Das Buch

Die junge Amerikanerin Nora O’Brien kam der Liebe wegen nach Edinburgh – und um ihren großen Traum zu verfolgen. Drei Jahre später ist ihr nichts davon geblieben, außer Schuldgefühlen und großer Trauer. Bis Aidan Lennox in ihr Leben tritt: gutaussehend, gebildet und sexy as hell. Beide haben schwere Verluste hinter sich und suchen Leichtigkeit, Liebe und Leidenschaft. Aber dann schlägt das Schicksal erneut zu, und Aidan verschwindet einfach. Nora fällt in ein tiefes Loch. Um sich daraus zu befreien, beschließt sie, endlich ihren Traum wahr zu machen: Sie studiert und spielt Theater. Jeden Gedanken an Aidan verbietet sie sich. Doch dann taucht Aidan plötzlich wieder auf …

Die Autorin

Samantha Young wurde 1986 in Stirlingshire, Schottland, geboren. Seit ihrem Abschluss an der University of Edinburgh arbeitet sie als freie Autorin und hat bereits mehrere Jugendbuchserien geschrieben. Mit ihrer ersten Serie für Erwachsene, den Edinburgh Love Stories, wurde sie zur internationalen Bestsellerautorin.

Homepage der Autorin: authorsamanthayoung.com

Von Samantha Young sind in unserem Hause bereits erschienen:

Dublin Street – Gefährliche Sehnsucht • London Road – Geheime Leidenschaft • Jamaica Lane – Heimliche Liebe • India Place – Wilde Träume • Scotland Street – Sinnliches Versprechen • Nightingale Way – Romantische Nächte • Fountain Bridge – Verbotene Küsse (E-Book) • Castle Hill – Stürmische Überraschung (E-Book) • Valentine – Tag der Liebenden (E-Book) • King’s Way – Verlockende Berührung (E-Book)

Stars Over Castle Hill – Schicksalhafte Begegnung (E-Book)

Hero – Ein Mann zum Verlieben

Into the Deep – Herzgeflüster • Out of the Shallows – Herzsplitter

The Real Thing – Länger als eine Nacht • Every Little Thing –
Mehr als nur ein Sommer

SAMANTHA YOUNG

play on

Dunkles Spiel

Roman

Aus dem Englischen von Nina Bader

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1719-9

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
© 2017 by Samantha Young
All rights reserved including the right of reproduction
in whole or in part in any form.
Titel der englischen Originalausgabe: Play On
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München,
nach einer Vorlage von Hang Le
Titelabbildung: © Hang Le

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Buch ist für meine Familie und meine Freunde, weil sie mir meine Abwesenheit und Zerstreutheit verziehen haben, während ich Aidans und Noras Geschichte durchlebt und durchlitten habe, und weil sie mich ermutigt haben, meine Träume zu verwirklichen. Wie Nora ist auch mir klar, wie wichtig diese Unterstützung ist, und ich bin jeden Tag dankbar dafür.

Erster Teil

Prolog

Edinburgh, Schottland

Oktober 2015

Die Mutter meiner besten Freundin sagte einmal zu mir: »Man sollte doch meinen, dass der Mensch nach unzähligen Schicksalsschlägen nicht mehr imstande ist, noch mehr Kummer zu verkraften. Aber unsere Herzen haben eine nicht zu unterschätzende Leidensfähigkeit.«

Da sie einer der tapfersten Menschen war, die ich kannte, blieben mir ihre Worte im Gedächtnis, als ich älter wurde. Und ich fand heraus, dass sie recht hatte. Unvorstellbar, wie viel Verlust und Schmerz man aushalten kann.

Doch niemand hat etwas von Schuld und Reue erwähnt, und wie sehr diese Gefühle dich noch lange quälen können.

Ich wollte mich nicht quälen lassen. Niemand möchte das. Also ignorierte ich sie und konzentrierte mich voll und ganz auf meinen Job. Nicht auf den Job als Verkäuferin in einer schicken Modeboutique in Old Town. Der diente nur dazu, meine Rechnungen bezahlen zu können, und das auch nur gerade so eben. Weswegen ich auch zu spät dran war, denn ich hatte heute Überstunden gemacht. Ich machte so viele Überstunden wie möglich, vorausgesetzt, mein anderer Job litt nicht darunter.

Es war eigentlich kein richtiger Job. Es war viel mehr als das.

»Nora, kannst du bitte einer Kundin behilflich sein?« Leah spähte in das Kabuff, das wir als Personalraum bezeichneten. »Wo willst du denn hin?«

Ich schulterte meinen Rucksack und drängte mich an ihr vorbei. »Vergiss nicht, dass ich heute um zwölf Uhr Schluss mache. Jetzt ist es schon fünf nach.«

»Aber Amy ist noch nicht da.«

»Tut mir leid. Ich muss ins Krankenhaus.«

Sie riss die Augen auf. »Oh? Was ist denn passiert?«

Das Leben war passiert.

»Äh … entschuldigen Sie.« Ein sichtlich angesäuertes Mädchen stand an der Theke. »Könnte mir vielleicht jemand weiterhelfen?«

Leah wandte sich ab, um die Kundin zu bedienen, und ich nutzte die Gelegenheit, aus dem Laden zu stürmen, ohne irgendwelche Erklärungen abgeben zu müssen. Ich wusste, dass meine Chefin vermutlich bereute, mich eingestellt zu haben. Sie beschäftigte zwei Amerikanerinnen: Amy und mich. Nur eine wurde dem Ruf der Angehörigen unserer Nation gerecht, freundlich und extrovertiert zu sein.

Ratet mal, welche.

Es ist nicht so, als wäre ich nicht gut in meinem Job oder sogar unfreundlich. Ich vertraue meinen persönlichen Scheiß nur nicht Menschen an, die ich gar nicht richtig kenne, und Amy und Leah schienen nichts dabei zu finden, sich von ihrer Lieblingsfarbe bis hin zu der Fähigkeit ihrer Partner, ihnen freitagnachts einen Orgasmus zu verschaffen, einfach alles zu erzählen.

