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Im Juni 2018 hat sich im Deutschen Bundestag Folgendes zugetragen: In einer Geschäftsordnungsdebatte wird das Wort dem AfD-Abgeordneten Thomas Seitz, Staatsanwalt a. D., erteilt, der aber erklärt, schweigen zu wollen. Er widme die ihm zustehende Redezeit einer wenige Tage zuvor – mutmaßlich von einem Flüchtling – ermordeten 14 Jahre alten Schülerin. Die meisten Mitglieder seiner Fraktion erheben sich – einige grinsend – von ihren Plätzen. Die Vizepräsidentin des Bundestags, Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen), fordert Seitz auf, zum Thema der Debatte zu sprechen, und verweist ihn des Rednerpults, als er dem Aufruf nicht Folge leistet. Wenige Minuten nach Roths Intervention, zu der sie nach der Geschäftsordnung und den Usancen des Parlaments nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet war, starten völkische und rechtsextremistische Blogs gegen sie eine offensichtlich geplante Kampagne, innerhalb einer Woche erreichen sie 11 800 Hasskommentare auf Facebook und Hunderte Hassmails mit Vergewaltigungs- und Gewaltandrohungen, zum Beispiel: »Dich Vieh werden wir an Klavierdraht am Fleischerhaken hängen.« – »Du schäbiges Fettvieh.« Oder: »Du stinkendes häßliches Ungeheuer.« Die Vizepräsidentin des Bundestages habe es verdient, mit »Niggerscheiße« erschlagen und »in der Kläranlage entsorgt« zu werden.

Die Mitarbeiter Claudia Roths, das »Team Roth«, löschen auf Facebook die brutalsten Hasskommentare und verweisen auf die Netiquette, also auf im Netz zu beachtende Umgangsformen. Dagegen protestieren Betroffene, Anhänger von Seitz und seiner Mitarbeiter, der »Brigade Seitz«. Sie beklagen die Unterdrückung der Meinungsfreiheit, einen Akt der Zensur.

Eine Auswahl:

Martin D.*:

Meinungsfreiheit wie in Nordkorea

Peter K.:

Respektvolle Kommentare über diese Frau*in fallen mir äußerst schwer

Marianne F.:

Ausgerechnet die redet von Netiquette, wie war das noch, Deutschland Du mieses Stück Scheisse???? Sowas wie die gehört nicht in die Politik sondern in ne Zwangsjacke

Beate A.:

Also am besten keine Kritik, oder! Ihr habt es doch schon fast geschafft, daß sich niemand mehr traut Tacheles zu schreiben! Und das im Namen der Grünen ?! Ich bin echt sauer auf mich selbst das ich euch öfter gewählt habe!!!

Ludwig B.:

Feie Meinungen werden hier anscheinend etikettiert. Mein Beitrag wurde auch gelöscht. Aber diese humanitäre Roth bleibt nicht ewig auf ihrem Sessel kleben.

Matthias M.:

Kommentare löschen? Dann eröffnen Sie doch eine geschlossene Facebookgruppe. Da treten dann nur Menschen bei die ihrer Meinung sind. So können Sie in ganz kleiner Runde ausgiebig die Probleme der Welt diskutieren.

Alex D.:

Meinungsfreiheit Fehlanzeige. Hinter ein Transparent der links Faschisten ANTIFA herlaufen und unterstützen wo drauf steht »Deutschland muss weg«»Deutschland verrecke«ich glaube da braucht man nichts weiter zu sagen.

Christian G.:

Also nur nette und arschkriecherische kommentare erwünsch? Richtig? Erst dann wenn sie auch Respekt zeigen. 1 schweigeminute für das getötete mädchen war nicht viel verlangt…und sie reden vonn nett und respekt.

Joachim K.:

Sorry Demokratie kennen die Grünen nicht für die ist Demokratie nur was sie für richtig halten…alles andere nur Hetzer…und Frau Roth schon gar nicht…

Eberhard P.:

Andere Sichtweisen gelten lassen?! Richte die Frage doch mal an deine Gesinnungsgenossen um Roth-Grün?

Stefan F.:

Sie löschen JEDEN Kommentar der ihnen nicht passt. Egal ob beleidigend oder nur kritik. Demokratie gibts nict mehr wirklich. Zensur findet statt.

