Über dieses Buch

Cover

Um das Jahr 1000 n. Chr. machen sich die Inuit aus Kanada auf in ein unbekanntes Land: Grönland, das »Land der großen Erwartungen«. Im 20. Jahrhundert sucht die junge Grönländerin Soré einen Zugang zur verborgenen Geschichte ihrer Vorfahren und reist zurück zu den Anfängen, ins arktische Kanada.

Jørn Riel

Jørn Riel (*1931) kam im Alter von achtzehn Jahren als Mitglied einer Expedition in den Osten Grönlands und blieb dort. Von 1962 bis 1965 unternahm er Reisen nach Westindien, Nordafrika und Südostasien. Später arbeitete er im Dienst der UNO im Vorderen Orient, in Syrien und Jordanien.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Jørn Riel

Sorés Heimkehr

Roman

Aus dem Dänischen von Wolfgang Th. Recknagel

Die Grönland-Saga III

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 2 Dokumente

Die Originalausgabe der Trilogie erschien zwischen 1983 und 1985 in Einzelbänden mit den Titeln Heq, Arluk und Soré im Verlag Lindhardt og Ringhof, Kopenhagen.

Die Übersetzung dieses Bandes wurde unterstützt durch das Danish Arts Council Comitee for Literature.

Originaltitel: Soré

© by Jørn Riel 1985

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30917-3

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Version vom 02.07.2020, 17:07h

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1

Sie löste den schweren Zopf und blickte Soré mit einem kleinen Lächeln an.

»Erzähl weiter, Mutter, auch von Arluk.«

Maria sah zum Fenster hinaus. Sie spürte, wie sich die Unruhe in ihrem Körper ausbreitete. Sie strählte ihr Haar mit den Fingern und redete schnell, als ob sie sich in die Erzählung flüchten wollte.

»Nächten folgten Tage«, sagte sie, »und Sommer den Wintern. So vergingen die Jahre. Das Land färbte sich im Wechsel weiß und braun und grün, erstarrte in Dunkelheit und gewann wieder Leben im Licht. Es gab Jahre mit Hunger, andere mit Überfluss und Freude. Menschen wurden geboren, lebten und starben, und lange Zeit lebten sie im Einklang mit der Natur.«

»Nicht das«, unterbrach sie Soré, »erzähl von Arluk.«

»Das kommt noch«, entgegnete Maria, »hör doch.« Und sie fuhr fort: »Von Arluk wurde selten gesprochen. Nur hin und wieder erwähnte man seine Reise um die Welt. Das geschah am häufigsten, wenn die älteren Jäger auf Sardlia waren, der kleinen Insel im Meer, und nach Weißwalen Ausschau hielten. Dann war es ihnen, als spürten sie Arluk, vielleicht, weil sein Geist die Insel nie verlassen hatte, die er so sehr geliebt und in seinem Herzen bewahrt hatte während der langen Fahrt.

Dann konnte es geschehen, dass sich die Älteren an seinen Namen und seine Taten erinnerten. Zuerst sprachen sie leise und feierlich von ihm, als wenn sie in der Schule in einem Gottesdienst saßen. Denn mit diesen alten Worten rührten sie gleichsam an ein Heiligtum. Nach einer Weile aber, wenn sie die Freiheit unter dem hohen Himmel fühlten und die Unendlichkeit in dem eisbedeckten Meer sahen, wurden ihre Stimmen kräftiger und natürlicher. Dann war es, als ob die vielen Geister der Vorzeit, die guten und die bösen, begierig dem lauschten, was den Männern Lust und Mut machte, zu Gehör zu bringen. Denn wenn sie auch von Gott und seinem eingeborenen Sohn erfüllt waren, wie es die Missionare geschickt in ihre Seele gepflanzt hatten, so gab es doch in ihrem Herzen immer noch Platz für die Geister der Vorväter. 