Als ich über die alte Kopfsteinpflasterstraße Royal Mile den Hügel hinaufeilte, nahm meine Nervosität mit jedem Schritt zu. Es war albern, weil die Kids alle da sein würden, wenn ich kam, aber ich hasste die Vorstellung, mich zu verspäten. In all den Wochen war ich kein einziges Mal zu spät gekommen. Und ich musste mich noch umziehen, bevor eines der Kinder mich zu Gesicht bekam.

Man nannte Edinburgh die windige Stadt, und heute – wo es mir so vorkam, als würde sie ihre geballten Kräfte gegen mich einsetzen – machte sie ihrem Namen alle Ehre. Ich stemmte mich dem Wind entgegen und spürte seinen eisigen Widerstand. Meine etwas wunderliche Seite fragte sich, ob die Stadt mir etwas mitzuteilen versuchte. Würde ich irgendwann in der Zukunft auf diesen Tag zurückblicken und mir wünschen, ich hätte auf sie gehört und wäre umgekehrt? So schräge Gedanken kamen mir in letzter Zeit oft in den Sinn. Mein Leben spielte sich in meinem Kopf ab.

Nur an einem Tag der Woche nicht.

Heute.

Der heutige Tag gehörte ihnen.

Ich beeilte mich so sehr, dass ich einen normalerweise zwanzigminütigen Fußmarsch auf eine Viertelstunde reduzierte. Ohne den verdammten Wind wäre es noch schneller gegangen. Ich blieb abrupt stehen, als ich das Krankenhaus erreichte, und die Schwestern blickten überrascht auf, als ich verschwitzt und außer Atem im Schwesternzimmer erschien.

»Hey«, schnaufte ich.

Jan und Trish grinsten mich an. »Wir wussten nicht, ob du heute kommst«, sagte Jan.

Ich erwiderte ihr Lächeln. »Nur Krankheit oder Tod könnten mich daran hindern.«

Sie begriff, was ich meinte, kicherte und ging um den Tisch herum. »Sie sind alle im Gemeinschaftsraum.«

»Wo kann ich mich umziehen, bevor sie mich sehen?«

Sie schüttelte belustigt den Kopf. »Es würde sie nicht stören.«

»Ich weiß.« Ich zuckte die Achseln.

»Alison ist im Gemeinschaftsraum, also dürfte ihr Privatbad frei sein.« Sie deutete den Gang hinunter in die entgegengesetzte Richtung zum Gemeinschaftsraum.

»Danke. Ich brauche nur zwei Minuten«, versprach ich.

»Sie sind schon da. Beide«, sagte Jan.

Ich nickte erleichtert und hastete durch Alys leeres Privatzimmer zu ihrem Bad und schlug die Tür hinter mir zu.

Als ich meinen Pulli und meine Jeans abstreifte, begann in meinem Bauch ein leises Summen freudiger Erregung einzusetzen, so wie immer, wenn ich hier bei ihnen war. Und es ging nur um sie.

Wirklich.

»Ausschließlich«, zischte ich mir selbst zu.

Ich zog meine grünen Leggings und mein Hemd an und wollte das Hemd gerade zuknöpfen, als die Badezimmertür plötzlich aufgerissen wurde.

Jegliche Luft wich aus meinen Lungen, als ich erstarrte und in seine mir so vertrauten Augen blickte, die nun auf mich hinunterstarrten.

Er war so groß und seine Schultern so breit, dass er fast den ganzen Türrahmen ausfüllte.

Ich versuchte, den Mund zu öffnen und ihn zu fragen, was er sich eigentlich einbildete, als sein Blick von meinen Augen zu meinen Lippen und dann weiter nach unten wanderte. Er musterte mich lange und gründlich von Kopf bis Fuß und wieder zurück. Seine Augen hefteten sich auf den Anblick meines BHs unter dem offenen Hemd, und als sie endlich zu meinem Gesicht zurückkehrten, loderten sie vor Glut.

Sein Gesichtsausdruck verriet Entschlossenheit.

Eine Mischung aus Furcht, Erregung und Nervosität durchströmte mich und löste mich endlich aus meiner Erstarrung, als er ins Bad kam und die Tür hinter sich schloss.

»Was soll das denn?« Ich taumelte gegen die Wand hinter mir.

Ein erheiterter Funke tanzte in seinen Augen, als er sich langsam, auf eine fast raubtierhafte Weise, näher an mich heranpirschte. »Ich finde, dass Peter Pan noch nie so sexy ausgesehen hat.«

Dummerweise hatte ich eine Schwäche für einen schottischen Akzent.

Logisch, sonst wäre ich ja nicht hier gelandet, so weit weg von zu Hause.

Aber vor allem kam ich allmählich zu dem Schluss, dass er eine Schwäche für mich hatte. »Nicht.« Ich hob eine Hand, um ihn aufzuhalten, aber er stemmte seine Brust dagegen und bedeckte meine Hand mit seiner. Ich staunte darüber, wie klein meine im Vergleich dazu wirkte, und ein Schauer lief meinen Rücken hinunter und über meine Brüste. Mir stockte der Atem, als er noch ein paar Schritte auf mich zukam, bis kaum noch Abstand zwischen uns war. Er war so groß und ich so klein, dass ich den Kopf in den Nacken legen musste, um ihm in die Augen sehen zu können.

Sie glühten. Sie glühten wie ich es noch nie zuvor bei einem Mann gesehen hatte.

Wie sollte ich da widerstehen können?

Und doch wusste ich, dass ich widerstehen musste, also funkelte ich ihn finster an. »Du solltest gehen.«

Als Antwort presste er seinen Körper gegen meinen, woraufhin mich ein Hitzestrahl durchzuckte. Mein Unterleib zog sich vor Erregung zusammen, zwischen meinen Beinen setzte ein Kribbeln ein, und meine Brustwarzen verhärteten sich.

Voller Wut auf meinen Körper und auf ihn versuchte ich ihn wegzuschieben, aber genauso gut hätte ich versuchen können, eine Betonmauer zu verrücken. »Das ist absolut unpassend«, fauchte ich.

Er hielt meine Hände fest, um meinen fruchtlosen Abwehrbemühungen Einhalt zu gebieten, und fixierte sie sacht, aber wirksam über meinem Kopf. Mein Brustkorb prallte gegen seinen, und ich rang nach Luft, als meine Brüste anschwollen.

Er neigte seinen Kopf zu mir. Seine Augen hatten sich wissend und zielstrebig verdunkelt.

