmer, schwebte zwischen den Wänden, kindlich, voller Anmut.

Carros di botton sines,

dissan na mbera.

Autos mit den schicken Knöpfen,

Lasst mir meinen Teil der Straße.

Dann sah er sie, als stünde sie vor ihm auf der Bühne, wie sie in die Hände klatschte wie früher, sich umdrehte, um seine Gitarrenriffs abzupassen, ihm zulächelte.

Diese Teufelin, die mein Leben lang immer wiederkommen wird, um mir meinen Mann zu nehmen, um ihn mir ein Lied lang zu stehlen, als würde ich gar nicht existieren.

Dulces Stimme schwebte im Raum, und Esperança näherte sich Couto, zwickte ihn, um ihn aufzuwecken.

Couto drückte sie lachend an sich. Sagte ihr, sie solle sich Tundus Solo anhören, Armandos Congas. Hob einen Finger, um sie auf eine Note aufmerksam zu machen, die er selbst spielte und auf die er stolz war, eine leicht dissonante Note, genau im richtigen Maß, ob sie die hörte, da, jetzt, diese Note in Dur, während die ganze Band gerade in Moll spielte. Ach, wenn sie ihn damals auf der Bühne hätte sehen können mit seinen Haaren, seinem Bart, seiner engen Hose, ach, wenn sie ihn nur so gutaussehend gekannt hätte wie damals, sie, die ihn heute ein wenig liebte, wo er doch nur noch ein alter Knacker war.

Esperança war seine Note scheißegal, und auch, dass er damals einen Bart und enge Hosen getragen hatte.

Diese Teufelin, die nur zehn Sekunden zu singen braucht, um dich wieder zu schnappen.

Ihre Hüften wiegten sich im Takt, ihre Arme wedelten, um ihn anzulocken.

Los, komm her zu mir. Kommen Sie her, Senhor Couto, der Gitarrist mit den Dur-Noten.

Sie zog ihn an sich, ihr Mund war warm, ihre Küsse brennend.

Esperança mit ihren unverblümten, ungeschliffenen Worten, die am Anfang sein Verlangen angestachelt hatten. Ihre Art zu sagen: mistiu, ich will dich, ich habe Lust auf dich auf Kreol, ein mit anzüglicher Stimme ins Ohr gehauchtes mistiu, wobei sie ihr Wickeltuch löste, um sich seinen Liebkosungen hinzugeben. Gab es überhaupt ein Mandinka-Wort, um das zu sagen? Ein echtes Wort voller Verlangen, das die gleiche Wirkung hatte wie dieses mistiu? Ein Wort, das nicht rein technisch war, das nicht in erster Linie dazu diente, über Tiere zu sprechen und mehr oder weniger zu sagen: Ich möchte mich mit dir paaren oder ich möchte dich bespringen oder sonst eine alberne Ungeheuerlichkeit?

Was werdet ihr tun.

Couto zog das Laken hoch.

Was sollten wir denn tun.

Werdet ihr trotzdem spielen?

Couto dachte an das Konzert, das für den Abend geplant war, an all die Proben der vergangenen Wochen.

Er ließ seinen Blick über die Decke des kleinen Zimmers schweifen, über den von Feuchtigkeit aufgeworfenen Putz, über die dünnen, schwarz-weißen Striche des Eidechsendrecks.

Was für eine jämmerliche Bude, dachte er und zog die Beine bis zum Bauch hoch. Das klägliche Nest eines Paares, das sich in seinen schmutzigen, ärmlichen Laken wälzt.

Er spürte Esperanças Hand auf seiner Stirn, wohltuend und heilend.

Esperança, so schwarz, wie Dulce hell und schillernd gewesen war. Esperança, fest wie ein Fels, während an Dulce alles brüchig und wild war.