Sie saßen unter der Klippe, die nach Nordwesten überhing, die Pfeife im Mund und die schweren Gewehre auf den Oberschenkeln, und sie erinnerten sich an Arluk. Einer wusste dies, ein anderer jenes, und so beschworen sie nach und nach Arluks Leben und breiteten es aus vor uns Jungen, die dabei waren. Es konnten allerdings Jahre zwischen diesen Erzählungen verstreichen. Und allmählich, da die alten Fänger starben, vergaßen wir das meiste von dem, was wir gehört hatten. Oder wir brachten die Erzählungen durcheinander und vermischten sie mit anderen, sodass es schließlich gar nicht mehr Arluks Geschichte war, die erzählt wurde. Es gab ja so vieles in der neuen Zeit, das uns gefangen nahm und die Aufmerksamkeit von all dem ablenkte, was gewesen war. Nur wenige bewahrten die Erinnerung, und zu denen gehöre ich. Denn man hatte mir erzählt, dass ich mütterlicherseits von Arluks Familie abstamme. Vielleicht bewahrte ich deshalb die Geschichten und machte sie zu meinen eigenen.«

Soré legte eine Hand auf Marias Knie. »Bin ich auch aus Arluks Familie?«

»Ja, das bist du. Mit den grauen Augen, die wir beide haben, stammen wir wohl von dem Mädchen ab, das er mit der Nordländerfrau gezeugt hat und dessen Namen ich vergessen habe.«

»Panigpak. Erzähl von ihr.«

»Ja, Panigpak hatte viele Kinder von vielen Männern«, sagte Maria. »Sie heiratete nie, sie wurde von ihren Söhnen und Schwiegersöhnen versorgt. Und sie wurde so alt, dass ein Kind eines Enkelkindes sie in einem Amaut mit sich herumtrug, denn mit den Jahren war sie fast zu einem Nichts geschrumpft. Darum setzte man sie, als ihre Beine sie nicht mehr trugen, in einen Rückenpelz und trug sie wie einen Säugling herum.«

Maria legte die Decke um Soré, die schläfrig murmelte.

»Wirst du auch so alt, Mutter?«

Maria nickte. »Das weiß man nie. Wirst du mich dann auch in deinem Amaut tragen?«

»Konnte sich Panigpak an Arluk erinnern?«

»Sie erinnerte sich an alles, denn ihre Gedanken blieben jung und lebendig. Bis in ihre letzten Tage war sie die Ratgeberin der Familie im Großen und Kleinen. Panigpak hatte Arluks Fähigkeiten geerbt, all das zu sehen, was anderen verborgen blieb.«

Maria hielt inne. Soré stieß einen Seufzer aus und drehte sich zur Wand. Ihre Hand stieß mit einem dumpfen Laut an die Bettkante, und dieser Laut löste in Maria eine Welle der Angst aus. Sie kniete nieder und legte ihr Gesicht an Sorés Rücken, als suche sie Geborgenheit in dieser Berührung. Aber sie wusste, dass es keine Geborgenheit gab, dass es nur Einbildung war, eine Flucht aus der Wirklichkeit. Denn die Wirklichkeit war hier und jetzt. Sie war nicht die Erzählung über Panigpak, sondern sie war Karale, der bald heimkehren würde. Die Wirklichkeit war ebendieses Leben, war der Pulsschlag, der in ihren Adern pochte, die Tücke, die von Karale Besitz ergriff, wenn er getrunken hatte. Sie musste sich der Wirklichkeit beugen, wie das Gras sich beugt im Sturm, und sie sollte aufhören, Geborgenheit zu suchen, denn diese existierte nicht.

Maria schlich sich aus der Schlafkammer, weil Soré in den ersten tiefen Schlaf gefallen war, und sie schloss die Tür sorgfältig hinter sich. Karales Essen brodelte auf dem Herd. Sie schöpfte es auf einen Teller und stellte es in den Ofen, um es warm zu halten, bis er kam.

Das Licht der Nacht war ohne Schatten. Maria setzte sich und ließ ihre Hände schlaff im Schoß ruhen. Das Licht fiel durch die Scheiben und umfloss sie, und sie ließ sich willig vom grauen Dunkel liebkosen, denn im Dunkel gab es Geborgenheit. Erst als Karale die Tür öffnete und Licht anzündete, wurde ihr klar, dass auch die Geborgenheit der Nacht ein Selbstbetrug war.

Er schob die Tür langsam hinter sich zu, blieb leicht vornübergebeugt stehen und guckte sie starr an. Seine Augen waren zusammengekniffene, rotfleckige Spalten, und die Kiefermuskeln bewegten sich wie kleine Tiere unter der strammen Haut.

Maria erhob sich. Sie nahm das Essen aus dem Ofen und stellte es auf den Tisch. Mit steifen Schritten ging Karale durch den Raum und setzte sich auf die Küchenbank. Er sah Maria immer noch an, als er mit seiner Hand den Teller vom Tisch fegte.