»Lass das.« Ich schüttelte den Kopf; ich verabscheute den schneidenden Unterton in meiner Stimme, aber sprach trotzdem weiter: »Ich spiele dein Höhlenmenschspiel nicht mit.«

Seine Lippen zuckten. »Zu schade. Versagst du dir oft das, was du willst?«

»Nein, aber ich denke mit meinem Kopf, nicht mit meiner Vagina.«

Er lachte. Sein warmer Atem streifte meine Lippen.

Ich liebte es, wenn er lachte. Ich liebte es, wenn ich ihn zum Lachen brachte. Er brauchte das Lachen mehr als alles andere. Der Klang elektrisierte mich, bewirkte, dass sich mein Bauch vor Wonne verkrampfte. Und ich erkannte, dass mich nicht nur mein Körper verriet, sondern auch mein Herz.

Als hätte er diesen Gedanken in meinen Augen gelesen, gab er eine meiner Hände frei, so dass er kühle Finger über meinem Herzen auf meine Brust legen konnte. Das schwindelerregende Gefühl, so intim berührt zu werden, entlockte mir ein leises Keuchen. »Hast du je erwogen, damit zu denken?«, fragte er.

»Soweit es mir bekannt ist, denkt meine linke Brust nicht viel nach«, wich ich aus.

Er grinste. »Du weißt, was ich meine, Pixie.«

»Nenn mich nicht so.«

Sein Gesichtsausdruck wurde nachdenklich. »Ich dachte, wir wären Freunde.«

»Waren wir auch. Aber dann hast du mich gegen eine Badezimmerwand gedrängt.«

»Danke für die Erinnerung.« Er griff erneut nach meiner freien Hand und presste sie zusammen mit der anderen gegen die Wand. Angesichts des in meinen Augen aufblitzenden Zorns meinte er: »Wenn du deswegen wirklich sauer wärst, würdest du dich wehren.«

Ich lief rot an. »Das würde mir nichts nützen. Du bist ein Riese.«

»Ich würde dich gehen lassen. Das weißt du. Alles andere als gerne, aber ich würde dich gehen lassen … wenn du das hier nicht wolltest.«

Wir sahen uns stumm an. Sein Gesicht war meinem so nah, dass ich die kleinen gelbgoldenen Flecken in seinen grünen Augen erkennen konnte.

In solchen Momenten vergaß ich, wo ich war. Wer ich war. Und was ich um seinetwillen tun musste.

Und ich merkte noch nicht einmal, wie sehr es mich zu ihm hinzog, bis er es mir in Erinnerung rief. »Warum kämpfst du dagegen an?«

Warum kämpfte ich eigentlich schon wieder dagegen an?

»Nora?«

Ich schloss die Augen und blendete ihn aus, was es der Erinnerung daran, warum ich gegen ihn ankämpfte, erlaubte, sich wieder in mein Gedächtnis zu schleichen. »Weil …«

Sein Mund senkte sich auf meinen und brachte mich so zum Schweigen. Überraschung schlug in Instinkt um. Ich erwiderte seinen Kuss, umspielte seine Zunge mit meiner und versuchte meine Hände aus seinem Griff zu befreien, aber nicht, um mich von ihm loszumachen, sondern um die Arme um ihn zu schlingen. Und mit den Fingern durch sein Haar zu fahren.

Hitze wallte in mir auf, als wäre ich mit Öl übergossen worden und er hätte zu meinen Füßen ein Feuer entzündet. Es flammte auf wie ein Blitz, bis ich von lodernder Glut umgeben war.

Zu heiß. Zu gierig. Zu alles.

Ich wollte mir die Kleider vom Leib reißen.

Ich wollte ihm die Kleider vom Leib reißen.

Und dann beendete er den Kuss, wich ein Stück zurück und starrte mich triumphierend an.

Wenn er irgendein anderer gewesen wäre, wenn es irgendein anderer Moment gewesen wäre, dann hätte ich ihn wegen seiner Selbstgefälligkeit herausgefordert.

Stattdessen erinnerte ich mich genau daran, warum wir das nicht tun sollten.

Was auch immer er in meinem Gesicht las, es bewog ihn dazu, den Griff um meine Handgelenke zu lockern. Ich ließ sie sinken, aber er blieb, wo er war.

Er wartete, während seine Hände behutsam auf meinen Schultern ruhten.

Irgendetwas in seinen Augen ließ meine Abwehr erlahmen. Zärtlichkeit stieg in mir auf, und ich strich ihm über die Wange, spürte, wie seine Bartstoppeln an meiner Haut kratzten. Traurigkeit löschte das Feuer aus. »Sie ist fort«, sagte ich leise zu ihm. »Noch nicht einmal ich kann dich davon ablenken.«

Unerträgliche, nackte Qual rang mit dem Verlangen in seinen Augen, und er ließ die Hände langsam von meinen Schultern und zu meiner Taille hinuntergleiten. Ein sachtes Ziehen, und ich kippte gegen ihn und klammerte mich an seiner Brust fest.

Mit seinen nächsten Worten, die voller Qual waren, traf er mich mitten ins Herz. »Aber du kannst es versuchen.«

Kapitel 1

Donovan, Indiana

Juli 2011

Eigentlich wollte ich nicht nach Hause. Der Geruch von Fastfood klebte an mir, und ich befürchtete, dass ich ihn nie mehr von meiner Haut und aus meinen Haaren bekommen würde. Und trotzdem wollte ich immer noch nicht nach Hause. »Schönen Tag noch«, sagte ich zu meinen letzten Kunden, als ich ihnen ihre Burger und Fritten reichte.

Dann trat ich ein paar Schritte von der Theke zurück, was Mollys Blick auf mich lenkte. Sie stand am Getränkespender und füllte einen Riesenbecher mit Limo. Sie schnitt eine Grimasse. »Warum habe ich mich bloß auf Überstunden eingelassen?«

Ich grinste sie spöttisch an. »Ich springe für dich ein!«, hätte ich am liebsten gerufen: Stattdessen erinnerte ich sie an den Grund ihrer Überstunden: »Weil du sparst, um Laurie ihre Schrottkarre abzukaufen.«

»Ach ja. Große Träume.«

Ich kicherte. »Größer als meine. Ich schleppe meinen Hintern immer noch darauf herum.« Ich zeigte auf meine Beine.