Stefanie H.:

Es ist immer noch Meinungsfreiheit…!!!!… Und sie Frau Roth sind für den Bundestag untragbar geworden!!!!!!!!

Manfred S.:

Aha, man erwartet hier respektvolle Kommentare. So wie man in den Wald ruft, schallt es zurück. Bei allem nötigen Respekt, diese Frau und auch alle anderen Politmarionetten sind eine Schande für das deutsche Volk! Meine Meinung, entsprechend dem Artikel 5 Grundgesetz.

Peter K.:

Tja Frau Roth, wer gegen die Interessen des deutschen Volkes arbeitet, muss mit Gegenwind rechnen.

Andreas V.:

Zensur der anderen Meinung nennt man quasi heutzutage »Netiquette«. Interessant……
P. s. Wieviel von den 85 Mio wohnen den bei dir daheim???

Andreas V.:

Ahso…alles das jemand beleidigen könnte wird gelöscht?? Dann lösch dich mal selber….

Michael B.:

Die Deutschlandhasser und Hetzer verweisen auf eine Netiquette…genau mein Humor.

Thomas L.:

wie wärs den wenn sie sich auch daran halten würden? können wir dann ihre hetzerischen Posts und Kommentare auch löschen?

Gerhard R.:

Netiquette? Wer die Wahrheit nicht verträgt…ist selbst drann Schuld! Merkel ist am Ende…und die Altparteien in gewisser Weise auch. Vor allen Dingen die Grünen werden wohl bald »verwelkt« sein.

Christoph D.:

Respekt? Kenn die Fr. Roth und die Grünen doch garnicht? Oder wo bleibt der Respekt dem eigenen Volke gegenüber? Oder der Respekt den Eltern der getöteten Susann gegenüber?

Johannes B.:

Das nennt man dann Meinungsdiktatur

Sebastian L.:

Wie erkläre ich Ihnen möglichst höflich und respektvoll, meine Abneigung gegenüber Ihrer Person ohne dabei beleidigend zu werden? Richtig, ein Ding der Unmöglichkeit!

Klaus S.:

Wunderbar Team Roth! Ich schätze euch sehr! Vor allen Dingen, wo ihr doch bei euch zu Hause soviel Goldstücke untergebracht habt, und sie liebevoll versorgt. Ich hoffe doch, jeder von euch hat 4 Akademiker und mindestens 2 minderjährige Alleinreisende aufgenommen. Tja, bald müsst ihr doch etwas zusammenrücken, da kommt noch die Familie! Aber ihr schafft das. Ich setze meine Hoffnung in euch. Ich bin leider ein ungläubiger Bürger und tue mich schwer. Ich werde aber zu Allah für euch beten! Lieben, herzlichen Gruß

Ulrich G.:

hahaha…Wir wollen in weiser Voraussicht auf die Nettiquette hinweisen…das sagt ja schon einiges über das vertrauen in ihre eigenen worte aus…wenn man vorher schon weiss das etwas was man sagt auf harsche kritik stößt, sagt man lieber NICHT. Es ist generell besser wenn sie NICHTS sagen, da es auch niemand hören möchte…hoffe ich habe meine kritik Netiquette konform vorgetragen…fail des tages!

David S.:

Meine Nettigkeit und Etikette verbietet mir, Ihnen zu sagen, verehrte Frau Roth, was ich von ihnen halte und denke. Es wäre aber überaus freundlich von ihnen, auch nett zu uns zu sein und einfach aus Deutschland zu verschwinden.

Rebekka P.:

Sehr geehrte Fr. Roth, ich wäre unendlich glücklich, sie nicht mehr auf der politischen Bühne sehen zu müssen. Können sie nicht ein anderes Projekt beginnen und an die Wand fahren? Ist das nett gesagt?

Thomas L.:

Genau wie die Schweigeminute für Susanna. Die hatte ja auch nichts mit der Geschäftsordnung zu tun. Das einzigste wo ihr versucht stark zu sein ist Leute mundtot zu machen. Das wird aber nicht passieren.

Richard M.:

Wenn Sie Kommentare löschen dürfen, weil sie Ihnen nicht passen, warum darf das Volk dann nicht ihre „Arbeitsverträge“ löschen …?!

