Buch

Manipulieren, behaupten, überreden, einschüchtern – die dunkle Rhetorik kennt viele unsaubere Methoden, um den Gesprächspartner zu überlisten. Aber: Ehrlich währt am längsten! Respektvoller, langfristig erfolgreicher und für alle Beteiligten angenehmer ist die weiße Rhetorik, die mit besseren Argumenten überzeugt. Der renommierte Rhetoriktrainer Wladislaw Jachtchenko zeigt, wie es geht. Denn Menschen zu überzeugen ist erlernbar. Ob im Beruf oder im Privatleben: Mit diesen Übungen, Checklisten, Tipps und Beispielargumentationen liefert er das nötige Rüstzeug, mit dem wir in jeder Gesprächssituation ganz ohne manipulative Tricks mit Leichtigkeit überzeugen können.

Du magst Überzeugungstechniken für unterwegs? In Wlad Jachtchenkos Podcast »MENSCHEN ÜBERZEUGEN« erfährst du in prägnanten Folgen mehr über weiße und dunkle Rhetorik:

argumentorik.com/podcast

Seine Podcast-Gäste sind Politiker, Intellektuelle, Philosophen, CEOs, Juristen und andere Rhetorikprofis, die dank ihrer Überzeugungskraft erfolgreich geworden sind.

Autor

Wladislaw Jachtchenko hat Politikwissenschaft, Jura, Geschichte sowie Literaturwissenschaft in München und New York studiert und als Jurist in einer Münchner Kanzlei sowie als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei den

Vereinten Nationen in New York gearbeitet. Im Jahr 2007 folgte er dem Ruf seiner Leidenschaft und arbeitet seitdem als Rhetoriktrainer, Speaker und Businesscoach. Er ist Gründer der Argumentorik-Akademie und bietet maßgeschneiderte Firmenseminare, kurzweilige Impulsvorträge sowie Einzelcoachings zu allen Themen rund um professionelle Kommunikation. Der Autor ist Top-10-Speaker auf internationalen Rhetorik-Turnieren und mehrfach ausgezeichneter Kommunikationsexperte. Er ist der Autor des erfolgreichen Buches »Dunkle Rhetorik«.

Außerdem von Wladislaw Jachtchenko im Programm

Dunkle Rhetorik (auch als E-Book erhältlich).

Wladislaw Jachtchenko

Weiße

Rhetorik

Überzeugen statt manipulieren

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Originalausgabe Mai 2021

© 2021 Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Christine Laudahn

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagfoto: © Xenia Kharmach

Illustrationen: Xenia Kharmach

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-25787-3
V002

Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Der Vernunft gewidmet

Inhalt

Vorwort: Weiße Rhetorik versus dunkle Rhetorik

Einleitung: Warum ist es so schwer, Menschen zu überzeugen?

Die Top-10-Skills der weißen Rhetorik für den Alltag

1. Argumente sind einfach SEXIER

Statement (Behauptung) • Explanation (Begründung) • Example (Beispiel) • Impact (Relevanz) • Explanation of Impact (Begründung der Relevanz) • Rebuttal (Widerlegung des wichtigsten Einwands) • Vorteile und Alltagstauglichkeit des SEXIER-Modells

2. Empathisch argumentieren: Das 4-Farben-Modell

Den »roten« Typ überzeugen • Den »blauen« Typ überzeugen • Den »gelben« Typ überzeugen • Den »grünen« Typ überzeugen • Immer dieselbe Farbe?

3. Die zehn besten Begründungsstränge

Wirtschaftlich • Moralisch • Juristisch • Politisch • Egoistisch • Altruistisch • Pragmatisch • Idealistisch • Kulturell • Emotional • Und was ist mit wissenschaftlichen Begründungen? • Welchen und wie viele Begründungsstränge nehmen? • Ein Hauch von Philosophie

4. Verstehend zuhören, nicht antwortsüchtig

Die sechs Stufen des antwortsüchtigen Zuhörens • Die vier Stufen des verstehenden Zuhörens

5. Klüger fragen - mehr erfahren

Zur Vielschichtigkeit von Fragen: Wieso? Weshalb? Warum? • Zum Sinn von Fragen: Führen? Informieren? Sensibilisieren? • Von ungleichen Redeanteilen und dem Drang zu überzeugen

6. Hart in der Sache, weich zur Person

Warum »weich zur Person«? • Warum hart in der Sache?  

7. Klasse statt Masse - und das Beste zuerst

Warum Klasse statt Masse? • Warum das beste Argument zuerst?

8. Störfaktoren beim Überzeugen

Unser eigenes großes Ego • Das Ego des Gesprächspartners • Die knappe Zeit • Der ungünstige Ort • Die negativen Emotionen • Die körperliche Verfassung • Status und Machtspiele • Missverständnisse und Vorurteile • Die mangelnde Vorbereitung • Die gestorbene Hoffnung

9. Zehn Verbote beim Überzeugen

Traditionsargument • Mehrheitsargument • Autoritätsargument • Zirkelschluss • Persönlicher Angriff • Gefühlsappelle • Beweislastumkehr • Apriorismus • Beispiel-Argumentation • Moralkeule

10. An der Grenze zur dunklen Rhetorik

Echte und vorgespielte Argumente • Echte und vorgespielte Reputation • Echte und vorgespielte Emotionen

Die drei Säulen der weißen Rhetorik

1. Erste Säule: Bessere Argumente

Wie sehen bessere Argumente aus? • Eine kurze Geschichte des Arguments • Die fünf Argumentationslevel • SEXIER-Modell versus 12-Module-Modell • Die sieben Wege der Widerlegung

2. Zweite Säule: Besseres Zuhören

Die zehn Stufen des Zuhörens • Auf welcher Zuhörstufe du zuhören solltest • Sieben Ratschläge an einen guten Zuhörer • Sieben Ratschläge an einen schlechten Zuhörer • Fünf Übungen für besseres Zuhören im Alltag

3. Dritte Säule: Bessere Fragen

Zehn gute Gründe für gute Fragen • Die 33 wichtigsten Fragearten • Die vier häufigsten Fehler beim Fragen • Die fünf wertvollsten Fragen zur eigenen Entwicklung

Zum Schluss: Wie kannst du dich kontinuierlich verbessern?