»Yeah, und deswegen wird dieser Hintern auch den Gesetzen der Schwerkraft trotzen.«

»Er trotzt den Gesetzen der Schwerkraft?« Ich schielte hinter mich. »Ehrlich? Und ich dachte, er wäre gar nicht vorhanden.«

Molly grinste. »Oh nein, du hast einen Hintern. Er ist so niedlich wie der Rest von dir. Ein süßer kleiner herzförmiger Knackarsch.«

»Du schenkst meinem Hinterteil entschieden zu viel Aufmerksamkeit.«

»Das nennt man vergleichen und gegenüberstellen«, widersprach sie, dabei deutete sie auf ihre eigene Kehrseite. »Dein ganzes Hinterteil würde in eine meiner Pobacken passen.«

»Äh … könnte ich jetzt vielleicht bestellen?«

Wir blickten zu ihrem Kunden hinüber, einem mürrischen Erstsemester, der uns anstarrte, als wären wir unter einem Stein hervorgekrochen.

»Wir sehen uns morgen«, sagte ich zu Molly, doch bevor ich um die Ecke verschwand, lehnte ich mich zurück und rief ihr zu: »Oh, und ich könnte für deinen Hintern sterben. Und für deinen Vorbau auch. Nur, damit du es weißt.«

Meine Freundin strahlte mich an, und ich ging in der Hoffnung, ihr eine Freude gemacht zu haben, in den Umkleideraum. Molly war eine Granate, machte sich aber entschieden zu viele Gedanken über ihr Gewicht.

Als ich meine Sachen aus einem der Spinde im hinteren Teil des Gebäudes holte, versuchte ich mein Schuldgefühl abzuschütteln, das mich plagte, weil ich lieber weiter Fritten servieren als nach Hause gehen wollte. Es sagte viel aus. Über mich oder über mein Leben, da war ich mir nicht sicher. Ich war mir noch nicht einmal sicher, ob es da einen Unterschied gab.

In Teilzeit in einem Fastfoodrestaurant zu arbeiten war nicht das, was ich mir nach meinem Schulabschluss vom Leben erträumt hatte. Aber ich hatte gewusst, dass etwas in der Art auf mich zukam. Während alle anderen ein Collegestudium oder Reisen planten, gehörte ich zu den wenigen, für die das alles nicht in Frage kam. Achtzehn Jahre alt, und schon in einer Falle gefangen.

Meine beste Freundin war Molly. Sie verschaffte mir diesen Job, weil sie die letzten zwei Jahre an den Wochenenden hier gearbeitet hatte. Jetzt war sie in Vollzeit beschäftigt. Obwohl sie Witze darüber gerissen hatte, hatte Molly nie große Träume gehabt. Ich wusste nicht, ob das einfach nicht ihr Ding war oder ob sie zu träge war oder was, ich wusste nur, dass meine Freundin die Schule hasste. Sie schien damit zufrieden zu sein, in dem Fastfoodladen zu arbeiten und zu Hause zu wohnen, weil sie nie einen Gedanken an die Zukunft verschwendete. Sie lebte ausschließlich im Hier und Jetzt.

Ich jedoch dachte ständig über die Zukunft nach.

Ich hatte gerne die Schule besucht.

Ich war hier nicht zufrieden.

Ein Gefühl von Klaustrophobie überkam mich, aber ich verdrängte es. Manchmal kam es mir so vor, als würden fünfzig Leute auf meiner Brust sitzen und sich über mich lustig machen. Ich kämpfte dagegen an und griff nach meiner Tasche.

Zeit, nach Hause zu gehen.

Ich rief Molly ein Tschüss zu, als ich den vorderen Teil des Restaurants durchquerte, und zuckte innerlich zusammen, als ich Stacey Dewitte mit ein paar Freundinnen am Tisch in der Nähe der Tür sitzen sah. Sie musterte mich mit schmalen Augen, woraufhin ich den Blick abwandte. Meine Nachbarin war ein paar Jahre jünger als ich und hatte sich früher einmal der Illusion hingegeben, ich wäre jemand anderes. Ich weiß nicht, wer enttäuschter darüber war, dass ich in dem Fastfoodrestaurant arbeitete: Stacey oder ich.

Da ich diesen Tag unbedingt hinter mich bringen musste, stieß ich die Tür auf. Die beiden Typen, die draußen herumlungerten und spielerisch miteinander rangen, bemerkte ich zunächst nicht.

Bis einer den anderen anrempelte und der mit solcher Wucht gegen mich prallte, dass ich unsanft auf der staubigen Straße landete.

Ich war so überrascht, mich auf dem Boden wiederzufinden, dass es einen Moment dauerte, bis der Schmerz einsetzte und ich das Stechen in meinem linken Knie und das Brennen in meinen Handflächen spürte.

Plötzlich war ich von Lärm, von fremdartigen Geräuschen umgeben.

»Oh Scheiße, tut mir echt leid.«

»Alles in Ordnung, Mädel?«

»Komm, ich helf dir hoch.«

»Lass das, ich mach das, du Depp.«

Eine kräftige Hand umschloss meinen Bizeps, und ich wurde behutsam auf die Füße gezogen. Ich blickte zu dem Typen auf, der mich festhielt; die Freundlichkeit und Sorge in seinen dunklen Augen zogen mich in seinen Bann. Er wirkte nicht viel älter als ich – hochgewachsen und mit dem drahtigen, schlaksigen Körperbau der Jugend.

»Hier ist deine Tasche. Tut mir wirklich leid.« Der andere junge Mann reichte mir meine Handtasche.

Da ich seine Worte zwar verstand, mich aber die Art, wie er sie aussprach, verwirrte, platzte ich heraus: »Wie bitte?«

»Sprich anständig. Sie kann dich nicht verstehen.« Der, der meinen Arm hielt, stieß seinen Freund an. Dann wandte er sich wieder zu mir. »Bist du okay?«

Seine Worte klangen jetzt bedächtiger, langsamer und betonter. Ich löste mich sacht aus seinem Griff und nickte. »Yeah.«

»Es war echt keine Absicht.«

»Das ist schon angekommen. Keine Sorge. Eine Schramme am Knie wird mich nicht umbringen.«

Er zuckte zusammen und blickte auf mein Knie hinunter. Meine Arbeitshosen waren staubig und schmutzig. »Mist.« Als er den Kopf hob, sah ich ihm an, dass er sich schon wieder entschuldigen wollte.

