Gewidmet meinen Freunden, allen, die noch meine Freunde werden möchten, meinen Kindern und meiner Frau, die sich immer wieder mit Engelsgeduld meine vorlesungsartigen Antworten auf Fragen anhört, die auch in einem Satz hätten beantwortet werden können.
Was unterscheidet den Menschen von Tieren? Einige Wissenschaftler sagen: »Sprache«, »Mathematik«, »Schach«. Douglas Adams meinte: »Das Rad, New York, die Kriege.« Und ich sage: »Musik.«
Musik erfordert die einfachste mentale Funktion, die den Menschen gerade eben von Tieren unterscheidet: Menschen können in einer Gruppe einen Takt halten, gemeinsam einen Takt klatschen, schneller oder langsamer, ja, sogar gemeinsam schneller oder langsamer werden. Was uns simpel und trivial erscheint, kann keine andere Spezies. Wir können auch gemeinsam tanzen, singen oder Instrumente spielen.
Mit anderen gemeinsam Musik zu machen weckt positive Emotionen. Und diese Emotionen setzen Heilkräfte frei. Dies brachte dem Menschen in der Evolution einen wichtigen Vorteil: länger zu leben. Zu diesem Vorteil trägt obendrein bei, dass Musik auch den sozialen Zusammenhalt fördern sowie unsere Beharrlichkeit und Ausdauer stärken kann. Als das Schiff Endurance des Polarforschers Ernest Shackleton vor mehr als hundert Jahren von Packeis zerdrückt wurde, musste sich seine Mannschaft zu Fuß durch die schneidenden eiskalten Winde der Antarktis kämpfen. Die Rettungsboote zogen sie mit Tauen durch den Schnee hinter sich her. Nur die überlebenswichtigen Dinge konnten die Männer mitnehmen: Lebensmittel, Kochgeschirr, Kleidung, Zelte und – das Banjo! Shackleton schrieb später, die Entbehrungen und Schmerzen seiner Männer seien so groß gewesen, dass des Öfteren einige von ihnen aufgeben und sterben wollten. Zu entschlafen erschien die attraktivere Alternative zu weiterem Leiden. In diesen Momenten war es die Musik, die die Männer aufmunterte, ihren Mut weckte, sie zum Durchhalten motivierte. Alle 28 Männer erreichten schließlich lebend die rettende Shetlandinsel Elephant Island. Shackleton schrieb, dass es etliche ohne Musik – die »vital mental medicine« – nicht geschafft hätten.
Wenn Musik, wie Johann Sebastian Bach sagte, unser »Gemüt belebt«, werden wir nicht nur mutiger und beharrlicher, sondern sie wirkt dann auch erholsam und heilsam. Genau davon handelt dieses Buch: Ich werde erklären, wie Musik unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit, aber auch wichtige Heilungsprozesse fördert. Sie werden erfahren, was dabei im Gehirn geschieht und wie Musik dort und im Rest des Körpers regenerativ wirkt. Bei Krankheiten kann Musik wundersame Effekte haben: Parkinson-Patienten beginnen zu tanzen; Alzheimer-Patienten erinnern sich wieder; Menschen, die nach einem Schlaganfall nicht mehr sprechen können, können noch singen und dadurch wieder sprechen lernen; gelähmte Schlaganfall-Patienten können sich wieder bewegen; Wachkoma-Patienten reagieren plötzlich auf Musik. Was sich anhört, als sei es der Bibel entlehnt, ist in den letzten Jahren in revolutionären wissenschaftlichen Studien untersucht und belegt worden.
Für dieses Buch habe ich Hunderte von Studien zusammengetragen, die ich für jedermann und jederfrau verständlich darstellen werde. Einige davon habe ich als Gruppenleiter am Max-Planck-Institut für Kognitive Neurowissenschaft in Leipzig, an der Harvard Medical School in Boston, der Freien Universität Berlin oder der Universität Bergen durchgeführt.
Aus einigen dieser Studien können wir erkennen: Die musikalische Natur des Menschen zeigt sich bereits bei Kleinkindern und sogar Babys. Deswegen kann jeder, ob jung oder alt, ob musikalisch gebildet oder nicht, von den heilsamen Wirkungen der Musik profitieren. Ich werde deutlich machen, wie Menschen Musik für ihre Gesundheit nutzen können und wie Musik helfen kann, die Beanspruchungen und Herausforderungen des Alltags zu meistern.
Aus meiner Perspektive als Professor für biologische und medizinische Psychologie werde ich viele Erkenntnisse aus der Hirnforschung berichten. Da ich jedoch auch Musik und Soziologie studiert habe, werde ich einige Themen zudem im Hinblick auf unsere Gesellschaft – und natürlich auf Musik – beleuchten. Dabei ist dieses Buch so geschrieben, dass jeder Abschnitt gegebenenfalls leicht überschlagen werden kann; es muss nicht der Reihe nach gelesen werden.
Seit einigen Jahren gebe ich gelegentlich wieder Konzerte, manchmal kombiniert mit Vorträgen darüber, wie Musik heilsam wirkt. Bei diesen Anlässen schaffe ich es leider nie, alle Fragen zu beantworten, die mir gestellt werden. Was mich stets berührt, sind die Rückmeldungen, die ich von Menschen erhalte. Ein Arzt sagte mir, ohne Musik hätte er es nicht durch die Prüfungsphasen geschafft; ein Herr aus der ehemaligen DDR sagte mir, er hätte das System ohne den Trost der Musik nicht überlebt; eine Parkinson-Patientin erzählte mir, wie ihr Musik bei ihrer Krankheit half.
Viele Menschen wollen verstehen, wie wissenschaftlich diese Eindrücke sind und welche Schlüsse wir daraus ziehen können. Mit diesem Buch möchte ich meine Faszination für dieses spannende Forschungsgebiet wiedergeben, aber vor allem auch weitergeben, was in der Wissenschaft bislang darüber bekannt ist. Wie können wir Musik nutzen, um gesund zu bleiben oder gesund zu werden? Wie wirkt Musik heilsam und regenerativ? Was passiert dabei in unserem Gehirn und im Rest unseres Körpers? Um diese Fragen wird es hier gehen.
Musik kann eine sinnvolle, äußerst effiziente Ergänzung der Schulmedizin sein und manchmal sogar eine wirkungsvolle Alternative. Die heilsamen Wirkungen von Musik, die oft mit einfachsten Mitteln hervorgerufen werden können, sind vielerorts noch viel zu ungenutzt. In Good Vibrations zeige ich fachübergreifend die wichtigsten Punkte auf, die jeder für seine Gesunderhaltung kennen sollte, und erkläre anschaulich, wie wir unsere Selbstheilungskräfte mit Musik stärken können.