Anmerkungen

Register

Vorwort: Weiße Rhetorik versus dunkle Rhetorik

Ein guter Mensch, in seinem dunklen Drange,

ist sich des rechten Weges wohl bewusst.

aus Goethes »Faust«

Es gibt zwei Wege, Menschen zu beeinflussen. Der offene und ehrliche Weg, bei dem wir den anderen verstehen wollen, rationale Argumente formulieren und in einem fairen Diskurs gemeinsam nach der besten Lösung suchen. Diesen Weg nenne ich weiße Rhetorik. Jedoch hat die Rhetorik auch ihre dunkle Seite: Wenn wir unsere Interessen um jeden Preis durchsetzen wollen und deswegen zu Scheinargumenten, Sprachtricks und psychologischen Kniffen greifen, dann gehen wir – manchmal bewusst, häufig auch unbewusst – den Weg der Manipulation, welchen ich dunkle Rhetorik nenne.

Doch warum nutzen Menschen fast täglich fiese manipulative Techniken, statt rational zu überzeugen? Der wichtigste Grund ist, dass die dunkle Rhetorik schneller zum Ziel führt: es dauert nur wenige Minuten, die eigene Machtposition auszuspielen, jemanden unter Druck zu setzen, ihn mit einer Halbwahrheit abzuspeisen oder mit Komplimenten einzulullen. Im Vergleich dazu ist es viel aufwendiger, empathisch zuzuhören, sich kluge Fragen zu überlegen und anschließend rational zu argumentieren. Es kann Stunden, Tage, Monate, ja manchmal sogar Jahre dauern, bis jemand sich endlich überzeugen lässt.

Der Weg der weißen Rhetorik ist zwar edler, aber auch steiniger. Das sagt uns auch die moderne Kognitionspsychologie. So unterscheidet der Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahnemann in diesem Kontext zwischen zwei Denksystemen1: Das langsame Denken, zu dem sich die weiße Rhetorik zuordnen lässt, erfordert eine hohe kognitive Anstrengung und Konzentration. Hingegen arbeitet das schnelle Denken, in welchem die dunkle Rhetorik ihr Unwesen treibt, automatisch, schnell und weitgehend mühelos. Weil unser Gehirn sich die meiste Zeit im Energiesparmodus befindet und wir im Alltag überwiegend schnell und unüberlegt entscheiden, ist die dunkle Rhetorik samt ihren Tricks eine ständige Gefahr für jeden, der unkonzentriert und unbedacht seine Gespräche führt. Wer sich für die dunkle Rhetorik interessiert, die das intuitive und fehleranfällige schnelle Denken anzapft, dem sei mein gleichnamiges Buch zu diesem Thema empfohlen.

Doch weiß ich, dass die meisten Menschen einen starken Wunsch verspüren, ehrlich zu kommunizieren, besser zu argumentieren, und eine starke Abneigung gegen die dunklen Tricks haben. Und genau deswegen lautet das Motto dieses Buches: Überzeugen statt manipulieren!

Aus unzähligen Kommunikationstrainings weiß ich auch, dass sich viele nach alltagstauglichen Werkzeugen sehnen, die es ihnen erlauben, besser zu argumentieren, besser zuzuhören und bessere Fragen zu stellen. Es geht in diesem Buch also nicht um eine wohlklingende oder manipulative Rhetorik, sondern um eine faire und argumentative Rhetorik. Eine Rhetorik, die dir helfen wird – weit jenseits von abgedroschenen Tipps zu Körpersprache, Stimme, Charisma und gelungener Selbstdarstellung –, Menschen nachhaltig von deinen Ideen zu überzeugen.

Einleitung: Warum ist es so schwer, Menschen zu überzeugen?

Es gibt drei Arten von Menschen: diejenigen, die sehen;

diejenigen, die sehen, was ihnen gezeigt wird;

und diejenigen, die nicht sehen.

Leonardo da Vinci

Überzeugen ist kein Zufall, sondern eine erlernbare Kunst. Das dachte sich auch Euathlos und ging zu einem der besten Rhetoriklehrer Griechenlands, dem berühmten Protagoras, um sich ausbilden zu lassen. Sie vereinbarten, dass Euathlos seinem Lehrer das Honorar erst dann zahlen müsste, wenn er einen Gerichtsprozess gewänne.

Nach der Ausbildung entschied der clevere Schüler, gar keine Prozesse zu führen, gewann daher keinen einzigen und zahlte seinem Lehrer keinen Cent.

Der große Protagoras war darüber stark erbost, klagte seinen Schüler an und argumentierte vor Gericht: »Er muss auf jeden Fall das Honorar bezahlen! Entweder aufgrund unserer Vereinbarung, weil er diesen Prozess gewinnt; oder weil ihn das Gericht dazu verurteilt.«

Der clevere Schüler entgegnete: »Ich muss auf gar keinen Fall bezahlen! Denn entweder verliere ich diesen Prozess – und dann war meine Ausbildung bei ihm schlecht und es gilt unsere Vereinbarung; oder weil das Gericht zu meinen Gunsten entscheidet.«

Welcher der beiden Männer hat nun recht? Dieses schöne Paradoxon aus der Antike zeigt, wie schwierig der Überzeugungsprozess manchmal sein kann – vor allem dann, wenn sich beide Gesprächspartner zu hundert Prozent im Recht sehen.