Er spürte Esperança neben sich im Bett, atmete den Geruch ihrer Haare, ihrer Schultern, der Öle, mit dem sie ihren Körper pflegte, den der Grigris, die sie überall im Zimmer verteilte, kaum schaute er weg. Manche entdeckte er gleich, Kolanüsse, getrocknete Zitronen, parfümierte Kaurimuscheln, gut sichtbar auf die Fensterbank oder neben die Räucherschale gelegt. Und dann waren da noch unzählige andere, die er nur erahnte, weil sie sich unter einer Kissenhülle abzeichneten oder in einen Riss in der Wand gestopft waren. Er suchte sie nicht, schaute nie unters Bett oder hinter die Möbel. Er wusste einfach, dass sie da waren, erkennbar an ihrem leicht säuerlichen Geruch, einem Geruch nach Fäulnis, nach Horn, nach altem Kölnischwasser.

Manchmal fand er, wenn er von einem Konzert nach Hause kam, eine Palmnuss in seiner Tasche. Oder sein nackter Fuß stieß auf ein Knöchelchen, das ihn in die Sohle piekte. Dann fluchte er, bückte sich, um es aufzuheben, und warf es weit in die Bananenstauden.

He!, sagte Esperança. Du weißt schon, dass das unser guter Stern ist, den du da aus dem Fenster schmeißt.

Esperança, die alle Zaubermittel kannte.

Couto betrachtete das Foto, das an die Wand gegenüber gepinnt war, eines der wenigen, die er aus all den Jahren behalten hatte. Eines der ältesten auch: 1977, das erste ihrer drei ruhmreichen Jahre, bevor die Gruppe sich auflöste. Man spürte darin die Euphorie der Anfänge, das Staunen darüber, da zu sein, unter den Palmen von Bubaque, am Anfang einer Tournee, die sie zum ersten Mal auf die Kapverden, nach Mosambik, nach Portugal, nach Kuba führen sollte. Kaum aus dem Hubschrauber gestiegen, hatte der Fotograf sie umstandslos vor ein paar Bäumen gruppiert.

Dulce stand in der Mitte, einzige Frau unter den Musikern der Gruppe, die meisten von ihnen bärtig, gut einen Kopf größer als sie und auch fünf, sechs Jahre älter. Sie stand zwischen den beiden schlaksigen Gestalten von Couto und Miguelinho, den beiden Rhythmusgitarristen, und schaute schüchtern in die Kamera, etwas steif, gerader Rock und weiße Bluse wie eine Schülerin, kurz geschoren wie ein Junge.

Atchutchi, der Bandleader, und Malan, einer der Sänger, hatten sie drei Monate zuvor bei einer Zeremonie in einem Dorf gehört. Vor einem Haus sang ein Chor von alten Frauen, die sich mit Klanghölzern begleiteten. Hin und wieder antwortete ihnen eine Stimme, forderte sie heraus. Eine hohe, kindliche Stimme, die alle anderen mit Leichtigkeit beherrschte und sie voller Autorität auf Touren brachte. Das war Dulce.

Kannst du Noten lesen?

Das fragte Atchutchi sie am Ende doch tatsächlich, mit dem Ernst des frisch aus dem Mosambik-Krieg zurückgekehrten Schiffsingenieurs. Natürlich hatte sie noch nie im Leben eine Partitur in den Händen gehalten, noch nie etwas von Super Mama Djombo gehört, noch nie einen Fuß in die União Desportiva Internacional de Bissau gesetzt, wo die Gruppe jedes Wochenende spielte, und war überhaupt noch nie in irgendeinem Konzert in irgendeinem Club von Bissau gewesen. Und natürlich war das allen auch völlig egal. Sie war zu einer Probe gekommen, und von einem Tag auf den anderen war es gewesen, als hebe ihrer aller Musik ab, als schwinge sie sich empor, als habe sie sich von aller Anstrengung und Mühsal befreit. Monatelang waren sie in dem schlecht belüfteten Saal der UDIB nur unter Männern gewesen, unter matchus, wie es auf Kreol heißt. Und da stieß sie zu ihnen, in ihrem Schülerinnenrock, mit ihrer klaren Stimme, entwaffnend natürlich, freiheraus. Die Stimme eines kriegerischen, fröhlichen Kindes. Die Stimme eines Mädchens, das vor bloßer Freude sang, ohne Effekthascherei, ohne Kalkül.

An dem Tag hatten sich Zé am Schlagzeug und Armando an den Percussions ins Zeug gelegt wie die Teufel.