Im Jahre 1930 ordnete die Oberin der »School Sisters of Notre Dame« an, dass jede neue Nonne ihrer Kongregation vor Ablegen ihres Gelübdes eine Seite über die eigene Lebensgeschichte einzureichen habe. Hunderte von Nonnen schrieben daraufhin in den folgenden Jahren ihre Lebensgeschichte auf, sie waren im Durchschnitt 22 Jahre alt. Sieben Jahrzehnte später analysierte Deborah Danner 180 dieser Lebensgeschichten. Sie zählte, wie viele positive bzw. negative Erlebnisse beschrieben wurden und wie viele positive und negative Emotionswörter dafür benutzt wurden. Danner interessierte sich dafür, ob das Sterbealter der Nonnen, die besonders viele positive Erlebnisse beschrieben hatten, sich vom Sterbealter derjenigen unterschied, die besonders wenige positive Erlebnisse beschrieben hatten. Mögliche Unterschiede konnten ja nicht an den äußeren Lebensbedingungen liegen, denn diese waren für alle Nonnen sehr ähnlich. Auch ihre Lebensweisen waren fast gleich: Die Nonnen aßen gemeinsam, hatten ähnliche Tagesabläufe, und weder Alkohol noch Zigaretten standen bei ihnen besonders hoch im Kurs … Deborah Danner fand, dass die Nonnen, die im Alter von Anfang zwanzig besonders viele positive Erlebnisse beschrieben hatten, deutlich länger lebten als diejenigen, die nur wenige positive Erlebnisse beschrieben – im Durchschnitt zehn Jahre länger.1
Die Ergebnisse dieser Studie zeigen erstaunlich deutlich, dass eine positivere Einstellung zum Leben und eine damit verbundene positivere Stimmung dazu führt, dass wir länger leben. Wenn wir mit Musik unsere Stimmung positiv beeinflussen, tragen wir also dazu bei, dass wir länger leben – jeder Hasskommentar hingegen kostet einen Tag Lebenszeit.
Die heilsamen Wirkungen von Musik haben mit Emotionen zu tun. Musik kann positive Emotionen hervorrufen und diese können unserer Gesundheit förderlich sein. Die stärksten Heilkräfte hat unser Körper selbst – niemand kann unseren Körper besser heilen als er selbst. Ärzte und Medikamente können ihn bei der Selbstheilung nur unterstützen. Negative Emotionen stören Heilung und Regeneration, positive helfen der natürlichen Selbstheilung dabei, sich zu entfalten.
Wie ruft Musik eigentlich Emotionen hervor? Wie entstehen Emotionen überhaupt? Die meisten Leser/-innen kennen wenigstens eine Antwort auf diese Frage. Das Spektrum an Antworten ist tatsächlich erstaunlich breit. Das Verständnis davon, wie Musik Emotionen hervorrufen kann, kann uns helfen, unsere Gefühle und Stimmungen allgemein besser zu verstehen und die Good Vibrations von Musik heilsam wirken zu lassen – darum geht es in diesem Kapitel.
Als junger Musikstudent war ich einst auf dem Weg von der Musikhochschule zu einem Konzert der Bremer Philharmoniker, als ich auf dem Domplatz Christian Tetzlaff umherirren sah. Er war der Solist des Abends und es war zehn Minuten vor Konzertbeginn. Ich bot ihm an, ihn zum Eingang des Konzerthauses zu bringen, was er gerne annahm. Auf dem Weg erzählte er mir, er sei von Hamburg aus in den Zug nach Hannover statt nach Bremen eingestiegen und dann von Hannover aus mit einem Taxi gekommen. Allein diese Vorstellung liefert mir ideales Material für Albträume. Nachdem er sich in aller Eile hatte umziehen müssen, stand er, ohne auch nur eine Minute Zeit zum Einspielen gehabt zu haben, wenig später auf dem Podium für das Violinkonzert von Beethoven. Ich erinnere mich heute noch daran, wie blitzsauber er die Oktaven spielte, mit denen das Konzert beginnt, und wie verblüfft ich darüber war, wie locker und sicher er das Konzert spielte – der Stress vor dem Konzert war ihm nicht im Geringsten anzumerken. Diese Aufführung in Kombination mit dem Wissen um die Hintergründe machte dieses Konzert für mich zu einem der denkwürdigsten, die ich jemals gehört habe. Genau dieselbe Musik ohne dieses Wissen hätte für mich ganz anders geklungen und bei mir andere Emotionen hervorgerufen.
Unsere Gedanken bzw. unsere Bewertungen beeinflussen unsere Emotionen also stark. Wenn wir über unsere Gefühle sprechen, meinen wir häufig, dass sie keinem bewussten Einfluss unterliegen, sondern wir ihnen machtlos ausgeliefert seien. Das ist ein Irrtum. Auch wenn diese Sichtweise für einige neu ist: Die Ursache eines Gefühls liegt nie einfach in einem Ereignis oder Objekt, sondern in unserem Gehirn. Gefühle kommen uns vor wie etwas, das ausgelöst wird und in uns auftaucht, ohne dass wir weiteren Einfluss darauf hätten. Wir lernen von klein auf, dass auf bestimmte Ereignisse bestimmte Gefühle folgen, und halten diese Ereignisse dann irrigerweise für die Ursache dieser Gefühle (dieser Fehlschluss wird in der Logik auch als »post hoc ergo propter hoc« bezeichnet). Zum Beispiel hören wir einen schönen Geigenton und fühlen daraufhin Vergnügen – das Vergnügen kommt jedoch weder aus der Geige noch aus dem Ohr, sondern entsteht in unserem Gehirn. Dabei folgt dieses Vergnügen auf den Geigenton hin keiner einfachen Gesetzmäßigkeit (wie etwa »wenn schöner Geigenton, dann vergnügliches Gefühl«), sondern oft in scheinbar völlig undurchschaubarer Weise. Wenn wir gerade einschlafen wollen und der Nachbar schon wieder laute Geigenmusik auflegt, reagieren wir auf denselben schönen Geigenton plötzlich ärgerlich. Die unterschiedlichen emotionalen Reaktionen auf denselben Geigenton rühren daher, dass unser Gehirn ihn in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich bewertet – unser Gehirn entscheidet, ob uns derselbe Geigenton Vergnügen oder Missvergnügen bereitet.
