Die Autorin

CORINA BOMANN Corina Bomann ist eine der erfolgreichsten deutschen Autorinnen.
Immer wieder begeistert sie ihre Leserinnen mit großen dramatischen Romanen und Heldinnen, die etwas Besonderes erreichen. Ihre Romane werden in zahlreiche Sprachen übersetzt und sind internationale Bestseller. Sie wohnt in Berlin.

Das Buch

New York, 1930er Jahre: Sophia steht erneut vor einem Scheideweg in ihrem Leben. Soll sie den »Puderkrieg« hinter sich lassen und neu anfangen? Als ihre Freundin Henny überraschend vor ihrer Tür steht, schwer erkrankt, lässt sie ihre Entwürfe für eine eigene Kosmetiklinie ruhen und kehrt zu Helena Rubinstein zurück. Privates Glück findet sie in ihrer großen Liebe Darren, der ihr einen Heiratsantrag macht. Doch schließlich bricht der Krieg herein und droht, alles, was ihr lieb und teuer ist, zu zerstören.

Corina Bomann

Die Farben der Schönheit – Sophias Triumph

Roman

Ullstein

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Autorinnenfoto: © Nadja Klier
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ISBN 978-3-8437-2233-9

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1. Kapitel

Juli 1934

Das Ticken der Uhr machte mich schläfrig. In diesem reizlosen weiß gestrichenen Raum, wo es außer ein paar braunen Sitzbänken keine weiteren Möbel gab, war ich die einzige Wartende. Gelangweilt spielte ich mit der alten Münze, die Darren mir bei einem unserer ersten Ausflüge geschenkt hatte und die ich an einer Silberkette bei mir trug. Als ich das Metall an meiner Haut spürte, dachte ich zurück an die Insel, die einmal die Heimat eines Piratenkapitäns gewesen war, und sehnte mich nach dem Duft der Meeresbrise und den Rufen der Möwen.

Doch hier im Hospital gab es nur den Geruch von Desinfektionsmitteln, ferne Schritte und das zeitweilige Klappen von Türen.

Mein Blick wanderte durch den Raum.

Die Zeitung auf der Bank neben dem Fenster war von gestern. Die Artikel darin waren mir vertraut, denn Darren hatte das Blatt abonniert. An einer der Wände hing ein kleines Bild, das ein Segelboot zeigte. Ich hatte es in den vergangenen Tagen so oft angeschaut, dass ich jeden Pinselstrich auswendig kannte.

Schließlich blickte ich zum Fenster. Ein Regenschauer hatte den Staub an den Scheiben in dunkle Schlieren verwandelt. Gerade versuchte das Sonnenlicht, sich seine Bahn durch die Wolkenberge zu brechen.

Ich hatte schon hübschere Dinge durch ein Krankenhausfenster gesehen. Das Bettenhaus gegenüber wirkte grau und deprimierend. Große Fetzen Farbe waren von der Fassade abgeblättert. Die Feuerleiter, die es hier an fast jedem höheren Gebäude gab, war rostig.

In Paris hatte es immerhin einen Garten gegeben, der um diese Jahreszeit in voller Blüte stand. Jeden Tag, an dem ich hier saß, dachte ich mindestens einmal an das Hôpital Lariboisière, wahrscheinlich, weil Henny mich dort besucht hatte.

Nie hätte ich mir träumen lassen, dass sich unsere Lage einmal umkehren würde. Henny war immer die Starke gewesen, die sich in allen Situationen zurechtfinden konnte. Sie hatte in Paris sofort Erfolg gehabt, hatte einen Geliebten gefunden und war aufgestiegen, während ich die arme Kirchenmaus war, die froh sein konnte, dass ihre Freundin sie unterstützte.

Nun lag sie schon seit fast zwei Wochen hier, eine verarmte, kranke Frau, fern ihrer Heimat, die im Flur vor Darrens Wohnung zusammengebrochen war.

Wie leicht hätte ich damals an ihrer Stelle sein können, damals, als mein Vater sich von mir losgesagt hatte. Wäre Henny nicht gewesen, hätte sie mich nicht bei sich in ihrer Berliner Wohnung aufgenommen, wäre ich möglicherweise irgendwo elend gestorben. Nun war es an mir, ihr zu helfen.

»Miss Krohn?«, riss mich eine Stimme aus meinen Gedanken. Sie klang dunkel und beruhigend, genau das Richtige, um Patienten die Angst zu nehmen.

Langsam wandte ich mich zu der weiß gekleideten Gestalt um, die im Türrahmen stand. »Ja, Herr Doktor?« Er hatte mir bei unserem ersten Zusammentreffen seinen Namen genannt, aber der war mir entfallen.

»Ihre Freundin ist jetzt wach. Wenn Sie möchten, können Sie gern zu ihr.«

»Vielen Dank.«

Ich erhob mich und griff nach meiner Handtasche. In meinem blauen Kostüm mit den dazu passenden Pumps wirkte ich wie eine Geschäftsfrau. Während meiner Besuche hatte ich festgestellt, dass ich zuvorkommender behandelt wurde, wenn ich förmlich gekleidet war.

Ich schloss mich dem Arzt an und verließ den Warteraum.

Higgins, fiel es mir ein, als wir die Stationstür durchquerten. Der Mann, dem ich folgte, hieß Dr. Higgins. Er hatte Dr. Miller abgelöst und war seit Anfang dieser Woche für Henny verantwortlich. Sein hellblonder Haarschopf war dicht und gepflegt, doch die dunklen Ringe unter seinen blauen Augen erzählten von der Mühsal seiner Arbeit, den langen Stunden an irgendwelchen Krankenbetten, den Begegnungen mit verzweifelten Patienten und deren Angehörigen.

Vor der Tür von Hennys Zimmer machten wir halt. Sie hatte Glück gehabt, in einem Zweibettzimmer untergebracht zu werden. Dieses war eigentlich nur besser situierten Patientinnen vorbehalten. Doch ihre Krankheit verlangte eine gewisse Isolierung, außerdem waren die Krankensäle vollständig belegt.

