Die Autorin
Alexandra Zöbeli lebt gemeinsam mit ihrem Mann im Zürcher Oberland in der Schweiz. Sie bekennt sich selbst als Britoholikerin - verrückt nach allem, was von der Insel kommt. Für Alex gibt es kaum etwas Schöneres, als die verschiedenen Ecken Großbritanniens zu entdecken und sich dabei vorzustellen, welche Geschichte sich an Ort und Stelle gerade abspielen könnte. Seit sie das Schreiben für sich entdeckt hat, leidet zwar der Haushalt, aber zumindest hat ihr Kopfkino endlich ein Ventil erhalten. Unter der Aufsicht ihres Katers Noah, der mit Vorliebe neben Alex‘ Laptop schläft, sind bisher fünf Romane entstanden.

Das Buch

Ein Cottage, ein Pub und die zweite Chance zum Glück

Nach dem Tod ihres Sohnes haben sich Sam und Hannah völlig voneinander entfernt. Als Hannah Sam schließlich nicht mehr sehen will, kommt das Angebot seines Freundes, eine Auszeit in dessen Cottage im kleinen Ort Dinorwig in Wales zu nehmen, gerade recht. Dort findet Sam tatsächlich die viel benötigte Ruhe und Ablenkung. Im Pub zur guten Hoffnung zwischen grünen Hügeln und kauzigen Dorfbewohnern schöpft er wieder Mut. Nicht zuletzt wegen Hope, die bald mehr als nur eine Freundin für ihn ist. Doch dann steht Hannah wieder vor ihm und Sam muss sich entscheiden…

Von Alexandra Zöbeli sind bei Forever erschienen: 

Ein Bett in Cornwall
Ein Ticket nach Schottland
Die Rosen von Abbotswood Castle
Der Himmel über den Black Mountains
Der Pub der guten Hoffnung

Alexandra Zöbeli

Der Pub der guten Hoffnung

Roman

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
April 2018 (1)
 
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © Carole Fleischmann und Alexandra Zöbeli
ISBN 978-3-95818-257-8
 
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Die Grenze ist überschritten. Der Spiegel ist zerbrochen. Aber es reflektieren die Scherben.

Edgar Allan Poe (1809–1849)

1. Kapitel

Sam konnte kaum noch atmen. Der Rauch wurde dichter und brannte in seinen Augen. Aber er musste weiter, durfte jetzt nicht schlappmachen, sein Sohn brauchte ihn. Hustend kämpfte er sich weiter durch den lichterloh brennenden Eisenbahnwaggon. Die Hitze wurde immer unerträglicher, je weiter er vorankam, aber dann – ein paar Sitzreihen weiter – sah er ihn plötzlich vor sich im Mittelgang stehen. Felix hielt ein Messer in der Hand. Die Klinge war mit Blut verschmiert. Missbilligend blickte sein Sohn ihn an. »Paps, du solltest nicht hier sein.« Seine Stimme klang erstaunlich fest, so als würden nicht bereits gierige Feuerzungen an seiner Kleidung lecken. »Du musst gehen. Mum braucht dich. Geh, jetzt!«

»Deine Jacke brennt, Felix! Zieh sie aus! Ich bin gleich bei dir!«, schrie Sam in Panik. Seine Worte gingen beinahe in erstickendem Husten unter. Der beißende Rauch kroch in seine Atemwege und ließ ihn nach Luft japsen.

»Für mich kommt die Hilfe zu spät, Paps. Du musst aufwachen, hörst du! Geh zu Mum!«

Doch Sam hörte nicht. Nur wenige Meter vor ihm stand sein Sohn in einem Meer aus Flammen. Auf keinen Fall konnte er ihn hier seinem Schicksal überlassen. Völlig verzweifelt versuchte er einen Weg durch das Feuer zu finden. Aber es loderte zu heftig und ließ ihn keinen weiteren Schritt vorankommen. Unbarmherzig zwang es ihn, zuzusehen, wie sein Sohn in die Knie ging und von den gnadenlosen Flammen aufgefressen wurde.