»Schon gut.« Ich lächelte. »Mir fehlt wirklich nichts.«

Er lächelte zurück, ein wenig schief und sehr anziehend. »Jim.« Er streckte mir eine Hand hin. »Jim McAlister.«

»Seid ihr Schotten?«, fragte ich, als ich seine schwielige Hand schüttelte. Die Vorstellung gefiel mir.

»Aye.« Sein Freund reichte mir ebenfalls die Hand. »Roddy Livingston.«

»Ich bin Nora O’Brien.«

»Irisch-Amerikanerin?« Jims Augen funkelten vor Belustigung. »Weißt du, du gehörst zu den ganz wenigen Menschen in Amerika, denen wir begegnet sind, die erraten haben, woher wir kommen. Wir sind für …«

»Iren gehalten worden«, mischte sich Roddy ein. »Und für Engländer. Und vergiss die Schweden nicht. Das war der absolute Hammer.«

»Ich entschuldige mich für meine Landsleute«, witzelte ich. »Ich hoffe, wir haben euch nicht allzu sehr gekränkt?«

Jim grinste mich an. »Überhaupt nicht. Woher wusstest du, dass wir Schotten sind?«

»Ein Schuss ins Blaue«, gestand ich. »Wir haben in unserer kleinen Stadt nicht oft Touristen aus Europa.«

»Wir sind auf einem Roadtrip«, erklärte Roddy. Er hatte dichte, wellige, rötlichbraune Haare und war größer als ich (wie die meisten Menschen), aber kleiner als sein Freund.

Während Roddy mittelgroß, aber stämmig gebaut war, war Jim hochgewachsen, hatte die Statur eines Schwimmers, sonnengebräunte Haut, dunkles Haar und dunkelbraune Augen mit dichten Wimpern.

Und er musterte mich eindringlich, während sein Freund erzählte, wo sie bislang überall schon gewesen waren. Ich errötete unter seinem Blick, weil mir noch nie jemand solche Aufmerksamkeit geschenkt hatte, und schon gar kein attraktiver Schotte.

»Offen gestanden«, unterbrach Jim seinen Freund, als dieser sagte, sie würden morgen weiterfahren, »überlege ich, ob wir nicht noch ein bisschen länger bleiben sollten.« Er richtete die Worte an mich und schenkte mir dabei ein jungenhaftes Lächeln.

Flirtete er mit mir?

Roddy schnaubte. »Och, aye? Nach einer fünfminütigen Unterhaltung?«

»Aye.«

Fasziniert von der Vorstellung, dass ein Fremder seine Abreise aus Donovan verschieben könnte, um mich wiederzusehen, obwohl wir nur ein paar Worte miteinander gewechselt hatten, musste ich grinsen. Es war albern und abenteuerlich, es sprach mein insgeheim romantisches Naturell an, und es unterschied sich vollkommen von meinem sonstigen, eintönigen Leben. Vermutlich schlug ich deshalb jegliche Vorsicht in den Wind. »Wart ihr schon am See?«

Jims ganzes Gesicht hellte sich auf. »Nein. Willst du ihn mir zeigen?«

»Euch beiden.« Lachend erinnerte ich ihn daran, dass es seinen Freund auch noch gab. »Angelt ihr gerne?«

»Ich ja.« Roddy schien sich mit dem Gedanken, noch zu bleiben, plötzlich anzufreunden.

»Ich nicht. Aber wenn du dabei bist, spielt das keine Rolle.«

Völlig bezaubert errötete ich, und er machte einen Schritt auf mich zu, was mich erschreckte. Er wirkte gleichfalls überrascht, als hätte er keinen Einfluss auf die Bewegung gehabt.

»Fuck, wenn ich mir die ganze Zeit wie das fünfte Rad am Wagen vorkommen, dann danke, aber danke, nein.« Roddy schaltete auf stur.

Jims Blick verdunkelte sich, aber ehe er etwas sagen konnte, das vielleicht zu einem Streit geführt hätte, mischte ich mich ein. »Deinetwegen bin ich auf meinem Hintern gelandet«, erinnerte ich Roddy. »Du schuldest mir was.«

Er seufzte, doch sein Mundwinkel hob sich. »Also gut.«

»Ich muss nach Hause.« Widerstrebend wich ich einen Schritt zurück.

Jim verfolgte jede meiner Bewegungen, so dass ich mir wie ein gefangenes Reh vorkam. Er starrte mich mit absoluter Entschlossenheit an. Mit einem Mal wusste ich nicht, ob ich davon angetan oder auf der Hut sein sollte.

»Wo treffen wir uns?«

Meine Schicht begann erst am nächsten Nachmittag. Ich würde meine Eltern anlügen und behaupten, ich wäre zu Überstunden verdonnert worden. »Hier. Um neun Uhr morgen früh.«

»Neun Uhr morgens? Ich denke ja gar nicht …«

Jim presste seinem Freund eine Hand auf den Mund und grinste mich an. »Neun Uhr ist prima. Wir sehen uns morgen, Nora O’Brien.«

Ich nickte und machte auf dem Absatz kehrt. Mein Nacken prickelte, da ich seine Augen die ganze Zeit auf mir spürte. Ich ging in südlicher Richtung die Main Street hinunter, die ungefähr vier Meilen lang durch das Zentrum von Donovan verlief und die Stadt in Norden und Süden spaltete. Die meisten Geschäfte und Gewerbebetriebe lagen am Nordende, von Foster’s Tierklinik ganz an der Spitze hinter der Grundschule und der Highschool. In Donovan gab es viele kleinere Läden – Wilson’s Market, die Anwaltskanzlei Montgomery & Söhne, die Pizzeria – und dann waren da noch die Filialen größerer Ketten wie die Tankstelle, das kleine rotweiße Gebäude, in dem ich arbeitete, und so weiter. Die South Main war hauptsächlich Wohngebiet.

