Christian Schenk
mit Fred Sellin
RISS
Mein Leben zwischen Hymne und Hölle
Knaur e-books
Christian Schenk, geboren 1965 in Rostock, gewann bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul die Goldmedaille im Zehnkampf. Nach der Wende startete er für die Bundesrepublik, holte bei der WM 1991 in Tokio Bronze. Nach seiner Sportkarriere arbeitete er erfolgreich als selbständiger Unternehmer. Er erkrankte an Depression, leidet an bipolarer Störung. Nach zwei gescheiterten Ehen (zwei Söhne) lebt er mit seiner schwerkranken Mutter in seinem Elternhaus auf der Insel Rügen.
© 2018 Droemer Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: total italic, Thierry Wijnberg
Coverabbildungen: Shutterstock / Designed by Olga_spb / Freepik
ISBN 978-3-426-45350-6
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Für Arvid, Aaron, Helke und Dawn.
Und für meinen Bruder Thomas und meine Freunde, die mich begleiten und unterstützen.
Ich bin allein in meiner Wohnung.
Dritter Stock in einem grauen Mietshaus. Stadtteil Schöneberg, früher Berlins Westen, zu der Zeit unerreichbar für mich, jetzt mittendrin. Das KaDeWe kaum einen Steinwurf entfernt. Tauentzienstraße, Wittenbergplatz.
Dort unten pulsiert das Leben. Autos. Busse. Bahnen. Sie besorgen die Lärmkulisse der Großstadt. Und Fußgänger, die wie überdimensionale Ameisenvölker eifrig in alle Himmelsrichtungen strömen.
Es ist nicht lange her, da war ich einer von ihnen. Morgens auf dem Weg ins Büro, tagsüber unterwegs zu Terminen und nach getaner Arbeit zurück, hierher.
Jetzt bin ich das nicht mehr. Weil ich nicht mehr ich bin, oder: ein anderes Ich.
Schwer zu sagen, wann es anfing und womit. Diesmal. Es gab keinen Knall, der von jetzt auf gleich alles veränderte. Eher war es, als wäre eine Schlange langsam herangeglitten, der ich erst gewahr wurde, als sie mir ihre Giftzähne ins Fleisch schlug.
Auf einmal befindet man sich in einem fremden Zustand, erkennt sich selbst nicht mehr. Nichts funktioniert, wie es normalerweise wäre.
Ich liege auf der Couch, spüre Hunger oder Durst, weiß, dass ich nur aufstehen und in die Küche gehen müsste. Ich stehe aber nicht auf. Weil ich es nicht schaffe. Der Mechanismus, der sonst meine Bewegungen steuert, setzt aus. Es scheint mir unmöglich, die Küche zu erreichen. Stattdessen ziehe ich eine Decke über den Kopf, um mich zu verstecken. Dabei ist niemand in der Wohnung, vor dem ich mich verstecken könnte.
Die absolute Kraftlosigkeit, wie bei einer starken Grippe, nur dass der Zustand viel länger anhält – Tage, Wochen, Monate. Und dass es am Anfang keine körperliche Kraftlosigkeit ist, sondern eine eingebildete. Allerdings ohne dass einem das klar ist. Sonst könnte man sie überwinden. Doch genau das geht in dem Zustand eben nicht.
Ich liege einfach nur da. Denke an etwas, registriere aber nicht, woran genau ich denke. Nur dass es düstere Gedanken sind. Konkreter wird es, wenn das Telefon klingelt. Ich will rangehen, aber dann müsste ich sprechen. Dazu fehlt mir die Kraft. Ich gehe also nicht ran. Irgendwann verstummt das Klingeln. Und ich fühle mich noch schlechter – weil ich nicht rangegangen bin.
Ich schäme mich. Nach jedem Klingeln, nach jedem nicht geführten Telefonat etwas mehr. Bis die Scham wie ein Riesenballast auf meine Brust drückt und mich noch mehr lähmt.
Der Fernseher läuft den ganzen Tag, mal mit, mal ohne Ton. Meistens mit. Manchmal wechsle ich meine Position, tausche den Fußboden gegen die Couch. Oder ich schaffe es bis ins Bad, lasse mir eine Wanne ein, weil mir kalt ist. Wärme mich im Wasser auf.
Nachts schlafe ich kaum. Und sobald der Tag anbricht, fürchte ich mich vor der nächsten Nacht, davor, wieder nicht schlafen zu können. So kommt es dann auch. Ein Kreislauf, wie ein Strudel, der mich hinabzieht.
Wozu tauge ich, wenn ich nicht einmal mehr in der Lage bin zu schlafen?
Noch mehr Scham. Und noch mehr Selbstverachtung.
Selbstbestrafung. Dann brauche ich auch nichts zu essen oder zu trinken. Ich verdiene das nicht, so ist es doch.
Ich weiß nicht, welcher Tag heute ist. Nur dass wir Februar haben, also Winter. Der Monat dürfte fast herum sein. Mein Geburtstag, der war am Neunten, liegt länger als eine Woche zurück. Davon bin ich überzeugt, ohne dass ich einen verlässlichen Anhaltspunkt dafür hätte. Mein Gefühl sagt es mir.
Die Erinnerungen sind nicht verschwommen, aber sie haben an Schärfe verloren, schon jetzt. Ich hätte den Tag am liebsten ignoriert. Ihn zu feiern, wäre ohnehin keine Option gewesen.
Wahrscheinlich hätte ich nicht einmal daran gedacht, dass es mein Geburtstag war, wäre das Handy nicht heißgelaufen: Anrufe, SMS, WhatsApp-Nachrichten, Mails. Ich reagierte bei niemandem, außer als das Display den Namen meines Bruders und später den meiner Schwester zeigte. Genau genommen ist sie meine Halbschwester, aber das machte für mich noch nie einen Unterschied.