Bei meinem Erlebnis des Konzerts mit Christian Tetzlaff führte mein Wissen um die Situation zu besonders positiven Emotionen. Andererseits können uns auch die schönsten Geigentöne völlig kaltlassen, wenn uns Hintergrundwissen fehlt. Als Joshua Bell 2007 mit Baseballkappe in einer U-Bahn-Station in Washington, D.C., fast 45 Minuten lang exquisite Kompositionen für Violine solo auf seiner »Gibson ex Huberman«-Stradivari zum Besten gab, blieben von über tausend vorbeilaufenden Personen lediglich sieben für mehr als eine Minute stehen.2 Kaum jemand war also von den Geigentönen so angetan, dass es sich gelohnt hätte, stehen zu bleiben. Nur 27 Personen warfen Geld in den Violinkasten, insgesamt 32 Dollar. Bei einem normalen Konzert verdient Bell pro Minute 1000 Dollar. Der Grund für diese eklatante Diskrepanz ist, dass es für die meisten Menschen eine rechte Situation und Zeit für die Bach-Chaconne gibt, und dies war morgens um acht in der U-Bahn-Station nur für sehr wenige der Fall. Die schönen Empfindungen beim Hören schöner Geigenmusik entstehen eben im Gehirn – und selbst fabelhaft gute Musik wird, wenn sie zur Situation unpassend ist, als eher störend bewertet und löst negative Empfindungen aus. Manchmal sind wir glücklich, eine bestimmte Musik zu hören, und manchmal sind wir glücklich, wenn genau dieselbe Musik aufhört. Hätten die Passanten in der U-Bahn gewusst, dass sie eine einzigartige Musikdarbietung der Sonderklasse hören konnten (gratis!), wären ihre Bewertungen und damit ihre Empfindungen ganz anders ausgefallen.
Dies gilt selbstverständlich nicht nur für Emotionen, die durch Musik hervorgerufen werden, sondern für Emotionen allgemein. Selbst bei Schmerz oder Hunger produziert unser Gehirn Empfindungen, nicht unsere Organe. Stellen wir uns einen Tubaspieler vor, dem sein Instrument auf den Fuß fällt. Er fühlt daraufhin Schmerz im Zeh. Das Schmerzgefühl kommt jedoch nicht aus dem Zeh, sondern entsteht in seinem Gehirn, und zwar mitnichten als quasi mechanische Konsequenz: Wenn dem Tubaspieler erst der Bügel der Posaune seines Nachbarspielers mitten ins Auge fährt und ihm daraufhin die Tuba aus der Hand und auf den Fuß fällt, wird der Schmerz im Zeh kaum noch zusätzlich zum Schmerz im Auge wahrgenommen. Auch wenn dem nächsten Tubaspieler dann dessen Tuba vor Lachen aus der Hand auf den Fuß fällt, tut es dem weniger weh, als wenn er in deprimierter Stimmung gewesen wäre und ihm zusätzlich zu allem Unglück auf der Welt nun auch noch die dumme Tuba auf den Fuß fällt. Und beide Tubaspieler spüren überhaupt keine Schmerzen mehr, wenn ich sie mit dem Satz ablenke: »Tuba – der Dickdarm des Orchesters.«
Schmerz und andere negative Gefühle einerseits und positive Gefühle andererseits funktionieren im Gehirn ähnlich einer Balkenwaage: Wer es schafft, bei negativen Gefühlen und Stimmungen durch einen positiven Gedanken ein paar Botenstoffe des Gehirns (»Neurotransmitter«) in die positive Waagschale zu werfen, hat weniger Kummer. Ähnlich wie Lachen kann angenehme Musik genau diese Botenstoffe freisetzen. (Achtung: Natürlich sind akute Schmerzgefühle wichtige Warnsignale des Gehirns, die uns motivieren sollen, unseren Körper zu schützen.)
In seinem Buch Das Publikum macht die Musik berichtet Sven Müller, dass das Konzertpublikum bis weit ins 19. Jahrhundert hinein vor allem die Komposition und die gefühlten Effekte bewertet habe, weniger die Qualität der Aufführung durch die Musiker. Die Uraufführung von Beethovens 9. Sinfonie 1824 in der Wiener Akademie wurde überwiegend von Laien und fast ohne Probe gespielt. Während diese Aufführung bei Publikum und Presse damals enthusiastische Begeisterung hervorrief, würden viele heutige Beethoven-Freunde bei einer ähnlichen Aufführung vor Ärger mit den Zähnen knirschen oder empört den Saal verlassen. Technische Perfektion war für die Zuhörer/-innen des frühen 19. Jahrhunderts weniger wichtig, solange man die Komposition nur hinreichend erkennen konnte.3
Je nach Bewertung können also dieselben akustischen Schwingungen bei unterschiedlichen Hörern ganz unterschiedliche Empfindungen hervorrufen. Wer lernt, auch heutzutage wieder auf diese Art Musik zu hören, kann eine Menge Geld (und sich viel Ärger) sparen. Einige kennen dies von Aufführungen von Jugendorchestern, bei denen das Engagement und die Hingabe der jungen Musiker/-innen viel wichtiger sind als Fehler oder Unsauberkeiten.
Ähnlich ist es bei Dissonanzen. Wer zeitgenössische Musik oder modernen Jazz nicht so gut kennt, findet Musik von Helmut Lachenmann oder Peter Brötzmann oft weniger angenehm und vergnüglich als überwiegend konsonante Musik. Auch hier entstehen die negativen Bewertungen der Dissonanzen und die damit verbundenen negativen Empfindungen im Gehirn. Analog der modernen zeitgenössischen Musik, die etliche Hörer als absonderlich empfinden, wurde zu Zeiten Beethovens dessen Musik ebenfalls oft als »bizarr, schroff und capriciös« empfunden, wie der Rezensent der Allgemeinen Musikalischen Zeitung über Beethovens Streichquartett in B-Dur op. 130 schrieb. Heute gilt es als eines der größten Werke der Quartettliteratur. Dem Rezensenten, der Beethoven zwar als »großen Tonsetzer« schätzte, war der Sinn des Finales dennoch »unverständlich, wie Chinesisch«. Er schrieb: »Wenn die Instrumente (…) sich unter einer Unzahl von Dissonanzen durchkreuzen, dann gibt es ein Concert, woran sich allenfalls die Marokkaner ergötzen können.« Wer heutzutage bei zeitgenössischer Musik jenseits der Dissonanzen die ganz neuen, vorher noch nie so gehörten Klänge, Klangschattierungen und Klangtexturen hört, kann auch an dieser Musik leicht Vergnügen finden. Deswegen wäre es, ähnlich wie zu Beethovens Zeit, hilfreich, wenn Orchester bei Uraufführungen dem Wunsch des Publikums folgen und das Stück (oder ihre Lieblingsteile des Stücks) gleich anschließend ein zweites oder gar drittes Mal spielen würden.