Ich ging die North Main hinunter und bog rechts in die West Sullivan ein, wo ich in einem kleinen einstöckigen Haus mit zwei Schlafzimmern wohnte, das ich nach Kräften in Ordnung zu halten versuchte, damit es einen gepflegten Eindruck machte. Vom Fastfoodrestaurant bis hierher brauchte man zu Fuß eine Viertelstunde, und als ich näherkam, seufzte ich, weil das Gras unseres winzigen Rasens schon wieder ein bisschen zu hoch stand. Unser Haus gehörte zu den kleinsten in der Nachbarschaft, die zumeist aus zweistöckigen Gebäuden mit hübschen Veranden bestand. Wir hatten keine Veranda. Das Haus war ein hellgrauer rechteckiger Kasten mit einem überhängenden Dach in einem dunkleren Grau. Die kleinen Fenster hatten aber zumindest schöne weiße Läden, die ich jedes Jahr frisch strich.

Obwohl es sich bei Donovan um die Art von Stadt handelte, in der alle Gebäude weit genug voneinander entfernt lagen, dass es Raum zum Atmen und viel Licht gab, bekam unser Haus wegen eines riesigen Baumes nicht viel davon ab. Durch mein Schlafzimmerfenster fiel kaum Licht.

»Du bist spät dran.« Meine Mom seufzte und schob sich an mir vorbei, als ich das Haus betrat. Ich sah zu, wie sie ihren Mantel von dem Haken an der Wand nahm und dabei so heftig daran zerrte, dass sich der Haken löste. Sie seufzte erneut und warf mir einen Blick zu. »Ich dachte, du wolltest das reparieren.«

»Das mache ich heute Abend.« Ich streifte meine Schuhe ab.

»Er hat gegessen und schaut sich jetzt das Spiel an.« Mom schlüpfte in ihren Mantel und dämpfte die Stimme. »Er hat eine Stinklaune.«

Wann hatte er mal keine Stinklaune? »Alles klar.«

»Im Kühlschrank stehen ein paar Reste.«

»Ich muss morgen Überstunden machen«, sagte ich, ehe sie gehen konnte.

Ihre Züge verhärteten sich. »Ich dachte, du würdest Überstunden ablehnen? Du wirst hier gebraucht.«

»Und wir brauchen diesen Job. Wenn ich keine Überstunden mache, suchen sie sich jemanden, der dazu bereit ist.« Ich log zum ersten Mal überhaupt. Dabei legte sich ein unangenehmer Schmerz auf meine Brust. Doch die Vorfreude darauf, hier wegzukommen und einen Jungen zu treffen, der mich ansah, als wäre ich etwas ganz Besonderes, war zu groß, als dass der Schmerz sie hätte besiegen können.

»Himmel«, schnappte Mom. »Ich habe zwei verdammte Jobs, Nora. Du weißt, dass ich keine Zeit habe, um hier zu bleiben.«

Ich biss mir auf die Lippe, und das Blut stieg mir in die Wangen. Ich fühlte mich furchtbar.

Aber nicht furchtbar genug.

»Also schön. Wir werden Dawn bitten müssen, ab und zu nach ihm zu sehen.« Dawn war unsere Nachbarin – eine nicht berufstätige Mutter, die uns des Öfteren einen Gefallen tat. »Du bist um sechs Uhr fertig?«

Ich nickte.

»Ich bin für diese Woche noch nicht für Überstunden eingeteilt, also werde ich morgen um zwei Uhr Schluss machen.«

»Was ist mit heute?« Mom arbeitete an fünf Abenden in der Woche als Barkeeperin bei Al’s und an fünf Tagen als Teilzeitkellnerin bei Geena’s.

»Ich bin um halb zwei zu Hause.«

Dad machte für gewöhnlich Theater, wenn sie zurückkam, was hieß, dass sie wahrscheinlich vor drei Uhr morgens nicht zum Schlafen kommen würde, und dann musste sie um sieben wieder aufstehen, weil um acht ihre Schicht in der Gaststätte begann.

Es müsste nicht so sein. Ich hätte tagsüber Vollzeit arbeiten können und sie nachts oder umgekehrt, und wir wären schon klargekommen. Aber sie hielt sich genauso ungern hier auf wie ich. Sie hatte mein ganzes Leben lang ständig gearbeitet.

Ich sah ihr nach, als sie ging, und erinnerte mich daran, wie weh mir das früher getan hatte.

Jetzt schmerzte es nicht mehr so. Tatsächlich fürchtete ich, dass ich allmählich gar nichts mehr empfand.

»Bist du das, Kind?«, rief mein Dad.

Ich fand ihn im Wohnzimmer, sein Rollstuhl stand vor dem Fernseher. Seine Augen klebten an dem Bildschirm, und er blickte nicht ein einziges Mal auf, als er fauchte: »Du kommst spät.«

»Ich weiß. Sorry. Brauchst du irgendetwas?«

Seine Lippen kräuselten sich. »Brauche ich etwas? Gott hat schon vor langem beschlossen, dass ich weniger brauche als jeder scheißandere Mensch.«

Ich seufzte innerlich, weil ich das hörte, seit ich elf war. Mein Blick wanderte zu seinem linken Bein. Oder dem, was davon übrig war. Vor sieben Jahren war es am Knie amputiert worden.

»Möchtest du etwas zu trinken?«

»Hab schon was.« Er warf mir einen gereizten Blick zu. »Ich rufe dich, wenn ich dich brauche.«

Mit anderen Worten: Verschwinde.

Mit Vergnügen.

Ich fand die Pastareste, die Mom in den Kühlschrank gestellt hatte, und häufte sie auf einen Teller. Ich würde sie kalt essen. Dann starrte ich auf die Küchentür, die ich offen gelassen hatte, falls er herumbrüllte.

Bevor die Hölle losbrach, hatte mein Dad mich nie angebrüllt. Jetzt regte er sich ständig lautstark über irgendetwas auf.

Überraschenderweise verlangte er nach nichts, und ich konnte in Ruhe meine kalten Nudeln essen. Ich erledigte den Abwasch, den Mom stehen gelassen hatte, holte mein Werkzeug und schraubte den Kleiderhaken an einer anderen Stelle in der Wand fest. Das alte Loch füllte ich mit Spackle.