»Sie werden sich freuen zu hören, dass es Ihrer Freundin wieder etwas besser geht«, sagte Dr. Higgins. »Die Lungenentzündung zieht sich glücklicherweise weiter zurück. Zunehmende Sorgen macht uns allerdings die Opiumsucht. Wir dürfen ihr wegen der Lunge kein medizinisches Opiat geben, sonst würde die Gefahr bestehen, dass sie einen Atemstillstand erleidet. Allerdings kommt es als Folge des Entzugs immer wieder zu Angstzuständen und starken Schweißausbrüchen.«

Ich starrte den Arzt an. »Wie wird es denn weitergehen?«, fragte ich. »Ich meine, sie muss doch von dem Zeug weg, nicht wahr?«

»Natürlich muss sie das.« Eine Sorgenfalte zeigte sich auf der Stirn des Arztes. Er schien kurz mit sich zu ringen, dann antwortete er: »Es wird nicht ganz einfach werden. Opiate wirken auf das Gehirn. Angst, Wahnvorstellungen und Depressionen sind denkbar. Jetzt geben wir ihr Beruhigungsmittel, deshalb sind die Symptome nicht ganz so stark ausgeprägt. Sie sollte den Entzug unbedingt unter ärztlicher Aufsicht durchführen. Besser noch in einer Klinik. Es gibt Sanatorien, die speziell darauf ausgerichtet sind, Sucht zu bekämpfen. Ich könnte Ihnen einige Adressen geben. Allerdings ist der Aufenthalt dort nicht ganz billig.«

Ein Schauer durchzog mich. Und gleichzeitig auch Wut auf Jouelle. Hätte er sie nicht mit dem Opium in Berührung gebracht …

»Das wäre sehr freundlich von Ihnen«, gab ich zurück und verdrängte schnell den Gedanken. Über Hennys Geliebten und die Kosten für ihre Genesung konnte ich mir später noch Sorgen machen. »Danke.«

»Okay, dann werde ich sehen, was ich tun kann. Ansonsten sehen wir uns morgen, nehme ich an?«

Ich nickte. »Ja, wir sehen uns morgen. Vielen Dank, Dr. Higgins.«

Der Arzt lächelte mir zu, wandte sich um und verschwand mit wehendem Kittel im Gang.

Ich atmete tief durch, zog ein kleines buntes Tuch aus der Tasche und band es mir, wie es eine Krankenschwester mir geraten hatte, vors Gesicht. Dann klopfte ich.

Ich wusste, dass Henny nur flüsternd antworten konnte, also wartete ich einen Atemzug und drückte die Klinke hinunter.

An den Geruch der Desinfektionsmittel hatte ich mich bereits gewöhnt, doch der Minzduft überraschte mich jedes Mal ein wenig. Die Schwestern tropften etwas japanisches Minzöl auf Tücher, die sie neben Hennys Kopf legten. Das sollte ihr helfen, etwas besser durchzuatmen.

Mich führte der Duft gedanklich sofort in die Fabrik von Madame Rubinstein zurück, an die langen Tische, an denen ich mit den anderen Frauen Kräuter zupfte und auslas. Seltsamerweise war mir das im Moment besser in Erinnerung als meine Zeit bei Miss Arden. Dass die Schönheitsfarm, die ich aufgebaut hatte, jetzt ohne mich lief, verletzte mich doch ziemlich, sodass ich es vermied, daran zu denken.

»Hallo, Henny, wie geht es dir?«, fragte ich, während ich näher an sie herantrat. Nachdem ihre Nachbarin ausgezogen war, hatte man Hennys Bett ans Fenster geschoben. Die Aussicht war nicht besonders reizvoll, aber sie konnte wenigstens den Himmel sehen.

Unter der Bettdecke wirkte meine Freundin zart und verletzlich. Ihre Wangen waren bleich, ihre Lippen rau, und ihre Augen wurden von rötlich blauen Ringen umgeben. Die Sucht hatte ihren Körper schon vor der Reise hierher ausgezehrt. Es war den Ärzten ebenso wie mir ein Rätsel gewesen, wie sie die Überfahrt überstehen konnte.

Immerhin war der fiebrige Glanz aus ihren Augen verschwunden.

Als sie mich sah, lächelte Henny. »Sophia«, brachte sie krächzend hervor. »Mir geht es furchtbar. Aber ich lebe noch, wie du siehst.«

Sie lachte auf und begann sogleich zu husten. Zitternd angelte sie ein Tuch vom Nachttisch und presste es sich vors Gesicht.

Ich trat vom Bett zurück, wie immer mit einem hilflosen Gefühl. Wie ich gelernt hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als abzuwarten, bis der Anfall vorüber war. Mir zerriss es das Herz, sie so zu sehen. Früher hatte sie vor Lebensfreude gesprüht, doch nun war die strahlende junge Frau kaum noch zu erkennen. Am liebsten hätte ich sie in die Arme gezogen, aber die Ärzte hatten mir von Umarmungen abgeraten.

Nach einer Weile beruhigte sie sich wieder und lehnte sich erschöpft zurück. Ich zog mir einen Stuhl heran, blieb aber auf Abstand.

»Weißt du noch, damals, als diese Spanische Grippe in der Stadt war?«, keuchte sie und ließ das Tuch langsam wieder sinken. »Das muss genauso gewesen sein.«

»Es ist keine Grippe, die du hast«, gab ich zurück. »Außerdem meinte Dr. Miller, dass man nach einer Weile nicht mehr ansteckend ist. Und ich habe ja etwas vor dem Gesicht.«

Damals, als die Seuche in Berlin grassierte, ließen uns unsere Mütter auch nur mit einem vorgebundenen Tuch aus dem Haus. Wir hörten die Nachbarinnen davon reden, dass wieder diese oder jene Familie betroffen sei, und draußen sahen wir, wie Leute mit Tüchern in die Straßenbahnen einstiegen. Unsere Lehrer sprachen in der Schule davon, und ab und zu belauschte ich meine Eltern dabei, wie sie sich über die Gestorbenen unterhielten.

»Ich will nicht, dass du krank wirst«, sagte Henny.

»Das werde ich nicht, versprochen.«

Einen Moment lang schwiegen wir. Ich beobachtete, wie Henny versuchte, ihre Kräfte zu sammeln. »Hast du mal wieder etwas von deinen Eltern gehört?«, wollte sie dann wissen.

Überrascht von ihren Worten, schwieg ich. Ich hatte ihr nichts von dem erzählt, was geschehen war. Und mir selbst fiel es nicht leicht, an Mutter zu denken. Ihr Tod lag nicht lange zurück. Die Wunden, die der Verlust geschlagen hatte, schmerzten noch immer.