TIPPS: Statt negativer Seiten positive sehen
Manchmal kann einen etwas an einem Konzert sehr stören – beispielsweise nimmt der Dirigent die Musik eher als Begleitung für sein Dirigieren in Beschlag, der Solist spielt oder singt nicht schön, das Orchester klappert, die Band wird schlecht abgemischt oder das Stück ist langweilig. Statt sich dies an die Nerven gehen zu lassen, probieren Sie, Ihre Aufmerksamkeit auf etwas zu richten, was Sie nicht stört – bei klassischer Musik zum Beispiel auf den Spannungsverlauf der Musik oder das Erleben des dreidimensionalen Klangs (den es über Kopfhörer oder die Stereoanlage ja leider noch nicht gibt). Oder Sie lassen Musik über eine der Arten, die in den folgenden Abschnitten beschrieben werden, positive Emotionen hervorrufen.
Wenn Menschen Musik hören, spielen, singen oder dazu tanzen, empfinden die meisten von ihnen überwiegend positive Emotionen – ansonsten würden sie keine Musik hören. Im Alltag werden wir jedoch oft mit negativen Emotionen konfrontiert. Anders als Musik, die bei negativen Emotionen ausgeschaltet werden kann, können wir Alltagssituationen, die negative Emotionen hervorrufen, nicht einfach auf Knopfdruck beenden. Deshalb schreibe ich hier auch über Emotionen im Alltag und darüber, wie Musik uns helfen kann, mit ihnen umzugehen.
In der Emotionspsychologie wird den sogenannten Bewertungs-Theorien zufolge alles, was mir hilft, meine Ziele zu erreichen – also was mir nützlich ist, meine Bedürfnisse befriedigt, meinen Wünschen entspricht, meine Macht stärkt, meinen Vorstellungen entspricht und in mein Weltbild passt –, als »gut« bewertet; diese Bewertung löst eine positive Emotion aus. Alles, was uns hingegen daran hindert, ein Ziel zu erreichen, missfällt uns – es wird als »böse« bewertet, und diese Bewertung löst eine negative Emotion aus. Bewertungen können bewusst und unbewusst erzeugt werden – tatsächlich sind uns die allermeisten Bewertungen, die in unserem Gehirn entstehen, nicht bewusst. Sie geschehen wie automatisch, blitzschnell (im Bruchteil einer Sekunde) und in unterschiedlichen Regionen des Gehirns.
Jede Bewertung gibt also einen Impuls zu einer Emotion. Als Reaktion auf solche Emotionsimpulse gibt es im Falle negativer Bewertungen zwei Möglichkeiten: Entweder dem Impuls freien Lauf lassen – das ist leicht, bequem und geht intuitiv; oder bewusst Einfluss auf die Emotion nehmen, mit Vernunft, Geduld, Gelassenheit und idealerweise mit Humor; dies ist jedoch oft mühselig, weil wir dafür extra unsere Intelligenz bemühen müssen.
Wenn wir dem negativen Emotionsimpuls freien Lauf lassen, kommt es zu einem Phänomen, das mein früherer Mentor Walter Alfred Siebel einst als psychologisches Recycling bezeichnet hat. Stellen wir uns zum Beispiel ein Ereignis vor, das Ärger hervorruft (aber nichts mit Musik zu tun hat), etwa eine Zugverspätung. Wir ärgern uns und fragen gleich danach, wer Schuld an dem Ärgernis hat (das ist vorzugsweise jemand anderes, hier: »die blöde Bahn«). Damit ärgern wir uns über das Ereignis selbst und über den Schuldigen, womit wir den Ärger schon einmal verdoppelt haben. Ärger plus Ärger ergibt psychologisch gesehen immer noch Ärger, das heißt, das Ärgern bereitet für neues Ärgern vor und wird für weiteres Ärgern wiederverwertet. Als Fortgeschrittener auf diesem Gebiet kann ich mich dann auch noch darüber ärgern, dass ich mich überhaupt ärgere, was ja wiederum recht ärgerlich ist – wir sind in einem Teufelskreis, in dem wir unser Ärgern fortwährend recyceln. Dieser Mechanismus lässt sich auf jede negative Emotion übertragen: auf Trauern, Sorgen, Hassen usw.
Beim psychologischen Recyceln entsteht unmittelbar eine Sogwirkung negativer Gefühle, wodurch anhaltende negative Stimmungen entstehen können. Negative Stimmungen ziehen weitere negative Bewertungen, Gedanken und Handlungen an, selbst wenn diese irrational und irrtümlich sind. Sie färben Wahrnehmungen negativ an, ziehen die Aufmerksamkeit auf Negatives und lösen negative Erinnerungen aus. Deswegen machen uns negative Stimmungen gleichsam blind. Probieren Sie einmal, wenn Sie sich gerade sehr über eine Person ärgern, sich an eine positive Eigenschaft dieser Person zu erinnern …
Während eines solchen psychologischen Kreisens bzw. Recycelns erwarten wir, dass das, was wir für die Ursache der gerade vorliegenden negativen Emotionen halten, gefälligst aufzuhören habe, anstatt dafür zu sorgen, dass unsere negativen Emotionen aufhören. Wir erwarten auch, dass jeder andere diese Ursache gefälligst genauso wichtig nimmt wie wir selber. Es ist dann nur noch ein kleiner Schritt, es für richtig zu halten, die gewähnten Verursacher des eigenen Ärgers aus der Welt zu schaffen – anstatt seine eigenen negativen Emotionen aus der Welt zu schaffen. Letzteres scheint zwar oft schwieriger, ist jedoch gesünder und meist amüsanter. Auch wenn der Gedanke für viele ungewohnt oder neu ist: Es sind unsere negativen Bewertungen, die negative Emotionen hervorrufen, nicht die Ereignisse selber. Und im Alltagsleben sind es oft unsere negativen Emotionen, die uns unglücklich und krank machen, nicht die Umstände, die uns gerade nicht passen. Es ist normal, dass bestimmte Ereignisse reflexartig als negativ bewertet werden und negative Emotionen hervorrufen. Es liegt jedoch an uns, diese nicht zu recyceln und also nicht zu negativen Stimmungen werden zu lassen.