Die Wahrheit ist: Jeder von uns möchte überzeugen, doch bei Weitem nicht jeder möchte überzeugt werden. Es ist beim Überzeugen hilfreich, alle Menschen in drei unterschiedliche Gruppen einzuordnen:

Zur ersten Gruppe gehören Menschen, die in jedem Gespräch einen Wettbewerb sehen, bei dem es darum geht, sich gegen den anderen durchzusetzen. Ihnen können wir die besten Argumente der Welt vortragen, doch wollen oder können sie unsere Gedanken nicht (ein-)sehen. Es wäre vergebliche Liebesmüh, zu versuchen, diese Art von Menschen von etwas rational zu überzeugen. Bei dieser Gruppe ist nur die dunkle Rhetorik mit ihren unsichtbaren Tricks erfolgversprechend.

Die zweite Gruppe von Menschen sind diejenigen, die wir gar nicht erst zu überzeugen brauchen, weil sie unsere Grundwerte und Überzeugungen bereits teilen.

Doch die mit Abstand größte (dritte) Gruppe bilden diejenigen Menschen, die unsere Weltsicht zwar nicht teilen, jedoch guten Argumenten durchaus zugänglich sind. Bei ihnen lohnt sich die Überzeugungsarbeit mithilfe der Werkzeuge der weißen Rhetorik. Doch wie können wir diese Menschen am besten überzeugen?

Ein überzeugender Kommunikator vereinigt in sich drei Kernkompetenzen, welche die drei Säulen der weißen Rhetorik bilden und leider weder in der Schule noch in der Ausbildung beziehungsweise im Studium systematisch gelehrt werden:

  1. die Argumentationskompetenz, also die Fähigkeit, die eigenen Gedanken rational und logisch aufzubauen und plausible Argumente vorzutragen;
  2. die Zuhörkompetenz, also die Fähigkeit, sowohl die Gedanken- als auch die Gefühlswelt des Gegenübers im Gespräch genau zu erfassen; und schließlich
  3. die Fragekompetenz, also die Fähigkeit, in der richtigen Situation die richtige Frage zu stellen, um dem gesetzten Gesprächsziel näher zu kommen.

Ohne diese drei grundlegenden kommunikativen Kompetenzen hängt es von der Tagesform und vom Zufall ab, ob du den anderen überzeugen wirst. Ziel dieses Buches ist es, dir diese drei Kompetenzen systematisch und praxisorientiert zu vermitteln, damit du sowohl im Berufs- als auch im Privatleben deine Überzeugungskraft steigern kannst. In diesem Buch warten innovative Argumentationsmodelle, neuartige Zuhörkonzepte und die klügsten Fragetechniken auf dich.

Wir starten gleich mit den Top-10-Skills der weißen Rhetorik für den Alltag. Hier erfährst du unter anderem, warum gute Argumente SEXIER sind, warum du sie dem Persönlichkeitstyp deines Gesprächspartners anpassen solltest, was die zehn Stufen des Zuhörens ausmacht und wie du mit klugen Fragen führen, informieren und sensibilisieren kannst. Anschließend vertiefen wir die Inhalte der drei Säulen der weißen Rhetorik, welche dich befähigen werden, ganz frei von Manipulation andere Menschen mit der Kraft deiner Worte nachhaltig zu beeinflussen.

Du musst dieses Buch nicht unbedingt chronologisch lesen. Spring gerne, wenn du möchtest, zu jener Sektion, die dich am meisten interessiert. Doch nun genug der einleitenden Worte. Los geht’s!

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Die Top-10-Skills der weissen Rhetorik für den Alltag

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Es ist schwieriger, eine vorgefasste Meinung zu zertrümmern als ein Atom.

Albert Einstein

Überzeugen ist eine erlernbare Kunst. Doch weißt du aus deinen täglichen Gesprächen, dass die Überzeugungskunst alles andere als einfach ist. Menschen haben vorgefasste Meinungen, reagieren emotional auf Einwände und haben häufig weder Willen noch Zeit, sich auf unsere Argumente einzulassen.

Die drei Säulen der weißen Rhetorik helfen dir im Alltag, deine Mitmenschen nachhaltig zu überzeugen. Besser argumentieren (Säule 1), besser zuhören (Säule 2) und besser fragen (Säule 3) – das ist die unschlagbare Troika, mit deren Hilfe du auf eine ehrliche und transparente Weise auf die Meinungen anderer einwirken kannst.

Dieser Abschnitt zu den TOP-10-Skills gibt dir einen schnellen Einblick in die wichtigsten Instrumente der weißen Rhetorik, die wir dann bei den drei Säulen noch weiter vertiefen werden.

Die Top-10-Skills

1. Argumente sind einfach SEXIER

2. Empathisch argumentieren: Das 4-Farben-Modell

3. Die zehn besten Begründungsstränge

4. Verstehend zuhören, nicht antwortsüchtig

5. Klüger fragen – mehr erfahren …

6. Hart in der Sache, weich zur Person

7. Klasse statt Masse – und das Beste zuerst

8. Störfaktoren beim Überzeugen

9. Zehn Verbote beim Überzeugen

10. An der Grenze zur dunklen Rhetorik

So viel vorab: Das wichtigste rationale Überzeugungsmittel ist seit tausenden von Jahren das Argument. Doch was macht ein gutes Argument aus? Aus welchen Elementen ist es aufgebaut? Ich möchte dir auf den nächsten Seiten ein Argumentationsmodell vorstellen, das du sicher nie vergessen wirst.