Verdammte Gockel, hatte Couto gelacht.

Armando hatte sich in sein Solo in Mortos Nega gestürzt, seine nackten Arme flogen von Trommel zu Trommel und bearbeiteten die Felle, peitschten sie mit wilden Schlagwirbeln, um sie dann wieder sanft zu liebkosen.

He Armando, pass auf!, hatte Bassist Chico gewarnt. Du wirst wieder rot pissen!

Wenn die kleinen Gefäße in den Handflächen und den Fingern platzen, landet das Blut direkt im Urin. Das kennen alle Congaspieler. Das letzte Mal, als Armando sich bereit erklärt hatte, bei einem Konzert der Band auch die Vorgruppe zu begleiten, hatte er fünf Stunden am Stück gespielt. Am Ende des Abends war er auf die Toilette geflitzt und ganz kleinlaut wieder herausgekommen.

Verfluchter Mist. Sein Urin kam heraus wie Bissap, wie Hibiskussaft.

Aber an dem Tag war es ihm völlig egal, ob er rot pissen würde.

Warts ab, denen werden wirs zeigen, hatte Miguelinho gelacht.

Er hatte Couto den Ellenbogen in den Bauch gerammt und seinerseits losgelegt, übermütig wie ein junger Bock, und Chico folgte. Das Stück hatte zwölf Minuten gedauert statt vier, sie hatten es wie besessen in die Länge gezogen, unfähig aufzuhören, die armen Kerle.

Brava Dulce, hatte Atchutchi am Ende gesagt. Nur weiß ich nicht, ob wir dich werden behalten können. So außer Rand und Band habe ich die Jungs noch nie gesehen.

Sie war dann öfter gekommen, hatte sich mit dem Mikro angefreundet, sich daran gewöhnt, mit Malan zusammen zu singen, ihre Klangfarbe einzufügen und zu erkennen, wann sie im Hintergrund bleiben und einfach mitsummen sollte und wann sie eine eigene Phrase wagen konnte, so göttlich, dass sie alle überwältigte.

So war eines Konzertabends aus der kleinen Dulce dann einfach Dulce geworden, stadtbekannt und von einem scharfsichtigen Journalisten sogar als die neue Geheimwaffe von Mama Djombo gefeiert.

Am Abend nach dem Konzert von Bubaque hatten sie dort ein zweites Mal gespielt, in einer winzigen Bar der Stadt, der Abend hatte sich endlos in die Länge gezogen, und Couto hatte schon gedacht, dieser bierselige Schakal von Chico würde sie ihm vor der Nase wegschnappen. Aber am frühen Morgen war es sein Nacken gewesen, über den Dulce strich, als sie aufstand. Er war es, dem sie gefolgt war, als er ihr zugeflüstert hatte: bin no bay, komm, wir gehen, erst etwas zögernd und dann, da sie ihn verwirrt anschaute, noch einmal in drängenderem Ton, los komm, wir verziehen uns schnell, bin no kapli kinti-kinti, komm, wir hauen ab, bevor die anderen aufwachen.

Ein Siebensitzer war vorbeigefahren, und sie waren hineingesprungen. In dem Moment war Miguelinho herausgekommen und hatte sie gerade noch aus dem Taxifenster winken sehen können.

He! Was macht ihr denn!

Das Taxi war nicht sehr weit gefahren – die Insel war keine zehn Kilometer lang. Sie stiegen in einer Kurve aus und standen dann allein am Rand der holprigen Teerstraße, direkt am Meer, so früh schon ganz allein, ohne sich wirklich zu kennen, ohne je mehr als zehn Minuten unter vier Augen verbracht zu haben. Die zwei Meter, die sie zuerst trennten, ohne dass einer von beiden sich entschließen konnte, sie zu überwinden. Couto, der ihr im gleißenden Licht den Strand entlang folgte und sich das Brennen jedes Schrittes unter ihren nackten Füßen vorstellte. Der sich die Hitze ihres Körpers vorstellte, aufgeheizt wie die glutheißen Steine von Varela, auf die er sich als Kind immer legte, nachdem er geschwommen war. Dessen Augen voller Verlangen über ihren Körper gewandert waren, voller Staunen darüber, dass diese Schultern, diese Hüften gleich ihm gehören würden, dass Dulces bloße Gegenwart an diesem Strand genau das bedeutete: Ich werde dir gehören, ganz und gar wirst du mich bekommen.