Dafür können wir auf einen der bestetablierten Befunde der klinischen Psychologie zurückgreifen: Das beste Mittel gegen negative Emotionen und den Stress, den sie mit sich bringen, ist konstruktive geistige Aktivität – beispielsweise bewusste Problemlösung, Beschaffung von Informationen, bewusstes Entspannen, Finden positiver Aspekte der Situation usw. Welche Strategien am besten wirken, hängt von der Situation und der Person ab, etwa davon, ob eine Situation geändert werden kann oder welche Ressourcen einer Person zur Verfügung stehen.
Nehmen wir zur Illustration wieder den Umgang mit Ärger: Wenn einem Steine in den Weg gelegt werden, ist es normal, einen Ärger-Impuls zu spüren. Wichtig ist, dies möglichst schnell zu erkennen und angemessen zu reagieren: mit Geduld, Vernunft, Gelassenheit und, im schlimmsten Falle, gar mit Humor.
Der erste (und wichtigste) Schritt dafür ist, die negative Emotion überhaupt erst einmal bewusst zu erkennen – sich also zu sagen: »Oha, ich merke, dass ich mich gerade ärgere, das ist normal, jedoch ist es jetzt Zeit, mich wieder abzuregen.« So schalten wir der unbewussten Ärger-Reaktion bewusste geistige Aktivität hinzu.
Im zweiten Schritt achten wir darauf, »cool zu bleiben« – mit drei Maßnahmen: Durchatmen, Entspannen, Fließenlassen. In diesem Moment ist Geduld ein Zeichen innerer Stärke und Zorn bzw. Rage ein Zeichen innerer Schwäche. Bedenken Sie, dass allein die Tatsache, Ärger zu empfinden, noch längst nicht bedeutet, dass etwas in Wahrheit ärgerlich ist. Es ist die eigene Sicht der Dinge, die etwas für einen selber ärgerlich macht. Überlegen Sie mit kühlem Kopf, ob bzw. wie das Problem gelöst werden kann (gegebenenfalls müssen Sie schnell eine Übergangslösung finden und zu einem späteren Zeitpunkt an einer Lösung arbeiten). Es ist auch hilfreich zu realisieren, dass es stets gesünder ist, seinen Ärger zu beseitigen und nicht die Person, die den Ärger hervorgerufen hat. Kommen wir zurück auf das Beispiel mit der Zugverspätung: Sosehr sich jemand auch ärgern mag, sein Ärger und seine Aufregung werden rein gar nichts an der Verspätung ändern. Sie werden auch nichts an zukünftigen Verspätungen ändern. Wenn jemand etwas ändern will, kann er später mit kühlem Kopf eine kurze Beschwerde schreiben. Wichtiger ist jetzt: Durchatmen, Entspannen, Fließenlassen.
Dann der dritte Schritt: einen positiven Aspekt der Situation finden. Jede Situation hätte auch schlimmer kommen können und vielleicht bleibt uns nun irgendein zukünftiges Ärgernis erspart. Besonders hilfreich ist auch, einen lustigen Aspekt der Situation zu finden. (Ich sehe beispielsweise lustig aus, wenn ich mich ärgere – gucken Sie doch ebenfalls mal in einen Spiegel, wenn Sie sich so richtig ärgern …) So schalten wir der unbewussten negativen Bewertung eine bewusste positive Bewertung hinzu. Wenden Sie sich dann wieder einer Sache zu, die Sie tatsächlich tun wollen, und konzentrieren Sie sich darauf.
Schließlich der vierte Schritt – für viele die größte Herausforderung: die Sache abhaken und nicht mehr daran denken. Betreiben Sie sozusagen »mentales Entrümpeln«. Was geschehen ist, ist geschehen. Nun können Sie vielleicht etwas dazu beitragen, dass es in Zukunft anders wird. Zum Beispiel bei Ärger die Gedanken nicht um den Anlass des Ärgers kreisen lassen, keinen Groll hegen, keine Rache- oder Vergeltungsgedanken mit sich herumtragen. Ansonsten ermöglichen wir ausgerechnet einer Person, die uns Nachteile bringt, umsonst in unserem Kopf zu wohnen. Im Gegenteil: Wünschen Sie der Person Glück und Wohlbefinden wie jedem anderen Menschen auch, denn dies ist gesünder für Sie!
Diese vier Schritte können auf die meisten anderen ungesunden Gefühle und Stimmungen übertragen werden – Sorgen, depressive Verstimmung, Ängste, Mutlosigkeit, Trauer, Hass, Feindseligkeit, verletzter Stolz, Peinlichkeit, Schuldgefühle, sich wertlos fühlen, keinen Sinn im Leben sehen … Mit diesen vier Schritten können wir in allen Lebenslagen eine unerschütterliche Gemütsruhe bewahren. Mit negativen Emotionen positiv umzugehen fördert unsere Gesundheit und stärkt unsere Resilienz.
Hier kommt nun wieder die Musik ins Spiel: Musik kann uns zum Glück helfen, die unterbewussten emotionalen Sogwirkungen auszuschalten und einen Ausgang aus dem psychologischen Recycling einschließlich der negativen Gedankenschleifen zu finden. Positiv klingende Musik macht unsere Gedanken optimistischer und realistischer. In einer Studie, an der auch meine Arbeitsgruppe beteiligt war, haben wir beobachtet, dass Personen ihre Chancen in einem Lotteriespiel optimistischer einschätzen, wenn sie vorher fröhlich klingende Musik gehört haben. Ein Clou dabei war, dass dieser Optimismus sogar die natürliche Neigung für unrealistisch schlechte Erwartungen kompensierte und im Durchschnitt zu mehr Gewinn führte.4
Bei positiver Musik sehen wir die Welt tatsächlich heller: Joydeep Bhattacharya und Job Lindsen berichteten in einer Studie, dass positiv bzw. negativ klingende Musik Einfluss darauf habe, wie hell oder dunkel wir Farben beurteilen.5 Die Forscher präsentierten den Versuchsteilnehmer/-innen zuerst ein graues Quadrat auf einem Bildschirm; dann spielten sie Musik, die entweder fröhlich, friedlich, traurig oder furchteinflößend klang. Nach jedem Musikstück wurde wieder ein graues Quadrat präsentiert und die Teilnehmer sollten nun beurteilen, ob das zweite Quadrat, das nach der Musik präsentiert wurde, heller oder dunkler war als das erste Quadrat, das vor der Musik präsentiert wurde. Was die Teilnehmer nicht wussten: Alle Quadrate waren gleich hell. Interessanterweise stuften die Personen die Quadrate nach der fröhlich klingenden Musik als heller ein, als sie tatsächlich waren, und nach der traurigen oder furchteinflößenden Musik als dunkler. Sogar als Teilnehmer eines weiteren Experiments gebeten wurden, einfach die Helligkeit des Quadrats anhand einer Skala zu beurteilen, wurde dasselbe Quadrat nach fröhlicher Musik als heller eingestuft und nach trauriger bzw. furchteinflößender Musik als dunkler.