Mit einem Schrei setzte sich Sam im Bett auf. Er brauchte eine Weile, bis er bemerkte, dass es einmal mehr ein Alptraum gewesen war, der ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Seit sein Sohn vor drei Wochen diese schreckliche Tat begangen hatte und dabei ums Leben gekommen war, konnte Sam keine Nacht mehr ruhig schlafen. Immer wieder träumte er davon, Felix verbrennen zu sehen oder selbst im Rauch zu ersticken. Noch immer leicht zitternd versuchte Sam seinen Atem wieder unter Kontrolle zu bringen. Seine Kehle fühlte sich rau und trocken an, so als ob er wirklich dem Feuer und Rauch ausgesetzt gewesen wäre. Er drehte den Kopf zur Seite und bemerkte die leere Bettseite seiner Frau. Prüfend strich er mit der Hand über das kühle Kissen. Hannah musste wohl schon vor einer Weile aufgestanden sein. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es erst kurz nach Mitternacht war. Mit der Hand fuhr er sich durch das kurze braune Haar und stand dann auf, um nach Hannah zu sehen. Nie würde Sam den Moment vergessen, als er zusammen mit der Polizei ihr mitteilen musste, was ihr einziges Kind getan hatte und wie es gestorben war. Hannah hatte ihn angesehen, als wäre er ein Irrer. Doch nachdem ihr Verstand diese schier unerträgliche Wahrheit irgendwann in sich eindringen ließ, war es, als wäre ihre Seele mit ihrem Sohn gestorben und hätte lediglich eine leere Hülle zurückgelassen. Bei der Beerdigung vor drei Tagen wäre Hannah beinahe zusammengeklappt. Der Friedhofsangestellte hatte gerade noch rechtzeitig einen Hocker geholt, damit sie sich setzen konnte. Im engsten Familien- und Freundeskreis hatten sie an dem kalten und windigen Apriltag das, was von ihrem Sohn übrig geblieben war, der Erde übergeben.

Niemand konnte verstehen, was passiert war und wie es so weit hatte kommen können. Sam hatte an der Beerdigung die vorwurfsvollen Blicke der eigenen Familie und Freunde auf sich gespürt. Wie hatten sie als Eltern nicht bemerken können, was in ihrem Sohn vorging? Auch wenn Felix bereits zweiundzwanzig Jahre alt gewesen war und nicht mehr bei ihnen zu Hause, sondern in einem Studentenheim gewohnt hatte, machte Sam sich selbst die größten Vorwürfe. Er war doch Lehrer, als Pädagoge hätte er doch etwas bemerken müssen! Ja, natürlich hatte er gesehen, dass sein Kind bereits in der Schule immer gehänselt worden war, weil es nicht so selbstsicher war wie die anderen und dazu noch schielte. Kinder konnten echt grausam sein. Hannah und er hatten mit Felix oft darüber gesprochen, ihm Mut zugeredet und ihn in seinen Fähigkeiten bestärkt. Mit der Zeit schien Felix damit umgehen zu können. Trotzdem blieb er ein Einzelgänger, der sich lieber mit Büchern beschäftigte als draußen mit den anderen Kindern herumzutoben. Hätten sie als Eltern mehr tun können? Sie hatten Felix zu verschiedenen Freizeitkursen angemeldet, damit er mehr Kontakt zu Gleichaltrigen hatte. Aber meistens ging er nur ein oder zwei Mal hin, bevor er alles wieder hinschmiss. Sie hatten auch versucht mit den Eltern aus der Nachbarschaft zu reden, damit Felix auch mal zum Mitspielen eingeladen wurde, doch laut Felix war das immer nur krampfig gewesen. Irgendwann hatte er seine Eltern gebeten, es einfach zu akzeptieren, dass die anderen Kinder mit ihm nichts zu tun haben wollten. Er käme schließlich damit auch zurecht. Das hatte Sam seinem Sohn sogar abgenommen, bis er in die Pubertät kam und sich für Mädchen zu interessieren begann. Es hatte ihm schier das Herz zerrissen, als Felix sich zum ersten Mal verliebt hatte und prompt von der eingebildeten Tussi eine niederschmetternde Abfuhr kassierte. Tagelang hatte Felix kaum etwas gegessen und sich stattdessen in seinem Zimmer abgeschottet. Sam hatte mit ihm darüber reden wollen, aber sein Sohn hatte nur abgeblockt und stattdessen die Musik seiner Stereoanlage noch lauter aufgedreht. Felix erzählte immer weniger aus der Schule und schien alles in sich hineinzufressen. Bei Elterngesprächen mit Felix‘ Lehrer stellte sich heraus, dass die Noten sich auch zusehends verschlechterten. Am Ende meldeten sie ihn bei einem Psychologen an. Der meinte allerdings, dass Felix einfach nur die üblichen Teenagerprobleme hätte und sich das bald alles wieder legen würde. Das schien auch tatsächlich der Fall zu sein, denn Felix wurde mit der Zeit gelassener, und die Noten verbesserten sich wieder. Er schaffte die Prüfung ins Gymnasium, und später ging er an die Universität, um zu studieren. Nie hatten sie mitbekommen, dass Felix wieder Probleme haben könnte. Sie hatten ihm zudem immer versichert, dass er jederzeit nach Hause kommen könnte und sie für ihn da wären, ganz egal, was ihn bedrückte. Was in Gottes Namen hatte Felix nur zu dieser schrecklichen Tat veranlasst?