Doch belügen wollte ich Henny auch nicht.

»Meine Mutter ist im Frühjahr gestorben«, gab ich zurück. »Ich hätte es nicht erfahren, wenn sich unser Notar nicht bei mir gemeldet hätte.«

Henny zog die Augenbrauen hoch. Bevor sie fragen konnte, fuhr ich fort: »Vater hatte es nicht für nötig gehalten, mich zu informieren. Auch nicht davon, dass sie beide nach Zehlendorf umgezogen sind. Die ganze Geschichte erzähle ich dir, wenn du wieder mehr bei Kräften bist. Mutter hat mir eine kleine Erbschaft hinterlassen. Und einige Briefe. Jene Briefe, die sie mir wegen meines Vaters nicht schicken konnte.«

Henny presste die Lippen zusammen. Ich sah, wie sie mit einem weiteren Hustenanfall rang. Doch dieser blieb glücklicherweise aus.

»Was ist mit deinen Eltern?«, fragte ich. »Bist du mit ihnen in Kontakt geblieben?«

Henny senkte den Blick und schüttelte den Kopf. »Nein. Sie … sie hätten es nicht verstanden.«

»Was hätten sie nicht verstanden?«, fragte ich. »Sie wussten doch, dass du Tänzerin bist.« Der Zusatz, dass sie sich vielleicht auch über die Verlobung gefreut hätten, blieb mir im Hals stecken. Jouelle anzusprechen fühlte sich an, wie die Lunte eines Pulverfasses anzuzünden. Ich wollte warten, bis Henny mit diesem Thema anfing.

»Ich habe ihnen nicht mehr geschrieben.« Sie wandte den Kopf zur Seite und blickte aus dem Fenster.

Ich sah ein, dass es besser war, nicht weiter daran zu rühren. Bisher waren die Gespräche mit Henny den Umständen entsprechend leicht gewesen, wir hatten schwierige Themen vermieden. Dass sie auf meine Eltern kam, war vielleicht ein Zeichen dafür, dass es ihr besser ging. Aber ich ahnte auch, dass dann noch weitere Dinge aufbrechen konnten.

Eine ganze Weile schwiegen wir, während Hennys Blick auf die vorbeiziehenden Wolken gerichtet blieb. Sollte ich sie vielleicht lieber allein lassen?

»Ich wünschte, wir wären nie nach Paris gegangen«, sagte sie plötzlich. Eine Träne lief über ihre Wange, ihre Miene wurde hart. »All das wäre nicht passiert, wenn wir nicht dorthin gegangen wären.«

Eine Antwort darauf zu geben fiel mir schwer. Wenn ich mich betrachtete, hatte Paris mir großes Unglück gebracht, doch mir war durch die Begegnung mit Madame Rubinstein auch vergönnt gewesen, ein neues Leben anzufangen. Das Leben, das ich jetzt führte.

»Vielleicht«, antwortete ich. »Aber daran solltest du jetzt nicht denken. Du bist hier, bei mir. Und du wirst wieder gesund, das verspreche ich dir.«

Tränen traten in ihre Augen. »Ich bin schlecht zu dir gewesen. Ich hätte auf dich hören sollen …«

Mehr denn je wünschte ich mir, dass ich sie umarmen könnte. Fast war ich versucht, es zu tun, da klopfte es, und wenig später erschien eine junge Frau in Schwesterntracht. Es war die Schwester, die Deutsch sprach.

»Es wird Zeit für Ihre Medikamente«, sagte sie mit leichtem Akzent und reichte Henny ein paar Tabletten und ein Glas Wasser. Zitternd beförderte Henny die Medikamente hinunter.

»Denken Sie bitte daran, dass Fräulein Wegstein sich noch schonen muss«, sprach die Schwester mich an.

Ich hätte beinahe angemerkt, dass ich erst zehn Minuten da war, doch ich nickte. »Ich habe die Zeit im Blick.«

Die Schwester lächelte mir zu und verschwand wieder.

Henny schaute erneut aus dem Fenster. Ich hatte Angst, sie nach ihren Gedanken zu fragen.

2. Kapitel

Zu Hause angekommen, schloss ich die Tür zu unserer Wohnung auf und trat ein.

Kaffeeduft, der noch vom Frühstück in der Luft schwebte, vertrieb ein wenig die Anspannung, die ich aus dem Hospital mitgebracht hatte.

Für einen Moment blieb ich einfach nur stehen und lauschte der Stille des Apartments. Glücklicherweise hatten wir keine tickenden Uhren an den Wänden und auch sonst nichts, was an das Krankenhaus erinnerte.

Der Besuch bei Henny war unerwartet intensiv gewesen. Auf dem Rückweg war mir klar geworden, dass wir das, was geschehen war, nicht einfach abschütteln konnten. Wir mussten es aufarbeiten, Schritt für Schritt. Wenn Henny wieder genesen war und das Gift aus ihren Adern herausgeschwemmt, würden wir von vorn anfangen.

Ich schälte mich aus meiner Kostümjacke und hängte sie an den Kleiderständer.

Darren war heute bei einer Besprechung mit seinem neuen Auftraggeber. Wie gern hätte ich mich jetzt von ihm in den Arm nehmen lassen!

Als ich die Küche betrat, entdeckte ich einen Umschlag auf dem Küchentisch. Darren musste ihn dorthin gelegt haben, bevor er gegangen war.

Ich hielt es zunächst für Material, das er für seine Arbeit erhalten hatte, doch dann sah ich, dass er an mich adressiert war.

Ich erwartete eigentlich keine Post. Nach Hennys Ankunft hier hatte ich Monsieur Martin, dem Detektiv aus Paris, auf seinen Brief geantwortet. Eine Reaktion von ihm würde sicher noch dauern. Außerdem würde sie nicht in einem derart dicken Brief kommen.

Der Absender war das City College of New York. Irritiert hob ich den Umschlag an und merkte erst jetzt, wie schwer er war. Was hatte das zu bedeuten?

Mit pochendem Herzen riss ich ihn auf und zog wenig später einen Brief sowie ein paar Broschüren hervor. Eine von ihnen war ein Verzeichnis der Studienrichtungen.

Ich legte sie auf den Küchentisch und griff nach dem Anschreiben.