Sollte ich bei anderen ans Telefon gegangen sein, so erinnere ich das nicht. Kann es mir auch kaum vorstellen, da ich merke, wie schwer mir jedes Wort fällt. Das war an dem Tag nicht anders.
Und dann waren da noch Thomas, ein Freund, erfolgreicher Schriftsteller, und seine Frau. Standen plötzlich vor der Tür und machten keine Anstalten zu gehen, auch nicht, als ich mich nach dem ersten und zweiten Klingeln nicht blicken ließ. Ich hätte allen Grund gehabt, sie nicht hereinzulassen. Wie die Wohnung aussah, muss sie den beiden äußerst befremdlich erschienen sein. Und mein Anblick erst, er wird ihnen einen Schock versetzt haben. Wann hatte ich mich das letzte Mal geduscht, wann die Haare gekämmt, wann rasiert?
Sie ließen sich nichts anmerken, oder es fiel mir nur nicht auf. Ich wagte kaum, ihnen ins Gesicht zu sehen, so sehr schämte ich mich. Murmelnd und meinen Blick auf den Boden gerichtet, presste ich eine Entschuldigung hervor, sie fiel spärlich aus. Dann ging ich in die Küche, brühte Tee auf. Mehr war nicht da, was ich ihnen hätte anbieten können.
Tee zuzubereiten erforderte zwei, drei Handgriffe, nichts, was mich normalerweise anstrengte. Doch jetzt spürte ich, wie mir die Kraft ausging. Kaum dass die zwei ausgetrunken hatten, bat ich sie zu gehen.
Hinter ihnen verriegelte ich die Tür, blieb einen Moment stehen, die Stirn gegen das kalte Holz gelehnt. Ich schloss die Augen, spürte Erleichterung. Weil ich allein war, nicht mehr ihren Blicken ausgesetzt, nicht mehr gezwungen, Konversation zu betreiben. Nur hielt dieses Gefühl gerade so lange an, bis es mir bewusst wurde.
Ich mag die beiden. Offenbar hatte ich sie zum Brunch eingeladen, nur wusste ich davon rein gar nichts mehr. Was wiederum ein Zeichen dafür sein konnte, dass die Sache mit der Schlange geschehen war, bevor wir uns das letzte Mal getroffen hatten, an Thomas’ Geburtstag, kurz vor Weihnachten. Das lag sechs Wochen zurück. Keine Ewigkeit, und doch eine Ewigkeit. In meinem Zustand verlieren die Tage ihre Struktur, sind wie Milchglas. Und die Zeit verliert ihre Bedeutung, ebenso Hell und Dunkel. Und damit die Frage, ob es Tag ist oder Nacht, morgens oder abends …
Als ich vier Jahre alt war, geriet meine kleine Welt aus den Fugen. Ohne dass ich es bemerkte. Oder ich verdrängte es, was ich für wahrscheinlicher halte. Als Kind ist man gut darin.
Wir wohnten in Kühlungsborn an der Ostsee. In einem Mehrfamilienhaus – genauer gesagt waren es vier Familien –, nicht weit vom Strand entfernt. Man ging bis zum Ende der Straße, folgte dort einem kleinen Schleichweg, schon spürte man den weichen Sand unter seinen Füßen. Und links davon sah man die Seebrücke. Zu der Zeit war sie nicht viel mehr als ein verlängerter Steg. Manchmal spielte ich darauf, aber noch lieber tobte ich über den Strand. Hauptsache, ich musste nicht stillsitzen. Mein Bewegungsdrang war unerschöpflich, selbst abends noch, dass meine Eltern manches Mal stöhnten.
Kühlungsborn, der Name übrigens eine Schöpfung der Nazis, galt als das Ostseebad der DDR. In den Sommermonaten überfluteten Tausende Urlauber den Ort. Natürlich nicht einfach so, der Arbeiter-und-Bauern-Staat organisierte und reglementierte die Erholung des werktätigen Volks. Zum Beispiel brauchte man einen sogenannten Ferienscheck, um an eine Unterkunft zu kommen. Solche Ferienschecks bekam nicht jeder, sie wurden zugeteilt.
Die Hotels hießen nicht Hotel, sondern Ferienheim, zumindest die meisten, und gehörten dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund. Campingplätze existierten auch, sie wurden Zeltplätze genannt und standen ebenfalls unter staatlicher Kontrolle. In der Ferienzeit waren sie notorisch überbucht, oder anders gesagt: brechend voll. Jede Schlafgelegenheit war heiß begehrt – und bei den Behörden genau registriert. Denn Kühlungsborn war auch Grenzgebiet, schwer bewacht. Vierzig Kilometer geradeaus, und man wäre im Westen gelandet, beim Klassenfeind. Deswegen war es nie eine gute Idee, mit einem Schlauchboot oder einem anderen Wassergefährt anzureisen. Das machte einen sofort verdächtig. Unnötiger Aufwand war es obendrein, auf die Ostsee durfte man damit nämlich nicht.
Das nur, um meine Kindertage ein wenig in den gesellschaftspolitischen Umständen, die damals herrschten, zu verorten. Als Vierjähriger beschäftigte mich nichts davon, außer dass mir natürlich auffiel, wenn sich im Sommer am Strand die Leute stapelten. Und dass meine Mutter sich beklagte, wenn die Regale im Konsum mal wieder leer waren, weil die Urlauber alles weggekauft hatten.