Maria blickte nervös zur Schlafkammertür. Dann kniete sie sich hin und begann, die Scherben aufzusammeln.

Karale stand auf. Er stellte sich vor ihr auf, schweigend und drohend. Sie schaute nicht hoch, denn sie wagte nicht, seinem Blick zu begegnen. Aber sie sah den Fuß, als er nach ihr trat, und sie versuchte, sich wegzudrehen. Der schwere, holzbesohlte Stiefel traf ihre linke Hüfte mit einem dumpfen Geräusch. Er beugte sich hinunter und hob sie vom Boden auf. Dann schlug er ihr mit seiner geballten Faust ins Gesicht.

Maria schrie nicht, denn der Schrei hätte Soré geweckt. Sie wimmerte leise und versuchte, sich an der Tischkante aufrecht zu halten. Sie wusste, dass er bald mit dem Schlagen aufhören würde, dass diese fürchterliche Tücke genauso schnell verschwinden würde, wie sie gekommen war.

Als er sie losließ, sackte sie auf dem Fußboden zusammen. Sie versuchte, von ihm wegzukriechen, aber ein wahnsinniger Schmerz aus der Hüfte durchfuhr sie. Der Schrei, den sie ausstieß, ließ Karales Raserei wieder aufflammen. Er trat ihr in den Mund, und der Eisenbeschlag seines Stiefels riss ihr Gesicht vom Unterkiefer bis zum Auge auf. »Halt den Mund!«, zischte er, und er trat sie weiter, bis sie völlig still dalag.

Maria verging vor Schmerzen. Sie spürte, wie ihr das Blut stoßweise aus dem Mund rann. Sie befand sich auf dem Kutter an einem Herbsttag, hörte das Tuckern des Motors und die Schreie der Möwen und Seeschwalben, die über dem Boot kreisten. Sie sah die flachen Silhouetten der Kitsissut-Inseln, und sie spürte das Blut der Robbe auf ihren Händen, die sie gerade zerlegte. Karale saß im Schneidersitz neben ihr. Er lachte und war glücklich. Als sie die Leber herausschnitt, nahm er sie und zerteilte sie in kleine Stückchen, die er ihr und Soré in den Mund steckte.

Sie fühlte sich warm vor Freude, und sie hörte Sorés Stimme. Soré stand da in ihrer neuen Tracht mit den schönen Perlenstickereien. Karale saß auf der Küchenbank und wartete auf sie. Es war das erste Mal, dass er ihre Kleidung sehen sollte. Soré war verlegen und wollte nicht in die Küche kommen. Aber dann hörte sie ihres Vaters Stimme. »Oh, wie schön«, flüsterte er, und da lief sie zu ihm hin und ließ sich in den Arm nehmen.

Maria merkte die Tritte nicht. Sie schwamm auf schweren Wellen von Schmerzen, und die Unruhe verließ ihren Körper. Karale atmete schwer und mühsam. Er spürte ihren weichen Körper durch den Stiefel, und er trat nicht mehr aus blinder Wut, sondern aus Verzweiflung zu. Erst, als Soré zu schreien anfing, hörte er auf.

Soré schrie. Sie stand in der Tür und starrte voller Entsetzen auf ihre Mutter, die blutüberströmt auf dem Boden lag. Ein Arm war ausgereckt wie der Flügel eines angeschossenen Vogels, und das Gesicht war eine blutige und nicht wiederzuerkennende Masse. Soré schrie und schrie. Sie presste ihre Hände an die Ohren und schrie, während sie mit aufgerissenen Augen unverwandt Maria anstarrte.

Karale drehte sich um und blickte sie verwundert an. Er stieß einen gequälten Ruf aus und lief aus dem Haus.

Erst im Krankenhaus hörte Soré auf zu schreien. Sie wurde von einer Krankenschwester und der Hebamme Bendo, die eine Freundin Marias war, zu Bett gebracht.

Sie glaubten, dass sie eingeschlafen war, und Bendo ging hinaus, um zu hören, wie es Maria ging. Sie kam empört zurück. »Das besoffene Schwein«, flüsterte sie, »man sollte ihn wie einen tollen Hund hängen.«

»Wie geht es ihr?«, fragte die Krankenschwester.