Sehr geehrte Miss Krohn,


vielen Dank für Ihr Interesse an unserem College. Anbei fügen wir wie gewünscht einige Broschüren mit Informationen über unsere Einrichtung bei. Scheuen Sie sich nicht, sich bei uns zu melden, falls Fragen auftreten.
In der Hoffnung, Sie bald bei uns begrüßen zu dürfen, verbleiben wir mit den besten Grüßen!

Ich ließ mich auf den Küchenstuhl sinken.

Darren. Wer sonst sollte für mich bei einem College nachfragen? Der Traum, mein Studium zu beenden, war in den vergangenen Tagen immer stärker geworden. Ich hatte mit Darren darüber gesprochen, jedoch nicht damit gerechnet, dass er bei einer Universität anfragen würde.

Mein Herz begann wild zu hämmern. Was, wenn ich es wirklich täte?

Dann konnte mich jemand wie Miss Arden nicht mehr so einfach in andere Abteilungen stecken. Mit einem Diplom würde ich in dem Bereich arbeiten können, der mir am Herzen lag.

Mit vor Aufregung eiskalten Fingern schlug ich die erste Broschüre auf. Schon nach wenigen Augenblicken verlor ich mich in dem Foto des Campus. Wie gut konnte ich mir vorstellen, dort entlangzugehen, auf dem Weg zu einer Vorlesung … Sollte ich es wirklich wagen? Jetzt merkte ich erst, wie sehr alles in mir danach schrie, wieder in einem Hörsaal zu sitzen, wieder an einem Labortisch zu arbeiten. Wieder den Worten eines Professors zu lauschen. Ich begann zu blättern und erlaubte mir für einen Moment zu träumen.


Als Darren von der Arbeit heimkam, hatte ich den Großteil der Broschüren bereits durchgelesen. Die Liste der Fachrichtungen war beeindruckend. Am meisten freute mich natürlich, dass es eine Fakultät für Chemie gab. Außerdem stimmte es mich hoffnungsvoll, dass sich dort auch viele Studentinnen einschrieben. Die Zeiten schienen sich sehr geändert zu haben, seit ich mich an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin eingeschrieben hatte.

Als ich hörte, wie er die Schlüssel auf die Kommode legte, erhob ich mich.

»Hallo, Schatz«, begrüßte ich ihn, schlang meine Arme um seinen Hals und küsste ihn.

»Das ist ja mal eine Begrüßung!«, sagte er. »Wie geht es deiner Freundin?«

»Besser«, gab ich zurück. »Aber es war diesmal irgendwie anstrengender.«

»Wollte sie sich wieder mit dir streiten? Das würde ich als gutes Zeichen werten.«

»Nein«, entgegnete ich und schilderte ihm kurz, wie der Besuch verlaufen war. Dann schloss ich mit den Worten: »Ich fürchte, da wird noch eine harte Zeit auf uns zukommen. Nicht nur wegen des Entzuges. Es gibt so viele Dinge, über die wir nie geredet haben …«

»Ihr beide werdet es hinkriegen«, sagte er und küsste meine Schläfe. »Sie muss erst einmal gesund werden.«

»Das sage ich mir auch.« Ich seufzte schwer und schmiegte mich noch eine Weile an ihn.

»Hast du die Unterlagen gefunden?«, fragte er schließlich, als ich mich aus seiner Umarmung löste.

»Ja, wenngleich ich nicht weiß, welche gute Fee sie mir geschickt hat.«

Darren lächelte und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich dachte mir, dass du vielleicht ein wenig Inspiration brauchen könntest. Jetzt, wo du frei wie ein Vogel bist, könntest du es doch noch mal mit einem Studium versuchen. Also habe ich ein paar Broschüren bei den Colleges angefordert, die Chemie als Studiengang anbieten.«

»Colleges?«, fragte ich verwundert. »Du hast gleich mehrere angeschrieben?«

»Nur die, die in der Nähe liegen und erschwinglich sind. Aber wenn du möchtest, besorge ich dir auch Unterlagen der Yale University. New Haven ist nicht allzu weit von New York entfernt.«

»Schon allein der Name klingt teuer. Wahrscheinlich studieren dort Leute wie die Vanderbilts.« Ich schüttelte den Kopf. »Das City College sieht gar nicht mal so schlecht aus. Vorausgesetzt, dass es nicht zu viel kostet.«

»Es ist ein staatliches College. Die Preise dürften geringer sein.«

Ich spürte, wie sich meine anfängliche Begeisterung langsam dämpfte. Ich hatte nicht daran gedacht, dass man für ein Studium Geld brauchte. Eine ganze Menge Geld.

In Berlin war mein Vater für meine Ausbildung aufgekommen. Hier musste ich die Kosten selbst tragen. Auch wenn wir bald heiraten würden, konnte ich nicht verlangen, dass Darren es tat.

»Aber bevor ich mich irgendwo einschreibe, sollte ich mir wohl einen Job suchen«, sprach ich meinen nächsten Gedanken laut aus.

Darrens Miene wurde ernst. Ich spürte, dass er etwas Aufmunterndes sagen wollte, aber genauso wie mich schien auch ihn jetzt die Realität einzuholen.

»Außerdem wird Henny wohl in ein Sanatorium gehen müssen wegen ihrer Sucht.« Ich senkte den Kopf. Das gute Gefühl, das ich vorhin beim Durchblättern gehabt hatte, zog sich immer mehr zurück.

Darren legte sanft seine Arme um meine Schultern. »Es wird sich alles finden, davon bin ich überzeugt. Ich werde dir so gut helfen, wie ich kann.«

»Aber ich kann nicht zulassen, dass alles auf deinen Schultern lastet.«

»Das tut es doch nicht«, gab er zurück. »Und schau, ich verdiene recht gut bei dem Lebensmittelhersteller. Das Treffen lief hervorragend. Möglicherweise melden sich noch andere Firmen bei mir. Ehe du dichs versiehst, mache ich Werbung für Kellogg’s!«

»Trotzdem bleibt es ein Risiko.«

Darren zog mich an sich. »Für dich bin ich bereit, jedes Risiko einzugehen.«

3. Kapitel

Der Gedanke an das Studium und die Bilder vom Campus des City College hielten mich einen Großteil der Nacht wach. Das Verlangen, wieder zu studieren, zerrte wie ein Sturm an mir. Fast schon verzweifelt ging ich unsere Möglichkeiten durch. Ich hatte noch Ersparnisse, doch wie lange würden die reichen, wenn ich nichts dazuverdiente? So ein Studium dauerte ja nicht nur ein paar Monate.