Was mich viel mehr interessierte, war das, was sich in der Sporthalle abspielte. Angesichts meines enormen Bewegungsdrangs meinte mein Vater, ich sei hyperaktiv. Und da er glaubte, dass ich später einmal relativ groß werden würde, meldete er mich beim Turnen an. Wasserspringen hätte er auch gut gefunden, aber Wasserspringer gab es in Kühlungsborn nicht. Turnen sei ideal für eine gute körperliche Koordinationsfähigkeit, überhaupt als Basisausbildung für andere Sportarten, für die Beweglichkeit und was er sonst noch aufzählte. Damit wollte er mich nicht überzeugen oder mir etwa das Training schmackhaft machen. So lief das in unserer Familie nicht. Vater sagte, was wir machen sollten, und wir machten es. Und Punkt.
Das soll keineswegs heißen, dass ich vom Turnen nicht begeistert gewesen wäre. Anders ließe sich schwer erklären, warum ich sechs Jahre dabeiblieb, mir all die Schmerzen antat. Dreimal die Woche fuhr ich von Kühlungsborn Ost nach Kühlungsborn West, dort stand unsere Trainingshalle. Ich schaffte es in die Leistungsgruppe, durfte bei Wettkämpfen starten, errang Urkunden und Medaillen.
Woran ich mich jedoch vor allem erinnere, sind Schmerzen. Und Tränen. Und in Verbindung damit an eine spezielle Art des Querspagats, den wir, gestützt auf zwei Hockern, vollführen mussten. Die Hocker deshalb, weil wir mit unseren Beinen über die Hundertachtzig-Grad-Streckung hinauskommen sollten, die beim normalen Spagat auf dem Boden möglich sind. Negativ dehnen, nannte unser Trainer das.
Sooft ich diese Übung wiederholte, jedes Mal trieb sie mir Tränen in die Augen. Aber das schafften andere Übungen auch. Oder kleinere Trainingsunfälle. Einmal stürzte ich vom Barren. Mein Schädel brummte, war bestimmt eine leichte Gehirnerschütterung. Trotzdem radelte ich zum nächsten Training wieder hin. Sport und Schmerz waren für mich so etwas wie siamesische Zwillinge. Ich glaubte, dass man leiden muss, um richtig gut zu werden.
Und ich wollte meinem Vater ein guter Sohn sein. Das wollte ich bestimmt. Und bestimmt wollte ich das umso mehr, je seltener ich ihn zu sehen bekam.
Vater arbeitete im Krankenhaus. Ich glaube, es war seine erste Stelle als Arzt. Wobei die Medizin nicht sein erster Beruf war. Ursprünglich hatte er Bäcker gelernt, unmittelbar nach dem Krieg. In einer kleinen Stadt, die Gnoien heißt und an dem Flüsschen Warbel liegt. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, hätte er dort nicht meine Mutter Ingrid kennengelernt. Sie war die jüngste von drei Töchtern der Bäckerin, die das kleine Familienunternehmen allein führte, seit ihr Mann auf mysteriöse Weise im Gefängnis umgekommen war. Nicht unter den Nazis, das geschah nach der Kapitulation, angeblich hatte ihn jemand denunziert. Es war auch kein normales Gefängnis, in das sie ihn gesteckt hatten, sondern eines der geheimen Straflager der sowjetischen Besatzer. Speziallager Nr. 9 Fünfeichen am südlichen Stadtrand von Neubrandenburg. 1946 waren dort über zehntausend Häftlinge zusammengepfercht. Die Existenz solcher Lager wurde totgeschwiegen, zur damaligen Zeit und bis zum Ende der DDR. Erst danach kam heraus, dass in den Lagern Tausende wie Vieh dahinvegetierten und starben. Wer weiß, was sie Mutters Familie damals erzählten, die Wahrheit wird es nicht gewesen sein.
In einer Bäckerei zu arbeiten, in den Trümmerjahren, als es kaum Lebensmittel gab, war nicht das Schlechteste. Überhaupt in diesen Zeiten eine Lehrstelle zu kriegen. Vater war auch nicht unzufrieden, aber er wollte mehr. Und er wollte zu seinen Eltern. Von den beiden hatte er in seinem Leben bisher nicht viel gehabt. Sein Vater, also mein Großvater, Arnold Schenk, war früher Stummfilmmusiker gewesen, Pianist. Und anscheinend ein ziemlich unruhiger Geselle. Nach der Geburt seines Sohnes, 1929, hielt es ihn nicht lange zu Hause. Er tingelte über die Dörfer, spielte in Kinos und Wirtshäusern Klavier. Damit verdiente er seinen Lebensunterhalt. Und den seiner Frau, denn die zog mit ihm durchs Land. Das Kind, meinen Vater, ließen sie bei seiner Großmutter.
Ich sollte noch erwähnen, dass die Familie in Schneidemühl lebte, zunächst Hauptstadt der Provinz Posen-Westpreußen, dann von Pommern. Erst als Opa Arnold zur Wehrmacht eingezogen wurde, kam die Mutter zu ihrem Sohn zurück. Dafür diktierte jetzt der Krieg den Alltag. Schneidemühl blieb lange einigermaßen verschont. Und als in den letzten Kriegswochen drei Viertel der Stadt in Schutt und Asche fielen, im Zentrum blieb kaum ein Gebäude stehen, hielten sie sich zum Glück nicht mehr dort auf.