Nachdem ich geduscht hatte, brachte ich Dad ein weiteres Bier. »Das letzte für heute«, erinnerte ich ihn. Der Arzt sagte, er solle innerhalb einer Zeitspanne von vierundzwanzig Stunden nicht mehr als zwei trinken.

Seine Augen blitzten mich wütend an. »Wenn ich noch ein Bier will, dann werde ich noch ein gottverdammtes Bier trinken. Ich habe doch sonst nichts. Ich sitze nur hier und verrotte langsam, schaue in deine langweilige Visage, sehe zu, wie deine Mutter ihren Arsch öfter zur Tür hinaus als hineinbewegt, und du willst mir die einzigen Freuden wegnehmen, die mir im Leben noch bleiben. Ich werde noch ein Scheißbier … wag es nicht, einfach wegzugehen, Mädchen!«

Wenn er sich in einen Wutanfall hineinsteigerte, blieb einem gar nichts anderes übrig. Wenn er mich so anraunzte, würde ich ihn manchmal am liebsten mit Gebrüll zum Schweigen bringen. Selbst wenn mir nach fünf Minuten immer noch nicht die Luft wegblieb, wäre das immer noch kein Ausgleich für die vielen Male, die ich die Speicheltropfen dieses Mannes auf meiner Wange gespürt hatte.

Für den Fall, dass er noch einmal nach mir rief, ließ ich meine Zimmertür angelehnt. Der Fernseher wurde lauter. Viel lauter. Aber es reichte noch nicht, um mich dazu zu bringen, wieder zu ihm zu gehen und ihn zu bitten, den Ton leiser zu stellen.

Da ich mittlerweile Übung darin hatte, ihn auszublenden, drehte ich mich um und betrachtete mein Refugium. Mein Zimmer war klein; ein Bett, ein kleiner Schreibtisch und ein Schrank für die wenigen Kleidungsstücke, die ich besaß. Es gab ein paar Bücher, aber nicht viele. Meinen Lesestoff holte ich mir größtenteils aus der Bücherei.

Größtenteils.

Aber nicht alles. So wie das, was ich in meinem Zimmer versteckt hatte.

Ich bückte mich, zog den Schuhkarton unter meinem Bett hervor und stellte ihn behutsam auf meine Bettdecke. Ich öffnete ihn ganz langsam, kostete es förmlich aus, als wäre er eine Schatztruhe. Beim Anblick meiner gehorteten Schätze durchströmte mich eine tiefe Ruhe. In dem Karton bewahrte ich einen Stapel aus zweiter Hand erstandener Schauspiele und Gedichtbände auf; Bücher, die ich online gekauft und vor meiner Mom versteckt hatte, damit sie nicht sah, wofür ich mein Geld »verschwendete«.

Ich betrachtete es allerdings nicht als Verschwendung. Ganz und gar nicht.

Ich nahm einen Stoß heraus und strich über den abblätternden Einband von Hexenjagd. Darunter lagen Doktor Faustus und Romeo und Julia, darunter Was ihr wollt, Othello, Hamlet und Macbeth. Ich war ein Fan von Shakespeare. Er ließ die gewöhnlichsten Gefühle und Gedanken so grandios klingen. Besser noch, er konnte die komplexesten, düstersten Gefühle wunderschön und fesselnd beschreiben. Ich wünschte mir sehnlichst, einmal eine Aufführung eines seiner Stücke zu sehen.

Ich wünschte mir sehnlichst, einmal bei der Aufführung eines seiner Stücke mitzuwirken.

Niemand wusste das. Noch nicht einmal Molly. Niemand wusste, dass ich insgeheim davon träumte, als Schauspielerin auf der Bühne zu stehen. Sie hätten mich ausgelacht, und das zu recht. Als Kind hatte ich in einer Amateurtheatergruppe mitgespielt, musste aber damit aufhören, als Dad sich nicht mehr selbst versorgen konnte. Das waren meine ganzen Erfahrungen auf der Bühne. Aber ich hatte es geliebt. Ich liebte es, in das Leben eines anderen Menschen zu schlüpfen, in eine andere Welt, und Geschichten zu erzählen, die das Publikum faszinierten. Und die Art, wie es am Ende klatschte. Dieses Klatschen! Es glich einer langen, festen Umarmung, stellvertretend für die, die mir von meiner Mutter verwehrt geblieben waren.

Ich sank auf das Bett und machte mir Vorwürfe. Mom war kein schlechter Mensch. Sie sorgte dafür, dass ich ein Dach über dem Kopf, Essen im Magen und Schuhe an den Füßen hatte. Sie hatte nur wenig Zeit für mich; sie arbeitete hart. So sah das Leben meiner Mom aus. Ich sollte deswegen nicht sauer auf sie sein.

Lautes Gebrüll der Zuschauer des Spiels, das mein Dad sich ansah, ließ mich zusammenzucken.

Nun ja, was ihn betraf … ich weiß nicht, ob es Wut war, die ich empfand.

Vielleicht eher Feindseligkeit.

Es war schrecklich, ihm sein Schicksal zu verübeln. Ich wusste das. Manchmal dachte ich, dass ich wohl kein besonders netter Mensch war.

Ich legte die Bücher in den Karton zurück, schloss ihn und versuchte, den Schmerz in meiner Brust und das furchtbare, nagende Gefühl im Magen zu verdrängen, das mich jetzt schon seit längerer Zeit plagte. Traurig nahm ich ein Buch, das ich mir ausgesucht hatte, und machte es mir auf meinem Bett bequem.

Eine Weile lang verlor ich mich in einer Geschichte über eine andere Welt und ein Mädchen, das in einem Gefängnis schmachtete, im Vergleich zu dem meines wie der reinste Urlaubsaufenthalt wirkte. Endlich blickte ich auf die Uhr und legte das Buch widerwillig weg.

Im Wohnzimmer stellte ich fest, dass mein Dad mit auf die Brust gesunkenem Kopf eingeschlafen war. Als ich den Fernseher ausschaltete, flog sein Kopf hoch, und er blickte sich verwirrt um. Wenn er so war wie jetzt, schläfrig und durcheinander, wirkte er so verletzlich. Dann erinnerte ich mich daran, wie Dad früher gewesen war.

Vor dem Rollstuhl hatte er nie fremde Hilfe in Anspruch genommen. Deswegen war er jetzt auch andauernd so stinkig. Er hasste es, von uns abhängig zu sein.