Sam ging ins Bad und wusch sich das verschwitzte Gesicht. Als er den Kopf hob und in den Spiegel blickte, schaute ihm ein Fremder entgegen. Sein Gesicht war hager geworden, und unter seinen Augen lagen dunkle Schatten. Seit dieser Höllenritt begonnen hatte, taten Hannah und er praktisch nichts anderes als der Polizei Rede und Antwort stehen, der Presse ausweichen und sich im Haus verkriechen. Würde man den Lügengeschichten in den Medien Glauben schenken, die besagten, sie hätten in Felix ein Monster großgezogen? Die Leser hatten Felix ja nicht gekannt. Sie konnten nicht wissen, wie überlegt und besonnen er immer gewesen war, wie schön sich sein Lachen angehört hatte, wenn er als kleiner Junge mit seinem Vater auf dem Rummelplatz gewesen war, wie einfühlsam er einen Vogel, der kurz zuvor in eine Scheibe geflogen war, aufgehoben und vor einer herumschleichenden Katze gerettet hatte. Felix war kein schlechter Mensch gewesen, aber wer glaubte ihnen das heute noch? Hannahs und Sams Nervenkostüm war hauchdünn geworden. Seine Frau saß oftmals stundenlang im alten Kinderzimmer von Felix und starrte vor sich hin. Er hatte versucht, mit ihr über ihren Sohn zu reden, aber sie saß einfach nur da und schüttelte den Kopf: »Ich kann nicht.« Sie sprach auch sonst kaum noch, und essen mochte sie ebenso wenig. Irgendwie konnte er das ja verstehen, er musste sich selbst zwingen, seinem Körper das zu geben, was er brauchte.

Drei Wochen war es jetzt her, dass sein bester Freund Daniel, der gleichzeitig der Schulleiter war, in seine Klasse gekommen war, die gerade eine Prüfungsarbeit schrieb. Daniel hatte die Aufsicht über seine Klasse übernommen und ihm gesagt, dass zwei Beamte im Lehrerzimmer auf Sam warten würden. Sam hatte sich nichts dabei gedacht und eher vermutet, dass einer seiner Schüler etwas ausgefressen hatte. Doch als er die betretenen Gesichter der Beamten sah, wusste er, hier ging es um etwas ganz anderes. Das Lehrerzimmer war leer, da Sams Kolleginnen und Kollegen ebenfalls am Unterrichten waren.