Großmutter war rechtzeitig mit Verwandten nach Stralsund geflüchtet. Und meinen Vater hatten sie zum Volkssturm geholt, Panzergräben ausheben, Hitlers letztes Aufgebot für den Endsieg. Zu der Zeit war er fünfzehn, ideologisch längst auf Kurs gebracht, wie das in den braunen Jahren üblich war: Mit zehn Pimpf beim Deutschen Jungvolk, mit vierzehn zur Hitlerjugend und da gleich Gefolgschaftsführer, dreißig Jungen unter sich. Vergessen die Zeit als katholischer Messdiener. Kurz vor Kriegsende meldete er sich sogar freiwillig für ein Spezialkommando, das er wohl kaum überlebt hätte. Als Pilot einsitziger und mit Bomben bestückter Flugzeuge sollte er feindliche Ziele anvisieren und sie dann im Sturzflug vernichten. Der Marschbefehl erreichte ihn noch. Doch bevor er sich zur Fliegerstaffel in Nürnberg durchschlagen konnte, zogen dort die Amerikaner ein, und das Schlachten hatte ein Ende.
Das Nachkriegswirrwarr begann. Mein Vater als Jugendlicher mittendrin. Zuerst Stralsund. In der Stadt überall Schilder: »Wer plündert, wird erschossen!« Dann wieder Polen, Schneidemühl, weil die Sowjets das so wollten. Von den Besatzungssoldaten dort lernte er, wie Angeln auf Russisch ging: Handgranate in den Teich, ein kräftiger Rums, und dann musste die Mahlzeit nur noch von der Wasseroberfläche gekeschert und gekocht werden.
Als der erste friedliche Sommer begann, rafften er, seine Mutter und zwei Tanten schon wieder ihre Habseligkeiten zusammen. Andernfalls hätten sie polnische Staatsbürger werden müssen, was sie nicht wollten. Also noch einmal Stralsund, aber nur für kurze Zeit. Von dort aufs Land zu einem Bauern. Bis mein Vater in Gnoien landete: Bäckerei Schoknecht, Teterower Straße.
Drei Jahre blieb er dort, dann fand die ersehnte Familienvereinigung statt, und zwar in Rostock. Opa Arnold war inzwischen aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt und hatte am hiesigen Theater eine Stelle als Korrepetitor zugewiesen bekommen. Oma arbeitete beim Rat der Stadt, heute würde man Stadtverwaltung sagen. Und mein Vater kam als Bäcker und Konditor in einem Café unter. Alle drei wohnten, anfangs zusammen mit zwei Tanten, in der Kirchenstraße 1, Kröpeliner-Tor-Vorstadt. Eine Adresse, die fünfunddreißig Jahre später auch für mich eine Rolle spielen sollte.
Zu Gnoien ist noch zu sagen, dass mein Vater dort seine Liebe zum Sport entdeckte, speziell zum Laufen. Ob Kurz-, Mittel- oder Langstrecke, bei den Kreismeisterschaften lief er allen davon. Er probierte es auch mit Fußball und Handball, sah sein größtes Potenzial jedoch in der Leichtathletik. Was sich – beziehungsweise: was er – später bestätigte, dann als Hürdenläufer. Er startete sogar für die Nationalmannschaft und gewann zwei DDR-Meistertitel. Zu seiner besten Zeit trainierte er bei Empor Rostock, legte dort die Spur, der ich einmal folgen sollte. Am Ende seiner Karriere adelte ihn der Ministerrat, die Regierung der DDR, mit dem Titel Meister des Sports. Das war die höchste Ehrung für einen Sportler im Land, mehr ging nicht.
Und da war in Gnoien noch die Sache mit Ingrid, der jüngsten Bäckerstochter. Lange Zeit schien sie sich für den schnellen Bäckergesellen nicht zu interessieren. Und der hielt sie fast genauso lange für ein verwöhntes Mädchen. Als Vater dann aber seinen Abschied verkündete, kamen die beiden doch zusammen. Nach zwei Jahren verlobten sie sich. Und noch einmal zwei Jahre darauf läuteten die Hochzeitsglocken. Vaters Erfolge im Sport halfen, schneller als üblich eine eigene Wohnung zu bekommen.
Irgendwann gab Vater seinen Beruf auf, um mehr Zeit für den Sport zu haben. Er holte das Abitur nach, das er durch den Krieg nicht hatte machen können. Und dann studierte er, erst Sport, anschließend Medizin. Ende 1959 kam mein Bruder Thomas zur Welt, gut fünf Jahre später ich. Womit wir wieder in Kühlungsborn wären, an der Ostsee, in meiner Kindheit Ende der Sechzigerjahre.
Etwas änderte sich in dieser Zeit – zwischen meinen Eltern. Vater kam eines Tages nicht mehr nach Hause. Und Mutter weinte. Und betete. Von da an betete sie oft. Und sie sagte manchmal komische Sachen. Zum Beispiel, dass sie ins Wasser gehen wolle. Ich verstand nicht, warum sie ins Wasser gehen wollte. Was hatte sie da vor? Oder sie sprach schlecht über eine Frau, die in der Nachbarschaft wohnte, auf der gleichen Straße, ein paar Häuser weiter. Das hatte sie vorher nie gemacht. Die Nachbarsfrau war Ärztin, hatte auch eine Familie. Sie arbeitete im selben Krankenhaus wie Vater, glaube ich. Was das eine mit dem anderen zu tun hatte, begriff ich in dem Alter nicht.
Unsere Eltern ließen sich scheiden. Vater zog nach Wolgast. Aus der Perspektive eines kleinen Kindes unendlich weit weg, über hundertfünfzig Kilometer. Dort müssen Thomas und ich ihn ab und an besucht haben. Ihn und die Frau, mit der er nun zusammenlebte, jene Ärztin aus dem Nachbarhaus, auf die Mutter nicht gut zu sprechen war. Und ihre Tochter, die sie inzwischen bekommen hatten, Anne-Kathrin.