»Der Arzt sagt, sie muss so schnell wie möglich nach Godthåb. Vielleicht nach Kopenhagen. Sie wird nie wieder wie ein Mensch aussehen, sagt er.«

Soré schlief nicht. Sie hörte noch die Schreie. Sie waren laut und deutlich in ihrem Kopf und betäubten völlig die Gedanken. Als sie allein in der Krankenstube war, stand sie auf und zog sich an. Sie ging auf den Flur hinaus und verließ das Krankenhaus, um ihren Vater zu suchen.

Zuerst rannte sie nach Hause. Die Tür stand offen, und als sie näher kam, sah sie, dass die Küche voller Menschen war. Sie sah auch den Polizisten und Marias Onkel Lûtivik, sie standen am Giebel und sprachen miteinander, und sie begriff, dass auch sie nach Karale suchten.

Dann rannte sie hinunter zum Hafen und zum Kutter. Aber das Steuerhaus und die Kajüte waren verschlossen. Es standen viele leere Flaschen auf der Decksluke, und jemand hatte sich auf den Spillkopf erbrochen.

Sie lief aus dem Hafen und dem Ort zum großen Stein. Sie wusste, dass Karale es liebte, dort zu sitzen und über die Schären aufs Meer zu schauen. Er nannte ihn Marias Stein, weil sie sich hier getroffen hatten, bevor sie heirateten.

Soré setzte sich mit dem Rücken gegen den Stein und wartete. Die Sterne leuchteten morgenbleich durch dunkle, zerrissene Wolken, und weit draußen lagen die Außenschären, in grauen Eisnebel gehüllt.

Sie begann zu weinen. Sie hockte zusammengekrümmt, die Hände vor dem Gesicht, und weinte in die Handflächen. Ihr kleiner Körper bebte, und sie weinte, bis Hals und Brust schmerzten. Sie spürte die Wärme der Tränen auf ihren Wangen, und sie rief ein übers andere Mal nach ihrem Vater und ihrer Mutter. So saß sie und wartete auf Karale, den man früh am Morgen vom Ladebaum im Hafen abschnitt, an dem er sich erhängt hatte.

Lûtivik war es, der Soré fand. Er legte seinen Pullover um sie und trug sie zu Bendos Haus. Hier gab man ihr etwas zur Beruhigung, und Bendo legte sich zu ihr, bis sie eingeschlafen war.

Als Lûtiviks Boot am nächsten Tag in Nanortalik auslief, war Soré an Bord.

Das Meereis war in diesem Jahr aufgelockert. Langsam glitt es nach Nordwesten mit der kalten ostgrönländischen Meeresströmung, die sich draußen vor Kap Farvel mit einem Teilstrom des warmen Golfstroms vermischte. Jetzt lag das Eis wie eine fleckige Decke auf dem ruhigen Meer, und nur nach Süden hin ahnte man seine kompakte Masse, die der Nordwind aufs Meer hinausgetrieben hatte.

Lûtivik blickte durch die Scheibe des Steuerhauses zurück nach Qinqua, und er dachte an seinen Vater Isiafik. Der Alte hatte sich vor dem Wald gefürchtet. Dieser war voller Gespenster und der Ort für Qivitoqs und andere Ungeheuer. Er hatte seine Söhne eindringlich davor gewarnt, dort jemals ihr Lager aufzuschlagen.

Isiafik, der vor bald hundert Jahren von Ammassalik nach Ilua gekommen war: Er hatte das Land von Aluk im Osten bis Nunarssuit im Westen gekannt, denn er hatte viele Male diese Strecke im Kajak befahren.

Der Alte hatte ihnen von den Herrlichkeiten des Landes erzählt, und noch bevor sie selbst zu reisen anfingen, hatten sie das unfruchtbare Tal bei Kookassik kennengelernt, das üppige Qinquatal, wo die Birken größer als ein Mensch waren, den Wasserfall bei Alluitsoq und die schönen Fjorde im Gebiet um Julianehåb. Isiafik hatte oft die Schönheit des Landes gepriesen, das sich aber nach seiner Meinung auf keine Weise mit der Ammassaliks messen konnte. Nichts, hatte er gesagt, war vergleichbar den hohen ostgrönländischen Bergen. Kein Meereis war so mächtig und schön wie das, welches an der Ostküste entlangtrieb. Und kein Licht der Welt konnte sich mit dem Licht messen, das über Ostgrönland an einem klaren Sommertag strahlte. Vielleicht hatten sie Gottes eigenes Licht in Südgrönland, aber das durften sie dort gerne behalten, denn es war wie eine schlecht besorgte Tranlampe im Vergleich zu des Raben Licht, das in Ostgrönland leuchtete. Denn der Rabe war es, der das Licht gerufen hatte, damals, als es überall noch dunkel war. Qauk, qauk hatte er geschrien, und so war es hell geworden.