1. Argumente sind einfach SEXIER

Hat man sein w a r u m? des Lebens,

so verträgt man sich fast mit jedem w i e? 2

Nietzsche

Am Ende dieses Abschnitts wirst du wissen, warum du nicht heiraten solltest! Neugierig? Dann lass dich nachher auf ein Argument ein, was SEXIER sein wird, als du es dir vorstellen kannst! Das mit Abstand wichtigste Überzeugungsmittel der weißen Rhetorik ist das Argument. Mit dem Argument geben wir dem Gesprächspartner plausible Gründe an, warum unsere Behauptung richtig und wichtig ist.

Wenn ich Seminarteilnehmer in meinen Workshops frage, aus welchen Elementen denn ein gutes Argument besteht, so zucken für gewöhnlich erst einmal alle mit den Schultern. Danach wagen sich dann zwei bis drei Mutige aus der Deckung und sagen so etwas wie »Fakten«, »Gründe«, »Beispiele«, »Erläuterungen«, »Vergleiche«, »Sprachbilder«, »Empathie« und weitere schöne Begriffe. Doch wirklich sicher ist sich keiner der Teilnehmer, was die wahre Anatomie eines Arguments ist. Das ist umso erstaunlicher, wenn wir bedenken, dass wir das Wort ständig verwenden, aber eben nicht wissen, was es eigentlich bedeutet.

In Seminaren mit jungen Teilnehmern verhält es sich meist anders: Auf die Frage nach der Autonomie des Arguments reißen junge Menschen schnell den Arm hoch und sagen wie aus der Pistole geschossen: »Es gibt doch dieses 3-B-Schema aus dem Deutschunterricht, oder?« – Und tatsächlich ist dies das in Deutschland am meisten verbreitete Argumentationsmodell, welches wir spätestens nach dem Schulabschluss wieder vergessen oder verdrängt haben. Was ist also das besagte 3-B-Schema? Es steht für: B1 = Behauptung; B2 = Begründung; B3 = Beispiel.

Dieses Schema ist gar nicht so schlecht, enthält es doch wichtige Elemente eines überzeugenden Arguments. Daher: Lob allen Deutschlehrern, die das 3-B-Schema unterrichten! Es gibt ja nicht viele Dinge aus der Schule, die sinnvoll für unseren Alltag sind. »Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir« – beklagte ja auch Seneca seinerzeit. Das 3-B-Schema ist da eine schöne Ausnahme.

Doch das 3-B-Schema hinkt. Ihm fehlen drei weitere wichtige Elemente eines richtig guten Arguments. Denn richtig gute Argumente sind SEXIER – und damit meine ich nicht nur, dass in unserer zunehmend sapiosexuellen Welt derjenige attraktiver erscheint, welcher beim Reden auch gut argumentiert.

Es ist viel einfacher. Alle sechs Buchstaben des Wortes SEXIER stehen für sechs Bestandteile – und aus Erfahrung weiß ich, dass sich wirklich jeder Mensch diese ganz besondere Abkürzung unglaublich gut merken kann. Wofür stehen nun die Buchstaben SEXIER?3

Im Folgenden werde ich dir die sechs Elemente des SEXIER-Modells kurz erläutern und anhand der zugegeben provokanten These »Man sollte nicht heiraten!« veranschaulichen. An provokanten Thesen lässt sich das Argumentieren übrigens mit dem größten Spaß erlernen – und von provokanten Thesen wird es noch so einige in diesem Buch geben. Kommen wir also zur ersten Stufe des Arguments – der Behauptung.

Statement (Behauptung)

Wenn wir jemanden überzeugen wollen, dann brauchen wir erstmal einen Start- und Zielpunkt, also etwas, für das wir einstehen und was wir argumentativ verteidigen wollen. Dabei kann man diese erste Stufe des Arguments »Behauptung« nennen, aber auch »Standpunkt«, »Position«, »Meinung«, »Statement«, »These« oder »Ansicht« – all das sind argumentationstheoretisch gesehen Synonyme. Dabei ist eine These bzw. eine Behauptung zunächst nicht wahr oder falsch, sondern es kommt vor allem auf die Begründung (oder »Gründe« oder »Erklärung« oder »Analyse«) an.

Worauf wir bei dieser ersten Stufe des Arguments unbedingt achten müssen, ist, dass wir jeden Begriff in unserer These ganz bewusst verwenden und jeder möglichst präzise ist. Falls Begriffe mehrdeutig sein sollten, müssen wir diese klar definieren. Beispielsweise ist bei der These »Man sollte nicht heiraten!« zu präzisieren, ob man die kirchliche oder die standesamtliche Heirat oder beide meint.

Helfende Formulierungen, die dem anderen deutlich machen, dass wir uns auf der ersten Stufe des Arguments befinden, sind:

Legen wir also los mit der Beispielargumentation.

Statement [Behauptung]:

Ich behaupte, dass man weder kirchlich noch standesamtlich heiraten sollte!

Wie du siehst, ist eine Behauptung kurz und bündig. Für die Begründung, das sehen wir gleich, gilt fast schon das Gegenteil.

Explanation (Begründung)

Bei der Begründung, der zweiten Stufe des Arguments, geben wir plausible Gründe an, warum unsere Behauptung richtig beziehungsweise wahrscheinlich ist. Das deutsche Wort Grund ist hier auch metaphorisch zu verstehen4: Unsere aufgestellte These braucht ein Fundament, also einen stabilen Grund – und insoweit sollte unsere Begründung nicht oberflächlich, sondern tiefergehend sein. Je tiefer die Begründung also, desto stabiler verankern wir argumentativ unsere These.