Erinnern kann ich mich allerdings nur an einen Besuch. Da war Anne noch ein Baby. Ich schob sie im Kinderwagen, meine Oma, Vaters Mutter, lief neben mir her. Wir gingen ein Stück, auf einmal war der Bürgersteig zu Ende, was ich vorher allerdings nicht gesehen hatte. Plötzlich kippte der Kinderwagen nach vorn, ich konnte ihn nicht mehr halten. Wer weiß, was passiert wäre, wenn Anne auf den harten Boden gefallen wäre. Sie muss einen Schutzengel gehabt haben, landete genau auf dem Kissen, mit dem sie vorher zugedeckt war.
Das Verrückte an der ganzen Geschichte: In der Erinnerung war mein Vater nie weg. Für mich waren meine Eltern auch nie geschieden. Zwar war Vater eine Zeit lang in Wolgast, das ist schon hängen geblieben, aber er arbeitete dort ja auch, und wir hatten Kontakt zu ihm.
Anscheinend kam mir die Zeit auch nicht besonders lange vor. Dabei waren es zwei Jahre. Dann geschah etwas, was bis vor drei, vier Jahren in meinen Erinnerungen ebenfalls nicht existierte: Vater stand eines Tages vor der Tür, mit all seinen Sachen, und zog wieder bei uns ein. Und mit ihm Anne. Vater und Mutter heirateten sogar ein zweites Mal. Und Mutter adoptierte Anne.
Der Grund für den Sinneswandel meines Vaters war nicht, dass er die andere Frau nicht mehr liebte – es gab sie nicht mehr. Sie hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten.
Die Affäre meines Vaters, die Scheidung der Eltern, Vaters neue Familie, der Selbstmord seiner zweiten Frau, Mutters gutherzige Entscheidung, ihren abtrünnigen Mann zurück- und mit ihm die fremde Tochter aufzunehmen – was auch immer das Leben unserer Familie erschütterte, weder meine Mutter noch mein Vater verlor je ein Wort darüber. Ich bin nicht einmal sicher, ob sie die Geschehnisse untereinander aufgearbeitet haben. Vor uns Kindern schwiegen sie sie tot, selbst als wir erwachsen wurden und Fragen stellten.
Als mein Vater auf die achtzig zuging, bat ich ihn, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Kann sein, dass mein Wunsch mit meiner Krankheit zusammenhing. Dass ich mehr von ihm erfahren wollte, um besser zu verstehen, wo ich herkomme und wie ich zu dem wurde, der ich bin. Er tat mir den Gefallen, schrieb seine Erinnerungen auf, die wir dann zu einem kleinen Buch binden ließen. Es kamen etwas mehr als hundert Seiten zusammen. Er schrieb über seine Kindheit, wie er der jüngste Segelflieger Deutschlands wurde und wie er den Krieg überstand. Über seine berufliche Entwicklung vom Bäckerlehrling zum Kreisarzt und zum Stellvertreter des Bezirksarztes. Über seine Erfolge im Sport und welche Vorteile diese ihm brachten.
Er schrieb über seine politische Haltung, als Jungspund unter den Nazis und später als überzeugtes Mitglied der SED, der er unter Walter Ulbricht beitrat. Über Stasi-Kontakte und wie einer seiner Onkel versucht hatte, ihn in den Westen zu locken. Er schrieb über seine Zeit als Ärztlicher Direktor des Krankenhauses in Bergen, die mit der Wende abrupt endete. Dass er sich damals wünschte, die DDR hätte als reformierter Staat überlebt. Er erwähnte auch, dass er als Arzt mit berühmten Patienten wie Margot Honecker und Gerhard Schürer, dem Chefplaner der DDR, in Kontakt kam. Am Ende schrieb er ein ganzes Kapitel zum Segeln, wie er damit anfing und über gemeinsame Törns mit Thomas.
Ein einziges Mal tauchte das Wort Scheidung auf. Aber lediglich, um zu erklären, warum er sich im Kühlungsborner Krankenhaus vom Posten des Parteisekretärs abberufen und in eine andere Klinik versetzen ließ: Als Geschiedener sei er kein Vorbild mehr gewesen.
Einige Namen suchte man in seinen Erzählungen vergeblich, zum Beispiel den seiner zweiten Ehefrau, Annes und auch meinen. Wobei er mich zumindest in einer kurzen Vorbemerkung erwähnte, als denjenigen, der ihn zu diesem Werk angestiftet hatte.
Wahrscheinlich sollte ich nicht zu viel in seine Aufzeichnungen hineininterpretieren. Vielleicht ist er nicht fertig geworden. Oder es strengte ihn irgendwann zu sehr an, sodass er den Stift beiseitelegte. Allerdings wäre es auch gelogen, würde ich behaupten, es hätte mich nicht berührt, als ich die Seiten das erste Mal las. Wenigstens ein paar Worte der Freude über die Geburt seiner Kinder hätte ich erwartet. Oder darüber, dass ihm und seiner Frau später Enkel geschenkt wurden. Auch dazu fand sich keine Zeile. Aber Erwartungen sind eben eine heikle Sache. Das hatte ich gelernt, schon damals als Kind.
Nach Vaters Rückkehr ging unser Familienleben weiter, als wäre nichts geschehen, jedenfalls in meiner Wahrnehmung. Wie unsere Eltern mit der Geschichte zurechtkamen? Keine Ahnung. Auch darüber sprachen sie niemals, nicht mit uns. Thomas, der als Älterer mehr mitbekam, erinnert sich an heftige Spannungen, getrennte Betten und so etwas. Zwischen den beiden sei es nie mehr so geworden, wie es vor der Trennung war. Sollte es so gewesen sein, woran ich nicht zweifle, blendete ich die familiären Misstöne als Sechs- oder Siebenjähriger offenbar aus. Viel Zeit verbrachten wir auch nicht miteinander. Mutter und Vater gingen arbeiten, ich hatte nach der Schule meinen Sport.