»Hey, Dad.« Ich berührte sacht seine Schulter, und er blinzelte zu mir hoch. »Zeit fürs Bett.«

Dad nickte, und ich wich zur Seite und ging dann langsam hinter ihm her in das Schlafzimmer meiner Eltern. Mom half ihm immer, seine Pyjamahose anzuziehen, in der er schlafen konnte, so dass mir das erspart blieb. Dad zog sein Hemd aus und ließ nur sein T-Shirt an. Früher einmal waren seine Schultern von der Arbeit auf dem Bau breit und seine Bizeps ausgeprägt gewesen. Im Laufe der Jahre hatte beides viel Kontur verloren.

Aber er war immer noch kräftig genug, um mir zu helfen, ihn zu Bett zu bringen.

»Warm genug, Dad?«

»Ja.«

»Dann gute Nacht.«

»Nora.« Er griff nach meiner Hand, und ich verspürte ein flaues Gefühl im Magen, denn ich ahnte, was kommen würde. »Es tut mir leid.«

»Ich weiß, Dad.«

Seine Augen flehten um Verständnis. »Mich macht das alles oft einfach fertig, und ich will meine schlechte Laune dann gar nicht an dir auslassen, Kleines. Du weißt doch, dass du das Beste bist, was deine Mom und ich je zustande gebracht haben, oder?«

Tränen brannten in meinen Augen, und meine Kehle fühlte sich heiß und wie zugeschnürt an. »Ich weiß«, flüsterte ich noch einmal.

»Weißt du das wirklich?« Sein Griff verstärkte sich. »Ich hab dich lieb, Kleines.«

Ich kämpfte gegen das Brennen in meiner Nase an und stieß zittrig den Atem aus. »Ich hab dich auch lieb, Dad.«

Erst als ich wieder in meinem Zimmer war und im Bett lag, presste ich den Mund in mein Kissen und begann zu schluchzen.

Das Leben wäre ohne die Erinnerungen an einen Dad, der mir all die Zuwendung geschenkt hatte, die meine Mom mir nicht zukommen ließ, so viel leichter gewesen. Er verteilte großzügig und ganz selbstverständlich Küsse und Umarmungen, und er schwärmte ständig von seinen Plänen für meine Zukunft. Ich würde das College besuchen – mir würde die Welt gehören.

Und dann änderte sich alles.

Seit ich denken konnte, hatte mein Dad sich krummgelegt, was einer der Gründe war, weshalb ich nicht verstand, warum Mom so viel arbeitete. Dad besaß die größte Baufirma im County. Er beschäftigte einen Haufen Leute, und wir wohnten in einem schönen großen Haus, das er am Stadtrand von Donovan gebaut hatte. Aber er litt unter schwerer Diabetes. Als die Firma immer besser lief, nahm Dads Stress zu. Er hörte auf, auf seine Ernährung zu achten und Alkohol zu meiden, und schließlich wurde sein Bein brandig, und den Ärzten blieb nichts anderes übrig, als es unterhalb des Knies zu amputieren. Da war ich elf. Noch ein Kind.

Dad verlor Aufträge, und Kyle Trent kaufte seine Firma für einen Spottpreis und brachte sie wieder nach oben. Die Trents erwarben sogar unser altes Haus. Ich konnte nur vermuten, dass es bis unter das Dach mit Hypotheken belastet war, denn soweit ich weiß blieb von dem Erlös nichts übrig.

Mom begann noch mehr zu arbeiten. Irgendwie blieb Dads Pflege an mir hängen. Es war kein leichter Job, aber er war mein Dad. Das Leben war für ihn und Mom hart geworden, also tat ich alles, um ihnen zu helfen. Das hieß jedoch, dass ich häufig erschöpft war und mir nicht mehr so viel Zeit blieb, für die Schule zu lernen. Trotzdem war ich entschlossen, meine Noten zu halten, selbst dann noch, als Dad ein anderer Mensch wurde und meine Zukunftspläne zerplatzen ließ. Er stellte unmissverständlich klar, dass das College für mich nicht mehr in Frage kam. Ich tröstete mich damit, dass es immer noch die Volkshochschule gab.

Irgendwann.

Wenn ich je die Zeit dazu fand.

Ich dämpfte mein Schluchzen mit meinem Kissen und umklammerte meine dünne Decke mit der Hand. Ich trauerte um meine Zukunft. Dad hatte meine ersten elf Lebensjahre damit verbracht, sie mir in den leuchtendsten Farben auszumalen. Aber am meisten trauerte ich um meinen Dad. Ich brauchte meinen Helden, der meine Tränen weggeküsst, meine Ängste mit Umarmungen verscheucht und mich behandelt hatte, als wäre ich das Einzige, was ihm wichtig war.

Als ich klein war, hatte ich einen liebevollen Vater gehabt. So sollte es sein. Und als sein altes Ich einem verbitterten, traurigen und verwundbaren Mann gewichen war, fühlte ich mich, als hätte ich jeglichen Schutz vor den Stürmen des Lebens, die mich erwarteten, verloren und als liefe ich nun Gefahr, gen Himmel zu schweben.

Ich kann nicht beschreiben, wie unheimlich dieses Gefühl ist. Manchmal denke ich, es wäre besser gewesen, all das Gute in meinem Leben gar nicht erst gekannt zu haben.

Weil ich es dann nicht so verdammt vermissen würde.

Ich erschauerte vor Schmerz, schlang die Arme fest um meinen Oberkörper und versuchte, mich zu beruhigen.

Ich dachte an den Jungen, den ich heute kennengelernt und der mich angesehen hatte, als wäre ich etwas ganz Besonderes.

So wie mich mein Dad an Tagen ansah, an denen sich der Mann, der er gewesen war, an die Oberfläche kämpfte.

Die Schauer, die mich überliefen, ebbten langsam ab und trugen die Schuldgefühle, die mich quälten, weil ich Mom angelogen hatte, mit sich fort. Ich brauchte einen Tag Abstand vom Alltag. Einen Tag, an dem ich frei atmen konnte. Nur einen einzigen Tag. Nur eine Erinnerung, die mir half, die folgenden Tage durchzustehen, wenn mir das Atmen wieder ein bisschen schwerer fallen würde.