Der häufigste Fehler, den ich im Alltag beobachte, ist, dass Menschen nur eine Mini-Begründung angeben. Manchmal nur einen halben Satz. Das reicht natürlich niemals aus, um irgendjemanden wirklich zu überzeugen. Stelle dir vor, ich würde sagen: »Wähle bei der nächsten Bundestagswahl die FDP, weil diese Partei sich in wirtschaftlichen Fragen am besten auskennt!«

Diese mickrige Begründung wird dich niemals überzeugen. Denn zum einen müsste ich tiefergehend analysieren, warum die FDP sich im Vergleich zu anderen Parteien in wirtschaftlichen Fragen besser auskennt – und zum anderen muss ich auch zeigen, warum die wirtschaftlichen Fragen bei der Bundestagswahl die höchste Bedeutsamkeit haben. Doch selbst wenn wir für eine virtuelle Sekunde annehmen, dass die Liberalen sich wirklich am besten in Wirtschaftsfragen auskennen, kann es doch sein, dass für meinen Gesprächspartner ökologische oder außenpolitische Fragen bedeutsamer sind und er sich nicht um Wirtschaft kümmert. Eine Mini-Begründung ist daher immer zu vermeiden.

Die mit Abstand häufigste Frage, die ich zum Thema Argumentation gestellt bekomme, ist diese: Wie lange soll denn eine gute Begründung sein? Und da antworte ich, wie ein Jurist auf fast alles antwortet: »Es kommt darauf an!«

Je umstrittener deine These ist, desto länger muss deine Begründung ausfallen. Eine grobe Daumenregel aber ist meine 10-Sätze-Regel: Im Zweifel würde ich eine These mit circa zehn Sätzen begründen. Mit zehn Begründungssätzen stellst du zum einen klar, dass die Begründung nicht zu oberflächlich ist. Zum anderen sind zehn Sätze auch nicht zu lang, also keine ausschweifende Vorlesung, sondern eine einminütige Überzeugungsarbeit – und eine Minute hat wirklich jeder, auch am Telefon.

Helfende Formulierungen, die dem anderen deutlich machen, dass wir uns auf der zweiten Stufe des Arguments befinden, sind:

Und nun zurück zu unserer Beispielargumentation.

Explanation [Begründung]:

Warum ist das so? Wenn Menschen heiraten möchten, dann möchten sie in den allermeisten Fällen (Heiratsschwindler und radikale Steuersparer ausgenommen) das ganze Leben in Liebe miteinander teilen. Das Paar verspricht sich explizit oder implizit, sowohl bei kirchlicher als auch bei standesamtlicher Heirat, immer zusammenzubleiben. In guten und in schlechten Zeiten. Die Liebenden gehen davon aus, dass sie sich als Verheiratete immer lieben werden. Dabei möchte kein Liebender und keine Liebende Jahre und Jahrzehnte lang in einer lieblosen Beziehung miteinander verheiratet sein. Die Heiratswilligen schließen von ihrem aktuellen (Liebes-)Gefühl vor der Hochzeit auf ihre Gefühle in der Zukunft und denken und hoffen, dass ihre Gefühle füreinander so (oder so ähnlich), aber in jedem Fall liebevoll, bleiben werden.

Dies anzunehmen ist aber unvernünftig. Allein schon deshalb, weil sich Menschen in zehn oder zwanzig Jahren massiv verändern. So ist jeder Mensch mit zwanzig Jahren anders als mit vierzig Jahren. Menschen verändern ihre Interessen, ihre Weltanschauungen, ihre Wünsche und ihre Gefühle, abhängig davon, welche Erfahrungen sie über die Jahre gemacht haben und welche Menschen sie beeinflusst haben, wobei dies zu einem erheblichen Teil vom Zufall bestimmt ist. Im Laufe seines Lebens entwickelt sich jeder Mensch, häufig für ihn selbst unbemerkt, schleichend zu einem anderen Menschen.

Es ist aber unvernünftig, jemandem zu versprechen, dass man ihn oder sie in zehn, zwanzig oder vierzig Jahren immer noch lieben wird. Das liegt zum einen daran, dass man selbst ja gar nicht weiß, wie der Partner in Zukunft sein wird. Zum anderen weiß man auch nicht, wie man selbst in Zukunft sein wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Paar dann noch zusammenpasst, wird mit jedem Jahr geringer – auch deshalb, weil die Interaktion der Partner untereinander (meist aus Desinteresse, da man weiß, was der andere sagen und machen wird) stetig abnimmt. Nicht umsonst sind die häufigsten Trennungssätze »Wir haben uns einfach auseinandergelebt« und »Es hat einfach nicht mehr gepasst zwischen uns«.

Erschwerend kommt hinzu, dass wir das Gefühl der Liebe nicht einfrieren und nicht kontrollieren können – was wir auch alle wissen. Wir können also nicht zum Zeitpunkt der Heirat entscheiden, dass wir jemanden für immer lieben werden. Da das Liebesgefühl also jenseits unserer Kontrolle ist und wir es nicht auf Knopfdruck erzeugen oder vergrößern können, können wir – selbst wenn unsere Persönlichkeit und unsere Werte über Jahrzehnte gleichbleiben sollten, nicht ein Gleichbleiben unseres Liebesgefühls garantieren. Mit anderen Worten: Auch wenn wir uns nicht verändern sollten, kann unser Gefühl der Liebe ungewollt schwinden, ohne dass wir etwas dagegen tun können. Da allen Menschen bekannt ist, dass sich ein substantieller Teil der Paare aus Mangel an Liebe scheiden lässt, können wir vernünftigerweise nicht davon ausgehen, dass wir zu den sich immer Liebenden gehören werden. Wir können zwar hoffen, dass wir uns lieben werden – garantieren können wir das aber nicht. Deswegen ist ein ewiges Liebesversprechen unvernünftig, und weil jede Liebesehe auf diesem ewigen Versprechen beruht, welches wir nicht mit Sicherheit halten können, sollten wir dieses ewige Liebesversprechen nicht abgeben und folglich nicht heiraten.

eXample (Beispiel)

Das Beispiel ist die dritte Argumentationsstufe und hilft, die meist abstrakte Begründung zu konkretisieren und an einem Einzelfall zu veranschaulichen. Dieser Einzelfall ist meist plakativ, leicht nachzuvollziehen und genau das, an was sich deine Zuhörer oder dein Gesprächspartner am besten erinnern werden.