Die Wirtschaftslage hatte sich nicht wesentlich gebessert, aber vielleicht konnte ich in irgendeinem Kosmetiksalon anfangen?

Es gab viele Unternehmerinnen, die auf den Zug aufgesprungen waren, den Madame Rubinstein und Miss Arden in Bewegung gesetzt hatten. Doch kaum eine war so erfolgreich wie die beiden. Und die Arbeitszeiten verboten ein Studium. Wenn ich nur stundenweise arbeitete, verdiente ich bei einem kleinen Unternehmen nicht genug.

Ein weiterer Gedanke kam mir. Was, wenn ich wieder bei Helena Rubinstein vorsprach? Zu Miss Arden zurückzukehren war ein Ding der Unmöglichkeit. Aber Madame hatte mir bei unserem letzten Treffen zu erkennen gegeben, dass ich wieder bei ihr anfangen konnte. Ja, sie hatte sogar wortwörtlich gesagt, dass sie sich freuen würde und wiedergutmachen wolle, dass mir von den Anwälten der Lehman-Brothers gekündigt worden war.

Doch das war jetzt einige Jahre her.

Außerdem, wie sollte meine Arbeit dort aussehen? Die Stelle in Rom, die sie mir angeboten hatte, war mittlerweile sicher besetzt. Und Paris …

Ich wagte nicht mehr zu hoffen.

Obendrein erinnerte ich mich noch gut an die Zeit, in der ich mit meiner Kollegin Ray eine neue Produktlinie entwickelt hatte. Wir waren kaum zum Schlafen gekommen. Wie sollte ich nebenbei studieren?

Wenn, dann würde ich nur halbtags für Madame arbeiten können. Aber würde sie das tolerieren?

Ich wusste, dass es für sie keine Rolle spielte, ob ich fertig studiert hatte oder nicht. Aber mich würde es in meinem Bestreben weiterbringen, mich selbstständig zu machen.


Am Morgen fühlte ich mich wie gerädert. Es war, als läge ein großer Stein auf meiner Seele. Beinahe wünschte ich mir, Darren hätte die Broschüren nicht angefordert. So war ein Wunsch in mir geweckt worden, den ich mir wohl kaum erfüllen konnte.

»Du bist heute so still«, bemerkte Darren beim Frühstück. Eigentlich war alles wie immer, und doch fühlte es sich ganz anders an.

»Ich habe nicht gut geschlafen«, gab ich zurück.

»Du grübelst wegen des Studiums.«

»Mir ist in den Sinn gekommen, bei Madame anzufragen«, antwortete ich.

Darrens Kaffeetasse stockte auf halbem Weg. »Bei Helena Rubinstein?«

»Ich bin ihr nach der Beerdigung von Miss Marbury begegnet. Sie sagte, dass sie sich freuen würde. Sie bot mir sogar eine Anstellung in Rom an.«

Darren blickte mich überrascht an. »Rom? Nun ja, damals warst du bei ihrer großen Konkurrentin. Es liegt sicher schon einige Zeit zurück, nicht wahr?«

»Ja. Die Stelle in Rom wird nicht mehr frei sein, aber vielleicht könnte ich ins Labor.«

Er griff über den Tisch nach meiner Hand. »Willst du das wirklich? Nach allem, was du erzählt hast, war es dort auch nicht immer leicht.«

Ich nickte.

»Und wie war das noch mal mit dieser Heiratsklausel?« Ich hatte Darren davon erzählt, dass Madame von mir verlangt hatte, für zehn Jahre unverheiratet zu bleiben.

»Nun, dann stelle ich mich bei ihr vor, sobald wir verheiratet sind. Noch einmal lasse ich mir solch eine Bedingung nicht aufzwingen.«

Darren atmete tief durch. »Überlege es dir bitte gut, ob du dich wieder in die Höhle dieser Löwin begibst. Sie wird sich nicht geändert haben. Und möglicherweise spannt sie dich dermaßen ein, dass du gar nicht die Zeit fürs Studium hast.«

»Das werde ich zu verhindern wissen«, gab ich zurück. »Ich werde ihr klipp und klar sagen, was ich möchte.«

»Denk dran, dass es Madame ist. Sie stimmt nur Dingen zu, von denen sie auch einen Nutzen hat. Du müsstest ihr schon Informationen über Arden liefern, damit sie interessiert ist. Oder sehe ich das falsch?«

»Madame hasst Illoyalität«, erwiderte ich. »Wenn ich es auf diese Weise versuche, werde ich mein Ansehen bei ihr verspielen. Sie mag vielleicht Dinge über Miss Arden wissen wollen, aber ich bin sicher, dass sie Spione verabscheut. Außerdem ist es nicht meine Art. Auch bei Miss Arden wollte man mich über Rubinstein ausfragen, aber ich habe nichts gesagt. Und ich glaube, gerade deshalb hatte sie mich mit dem Aufbau der Farm betraut. Weil sie wusste, dass ich keine Verräterin bin.«

»Du hast recht, entschuldige«, sagte Darren.

Ich schüttelte den Kopf und atmete tief durch. Es musste sich doch irgendein Weg finden!

»Ich fahre nachher zum Hospital«, sagte ich, mehr zu mir selbst als zu Darren. »Vielleicht bringt mir der Weg ein bisschen Klarheit.«

Darren streichelte mir über die Wange. »Ich werde dich unterstützen, so gut ich kann.«

»Danke.« Ich griff nach seiner Hand, küsste sie und behielt sie noch eine Weile an meinem Gesicht. Dann gab ich ihn wieder frei und wandte mich meinem Kaffee zu. Für das, was auch heute wieder vor mir lag, brauchte ich dringend einen Wachmacher.


Diesmal erwartete mich Henny in ihrem Bett sitzend. Die Schwestern hatten ihr offenbar die Haare gewaschen und sie gleichzeitig ein wenig frisiert.

»Hallo, Henny«, grüßte ich und zog mein Tuch hervor. Ich wusste nicht, ob es noch nötig war, aber ich wollte sie nicht mit etwas anstecken, das ich von draußen mitbrachte.