Isiafik war ein Heide bis zu seinem Tod geblieben. Aber er hatte sich dreingefunden, dass seine Kinder getauft wurden und christliche Namen trugen. Als Hosias, Marias Vater, Katechet in Nordwestgrönland wurde, wäre der Alte vor Stolz fast geplatzt.

Lûtivik blickte zu Soré hinunter. Sie saß auf der Decksluke, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen. Sie war während der ganzen Reise still und verstört gewesen, immer noch wie gelähmt durch die Erlebnisse in Nanortalik. Soré wandte ihr Gesicht zum Steuerhaus, und er zog das Fenster herunter.

»Morgen sind wir zu Hause«, rief er. »Morgen kannst du auf Narva reiten, wenn du Lust hast.« Sie nickte und blickte weg. Gleich darauf legte sie die Stirn auf die Knie, und er wusste, dass sie weinte.

2

Im folgenden Winter wohnte Soré bei Lûtivik. Er erwähnte nie Maria oder Karale, und sie erkundigte sich selten nach ihnen. Schnell lebte sie sich in das Leben des alten Mannes ein, und obgleich das Leben auf der Insel ruhig und ereignislos verlief, langweilte sie sich nie.

Sie befand sich in einer Leere, in der sie sich vor dem verbarg, was geschehen war, und dem, was kommen würde. Ihre Welt beschränkte sich auf die Insel, auf Lûtivik, das Pferd Narva und die beiden Hunde Merqujok und Kajok. Sie versorgte die Hühner und ritt oft mit Lûtivik über die Insel, um die Schafe zu beaufsichtigen. Sie holte Wasser von der unterirdischen Quelle, die hinter dem Haus entsprang, hielt alles sauber und half das Essen vorzubereiten und beim Abwaschen. Und sie begann, mit Perlen zu sticken, die Lûtivik für sie in Narsaq gekauft hatte.

Nur nachts konnte es geschehen, dass Maria zu ihr kam. Sie leuchtete im Dunkeln und beugte sich über das Bett. Ihr Gesicht war blutverschmiert und ihr Mund zu einem unheimlichen Grinsen verzerrt. Hinter ihr stand Karale mit blutunterlaufenen Augen und einem vor Verwunderung aufgesperrten Mund. Dann schrie Soré vor Angst, und Lûtivik kam in die Stube und nahm sie in den Arm, bis sie sich beruhigte.

In solchen Nächten stellte sie immer dieselbe Frage: »Warum haben sie Vater gehenkt?«

Lûtivik trocknete ihre Tränen und schüttelte den Kopf. »Keiner hat ihn gehenkt, liebe Soré, er starb aus Kummer.«

Nach Maria fragte sie nie. Nicht einmal, als sie im ersten Winter erfuhr, dass sie in Godthåb gestorben war. Sie weinte nicht, denn Maria und Karale waren für sie ein endlos andauernder Albtraum, den sie zu verdrängen versuchte. Aber nachts konnte Lûtivik sie weinen und mit ihrer Mutter sprechen hören.

Der Winter stellte sich überraschend ein. Zuerst mit strenger Kälte, die den Fjord mit Eis bedeckte, dann mit Schnee, der sich in großen Verwehungen um die Häuser legte. Die Tage wurden kurz, und man hielt sich mehr drinnen als draußen auf. Lûtivik war immer mit etwas beschäftigt, nie waren seine Hände in Ruhe. Er knüpfte Netze für die Forellenfischerei im Sommer, schnitt Masken aus Weidenwurzeln oder Treibholz und machte Tupilaqs aus Elfenbein oder Speckstein. Sie saßen an dem runden Tisch, der vorm Fenster stand, bis es so dunkel wurde, dass Soré die Farben der Perlen nicht mehr unterscheiden konnte. Dann gingen sie hinunter zum Stall und brachten den kleinen Generator in Gang, der Strom für Licht und Radio lieferte.

Wenn sie gegessen hatten und Soré das Geschirr abgewaschen hatte, hörten sie gewöhnlich die Nachrichten aus Nuuk. Nur selten ließen sie das Radio laufen, denn keiner von ihnen hatte Bedarf für diese Unterhaltung. Lûtivik machte weiter mit seiner Arbeit, und Soré stellte die kleinen Schalen mit Perlen so vor sich hin und wartete, dass er zu erzählen begann.