Klaus W.:

So viel zur freien Meinungsäußerung.

* Sämtliche Namen wurden geändert, C. B.

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So viel Zensur war nie. Mag auch das Grundgesetz das Gegenteil behaupten, weiß doch inzwischen fast jeder deutsche Zeitgenosse, der sich für aufgeklärt und kritisch hält, dass die Meinungsfreiheit in diesem Land bedroht ist wie selten zuvor. Der Befund, heißt es, sei evident, auch die Zensoren scheint jeder zu kennen. Ein Problem ist jedoch, dass jeder andere nennt, wenn nach ihnen gefragt wird. Der eine hält die political correctness für ein Synonym der Zensur und entsprechend deren Vertreter – in der Regel aus dem »rot-grün versifften Milieu« – für deren Vollstrecker. Der andere stellt »die Medien« unter Generalverdacht, dem gesellschaftlichen Fortschritt als Werkzeug des reaktionären Systems unermüdlich entgegenzuarbeiten. Wer dem widerspricht und daran erinnert, von Razzien in Redaktionsräumen sei nur selten zu hören und es sei auch kein staatlicher Zensor bekannt, der Artikel, Bücher oder Filme vor ihrer Veröffentlichung genehmige, gilt als naiv und darf sich über hämisches Gelächter des Publikums nicht beklagen. Denn ist das Publikum in allem Übrigen auch zerstritten bis zur offenen Feindschaft – in der Überzeugung, Opfer der Zensur zu sein, steht es ungeteilt und unteilbar zusammen. Wenn der Triumph der Zensur in Deutschland also nach Lage der Dinge offenbar nicht bestritten werden kann, ist immerhin die Frage erlaubt: Was ist Zensur?

Das Grundgesetz (GG) weiß es nicht. Es verspricht nur so lapidar wie unpräzise: »Eine Zensur findet nicht statt« (Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG). Das wäre schön und historisch ohne Beispiel. Es ist keine Gesellschaft bekannt, die ohne Zensur ausgekommen wäre. Die Geschichte des gesprochenen und des gedruckten Wortes ist auch die Geschichte seiner Unterdrückung. Die Forderung, die Zensur einfach abzuschaffen, zeigt den Ahnungslosen, der von den Spielarten der Zensur nichts weiß; die Behauptung, sie – in Art. 5 GG – abgeschafft zu haben, verrät die Juristen. Sie verkürzen den Begriff der Zensur durch Erweiterung des Wortes: Sie erklären die Zensur zur Vorzensur. Das Verbot betrifft ausschließlich den Staat. Untersagt ist ihm auch nur die Prüfung und Genehmigung von »Geisteswerken« vor ihrer Veröffentlichung.

Nur eine Vorzensur also findet nicht statt. Das ist nicht bloß ein Versprechen, sondern sogar ein gehaltenes Versprechen. Denn tatsächlich sind kaum Fälle bekannt, in denen der Staat Autoren oder Verlegern ins Handwerk pfuscht. Alles in allem darf sich der Staat seit Gründung der Bundesrepublik von seinem Zensurwahn als geheilt betrachten. Der hatte die deutschen Obrigkeiten – vom Duodez-Fürsten über den NS-Staat bis zur DDR – seit Erfindung des Buchdrucks zur Verteidigung der Ordnung beherrscht. Die Zensur hatte Literaten, Publizisten und Journalisten ins Exil vertrieben, Druckereien der Verleger und den Mund der Untertanen versiegelt. Gelegentliche Rückfälle sind natürlich unvermeidlich. Als die Terrorattentate der Rote Armee Fraktion und die Terrorhysterie der bundesdeutschen Politiker in den 1970er-Jahren dem Höhepunkt zustrebten, beschloss der Bundestag § 88 a Strafgesetzbuch (StGB), der die »verfassungsfeindliche Befürwortung von Straftaten« sanktionierte, und § 130 a StGB, der generell jeden unter Strafe stellte, der in Schriften oder Versammlungen zu bestimmten Gewalttaten »anleitet oder [sie, d. Verf.] befürwortet«. Die Verbreitung, ja schon der Besitz von Schriften, die Gewalt propagierten oder sich gegen Bestand oder Sicherheit der BRD richteten, wurde unter Strafe von bis zu drei Jahren Haft gestellt. Die Kritik, dass damit selbst die Bibel verboten werden könne, hatte allerdings Erfolg: Kunst, Wissenschaft, Berichterstattung und Zeitgeschichte wurden von den Strafbestimmungen ausgenommen, einige Jahre später § 88 a StGB »als gefährliches Mittel gegen die Meinungsfreiheit« wieder abgeschafft.