Über die Sommerferien, wo mehr Zeit gewesen wäre, wurden Thomas und ich nach Gnoien geschickt, zu Oma Trudi. Die Bäckerei existierte noch. Thomas verbrachte die meiste Zeit mit zwei Cousins, die ungefähr in seinem Alter waren. Ich hatte mich mit Nachbarskindern angefreundet und wartete jedes Jahr gespannt darauf, sie wiederzusehen.
Gnoien war für Jungs wie uns ein wunderbarer Abenteuerspielplatz. Wir stromerten durch die Gegend, gingen in die Badeanstalt, oder es zog uns an eine bestimmte Stelle am Ortsrand. Dort befand sich ein ziemlich unübersichtliches Gelände mit Bäumen und Büschen und vor allem mit kleinen Hügeln, die sich hervorragend für Cross-Touren mit dem Fahrrad eigneten. Allerdings mussten wir dafür erst einmal die Wege schaffen. Ein Stück weiter gab es eine Motocross-Strecke, eine Nummer größer und wilder, dort holten wir uns die nötige Inspiration. Als wir endlich auf unserer eigenen Piste starten konnten, ahmten wir den Motorenlärm durch Mundgeräusche nach. Und dazu bewegten wir unsere rechte Hand am Lenkergriff, als würden wir Gas geben.
Ich liebte die Sommer auf dem Land. Sie waren so herrlich unbeschwert. Oma Trudi war eine resolute Frau, eine Respektsperson. Was sie sagte, war Gesetz. Manchmal klang sie mit ihrer energischen Art etwas streng, aber ich bin sicher, sie meinte es nur gut. Außerdem waren wir die meiste Zeit mit unseren Freunden unterwegs. Und wenn wir nur draußen auf der Straße spielten, das ging damals. Oder auf dem Kirchplatz, der war nur eine Querstraße entfernt. Selten kam da mal ein Auto vorbei – weil kaum jemand eins hatte. Und nicht viel häufiger waren Mopeds oder Motorräder zu sehen.
Ich schätze, das war ein Grund, warum ich mitunter allzu arglos auf die Straße lief. Eines Morgens, ich muss vier oder fünf Jahre alt gewesen sein, schickte mich Oma zu einer anderen Bäckerei, ihr war die Hefe ausgegangen. Wie von zu Hause und vom Sport gewohnt, wollte ich meinen Auftrag besonders gut erfüllen. In dem Fall bedeutete das: besonders schnell. Ich riss also startbereit die Tür des Bäckerladens auf, kaum dass sie mir aufgetragen hatte, was ich erledigen sollte. Vor der Tür führten zwei, drei Stufen auf den Bürgersteig, die flitzte ich hinunter. Und von dort direkt weiter auf die Straße, da ich auf die andere Seite musste.
In dem Augenblick, als ich die Fahrbahn betrat, schoss von links ein Motorrad auf mich zu. Irgendetwas, vermutlich der Spiegel, erwischte meinen Kopf, dass mir Hören und Sehen verging – im wahrsten Sinne der Worte. Ich weiß nur, dass irgendwann ein Krankenwagen heranbrauste. Ob es mich direkt ausgeknockt hatte oder ob ich erst ein paar Schritte weiterging, bevor ich zusammenbrach – dieses Stück Film fehlt.
Mein Kopf muss übel ausgesehen haben, Blut und Gehirnflüssigkeit … ich spare mir die Details. Sie brachten mich in ein Krankenhaus, mit Blaulicht, anders kann es nicht gewesen sein. Die Diagnose hieß: Schädelbasisbruch. Zehn Tage soll ich im Koma gelegen haben, dann hätten die Ärzte verkündet: »Der Junge wird wieder.«
Das war so ziemlich das Einzige, was sie mir hinterher erzählten, Oma Trudi oder meine Eltern. Anschließend steckten sie auch diesen Vorfall schnell in die Schublade mit den Themen, über die nicht mehr geredet wurde. Dieses Ausschweigen schien eine Familientradition zu sein.
Zu Hause gab es immer nur zwei Gesprächsthemen: Sport und Politik. Wobei, das ist nicht ganz korrekt. Nach Vaters Aufenthalt in Wolgast ging es hin und wieder auch um Kunst. Dort hatte ihn der SED-Kreissekretär kurzerhand zum Vorsitzenden des Kulturbundes auserkoren. Das war ein ehrenamtlicher Posten, den er neben seiner eigentlichen Arbeit erledigte. Wer sich mit den Strukturen in der DDR nicht auskennt: So ein Kreissekretär war der Oberhäuptling aller Parteimitglieder, die in seinem Kreis lebten. Der Kulturbund galt offiziell zwar als überparteilich, war in der Realität vielerorts jedoch ein verkapptes Parteiorgan. Deshalb war es für die Aufgabe, die Vater übernehmen sollte, nicht weiter von Bedeutung, dass er keine Erfahrung besaß. Die Genossen regelten das. Er musste vorher nur in den Kulturbund eintreten. Natürlich gab es dann auch eine offizielle Wahl, aber man weiß ja, wie das lief mit Wahlen in der DDR.
Vater interessierte sich wirklich für Kunst, und seit dieser Zeit noch mehr. Besonders für Malerei, speziell für die von Otto Niemeyer-Holstein. Der lebte auf der Insel Usedom. Und die gehörte zum Kreis Wolgast, für den Vater in seiner neuen Funktion zuständig war. So lernte er ihn kennen.