Noch ein Beispiel dafür, dass fröhlich klingende Musik uns helfen kann, positive Gedanken zu denken: Meine Forschungsgruppe führte ein Internetexperiment durch, in dem die Teilnehmer/-innen fröhlich klingende Musik (etwa ein Vivace-Finale aus einem Haydn-Streichquartett) oder traurig klingende Musik (wie den »Song for Bob« von Nick Cave) hörten.6 Immer wenn die Musik unvermittelt anhielt, wurden den Teilnehmern Fragen zu ihren Gedanken gestellt – etwa, ob ihre Gedanken auf die Musik fokussiert waren und wie positiv oder negativ sie den Inhalt ihrer Gedanken bewerteten. Wir fanden heraus, dass die Gedankeninhalte bei fröhlich klingender Musik positiver waren als bei negativ klingender Musik. Dieser Befund ist sehr stabil: Meine Arbeitsgruppe hat ihn mittlerweile in drei ähnlichen Untersuchungen wiederholt. Dies bedeutet auch, dass wir darauf achten müssen, welche Musik wir hören und wie sie auf uns wirkt. Wenn wir traurig-melancholische oder nervös-angespannte Musik hören (oder gar hören müssen, etwa weil jemand im gleichen Raum Radio hört), kann dies negative Effekte auf unsere Gedanken und unsere Stimmung haben. Und um morgens eine positive Stimmung für den Tag zu fördern, ist es ratsam, positive Musik zu hören. Auch zur Meditation oder beim Arbeiten ist es deshalb ratsam, positiv klingende Musik zu hören (ausgenommen Investment-Banker und Hedgefonds-Manager – um sich vor Optimismus und Risikofreude zu schützen, empfehle ich Angehörigen dieser Berufsgruppen, ausschließlich und dauerhaft traurige Musik zu hören …). Ich selber nutze oft Musik von Bach (wie auch jetzt in diesem Moment, da ich dieses Kapitel schreibe). Sie hilft mir, strukturiert und klar zu denken.
Es ist unser Recht, statt negative Bewertungen positive Gefühle zu erleben, und wir sind selbst dafür verantwortlich, was wir denken. Wer trotz eigenen unbewussten negativen Bewertungen und negativen Stimmungen in der Lage ist, selbst in persönlichen Miseren und scheinbar aussichtslosen Situationen wenigstens eine positive Sache zu erkennen oder wenigstens einen Scherz zu machen, schlägt dem Unglücklichsein ein Schnippchen. Musik kann uns dabei auf wunderbar einfache Art helfen, indem sie uns ablenkt, auf neue Ideen bringt und hilft, unsere Stimmung aufzuhellen.
Als Musik können wir alles nutzen, was sensuelle und geistige Öffnung fördert. Laute und dröhnende Musik bewirkt eher das Gegenteil. Hier Beispiele für fünf unterschiedliche Geschmäcker: Suiten von Bach, Rock von Elvis, Tanzmusik der Mojo Club Edition, Jazz der Rudy Van Gelder Edition oder Meditationsmusik von Yuval Ron. Natürlich hilft es auch – je nach Situation –, selber Musik zu machen, ein Liedchen zu singen, zu scatten oder zu pfeifen. So fühlen wir uns schnell besser.
TIPPS: Sogwirkungen negativer Emotionen ausschalten
Um Ihre Stimmung aufzuhellen, suchen Sie sich Musik, die nicht zu der Stimmung, in der Sie sich gerade befinden, passt, sondern zu der Stimmung, in die Sie kommen möchten (beispielsweise fröhlich klingende Musik, wenn Sie fröhlicher werden möchten, oder mutig klingende Musik, wenn Sie sich motivieren möchten, oder entspannend klingende Musik, wenn Sie entspannen möchten).
Wenn Sie gelegentlich unter einer bestimmten negativen Stimmung leiden, legen Sie sich am besten in Situationen, in denen es Ihnen gut geht, Musik dafür zurecht. Einigen Menschen hilft eine Folge von Stücken besser, die mit einem Stück beginnt, das zur derzeitigen Stimmung passt, und dann stückweise übergeht in die Stimmung, in die man gelangen möchte (siehe auch die Tipps im Kapitel Musik bei Depression). Haben Sie diese Musik dann stets parat, beispielsweise auf Ihrem Smartphone. Legen Sie einen Ordner mit dieser Musik an und stellen Sie sicher, dass Sie ihn leicht erreichen können. Außer einer Musik-Playlist können Sie für solche Fälle auch einen Zettel vorbereiten, auf den Sie positive Dinge schreiben, die nicht zu einer bestimmten negativen Stimmung passen. Beispielsweise hilft ein Zettel mit Ihren Stärken und mehreren glücklichen Erinnerungen bei deprimierter Verstimmung oder ein Zettel mit Erlebnissen, bei denen Sie besonders mutig waren, bei einer ängstlichen Verstimmung.
Konzentrieren Sie sich beim Hören der Musik dann auf etwas, dem Sie wirklich Ihre Zeit und Ihre Gedanken widmen wollen, beispielsweise etwas, das Sie Ihren Zielen näherbringt. Wenn Ihre Gedanken um den Anlass eines Ärgers oder Ähnliches kreisen, lenken Sie sie zurück auf das, worauf Sie sich konzentrieren wollen. Falls Ihnen dies zu schwierig erscheint: Lassen Sie nicht den Anlass des Ärgers Revue passieren, sondern die Art und Weise, wie Sie mit Ihrem Ärger umgegangen sind; gibt es etwas, das Sie nächstes Mal anders machen können? Stellen Sie sich passend zur Musik vor, wie Sie mit großer Ruhe und Gelassenheit dem Ereignis begegnen. Oder stellen Sie sich zur Musik vor, wie Ihr negatives Gefühl vom Winde verweht wird. Diese Dinge werden Ihnen leichter fallen, wenn Sie durch den gesamten Tag eine positive Grundstimmung wahren, zum Beispiel dadurch, dass Sie mehrmals am Tag positive, ermutigende und ermunternde Musik hören – Musik, die Ihre geistige Ruhe und Gelassenheit stärkt. Das Leben meistert man entweder schmunzelnd oder gar nicht – Musik hilft dabei!