Damals, in den 1970er-Jahren, schimpfte der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger, in Sachen Zensurverbot sei der »verfassungsmäßig garantierte blaue Himmel« nirgends zu entdecken, stattdessen überall Grauzonen und Schattierungen. Was denn sonst! Himmlische Dauer-Bläue gibt es nur in Rosamunde-Pilcher-Filmen – in den Verfassungen von Demokratien hat sie nichts zu suchen, eine Welt ohne Grauzonen und Schattierungen, also in Schwarz und Weiß, ist nicht zu haben. Und man soll auch nicht ungerecht sein: Mit dem Verbot der Vorzensur hat die Bundesrepublik 1949 in der scheinbar unendlichen Fehde zwischen Zensur und »Preßfreiheit« endlich dem freien Wort zum Sieg verholfen. Das war zwar ein später Triumph – England hatte schon 1694 die staatliche Zensur abgeschafft –, und er war auch teuer bezahlt: Eine vollständige Auflistung aller in den vergangenen Jahrhunderten zu Lebzeiten zum Schweigen gebrachter Dichter und Journalisten, ruinierter Verleger und unterdrückter Bücher und Artikel würde Bände füllen. Immerhin aber hat der Kampf um die »Preßfreiheit« nicht wenige Schriftsteller seit dem Vormärz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu satirischen Höchstleistungen angespornt, einige sind bis heute Trouvaillen der deutschen Literatur. Der von der Zensur ins Pariser Exil vertriebene Heinrich Heine hat seinen Verfolgern im XII. Kapitel seiner Reisebilder mit sparsamen Worten ein hübsches Denkmal errichtet:

Wenn die Zensur abgeschafft ist, sind Meinungs-, Presse-, Funk- und Fernsehfreiheit, die das Grundgesetz ausdrücklich in Art. 5 Abs. 1 GG garantiert, demnach unbeschränkt!? Der »verfassungsmäßig garantierte blaue Himmel«, von dem einst Enzensberger träumte, ist nie zu haben. Wenn es um die Meinungs- und Pressefreiheit geht, sorgt die Verfassung ausdrücklich sogar selbst für starke Bewölkung, nur nennt sie’s nicht »Zensur«, sie spricht von »Schranken«: »Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.« (Art. 5 Abs. II GG) Wenn das »Recht der persönlichen Ehre« bedeuten soll, dass man den Herrn in der eindeutig falschen Partei, die Dame mit ihren kruden politischen und moralischen Ansichten öffentlich nicht mal als Idioten, Kretin, Napfsülze und Torfnase schmähen darf …, überhaupt, wenn man nicht einmal mehr sagen darf …, wenn man mundtot gemacht wird, nur wei…, wenn die Zensur im Namen des Ehrenschutzes den Diskurs beherrscht – na dann, gute Nacht Meinungsfreiheit und Vorhang auf für die Zensur! Oder nicht?

Was die Sache nicht einfacher macht: Die Zensur hat zahlreiche Komplizen. Vorsichtig geschätzt, sind es nicht weniger als die Millionen Verfechter der Meinungsfreiheit, aufs Ganze gesehen leben sie sogar im friedlichen Einvernehmen, Seite an Seite. Denn in jedem noch so tapferen Verteidiger der freien Rede – also in jedem von uns, nicht wahr? – ist auch der Zensor zu Hause. Geneigte Leserin, geneigter Leser, was würden Sie empfinden, wenn Sie wie die Bundestagsvizepräsidentin als »schäbiges Fettvieh« und »stinkendes häßliches Ungeheuer« angesprochen würden? Könnte es sein, dass Sie sich beleidigt fühlen und eventuell sogar ein Gericht bemühen? Ich frage ja nur.