Niemeyer-Holstein, für seine Freunde der »Käpt’n«, hatte sich an der schmalsten Stelle der Insel, zwischen Koserow und Zempin, ein idyllisches Refugium geschaffen, das er Lüttenort nannte. Vater nahm uns einige Male mit, wenn er ihn besuchte. Für mich war das immer eine Reise in eine geheimnisvolle Welt. Da war der ausrangierte Packwagen der Berliner Stadtbahn, in den Dreißigerjahren dorthin geschafft, die erste bescheidene Unterkunft für den Maler und seine Familie. Und der alte Holzkahn im Garten, ein Wrack, längst nicht mehr seetauglich. Überhaupt der Garten – wie ein verwunschener Ort. Knorrige Bäume, Eichen zumeist. Auch Obstbäume. Und Büsche. Stolze Hortensien und wilde Blumen. Wo man hinschaute, wucherte Grün. Und über das Grün erhoben sich hier und dort eigenwillige Gebilde, die die Erwachsenen als Plastiken bezeichneten. Und welche, die sie Skulpturen nannten, menschenähnlich, doch irgendwie in ihren Proportionen verzerrt. Oder es fehlte der Kopf. Oder es war nur ein Kopf, wie aufgespießt. Geschenke von Künstlerfreunden, wie ich später erfuhr. Oder Tauschware, für die es im Gegenzug ein Werk des Meisters gab. Und manches lag wie verloren auf dem Boden, oder als wäre es aus dem Meer hierhergespült worden. Das also war Kunst.
Wie der Käpt’n seine eigene Kunst schuf, sollte mir noch Jahre verborgen bleiben. Auf das kleine Glasfenster in der Tür zu seinem Atelier hatte jemand – höchstwahrscheinlich der Hausherr selbst – mit hellblauer Farbe vier Buchstaben gepinselt: T A B U. Ich wusste nicht, was das Wort bedeutete, ob es überhaupt ein richtiges Wort war, in welcher Sprache. Instinktiv hielt ich mich aber von der Tür fern. Dabei hätte ich zu gern gewusst, was sich dahinter verbarg. Was die jungen Frauen dort machten, die ich manchmal durch die Tür verschwinden sah. Oder was es zu bedeuten hatte, wenn plötzlich laute Musik ertönte, wo der Käpt’n doch Maler und kein Musiker war.
Das Rätsel löste sich, als ich zehn oder elf Jahre alt war. Bei einem unserer Besuche durfte ich endlich den heiligen Raum betreten. Der Geruch von Pfeifenrauch hing in der Luft. Dort stand ein alter Armlehnstuhl, gegenüber ein Kachelofen, da eine Staffelei. Dazwischen Töpfe mit Pinseln. Töpfe mit Farben. Farbtuben. Paletten zum Anmischen der Farben. Eine Holzkiste mit leeren Farbtuben. Einige krümmten sich wie Regenwürmer in der Sonne.
Auf der Ablage vor der Fensterfront kleine Skulpturen. Und Blätter aus Papier. Und Stifte. Und Flaschen. Farbtuben auch hier. Und Krüge, in denen noch mehr Pinsel steckten. Und andere Dinge, die ich nicht zuzuordnen wusste. An den Wänden Bilder, ringsum auf dem Boden auch, an die Wand gelehnt. Alles wirkte durcheinander und doch irgendwie sortiert. Als hätte sich jeder einzelne Gegenstand exakt an dem Platz befunden, wo der Meister ihn haben musste. Ich versuchte, all diese Sachen mit ihm in Verbindung zu bringen, um ihn mir bei der Arbeit vorzustellen. Oder wie er in seinem Stuhl saß, nachdenklich an seiner Pfeife sog und dabei durch die großen Fenster in den Garten sah.
Das weitläufige Grundstück erstreckte sich bis zum Achterwasser, einer Art Lagune zwischen Festland und Insel. Dort befand sich ein Steg, an dem der Käpt’n ein Segelboot liegen hatte, das im Gegensatz zu dem Kahn im Garten noch fahrtüchtig war. Das reizte mich natürlich, selbst einmal Kapitän zu spielen. Ich sehe es noch wie heute vor mir: Ein herrlicher Sommertag. Anne, sie muss damals ungefähr drei gewesen sein, trug ein blaues Kleid mit gelbem Faltenröckchen. Thomas war nicht dabei.
Anne und ich konnten es kaum erwarten, die Kaffeetafel zu verlassen. Als die Erwachsenen uns endlich ziehen ließen, liefen wir durch den Garten und landeten nach einer Weile am Wasser, an dem Steg. Wir zögerten nicht lange, kletterten in das Boot, um es genauer zu inspizieren. Zumindest war das meine Intention. Anne hatte mehr Spaß daran, ein paar Runden auf den Planken zu drehen. Auf einmal hörte ich es platschen, als hätte jemand etwas ins Wasser geworfen. Ich guckte, wo Anne steckte, lief übers Boot, sah in jede Luke, nirgends war sie zu finden.
Ihren Blick werde ich nie vergessen, als ich sie endlich entdeckte – im Wasser. Offenbar hatte sie eine Kurve mit zu viel Schwung genommen und war über Bord gegangen. Blitzschnell warf ich mich auf den Boden, machte meinen Arm so lang ich konnte, bis ich ihre Hand zu fassen kriegte und Anne hochhieven konnte. Sie bekam keinen Ton heraus, sie wirkte geradezu apathisch, weinte nicht einmal. Das muss der Schock gewesen sein. Zum Glück war ihr sonst nichts geschehen.