Das Beispiel dient aber nicht nur der Veranschaulichung, sondern auch als Beleg für deine Begründung. Denn das Beispiel ist ein konkreter Fall, der sich in der Realität manifestiert hat und der sich im besten Fall auch beweisen lässt.

Helfende Formulierungen, die dem anderen deutlich machen, dass wir uns auf der dritten Stufe des Arguments befinden, sind:

Zurück zu unserer Beispielargumentation.

eXample [Beispiel]:

Ich gebe dir mal ein persönliches Beispiel. Meine erste Freundin und ich – wir waren beide 18 Jahre alt und anfangs sehr ineinander verliebt. Wir gingen gemeinsam zur Schule und hatten gemeinsame Interessen und Freunde. Als wir dann angefangen haben, unterschiedliche Fächer zu studieren und mit unterschiedlichen Freunden die Zeit zu verbringen, haben wir immer unterschiedlichere Interessen und Werte entwickelt. Sie wurde mit der Zeit sportbegeistert – und ich komponierte Lieder. Sie schwärmte von Tennisspielern und Triathleten, ich von Rockgitarristen und Musik-Bands. Sie begann mit Marathon – ich mit Gitarrenunterricht.

Wir haben einander zwar bis zum Schluss gut verstanden, doch war das Miteinander nach sieben Jahren nicht mehr interessant für uns beide. Auch die Liebe schmolz über die Jahre langsam dahin. Wir haben uns mit 18 nicht vorstellen können, dass wir uns in sieben Jahren so unterschiedlich entwickeln werden und uns langsam aber sicher entlieben. Zum Glück haben wir nicht geheiratet.

Impact (Relevanz)

Wir müssen beim Überzeugen nicht nur zeigen, dass etwas wahr ist (dafür ist das 3-B-Schema ausreichend), sondern auch, dass unser Argument für den anderen wichtig beziehungsweise relevant ist. Wenn dein Gegenüber nicht weiß, warum das von dir Gesagte für sein Leben eine Bedeutung hat, dann kann er mit deiner tollen logischen Begründung und deinem noch so schönen Beispiel nichts anfangen. Er wird dir zuhören, dir vielleicht sogar innerlich zustimmen, sich aber am Ende deiner Überzeugungsarbeit schlicht fragen: »Na und?« beziehungsweise »Was habe ich davon?«

Und genau diese beiden häufig unausgesprochenen Fragen musst du auf der vierten Argumentationsstufe beantworten, wenn du den anderen zum Handeln bewegen möchtest. Du musst also, wenn du ihn wirklich überzeugen willst, auch zeigen, dass deine Idee für ihn relevant und wichtig ist.

Insbesondere schaffen wir dies dadurch, dass wir ihm einen ganz konkreten Nutzen oder einen ganz konkreten Schaden in Aussicht stellen.

Helfende Formulierungen, die dem anderen deutlich machen, dass wir uns auf der vierten Stufe des Arguments befinden, sind:

Warum ist das Thema wichtig?

Was für einen Nutzen gäbe es konkret für dich?

Was für ein Schaden könnte dir entstehen, wenn du nicht handelst?

Wieder zurück zu unserer Beispielargumentation.

Impact [Relevanz]:

Warum ist das Thema nun so wichtig? Kurz: Es betrifft früher oder später jeden Menschen und ist ganz besonders für alle Menschen relevant, die diese Entscheidung noch nicht getroffen haben und damit jetzt noch eine Chance haben, den beschriebenen Problemen aus dem Weg zu gehen. Das Thema ist auch relevant für Geschiedene und Verwitwete, die sich überlegen, wieder zu heiraten – also zusammengenommen für Millionen Deutsche und Milliarden von Menschen auf unserem Planeten.

Explanation of Impact (Begründung der Relevanz)

Die Relevanz für den anderen kann ich wiederum nicht einfach nur behaupten – also am Ende meiner Argumentation einfach nur sagen: »Das ist auch wichtig für dich!« Das wäre nicht überzeugend.

Stattdessen müssen wir die Relevanz genauso wie die These mit zumindest einem Grund unterfüttern, also plausibel darstellen, warum unsere bisher nur behauptete Relevanz wirklich stimmt. Und genau das nenne ich die sogenannte Begründung der Relevanz. Dies ist die fünfte Argumentationsstufe.

Wie gesagt, du kannst dir den Impact bzw. die Relevanz auch einfach vorstellen als einen konkreten Nutzen oder einen konkreten Schaden, der dem anderen zuteilwird. Also beispielsweise, wenn du deine Chefin davon überzeugen möchtest, dass du ein bestimmtes Projekt genehmigt bekommst, musst du nicht nur begründen, dass das Projekt funktionieren wird und schnell abgeschlossen werden kann. Das reicht ihr nicht. Du solltest auch einen klaren Nutzen erläutern, zum Beispiel, dass das Projekt unter dem Strich der Firma einen nennenswerten wirtschaftlichen Vorteil bringen wird. In diesem Beispiel würden wir also eine wirtschaftliche Relevanz aufzeigen, welche in unserem kapitalistischen System natürlich immer bedeutsam ist.