Los, Couto, steh auf.

Esperança setzte sich neben ihm auf, schob das Laken zurück und beugte sich vor, um nach ihren Kleidern am Fußende des Bettes zu greifen.

Aufstehen, Senhor Gitarrist.

Der verfluchte Miguelinho hatte sich gerächt, indem er genau an dem Tag sein schönstes Lied schrieb. Julia, ich suche dich, lautete der Text, der sich an die Frau richtete, die er mit aller Macht geliebt hatte, bevor er sie verlor, von der Grippe dahingerafft. Julia, ich suche dich, und ich sehe dich überall. In jeder neuen Frau, der ich begegne. In allem Schönen, das meine Augen sehen. In Carlotta, die die Schnauze voll hatte und mich verließ. Carlotta bu fasin lembra di nha morta, bu fasin lembra di Julia. Carlotta, du erinnertest mich an meine Tote. Du erinnertest mich an Julia.

Bei ihrer Rückkehr am nächsten Tag hatten Couto und Dulce die anderen mitten in der Arbeit vorgefunden. Sie standen beide stumm da, so schön war es, so sehr floss es wie von selbst – Zés Schlagzeug unterstrich die Akzente von Miguelinhos Stimme nur ganz leicht, Tundus Sologitarre dehnte die Noten sanft und bekränzte sie mit Nebelschleiern, und die anderen waren still, warteten, genau wie sie, regungslos.

Ihr solltet öfter abhauen, hatte Atchutchi lachend gemeint. Los, wir spielen es noch mal.

Und wieder Miguelinhos Stimme. Wieder seine mächtigen Hände auf dem Bauch der Gitarre, die er quer vor der Brust hielt wie ein Spielzeug, Hände wie ein Hafenarbeiter, ein Sträfling, alles, nur nicht wie ein Gitarrist, jedenfalls nicht ein Gitarrist, der so spielen konnte, so sanft, so traurig. Wieder sein ruhiges Spiel und der verzerrte Mund in seinem großen, eckigen Gesicht, Grimasse des Schmerzes, der unheilbaren Wunde.

Los, steh auf!

Esperança streifte ihre Bluse über. Couto schaute sie an, lächelnd, weil ihre Frisur in Unordnung war, ihre Perücke saß schief, hing nur noch an einer letzten Klammer. Er streckte den Arm aus und nahm sie ihr ab, entblößte ihr kurz geschorenes Haar.

Couto!

Ohne Perücke sah sie nackt aus, so richtig nackt.

Er umarmte sie.

Was hast du da gerade gemacht, fragte er.

Wie, was habe ich gerade gemacht.

Da, gerade eben, während ich mit den Gedanken woanders war.

Er streckte den Arm aus, holte Esperanças Hand unter dem Kopfkissen hervor und zwang sie auf. Sie enthielt ein paar Muscheln, perlmuttschimmernd wie Porzellan.

Nicht schon wieder diese Dinger, das darf doch nicht wahr sein.

Er zog sie an sich wie ein Krokodil seine Beute und zwang sie, sich wieder der Länge nach an ihn zu schmiegen.

Scheint so, als würde Senhor Gitarrist aufwachen.

Sie legte die leise klirrenden Kauris auf das Tischchen neben dem Bett.

Esperança. Ihre Brüste, ihr Bauch waren warm, waren zart.

Küss mich.

Sie schlang ihre Beine fest um die seinen.

Los, lieb mich.

Und Couto erkannte ihn wieder, den Geruch ihrer Körper, den die Liebe an diesem Nachmittag schon mehrmals hatte aufleben lassen. Ein süßlicher, leicht obszöner Geruch. Ein guter Geruch.

Lieb mich, Idiot.

Sie kamen schnell, sie zuerst, dann er, armselig, freudlos. Vom Schweigen niedergedrückt. Traurig.