»Können wir uns einen Moment setzen?«, hatte der eine Beamte gefragt und auch schon einen Stuhl vom Tisch hergezogen. Er wartete, bis Sam sich ebenfalls gesetzt hatte, und dann berichtete er ihm, was sich vor wenigen Stunden zugetragen hatte. Felix hätte in einem Zug eine Amoktat begangen. Mit einem Messer hätte er mehrere Personen verletzt, dann Benzin über Mitreisende, sich selbst und die Sitze gegossen und den Waggon in Brand gesetzt. Dabei wären eine Frau und Felix selbst ums Leben gekommen. Eine weitere Frau schwebe nach wie vor in Lebensgefahr. Fünf Personen seien zudem noch in ärztlicher Behandlung, aber ihre Verletzungen wären nicht gravierend. Sam hatte die Worte des Beamten gehört, aber sie schienen so unwirklich. Es konnte doch nicht wahr sein! Bestimmt hatten sie sich geirrt, und es handelte sich um jemand anderen. Niemals würde sein Felix andere Menschen absichtlich verletzen, geschweige denn töten! Und nun soll er gar selbst tot sein? Die Polizei musste sich irren. Mit einem Mal erinnerte er sich daran, dass Felix ja um diese Uhrzeit in der Uni saß. Erleichtert atmete er auf. »Es tut mir leid, aber es muss eine Verwechslung sein. Felix müsste jetzt noch im Hörsaal sitzen.« Er wollte schon sein Handy zücken, um ihn kurz anzurufen. Doch der Beamte legte ihm mit verständnisvoller Miene die Hand auf den Arm. »Herr Berger, wir sind uns ganz sicher.« Dann zeigte er Sam den leicht angebrannten Studentenausweis von Felix und ein Foto, das ein Mitreisender mit seinem Handy gemacht hatte. Das Foto zeigte das vom Wahnsinn gezeichnete Gesicht seines Sohnes. Mein Gott! Er hörte kaum noch, was der Beamte sagte, alles, was ihm durch den Kopf ging, war, dass sein Sohn tot war. Von einem Moment auf den anderen. Er hatte ihm noch nicht mal Lebewohl sagen können. Und schlimmer noch: Er war dafür verantwortlich, dass es noch einer anderen Familie so ging und eine weitere darum bangen musste, dass ihr Kind, ihre Frau, ihre Freundin nie wieder zu ihnen zurückkehren könnte.

»Herr Berger … wir wissen, das muss für Sie einen Schock sein. Wir bringen Sie jetzt nach Hause.« Bei der Gelegenheit durchsuchten die Beamten auch gleich Felix‘ Zimmer, obwohl er ja nicht mehr da wohnte. Ein weiterer Trupp Polizisten hatte sich gleichzeitig das Zimmer im Studentenheim vorgenommen. Doch es wurde den Eltern nicht mitgeteilt, ob etwas gefunden wurde, ob es irgendwelche Hinweise auf die Tat gegeben hatte. In den Medien war zu lesen, dass Felix ein Problem mit Frauen gehabt hätte, weil er immer wieder bei ihnen abgeblitzt wäre. Er hätte sogar mal eine seiner Professorinnen gestalkt. All das konnten und wollten Hannah und Sam nicht mit ihrem Jungen in Verbindung bringen.

Sam ging die Treppe hinunter ins Wohnzimmer, um nach seiner Frau zu sehen und sie zurück ins Bett zu holen. Seltsamerweise brannte im unteren Stock aber kein Licht. Er ging weiter ins Wohnzimmer hinein und sah eine Gestalt auf dem Sofa liegen. Vermutlich hatte die Müdigkeit Hannah am Ende doch übermannt. Sam trat zu ihr hin und deckte sie mit einer Steppdecke zu. Er wollte sich schon wieder umdrehen und nach oben zurück ins Bett gehen, als er eine Flasche und daneben eine Schachtel Tabletten liegen sah. Der Arzt hatte ihr ein Schlafmittel verordnet, das sie sich aber bisher geweigert hatte zu nehmen. Wo die Tabletten schon mal dalagen, könnte er ja selbst eine nehmen. Er griff nach der Packung und ging damit in die Küche, um Hannah nicht zu wecken. Doch die Verpackung war leer, keine einzige Tablette steckte mehr darin. Bitte nicht! Er rannte zurück ins Wohnzimmer und machte das Licht an. Hannah regte sich nicht. Die Flasche auf dem Beistelltisch war nicht, wie er gedacht hatte, eine Flasche Wasser, sondern Wodka. »Hannah!«, rief er laut und versuchte seine Frau wach zu rütteln. »Hannah, Herrgott noch mal, wach auf!«