In Vaters Büro zu Hause hing später ein Ölgemälde, das der Käpt’n gemalt hatte. Das Porträt eines Jungen. Es erinnerte mich immer an unsere Besuche in Lüttenort. Ich frage mich, wie gut die beiden Männer sich kannten. In seinem Büchlein beschrieb Vater, wie er und Thomas einmal mit Niemeyer-Holsteins altersschwachem Gaffelkutter bis zum Greifswalder Bodden segelten. Jedem wird der Käpt’n kaum sein Boot überlassen haben. Andererseits fällt es schwer, sich Vater und ihn als dicke Freunde vorzustellen. Zu unterschiedlich schienen mir die beiden, allein was ihre politische Einstellung betraf. Die konnte man in der DDR ja nicht so einfach wegwischen.
Bei uns zu Hause wurde zum Beispiel kein Westfernsehen geguckt, obwohl wir ARD und ZDF empfangen konnten. Das war schon ein Statement, das natürlich auf uns Kinder abfärbte. Vater war unser Vorbild. In seinen Erinnerungen schrieb er dann auch, dass ihm das mit der führenden Rolle der Arbeiterklasse gefiel. Und dass die Parolen des Sozialismus zu seiner Vorstellung von einer guten Gesellschaft passten. Gleiches Recht für alle, Arbeit für jeden und solche Dinge. Bevor er in Rostock stellvertretender Bezirksarzt werden durfte, musste er zur Parteischule, Marx und Lenin pauken. Das schien ihm nichts auszumachen, er beklagte sich nicht. Als er später seinen Vorgesetzten, den Bezirksarzt, vertrat, saß er in Dienstberatungen mit dem Minister für Gesundheitswesen zusammen. Auch zu anderen leitenden Genossen des Zentralkomitees schien er gute Kontakte zu haben. Also nach ganz oben.
Das Zentralkomitee, insbesondere dessen Politbüro, war die Machtzentrale der DDR. Es diktierte der Regierung und damit den verschiedenen Ministerien, wie das Land gesteuert werden sollte. Das nannte man die führende Rolle der Partei. Aber genug des Geschichtsunterrichts. Vater war Kommunist. Das sagte er selbst von sich, auch noch, als das politische System zusammenbrach. Er verabscheute Menschen, die sich gegen die DDR stellten, etwa indem sie Republikflucht begingen. Als einmal ein Arzt aus seinem Krankenhaus von einer Reise in den Westen nicht zurückkehrte, fluchte er: »Erst all das Gute im Sozialismus mitnehmen, aber dann die Republik verraten.«
Dagegen war der Maler auf Usedom geradezu ein Freigeist. Ein Unangepasster. Seine politische Haltung einzuschätzen schien selbst die Regierung zu überfordern. Mal hieß es, er sei eine herausragende Künstlerpersönlichkeit, weshalb sie ihm staatliche Orden ans Revers hefteten, etwa den Nationalpreis, den Stern der Völkerfreundschaft auch. Dann wiederum schickten sie Stasi-Leute los, die ihn wegen des Verdachts landesverräterischer Agententätigkeit und staatsfeindlicher Hetze observierten.
Der Käpt’n zog die schillerndsten Persönlichkeiten an: Maler und Bildhauer, Schriftsteller, Musiker, Schauspieler, selbst Politiker kamen vorbei. Und der Präsident des Kulturbundes, in dem Bereich Vaters oberster Chef, solange der in Wolgast war.
Aber dieser Abschnitt war nun Vergangenheit. Vater war zurückgekehrt. Unsere Eltern heirateten sogar wieder. Der neuerliche Familienzusammenschluss wirkte sich auf Vaters Karriere positiv aus. Er bekam eine Stelle in einem größeren Krankenhaus. Das bedeutete allerdings nicht, dass Ruhe in unser Leben einkehrte.
So flüchtig manche Erinnerungen in dieser strukturlosen Zeit, die vom Geburtstagsabend bei Thomas, dem Schriftsteller, kann ich abrufen, als würde ich am Fernseher einen Film einschalten.
Eine illustre Runde in seiner Wohnung, die meisten versammelt an einem großen Tisch. Small Talk hier, Small Talk da, wie das so ist am Anfang einer Party, bis sich alle einmal beschnuppert haben. Kulinarische Köstlichkeiten wurden gereicht. Im Hintergrund lief unaufdringliche Musik. Alle schienen sich wohlzufühlen.
Ich war nicht in bester Verfassung, versuchte aber, mir nichts anmerken zu lassen. Setzte ein Dauerlächeln auf, sprach mit diesem und jenem, ohne dass das Gesagte in meinem Gedächtnis haften blieb. Als lösten sich die Worte in Luft auf, bevor sie mein Ohr erreichten.
Ich bemühte mich, Fragen zu erkennen, formulierte Antworten, mit der Hoffnung, dass sie zu den Fragen passten. Fast vergaß ich meine Unsicherheit. Die angenehme Atmosphäre half, hüllte mich ein wie ein Kokon.
Auf einmal aber schlug die Stimmung um, ohne dass in dem Zimmer oder in der Wohnung etwas vorgefallen wäre. Weder war ein neuer Gast erschienen, noch hatte jemand vorzeitig die Runde verlassen. Und es hatte auch niemand Streit gestiftet.
Eine kurze Nachricht war es, die über die sozialen Medien in die gemütliche Vorweihnachtsstimmung drang und alles änderte; an diesem Abend in Thomas’ Wohnung, in der Stadt, ja, im ganzen Land.
Am Anfang war nicht klar, ob es ein Unfall war oder ein Anschlag. Die Lage sei unübersichtlich, hieß es. Jemand soll mit einem Lastwagen in voller Geschwindigkeit auf den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche gedonnert sein. Von Verletzten wurde berichtet und von einem Toten.