»Hallo«, antwortete sie lächelnd. »Allmählich fange ich wieder an, wie ein Mensch auszusehen.«

»Das ist schön«, antwortete ich. »Wie geht es dir?«

»Nicht viel anders als gestern. Aber ich fühle mich ein wenig frischer.« Sie hob kurz die Arme, ließ sie dann aber kraftlos sinken. »Und das Essen schmeckt etwas besser.«

»Geben sie dir denn schon was anderes als diesen Haferbrei?«

»Ja, ich bekomme jetzt vieles mit Butter, weil sie glauben, das sei gut für die Lunge. Ich bin es nicht mehr gewohnt, so viel zu frühstücken.« Sie senkte den Blick. »Genau genommen habe ich in Paris kaum gegessen.«

Wie hatte sie es nur hierher geschafft? Sie hatte so viel Glück gehabt.

»Ich habe gestern Post erhalten«, sagte ich, um sie ein wenig aufzumuntern, und zog eine der Broschüren aus meiner Umhängetasche. »Vom City College.«

»College?«, fragte Henny.

»Das ist eine Universität hier in New York.« Ich musste Henny unbedingt Englisch beibringen, wenn sie wieder genesen war. Durch den Kontakt mit den Ärzten konnte sie ein paar Brocken, ansonsten übersetzte die deutsche Schwester für sie. »Ich habe Darren davon erzählt, dass ich mit dem Gedanken spiele, wieder zu studieren, jetzt, wo ich bei Miss Arden gekündigt habe. Das hat er zum Anlass genommen, ein paar Universitäten anzuschreiben.«

»Er scheint ein sehr guter Mann zu sein«, sagte Henny. Sie lächelte, doch in ihren Blick trat beinahe ein wehmütiger Ausdruck. »Ich erinnere mich allerdings nicht mehr so richtig daran, wie er aussieht.«

»Du wirst noch Gelegenheit haben, ihn genau in Augenschein zu nehmen, wenn du wieder zu Hause bist«, gab ich zurück. »Wir möchten, dass du bei uns wohnst.«

»Wirklich?« Hennys Augen wurden feucht. »Aber störe ich denn nicht?«

»Davon, dass du störst, möchte ich nichts hören!«, entgegnete ich. »Du bist uns aufs Herzlichste willkommen.«

»Aber ihr beide wollt heiraten.«

Das hatte ich Henny ganz am Anfang erzählt, in den ersten Tagen, als sie wieder wach war. Es überraschte mich, dass sie sich das gemerkt hatte.

»Das wollen und werden wir. Und ich freue mich, dass du da bist und meine Brautjungfer sein kannst. Wenn du das möchtest.«

»Ich möchte«, sagte sie. »Es ist so schön, dass du nach allem, was du erlebt hast, endlich dein Glück findest.«

»Das wirst du auch, das verspreche ich dir.«


Wir unterhielten uns eine ganze Weile über die Universität und den Campus. Meine Begeisterung schien ansteckend zu wirken, denn der müde Schatten, der Henny begleitet hatte, zog sich ein wenig zurück. Sie wirkte regelrecht aufgeputscht von dem Gedanken, dass ich vielleicht schon bald die Gelegenheit erhielt, eine richtige Chemikerin zu sein.

»Dann kannst du dein eigenes Geschäft eröffnen«, sagte sie. »Oder du wirst Professorin und lehrst selbst.«

»Ich fürchte, die Arbeit an der Universität ist nichts für mich. Während der letzten Tage auf der Schönheitsfarm habe ich immer wieder an ein eigenes Labor gedacht. Möglicherweise könnte ich mich auf bestimmte Produkte spezialisieren.« Ich spürte, wie der Gedanke daran den Stein, der mir seit einiger Zeit auf der Brust lag, ein wenig leichter machte.

»Das wirst du schaffen«, sagte sie und wirkte jetzt wieder ein wenig melancholisch. »Und wer weiß, vielleicht hat die Stadt auch Verwendung für eine zu alt gewordene Tänzerin.«

»Zu alt?«, fragte ich. »Du bist doch erst achtundzwanzig!«

Henny schnaubte spöttisch. »Das ist in gewissen Kreisen viel zu alt …«

War sie Jouelle zu alt geworden? Ich wagte nicht zu fragen.

»Josephine Baker tanzt noch heute, soweit ich weiß.«

»Aber auch sie ist nicht mehr der helle Stern von damals. Manchmal wünschte ich, ich wäre ihr nie begegnet. Wir beide hätten in Berlin bleiben können …«

Sollte ich ihr vom Schicksal des Varietédirektors Nelson berichten? Ich spürte, wie das Gewicht des Steins wieder zu mir zurückkehrte.

»Hast du denn in letzter Zeit etwas aus Deutschland gehört?«, fragte ich vorsichtig.

»Nein«, gab sie zurück.

Offenbar hatte sie sich bisher keine Gedanken darum gemacht, wie es ihren Eltern ergangen war. Ich war mir dessen bewusst, dass das ein gefährliches Thema war, das leicht dazu führen konnte, dass sie sich aufregte. Doch sie durfte auf keinen Fall glauben, dass es besser gewesen wäre, an Ort und Stelle zu bleiben.

»Herr Nelson ist in die Schweiz gegangen«, sagte ich. »Das Theater gibt es nicht mehr.«

Hennys Augen wurden groß. »Herr Nelson hat das Theater aufgegeben?«

»Er hatte keine andere Wahl. Die Nazis haben ihn gezwungen. Jetzt wird dort ein Kino eingerichtet.«

Hennys Miene wurde betroffen. »Dann sind alle arbeitslos geworden?«

»Ich weiß es nicht. Es wäre denkbar, dass der Kinobetreiber einige übernommen hat. Die Mädchen von den Kassen vielleicht oder manche der Bühnenarbeiter.«

»Aber die Tänzerinnen …«, wisperte sie traurig.

»Die werden andere Engagements gefunden haben. Du brauchst dich nicht darum zu sorgen.«

Ich fragte mich, ob die Mädchen und die Tanzmeisterin tatsächlich eine neue Stelle gefunden hatten. Darüber hatte der alte Mann, den wir im Frühjahr vor dem Theater getroffen hatten, keine Auskunft gegeben.