Lûtivik erzählte von seinem Vater und dessen Vater und der Familie in Ammassalik, deren berühmtestes Mitglied der Massenmörder Kunitse gewesen war. Und er erzählte ihr die Sage aus Ostgrönland, die er selbst als Kind gehört hatte, die Sage, die häufig den Erzählungen ähnelte, die Maria ihr berichtet hatte. Soré erzählte ihm dafür von Arluk und Panigpak und der Frau in der Grotte, darüber hatte sie von Maria gehört.

Wenn Soré erzählte, konnte sie nicht still sitzen. Sie stellte sich ins Zimmer, als wollte sie sich für ihre Erzählungen Raum schaffen. Eines Abends war Lûtivik damit beschäftigt, letzte Hand an eine Frauenfigur zu legen, die von einem Adler umfasst wurde. Soré hatte lange Zeit gesessen und ihn verstohlen betrachtet, und als er zur Kaffeekanne griff, folgte ihr Blick seiner Hand. Sie war grau vom Staub des Specksteins, an dem er arbeitete, und zwei große Adern lagen wie Wülste auf seinem Handrücken. Die Finger waren lang, mager und kräftig. Als er die Kanne wieder wegstellte, ließ Soré ihre Fingerspitzen über die dicken Adern gleiten, und sie spürte, wie lebendig und warm sie waren. Lûtivik lächelte sie an. Er griff den Kandisbeutel auf dem Regal hinter sich und legte zwei große Stücke auf den Tisch.

Draußen schneite es. Große, feuchte Flocken, die sich schwer auf die Dächer legten. Die Wärme des Herdes machte Soré schläfrig, und als Lûtivik zu reden anfing, stützte sie die Ellbogen auf den Tisch und legte ihren Kopf in die Höhlung ihrer Hände.

»Sie heißt Isserfik«, sagte er und zeigte ihr die Figur.

»Wer war das?«, fragte Soré.

»Isserfik war ein Mädchen, das Umgang mit Tieren suchte«, antwortete er. »Zuerst mit einer Fliege, dann mit einem Strandfloh, und schließlich flüchtete sie ins Landesinnere mit einem Adler.«

Soré nickte. Sie schloss die Augen und stellte sich Isserfik vor. Sie würde sie gerne kennenlernen, denn sie war ein grönländisches Mädchen wie sie selbst gewesen, ein Mädchen, das alles probieren wollte.

Lûtivik fuhr fort: »Einmal erblickte ein Mann Isserfik. Er begann, ihr zu folgen, denn sie war sehr schön, und er begehrte sie. Aber Isserfik flüchtete, und sie hetzte den Adler auf ihn. Der Mann versteckte sich unter einem großen Stein. Der Adler zerhackte mit dem Schnabel den Stein, aber der Mann besaß ein grausames Amulett, das er gegen den Adler richtete. Das Amulett tötete den Adler, und der Mann nahm Isserfik mit sich nach Hause. Nach einiger Zeit brachte sie ein Kind zur Welt, das war halb Mensch und halb Adler. Später gebar sie noch ein Kind, das der Spielkamerad des ersten wurde. Aber einmal stritten sich die beiden Kinder, und das Adlerkind zerfleischte seinen Bruder, worauf der Vater des Kindes die Missgeburt tötete.«

»Was geschah mit Isserfik?«, fragte Soré.

»In der Sage wird berichtet, dass sie aus Kummer den Verstand verlor und starb«, antwortete Lûtivik. Er hielt die Figur ans Licht und drehte sie langsam. »Kannst du sie vor dir sehen?«

Soré nahm die Figur aus seiner Hand. Sie befühlte sie, als wäre sie blind und vermochte mit den Fingern zu sehen. »Ich glaube, sie tanzte sich zu Tode«, sagte sie ernst. »Vielleicht starb sie aus Kummer, aber ich glaube, dass sie sich zu Tode tanzte. Ich glaube, sie hatte eine kleine Trommel, eine, die man in Thule gebraucht, wie du erzählt hast, und sie tanzte und tanzte vor Kummer, bis ihr das Herz zerbrach.«

Lûtivik sah sie überrascht an. »Die Sage berichtet nicht, wie sie starb«, sagte er. »Vielleicht hast du recht, dass sie sich zu Tode tanzte.«