Hannah stöhnte unwillig. Gott sei Dank, sie lebte noch! »Wie viele Pillen hast du geschluckt? Hast du alle genommen? Sag was!« Natürlich hatte sie alle geschluckt, denn die Packung war ja leer, und am Boden lagen keine Tabletten. Unbarmherzig schüttelte er sie weiter, um sie wach zu bekommen. Doch sie gab nur seltsame Laute von sich, ohne dabei die Augen zu öffnen. Sam ging zum Telefon und wählte die Nummer des Notrufes. Mit zitternder Stimme erklärte er die Situation. Es schien ewig zu dauern, bis der Krankenwagen und ein Notarzt eintrafen. Während die Minuten sich wie Stunden dahinschleppten, versuchte Sam Hannah irgendwie wach zu halten, so wie der verständnisvolle Mann am Telefon ihm das aufgetragen hatte. Bereits als er die Haustür öffnete, um die Helfer hereinzulassen, knipsten die davor wartenden Reporter sensationsgeile Fotos, die wohl am nächsten Morgen in jeder Zeitung zu sehen sein würden. Aber das war Sam im Moment völlig egal. Er wollte dem Arzt erklären, dass Hannah so was normalerweise nicht tat. »Ich weiß, Herr Berger. Ich habe auch Zeitung gelesen. Es ist schon klar, dass Sie und Ihre Frau im Moment eine schwere Zeit durchmachen. Da kann einem die Sicherung schon mal durchknallen. Also nicht, dass ich denke, Sie würden …«

»Schon gut«, unterbrach ihn Sam. »Wohin bringen Sie meine Frau jetzt?«

»Sie kommt ins hiesige Krankenhaus, von da schaut man dann weiter. Sie können mit dem Krankenwagen mitfahren, wenn Sie möchten.«

Sam blieb bei Hannah. Er schaute zu, wie ihr der Magen ausgepumpt wurde, hielt sie fest, als sie heulend feststellte, überleben zu müssen, und blieb auch bei ihr, als sie schließlich völlig erledigt in einen erlösenden Schlaf fiel. Irgendwann in den frühen Morgenstunden kam eine junge Ärztin ins Zimmer. Sie bat ihn, ihr ins Besprechungszimmer zu folgen. Bevor sie sich setzte, goss sie schwarzen Kaffee aus einer Thermoskanne in zwei Tassen und stellte eine davon vor Sam auf den Tisch.

»Denken Sie, Ihre Frau könnte das noch mal versuchen, Herr Berger?«, fragte sie schließlich leise. Sie hielt dabei ihre Tasse mit beiden Händen umschlossen, um sich daran zu wärmen.

Sam schaute in seinen Kaffee, als würde darin die Antwort stehen. Schließlich hob er den Kopf und blickte die Ärztin müde an. »Ich weiß es nicht. Ich weiß einfach gar nichts mehr.« Er stand auf und ging innerlich aufgewühlt auf und ab. »Ich hätte Ihnen zuvor auch gesagt, dass mein Sohn niemals irgendwem schaden würde, dass er niemals eine Waffe in die Hände nehmen würde, dass er niemals Amok laufen würde, dass meine Frau niemals Alkohol trinken und niemals Tabletten schlucken würde. Verzeihen Sie also, wenn ich einfach keinen blassen Schimmer habe, was in meiner Familie abgeht.«

Die Ärztin war auch aufgestanden und legte ihm mitfühlend eine Hand auf den Arm. »Es tut mir sehr leid, Herr Berger.«

Er kämpfte gegen den Kloß in seinem Hals, der ihn am liebsten hätte losheulen lassen. »Sie haben meinem Sohn ja nicht gesagt, dass er den Zug anzünden und mit einem Messer auf ihm völlig fremde Menschen einstechen soll.«

»Das nicht, aber es tut mir trotzdem leid, was sie gerade aushalten müssen. Ich werde Ihre Frau vorerst in die psychiatrische Abteilung einweisen lassen. Hannah soll zur Ruhe kommen, ohne dass Sie die Verantwortung für sie tragen müssen.«

»Ich komme damit schon klar …«

»Nein, Herr Berger, damit kommt niemand klar. Auch Sie müssen sich zuerst wieder fangen. Sie brauchen jetzt ebenfalls Zeit für sich, und wenn Sie reden wollen, kann ich Ihnen gerne einen Kollegen empfehlen, der auf traumatisierte Patienten spezialisiert ist.«

»Danke, aber …«

»Das müssen Sie nicht jetzt entscheiden«, unterbrach ihn die junge Frau gleich. »Hier, nehmen Sie meine Karte. Sie können mich jederzeit anrufen, wenn Sie Hilfe annehmen möchten.«

Als Hannah schließlich aufwachte, war Sam wieder an ihrer Seite. »Hallo, Liebes. Du hast mir einen ziemlichen Schrecken eingejagt.«

In Hannahs Augen schimmerten Tränen, doch sie wandte den Kopf ab, damit er es nicht sah. »Warum hast du mich zurückholen lassen?«, flüsterte sie schließlich so leise, dass er es fast nicht verstanden hätte.