Den Impact oder die Relevanz (und deren Begründung) kannst du aber auch als Schaden darstellen, der beim anderen eintreten wird, falls er nichts tut. Stell dir vor, du versuchst deinen Partner davon zu überzeugen, dass er regelmäßig länger schlafen soll. Wenn du ihm bei dieser Stufe des Arguments zeigen kannst, dass der Schlaf sowohl auf seine Konzentration als auch auf sein Erinnerungsvermögen als auch auf seine körperliche Fitness starke Auswirkungen hat und er lediglich glaubt, dass er genauso fit ist mit fünf bis sechs Stunden Schlaf, es in Wirklichkeit aber nicht ist, dann wird dieser negative Impact (bei diesem Beispiel wäre es eine gesundheitliche Relevanz) ihn überzeugen, mindestens acht Stunden zu schlafen.5

Es reicht also nicht aus, jemandem eine These gut zu begründen und an einem schönen Beispiel zu veranschaulichen. Wir müssen unserem Gesprächspartner auch einen konkreten Nutzen oder Schaden für ihn zeigen und diesen ausführlich begründen, damit unser Gegenüber ins Handeln kommt. Durch eine Begründung und ein Beispiel erkennt unser Gesprächspartner die Wahrheit der Aussage – und durch den Impact und seine Begründung dessen Wichtigkeit. Oder etwas philosophischer, in den Worten von Gottlob Frege, dem Begründer der modernen Logik und dem wichtigsten Wegbereiter der Analytischen Philosophie:

»Dadurch also, dass man einen Sinn auffasst, hat man noch nicht mit Sicherheit eine Bedeutung.«6

Helfende Formulierungen, die dem anderen deutlich machen, dass wir uns auf der fünften Stufe des Arguments befinden, sind:

Wenden wir uns also wieder unserer Beispielargumentation zu.

Explanation of Impact [Begründung der Relevanz]:

Warum ist es also wichtig, sich mit dem Heiratsthema aktiv zu beschäftigen? In unserer Gesellschaft ist das Heiraten eine soziale Norm – und es ist bisher nicht abzusehen, dass sich diese Norm auflösen wird, zumindest dann nicht, wenn du diese Zeilen in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts liest. Wenn man als Frau mit 40 oder als Mann mit 45 Jahren noch nicht verheiratet ist, dann vermuten Mitmenschen, dass man nicht bindungsfähig ist und keine »Verantwortung übernehmen« (gemeint sind meist Kinder)möchte. Auch Eltern und Verwandte üben früher oder später einen sanften bis deutlichen Druck auf die nicht mehr ganz so jungen und heiratsfähigen Familienmitglieder aus – und daher ist es besonders wichtig für alle Nicht-Verheirateten, sich über Folgendes klar zu werden: Kaum etwas fühlt sich auf täglicher Basis so falsch an, als nach ein paar Jahren festzustellen, dass es mit dem gewählten und angeheirateten Partner nicht mehr passt. Beide möglichen Konsequenzen in dieser nunmehr lieblosen Situation sind äußerst tragisch: Wenn man zusammenbleibt, nachdem die Liebe verflogen ist, kann niemand ernsthaft nur aufgrund des gemachten Versprechens zusammenleben und glücklich werden. Wenn man den anderen aber verlässt, dann wird man sein öffentlich gemachtes Heiratsversprechen brechen. Nur wenn man nicht heiratet, kann man diese beiden tragischen Konsequenzen verblasster Liebe vermeiden und sich solchem emotionalen und psychologischen Stress entziehen.

Rebuttal (Widerlegung des wichtigsten Einwands)

Doch was hat es eigentlich mit der sechsten Stufe, dem Rebuttal (Widerlegung) auf sich? Auch das ist schnell erklärt: Bei jeder These, für die wir argumentieren, gibt es auch Gegenauffassungen und Gegenargumente. Beim Thema »Home-Office« gibt es Pro- und Contra-Argumente. Beim Thema »Prostitution« gibt es Pro- und Contra-Argumente. Beim Thema »flache Hierarchien« gibt es Pro- und Contra-Argumente – und natürlich auch beim Thema Heiraten. Doch wenn wir die Contra-Argumente, also Einwände gegen unsere These, völlig außer Acht lassen, dann wirkt unsere eigene Argumentation einseitig und fast schon parteiisch. Ein überzeugender Kommunikator wird seinem Gesprächspartner sofort zeigen, dass er sich mit relevanten Gegenargumenten (zumindest mit dem wichtigsten Gegenargument) inhaltlich auseinandergesetzt hat und beide Seiten der Medaille, also das Pro und Contra, kennt. Wir erlangen erst dann wirkliche Glaubwürdigkeit, wenn wir die Gegenargumente auch benennen, sie aber selbst entkräften können.7

Helfende Formulierungen, die dem anderen deutlich machen, dass wir uns auf der sechsten Stufe des Arguments befinden, sind:

Kehren wir zurück zu unserer Beispielargumentation.

Rebuttal [Widerlegung des wichtigsten Einwands]:

Jetzt könnte man als Heiratsbefürworter einwenden, dass ja aktuell 50 % bis 70 % der Verheirateten zusammenbleiben und es daher eine gewisse Wahrscheinlichkeit gibt, dass man sich mit seinem Partner über all die Jahre in die gleiche Richtung entwickeln und dass die Liebe zwischen beiden immer noch da sein wird, wenn auch in einer anderen Form und Intensität. Doch dieses Argument ist fehlerhaft. Es ist fahrlässig und falsch, jemandem die ewige Liebe zu schwören, weil ja niemand versprechen und mit Sicherheit garantieren kann, dass er in 20 oder 40 Jahren zu den Glücklichen und sich noch Liebenden 50 % bis 70 % gehören wird. So etwas zu versprechen ist genauso vernünftig wie bei einem Münzwurf dem Gegenüber zu versprechen, dass beim nächsten Wurf »Kopf« fallen wird. Die Wahrscheinlichkeit ist natürlich da, dass »Kopf« fällt – aber kein vernünftiger Mensch würde sein Leben bzw. Jahrzehnte seines Wohlergehens darauf verwetten.