Wir können uns also bewusst dazu entscheiden, Musik zu nutzen, um Ziele zu erreichen: unsere Gedanken und Stimmungen positiv zu beeinflussen, auch zu feiern, Sport zu treiben usw. Allerdings kann dies bei einer länger anhaltenden negativen Stimmung schwierig sein, insbesondere wenn wir gar keinen deutlich erkennbaren Anlass dafür finden können, wie so oft bei depressiver Verstimmung oder Lustlosigkeit (wenn dies häufig auftritt, sollte ein klinischer Psychologe oder ein Arzt um Rat gefragt werden). Auch hier ist der erste Schritt bewusstes Erkennen, also zum Beispiel: »Aha, meine Stimmung ist gerade negativ, ich leide darunter. Das passiert vielen und ist nicht Zeichen meines Versagens, jedoch möchte ich jetzt etwas unternehmen, um dies zu ändern.« Besonders bei deprimierter Verstimmung kann es vorkommen, dass wir denken, »ist mir egal …«. Wenn uns auffällt, dass unsere Stimmung negativ ist und wir darunter leiden, ist dies jedoch ein deutliches Zeichen, dass wir in unserem tiefsten Inneren eben doch etwas anderes wollen. Wem es jetzt gelingt, ermutigende Musik aufzulegen, hat bereits einen wichtigen Schritt geschafft, denn damit beeinflussen wir unsere Stimmung bereits zum Positiven. Die Musik soll uns in dieser Situation auch helfen, wenigstens einen ersten, noch so kleinen Schritt zur Lösung unseres Problems zu tun, idealerweise so, dass wir unsere Gedanken wenigstens für einen Moment auf das konzentrieren, was wir wirklich wollen, was wirklich unseren Zielen dient und was uns Erfolg bringen kann. Dies kann ein erster Schritt zur Erledigung unseres Tagesgeschäfts sein oder zum Verbringen unserer Zeit mit etwas, das wir wirklich sinnvoll finden.
TIPP: Deprimierte Verstimmungen aufhellen
Bei deprimierter Verstimmung, Lustlosigkeit, Mutlosigkeit usw. fällt es uns oft schwer zu erkennen, was wir wirklich wollen, was wirklich unseren Zielen dient und was uns Erfolg bringen kann. Nutzen Sie deswegen folgende zwei Tricks: Zur Aufhebung der emotionalen Sogwirkungen, also um den Einfluss negativer Stimmungen auf Ihre Gedanken zu unterbrechen, hören Sie Musik, machen Sie selbst Musik, singen Sie oder tanzen Sie. Wählen Sie dabei Musik, die derjenigen Stimmung entspricht, in die Sie kommen möchten (nicht derjenigen, in der Sie sich gerade befinden). Haben Sie auch hier einen Zettel parat, auf dem Sie (in einer Situation, in der es Ihnen gut ging) zur Erinnerung aufgeschrieben haben, welche Tätigkeiten Sie wirklich sinnvoll finden und was Ihre Stärken sind. Nutzen Sie Musik, die in solchen Situationen funktioniert, beim nächsten Mal wieder, und sortieren Sie Musik aus, mit der es nicht funktioniert. Probieren Sie auch hier aus, zu festgelegten Zeitpunkten des Tages (etwa morgens, mittags und abends jeweils drei bis fünf Minuten) mit positiver Musik eine positive Grundstimmung zu halten. Sie können dies morgens mit dem »Morgen-Tanzen« beginnen (siehe Kapitel Morgen-Tanzen). Wenn sie wiederholt unter negativen (beispielsweise depressiven) Verstimmungen leiden, fragen Sie einen klinischen Psychologen oder Arzt um Rat (siehe auch Kapitel Musik und Depression).
Abgesehen davon, dass häufige negative Emotionen und negative Stimmungen unsere Lebensqualität beeinträchtigen, sind sie schädlich für unsere Gesundheit. Metaanalysen zeigen, dass depressive Verstimmungen und Depression das Immunsystem stören bzw. schwächen und zu einem erhöhten Risiko für koronare Herzkrankheiten führen.7 Ein solches wurde auch bei Personen festgestellt, die dazu neigen, sich zu ärgern, mit anderen Menschen feindselig umzugehen, sich Sorgen zu machen oder ängstlich zu sein.8 Sich zu ärgern ist also durchaus keine gesunde emotionale Reaktion, wie viele meinen. Negative Stimmungen und chronischer psychischer Stress stören und schwächen das Immunsystem und damit Heilungsprozesse, etwa die Abwehr von Infektionen, Entzündungsreaktionen und Wundheilung. So begünstigen wir die Entstehung von Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs oder chronische Erkrankungen des Immunsystems und Alterungsprozesse wie Osteoporose oder Alzheimer-Demenz.
Die Zusammenhänge zwischen negativen Stimmungen bzw. chronischem psychischen Stress und immunologischen Prozessen sowie mit den damit zusammenhängenden Krankheiten werden durch die Psychoneuroimmunologie erforscht. Ronald Glaser und Janice Kiecolt-Glaser berichten davon in zahlreichen Publikationen: Unsere negativen Stimmungen machen uns krank und führen dazu, dass wir kürzer leben.9 Positive Stimmungen hingegen sind wichtig für unsere Gesundheit – und der beste Jungbrunnen.
Ironischerweise sind negative Bewertungen (und damit negative Emotionen und Stimmungen) in den meisten Fällen überflüssig und nutzlos. Es ist zwar unser Menschenrecht, glücklich zu werden – jedoch torpedieren wir gerade dieses Recht meist selbst mit unseren negativen Bewertungen und Emotionen.
TIPP: Dinge leicht nehmen mit Musik
Das nächste Mal, wenn Ihnen etwas Frustrierendes widerfährt, können Sie es ja einmal ausprobieren: Machen Sie Musik an (um die emotionale Sogwirkung zu neutralisieren), atmen Sie durch und entspannen Sie dabei, finden Sie wenigstens einen positiven Aspekt in der Situation (es gibt immer einen), überlegen Sie, was Sie vielleicht aus dem Geschehenen lernen können, was Sie möglicherweise ändern können, oder denken Sie daran, was Ihnen trotz eines Verlustes noch geblieben ist. Fahren Sie dann fort mit Ihrem Tag und verschwenden Sie möglichst wenige Gedanken an das Vorgefallene. Geben Sie niemals auf und fangen Sie mit Kleinigkeiten an, damit geht es leichter. Nutzen Sie Musikstücke, mit denen dies gut funktionierte, beim nächsten Mal wieder. So verbindet Ihr Gehirn die Musik mit erfolgreicher Emotionsregulation. Je mehr Übung Sie bekommen, desto leichter wird es Ihnen fallen, auch mit »Großigkeiten« so umzugehen. Mit jedem Mal, dass Ihnen dies gelingt, sinkt beispielsweise Ihr Herzinfarktrisiko. Falls Sie ein schweres traumatisches Erlebnis hatten, schämen Sie sich nicht, professionelle Hilfe zu suchen, entweder bei einem Arzt, einem klinischen Psychologen oder einem Musiktherapeuten.