»Und du brauchst auch nicht zu glauben, dass es damals ein Fehler war, aus Berlin fortzugehen«, fügte ich hinzu. »Ich bin sicher, die wirklich gute Zeit kommt schon bald. Manchmal muss man eben Umwege gehen, aber das Ziel ist dann umso schöner.«

Ein Klopfen riss uns aus dem Gespräch, und Dr. Higgins trat ein. In seiner Kitteltasche steckte ein Stethoskop, und in den Händen hielt er wieder das Klemmbrett.

»Miss Krohn, dürfte ich Sie kurz sprechen?«, fragte er zu meiner Überraschung.

»Natürlich, Herr Doktor.« Ich blickte zu Henny, die wieder schläfrig wirkte. »Ich wollte mich ohnehin verabschieden.«

»Gut, ich warte draußen.«

Ich trat zu Henny und griff nach ihrer Hand. »Ich komme morgen wieder, ja? Dann erzähle ich dir, was der Doktor zu mir gesagt hat.«

»Ist gut«, sagte Henny müde. Unser Gespräch schien sie angestrengt zu haben.

Ich nickte ihr zu und wandte mich zur Tür. Draußen zog ich mir das Tuch vom Gesicht. Dr. Higgins bedeutete mir, mit ihm zu kommen.


Die Wartestühle vor dem Arztzimmer waren leer, im Hintergrund schob eine Schwester einen Servierwagen über den Gang.

Das Sprechzimmer war mir schon von dem ersten Besuch hier vertraut. Das Knochengerippe neben dem Fenster grinste mich an und erinnerte mich an die Biologiestunden am Gymnasium.

Dr. Higgins bot mir einen Platz an und begab sich dann hinter seinen Schreibtisch. »Es gibt gute Nachrichten. Wir hätten für Ihre Freundin einen Platz in einem Sanatorium.«

»Ist das nicht ein bisschen früh?«, wunderte ich mich. »Miss Wegstein wirkt auf mich immer noch ziemlich schwach.«

»Wir gehen davon aus, dass sie in einer Woche entlassen werden kann. Ihr Zustand ist wieder recht gut, jedenfalls was die Lunge angeht. Wenn sie noch weiter zu Kräften gekommen ist, könnte sie die Kur bereits antreten.«

Sollte er nicht mit Henny darüber sprechen?

»Und wo liegt das Sanatorium?«, fragte ich.

»In der Nähe von New Haven. Dort gibt es eine Stiftung, die sich um Suchtkranke bemüht. Ich kenne den Leiter der Anstalt, Professor Hendricks, er ist ein anerkannter Experte auf dem Gebiet. Er hat viel Erfahrung mit Opium- und Alkoholsucht. Diese sind in New York leider weitverbreitet, auch in prominenten Kreisen.« Dr. Higgins machte eine Pause, dann fuhr er fort: »Allerdings würde die Kur dort gut neunhundert Dollar kosten.«

»Neunhundert!«, platzte ich heraus. Ich fühlte mich, als hätte mir jemand einen Schlag versetzt. »Das ist ein kleines Vermögen!«

»Es ist eines der besten Häuser für die Entwöhnung von Suchtkranken. Man führt dort spezielle Kuren und Diäten durch, die alle darauf ausgerichtet sind, die Entzugserscheinungen zu lindern.«

Nur lautete mein Name nicht gerade Vanderbilt oder Rockefeller.

»Außerdem wäre es vielleicht angebracht, wenn Sie sie begleiten würden. Die Nähe einer vertrauten Person könnte ihren Heilungsprozess beschleunigen.«

Allmählich glaubte ich, dass meine elegante Erscheinung den Arzt zu dem Glauben verleitete, ich hätte Geld. Doch allein der Gedanke, ihm zu widersprechen oder abzulehnen, verursachte ein schlechtes Gewissen bei mir. Henny sollte die beste Behandlung bekommen. Auch wenn ich keine Ahnung von Opiumsucht hatte, wollte ich doch, dass es ihr gelang, vom Rücken des »Drachen« abzuspringen.

»Was würde es denn kosten, wenn ich meine Freundin begleitete? Oder meinen Sie, ich sollte mir ein Zimmer in einer nahe gelegenen Pension nehmen?«

»Nun, Patienten der Klasse eins haben das Anrecht darauf, dass ihre Begleitpersonen in einem benachbarten Raum untergebracht werden. Es sind ganz reizende Zimmer mit guter Ausstattung. Es würden für Sie weitere sechshundert Dollar Kosten anfallen, was mir allerdings angesichts der Tatsache, dass Sie Vollverpflegung erhalten, günstig erscheint.«

Tausendfünfhundert Dollar! Ich war froh, dass ich bereits saß.

Ich gestattete mir einen Moment, diese Nachricht zu verdauen, dann fragte ich: »Und Sie sind sicher, dass Miss Wegstein für diese Kur bereit sein wird? Jemanden von einer Droge zu entwöhnen, stelle ich mir schwierig vor.«

Dr. Higgins faltete die Hände vor sich auf der ledernen Schreibtischunterlage. »Es wird nicht einfach sein. Bei manchen Patienten ist die Rückfallquote sehr hoch. Und leider gibt es besonders in New York Mittel und Wege, an Opium zu kommen. Umso wichtiger ist es, dass Ihre Freundin eine gute Behandlung erhält. Ich bin sicher, dass sich die Investition lohnen wird.«

Dass er betreffend Hennys Gesundheit von einer Investition sprach, mutete mich ein wenig seltsam an.

»Haben Sie Miss Wegstein schon in Kenntnis gesetzt von der Kur?«, fragte ich.

»Ich dachte, ich spreche erst einmal mit Ihnen. In Anbetracht der Umstände sind wohl Sie diejenige, die für die Kosten aufkommt, nicht wahr?«

Ich nickte.

»Sollten Sie bereit sein, den Aufenthalt von Miss Wegstein im Sanatorium zu bezahlen, werde ich sie umgehend darüber informieren. Sie müssen wissen, dass Plätze dort sehr rar und begehrt sind.«

Ich war mir nicht bewusst gewesen, dass es so viele süchtige Reiche in New York gab.

»Muss ich das sofort entscheiden?«, fragte ich und begann zu rechnen. Meine Ersparnisse fielen mir wieder ein. Für die Kur würden sie reichen, aber danach wurde die Notwendigkeit eines Jobs noch größer, wenn ich studieren wollte.