Vorteile und Alltagstauglichkeit des SEXIER-Modells

Das Schöne am SEXIER-Modell ist, dass du es universell nutzen kannst, also als Anwalt, Arzt, Ingenieur, Verkäufer, Lehrer oder – hallo junger Leser! – Kind. Gekonnt argumentieren muss man ja in jeder Branche und am besten auch in jedem Alter.

Jeder Überzeugungsprozess wird je nach Thema und beteiligten Überzeugungspartnern selbstverständlich etwas anders aussehen, da alle Menschen unterschiedliches Wissen haben und deswegen unterschiedliche Begründungen und Beispiele anbringen werden. Jedes Überzeugungsgespräch ist insoweit ein Unikum – und es gehört zu einer guten Streitkultur, sich vom besseren Argument auch überzeugen zu lassen.

An dieser Stelle noch eine wichtige Bemerkung: Die meisten Menschen wollen überzeugen, sich aber nicht überzeugen lassen. Das ist natürlich eine für alle ungünstige Weltanschauung. Denn wenn wir unsere Argumente von vorneherein für besser halten und sie nicht mit Gegenargumenten unserer Gesprächspartner messen, werden wir erstens nie dem anderen richtig zuhören wollen, da er ja immer die vermeintlich schwächeren Argumente hat – und zweitens führt die Besserwisserei, wenn sie jeder an den Tag legen würde, dazu, dass sich nie jemand überzeugen lassen würde. Da keiner in einer solchen egozentrischen und selbstherrlichen Welt leben möchte, ist es nur vernünftig, sich für die Argumente des anderen nicht nur zu interessieren, sondern sich auch von ihnen inspirieren und manchmal auch überzeugen zu lassen.

Du musst dich übrigens nicht unbedingt an die beschriebene Reihenfolge des SEXIER-Modells halten. Theoretisch kannst du auch mit einem Beispiel anfangen – oder gleich mit dem Impact, also einem Nutzen oder einem Schaden, starten. Rein theoretisch könntest du auch mit dem Rebuttal anfangen, was ich aber nicht unbedingt empfehlen würde, weil du sonst deinen Gesprächspartner verwirren kannst. Denn Menschen wollen gerne gleich zu Anfang deinen Standpunkt wissen. Mit der Begründung der These oder mit der Begründung der Relevanz anzufangen macht natürlich keinen Sinn, da der andere ja vorher wissen muss, für was wir überhaupt argumentieren. Hauptsache ist aber, dass bei dir alle sechs Stufen des Arguments präsent sind.

Die zweithäufigste Frage in meinen Workshops zu diesem Modell ist, wie lange denn so eine SEXIER-Argumentation in der Regel dauert. Je nach Länge der Begründung und des Beispiels ist das natürlich unterschiedlich – jedoch im Durchschnittswert circa fünf Minuten. Wenn dein Gesprächspartner dir diese fünf Minuten reinen Zuhörens nicht gibt und er dich hin und wieder unterbricht, macht das natürlich nichts. Denn du kannst ihm dein SEXIER-Argument beziehungsweise einzelne Elemente davon auch stückchenweise und als Antwort auf seine Redebeiträge servieren. Das Modell erfordert also keine monologische Situation, in der dir der andere unbedingt still zuhören muss, sondern kann leicht im Dialog auch Stufe für Stufe angewendet werden. Und wenn dein Gegenüber bei der zweiten, dritten, vierten oder fünften Argumentationsstufe bereits überzeugt ist, brauchst du natürlich nicht alle sechs Elemente des Modells abzuspulen, sondern kannst dich über den erfolgreichen Überzeugungsprozess freuen.

Natürlich ist das nur eines der möglichen Argumente gegen das Heiraten – und selbstverständlich gibt es auch eine Vielzahl von guten Argumenten für das Heiraten, auf die wir im übernächsten Abschnitt noch ausführlich zu sprechen kommen. Mir ging es bei diesem Argumentationsbeispiel darum, dir zu zeigen, wie das SEXIER-Schema in der Praxis funktionieren kann.

Natürlich ist diese Muster-Argumentation angreifbar, so wie jedes Argument auf der Welt. So könnte man sich folgende kritische Fragen stellen:

  1. Ist es richtig, dass sich Menschen über die Jahrzehnte massiv verändern?
  2. Ist es tatsächlich wahrscheinlich, dass sich die Liebenden in unterschiedliche Richtungen entwickeln werden?
  3. Sind unterschiedliche Interessen der Partner nicht sogar gut für das Liebespaar?
  4. Können wir wirklich nicht beeinflussen, ob wir den anderen lieben werden?
  5. Beweist das Beispiel mit der Partnerin, dass es bei allen Paaren schiefgehen muss?
  6. Selbst wenn die Wahrscheinlichkeit gering sein sollte, dass man sich immer lieben wird: Sollte man es nicht trotzdem versuchen?
  7. Führt nicht die Heirat dazu, dass man sich in Krisenzeiten doch eher zusammenrauft und sich nicht beim ersten ernsten Konflikt verlässt?

Neben diesen sind noch viele weitere gute Fragen bzw. Gegenargumente gegen die Anti-Heiraten-Argumentation denkbar. Doch genau das macht ja den Überzeugungsprozess so spannend: es gibt eine Vielzahl von guten Ideen, die im Wettstreit miteinander stehen. Doch am Ende sollte sich, zumindest in der Domäne der weißen Rhetorik, das bessere Argument durchsetzen – und nicht die lautere Stimme oder die höhere Autorität.

Die Schwierigkeit im Alltag besteht nun nicht nur darin, ein schönes SEXIER-Argument zu bauen, sondern auch, genau zu wissen, welchen Charakter unser Gegenüber hat. Denn je nach Persönlichkeitstyp müssen wir unser Argument zu einem unterschiedlichen Zeitpunkt in die Diskussion einfädeln und die einzelnen Elemente des SEXIER-Modells anders gewichten. Genau darum geht es im nächsten Abschnitt.