Bisher ging es um Bewertungen als Reaktion auf ein Ereignis. Außerdem können wir kurioserweise Bewertungen bereits vor einem Ereignis anstellen: Es sind die Vor-Urteile, also Bewertungen, bei denen wir vorher schon wissen, wie etwas werden wird – und siehe da, in den meisten Fällen erfüllt sich diese Prophezeiung dann auch. Allerdings allein deshalb, weil eine bereits vorher festgelegte Bewertung eben zu einer bestimmten Emotion führt, selbst dann, wenn diese Bewertung irrtümlich ist.
Frank-Michael Erben (Konzertmeister des Leipziger Gewandhausorchesters), Zhi-Jiong Wang und ich spielten vor einigen Jahren nacheinander sechs Solisteninstrumente der Oberklasse (einschließlich alter italienischer Meistergeigen) und neue Geigen der Firma NewStrad aus dem Erzgebirge. Bei den meisten Instrumenten wussten wir nicht, um welche Geigen es sich handelt. Mit dabei war ein Fernsehteam von nano, im Publikum saßen mehrere Profimusiker und Sounddesigner, die den Klang der Geigen einstuften. Das Ergebnis überrascht: Die besten Ergebnisse wurden nicht von den alten Meistergeigen erzielt, sondern von neuen Hightech-Geigen. Dr. Blutner, Geschäftsführer von NewStrad, sagte mir dazu: »Das ist nicht das erste Mal. Wir haben ähnliche Tests auch schon mit einem Vorhang durchgeführt, sodass das Publikum die Geigen nicht sehen konnte, und sind zu demselben Ergebnis gekommen. Sogar dann, wenn wir neue Geigen mit einer Stradivari verglichen haben oder wenn den Geigern die Augen verbunden wurden und sie mit dünnen Handschuhen gespielt haben, damit sie nicht am Aussehen oder an der Haptik erkennen konnten, um welches Instrument es sich handelt.«
Ganz ähnliche Ergebnisse wurden in einer Studie veröffentlicht, in der professionelle Geiger im Blindtest neue Geigen gegenüber Geigen von Stradivari und Guaneri bevorzugten. Die Autoren der Studie kamen zu dem Schluss, dass das »Geheimnis der Stradivaris« ein Mythos sei und Musiker/-innen mehr damit gedient sei, herauszufinden, welche Eigenschaften sie an Instrumenten bevorzugen und welche Instrumente messbar am besten diesen Eigenschaften entsprechen – unabhängig davon, ob sie alt oder neu seien. Deswegen spiele ich selber eine Violine von NewStrad.10
Allein der Glaube an den Mythos, also der Glaube daran, dass jede Stradivari »uneinholbar gut« klinge, führt dazu, dass eine Stradivari subjektiv dann tatsächlich besser klingt. Es ist wie mit Wein: Wenn man an die Spitzenqualität eines teuren Weins glaubt, schmeckt er subjektiv auch tatsächlich besser. Dies wurde in einer Studie nachgewiesen, in der Versuchspersonen Wein gekostet haben. Dabei wurde ihnen gesagt, dass er entweder viel oder wenig koste – tatsächlich war es jedoch derselbe Wein. Die Versuchsteilnehmer berichteten nicht nur, dass der teure Wein deutlich besser geschmeckt habe, sondern per Hirnscanner wurden bei ihnen im »Orbitofrontalkortex« (dem »Unterbewussten«) auch tatsächlich stärkere Aktivierungen gemessen (was mit Bewertungs- und Belohnungsprozessen in dieser Hirnregion zusammenhängt).11 Dies zeigt, dass für unterbewusste Bewertungen und damit zusammenhängende Emotionen gar nicht ausschlaggebend ist, was wir tatsächlich mit unseren Sinnen wahrnehmen, sondern wie das, was wir wahrnehmen, von unserem Gehirn bewertet wird. Werden diese Bewertungen oder Vor-Urteile bereits vor einer Wahrnehmung getroffen, beeinflusst dies ebendiese Wahrnehmung und deren emotionale Folgen.
Ich finde die Ergebnisse dieser Experimente deswegen so bemerkenswert, weil sie uns vor Augen halten, dass Emotionen auf irrtümlichen Bewertungen und Meinungen basieren können. Leider sind wir uns fast nie darüber bewusst – unser Gehirn produziert Bewertungen oder Meinungen, selbst wenn sie irrtümlich sind, stets gemeinsam mit der gewähnten Eigenschaft, wahr zu sein. So bestätigen sich unsere Erwartungen, Bewertungen, Vorurteile und Meinungen wie von selbst, ohne dass wir darüber nachdenken müssten. Leider stellen wir uns oft selber ein Bein, wenn wir unsere irrtümlichen unbewussten Erwartungen, Bewertungen, Vorurteile oder Meinungen zu ernst nehmen. Wer vorher schon weiß, dass etwas schrecklich werden wird, trägt bereits allein durch diesen Glauben dazu bei, dass es dann tatsächlich so wird.
Bewertungen von Informationen des Hörsinns können sich sogar auf andere Sinne übertragen: Experimente von Sounddesignern haben gezeigt, dass der Klang eines Lebensmittels den Geschmack beeinflusst. Die Knackwurst mundet besser, wenn sie beim Reinbeißen richtig schön knackt, die Kartoffelchips schmeicheln dem Gaumen besonders gut, wenn sie besonders knusprig klingen, und das Bier schmeckt erfrischender, wenn der Flasche nach dem Öffnen das vertraute »Pssssshhh« entweicht. Ähnlich werden Produkte, die sich gut anhören, hinsichtlich ihrer Funktion besser bewertet. Deswegen tun Sounddesigner dasjenige mit Klängen, was andere Designer mit dem Aussehen tun: Sie sorgen dafür, dass Produkte angenehm klingen. Staubsauger, Küchengeräte, Knöpfe von Stereoanlagen, Parfümflakons, Deosprays – alle Klänge oder Geräusche, die ein Produkt hervorbringt, können gestaltet werden. Die dadurch erzielten Bewertungen des Produkts sind vielen Kunden zwar nicht bewusst, jedoch legen einige ganz bewusst Wert auf den angenehmen Klang eines Produkts. Der Krach einiger billiger Staubsauger zermürbt einen ja auch mehr als die eigentliche Hausarbeit …