»Wie ich schon sagte, das Sanatorium ist begehrt, und der eine Platz könnte recht schnell besetzt sein. Ich habe mit Professor Hendricks besprochen, ihn für die nächsten Stunden zu reservieren, aber …«

»In Ordnung«, sagte ich. Hennys Gesundheit ging vor. Um den Job würde ich mich kümmern. »Ich werde die Kosten tragen.«

Der Arzt nickte mir lächelnd zu. »Dann werde ich gleich dort Bescheid geben lassen.«

»Und was machen wir, wenn Miss Wegstein die Kur nicht antreten möchte?«, fragte ich. Dass Henny bei der Entscheidung übergangen werden sollte, gefiel mir nicht.

»Ich bin sicher, dass wir beide sie schon überzeugen können.« Dr. Higgins lächelte mich aufmunternd an und erhob sich dann. »Ihre Freundin hat großes Glück gehabt. Wäre sie irgendwo in der Wildnis zusammengebrochen, wäre sie vielleicht tot. Sie hat es Ihnen zu verdanken, dass sie lebt. Und eine zweite Chance erhält.«

»Danke, Dr. Higgins«, entgegnete ich, reichte ihm die Hand und verließ das Sprechzimmer.


Während der Fahrt mit der Subway nahm ich kaum etwas von meiner Umgebung wahr. Wieder überlegte ich wegen eines Jobs, der auch mein Studium finanzieren konnte. Doch außer bei Madame Rubinstein wollte mir keine Anstellung einfallen, die wirklich genug einbrachte.

Als ich wieder zu Hause ankam, fühlte ich mich gleichzeitig aufgewühlt und niedergeschlagen. Beinahe sehnte ich mich zurück in die Zeit, als ich täglich in Madames Labor fuhr oder für Miss Arden die Schönheitsfarm einrichtete. Jetzt war alles in der Schwebe. Einziger Ankerpunkt in meinem Leben war Darren. Und Henny, doch im Moment war sie angeschlagen und musste ihre eigenen Dämonen bekämpfen.

Ich ging in die Küche und machte mir einen Kaffee. Dann setzte ich mich an den Küchentisch. Die Broschüren lagen in Reichweite auf der Anrichte. Unwillkürlich wanderte mein Blick zu ihnen. Gleichzeitig erinnerte ich mich daran, wie ich damals in Paris vor dem Schaufenster gestanden und mir geschworen hatte, es zu schaffen. Für mein Kind. Für mich.

Ich hatte es aus tiefstem Elend herausgeschafft – mit der Hilfe von Helena Rubinstein. Würde sie mir noch einmal helfen? Würde der Preis, den sie dafür verlangte, akzeptabel sein?

Plötzlich kam mir eine Eingebung. Und nun wusste ich, was ich tun musste.


Die Zeit bis zu Darrens Rückkehr saß ich wie auf Kohlen. Wenn mein Plan funktionieren sollte, brauchte ich sein Einverständnis.

Als sich die Tür öffnete, sprang ich von meinem Stuhl auf und trat in den Flur.

Darren blickte mich verwundert an. »Hallo, Schatz, was ist los?«

»Lass uns heiraten«, antwortete ich.

Darren sah mich verständnislos an. »Aber natürlich heiraten wir! Darüber waren wir uns doch einig, nicht?«

»Lass uns jetzt heiraten«, präzisierte ich. »An diesem Wochenende. Oder gleich morgen, egal.«

»Wie kommst du denn darauf?«, fragte er und stellte seine Tasche ab. »Ist etwas passiert?«

Ich lehnte mich gegen die Wand. »Der Doktor hat mit mir gesprochen. Er möchte, dass ich Henny ins Sanatorium begleite.«

»Dazu musst du doch nicht verheiratet sein.«

»Nein, aber ich möchte den Sanatoriumsaufenthalt finanzieren. Er wird etwa tausendfünfhundert Dollar kosten, wenn ich sie begleite. Und das muss ich unter den gegebenen Umständen.«

»Nun, das ist nicht gerade wenig!«

»Sie war damals da für mich, hat mich vor der Gosse bewahrt. Ich bin es ihr schuldig.« Ich blickte auf meine Schuhspitzen. »Ich habe eine ganze Weile überlegt, doch ich komme immer zu ein und demselben Schluss: Ich muss es bei Helena Rubinstein versuchen.« Ich gab ihm einen Moment, diese Information sacken zu lassen. »In dem Augenblick, wo ich die Tür von Madame durchquere, möchte ich deine Frau sein. Ich darf nicht zulassen, dass sie mir wieder eine Klausel aufhalst. Ich möchte ihr als verheiratete Frau gegenübertreten.«

Darren sah mich prüfend an. »Ist das dein Ernst?«

Ich konnte nicht genau erkennen, ob er die Heirat meinte oder meine Absicht, wieder für Rubinstein zu arbeiten.

»Ich dachte, wir würden meine Freunde einladen«, fuhr er dann fort. »Und Henny wird sicher auf deiner Hochzeit tanzen wollen. Außerdem warst du doch der Meinung, dass es für uns keine Hochzeit ohne Feier geben sollte.«

»Wir können feiern«, gab ich zurück. »Wenn Henny aus dem Sanatorium zurück ist. Wenn ich einen Job habe. Wenn ich am College eingeschrieben bin.« Ich ballte entschlossen die Fäuste.

»Das kann ja noch eine Weile dauern.« Darren atmete tief ein, blies die Backen auf und ließ die Luft dann wieder entweichen.

»Bitte, Darren. Das hier ist wichtig. Für unsere Zukunft und auch für mich.«

»Nun, es kommt etwas überraschend.« Der Blick, den er mir zuwarf, war allerdings so liebevoll, dass sich mein Herz mit Wärme füllte und meine Nervosität sich legte. »Aber warum nicht? Es hat auch etwas für sich.«

»Ich möchte dich zu nichts zwingen …«

»Stopp!«, sagte er und küsste mich. »Ich heirate dich sehr gern sofort. Gib mir nur ein bisschen Zeit, um einen Reverend zu finden, der uns auf die Schnelle traut. Und um Eheringe zu kaufen. Wenn wir auch sonst nichts brauchen, das schon.«

»Danke!« Ich fiel ihm um den Hals und küsste ihn, so fest und leidenschaftlich, dass er sich auch nicht wehrte, als ich ihn in unser Schlafzimmer zog.