»Felix ist mir in einem Traum erschienen. Er hat mir gesagt, dass du Hilfe brauchst. Ich bin froh, dass er mich geweckt …«

Ruckartig drehte Hannah ihren Kopf wieder zu ihm. »Was soll das? Warum sagst du so etwas? Wenn Felix wollte, dass ich weiterlebe, dann hätte er nicht so etwas tun dürfen.«

»Ich bin mir sicher, er bereut es.«

»Felix ist tot, Sam! Tot, verstehst du? Er kann nichts mehr bereuen. Du hättest mich auch gehen lassen sollen, Sam. Ich kann nicht mehr, ich habe einfach keine Kraft mehr. All das Getuschel und Gemauschel hinter meinem Rücken. Jeder zerreißt sich doch das Maul über mich: Das ist die Mutter von dem Mörder. Was hat sie ihm wohl angetan, dass er ein solches Problem mit Frauen hatte? All das, Sam, musst du dir nicht anhören. Du bist ja der Herr Lehrer, der ausgebildete Pädagoge, der alles richtig gemacht hatte, aber eben zu wenig zu Hause gewesen ist, um aus dem Kind einen anständigen jungen Mann zu machen.« Hannahs Stimme war schrill geworden.

»Was redest du da nur für einen Unsinn, Hannah? Niemand macht dir einen Vorwurf. Wir sind nicht schuld an dem, was unser Sohn getan hat. Weder du noch ich.« Wem versuchte er eigentlich hier etwas vorzumachen?

»Ach ja? Kannst du deine Hände wirklich so in Unschuld waschen? Ich nicht«, konterte Hannah prompt. »Wir hätten es kommen sehen müssen, Sam. Wir waren seine Eltern! Wir hätten bemerken müssen, wie er sich in einen Psychopathen verwandelt hat.«

»Rede nicht so über ihn, Hannah! Felix war kein Psychopath …«

»Ein normaler Mensch läuft nicht Amok!«, spie sie ihm entgegen.

»Felix war aber normal, verdammt noch mal! Er war unser Junge, nicht irgendein Fremder!«

Sie schwiegen einen Moment, schließlich meinte Hannah mit weinerlicher Stimme: »Ich muss meine Kandidatur für die Präsidentschaft des Frauenkomitees noch zurückziehen. Die wollen mich da bestimmt nicht mehr sehen. Niemand wird mehr etwas mit uns zu tun haben wollen.« Fast schon trotzig schürzte sie die Lippen, während eine Träne aus ihren Augen quoll.

Ungläubig starrte Sam seine Frau an: »Du denkst jetzt doch nicht wirklich an dieses dämliche Frauenkomitee?!«

»Das Frauenkomitee war alles, was ich hatte, Sam. Du hast deinen Job, und das war eben meine Arbeit, mein Leben.«

Sam sah Hannah verständnislos an. War sie jetzt komplett übergeschnappt? Eines von Felix’ Opfern kämpfte noch immer um sein Leben, da gab es wirklich Wichtigeres, das einem durch den Kopf gehen sollte. Aber vielleicht waren ihre Gedanken noch beeinträchtigt von den Medikamenten, die sie genommen hatte. Er beschloss, nicht weiter darauf einzugehen und ihr stattdessen Zeit zu geben, sich wieder zu fangen.

»Es tut mir leid, Hannah«, sagte er lediglich erschöpft. »Ich geh jetzt nach Hause.« Zum Abschied wollte Sam ihr einen Kuss geben, doch Hannah drehte den Kopf zur Seite. Na schön, dann nicht. Er würde morgen wieder nach ihr sehen.

2. Kapitel

Die nächsten Tage brachten keine Besserung, im Gegenteil, Hannah wurde immer schweigsamer. Wenn Sam bei ihr war, antwortete sie knapp auf seine Fragen, von sich aus erzählte sie nichts. Über Felix oder darüber, was geschehen war, weigerte sich Hannah zu sprechen. Nach einem erneuten zermürbenden Besuch bei seiner Frau setzte Sam sich im Garten des Krankenhauses an den Teich und starrte vor sich hin. Er wusste einfach nicht mehr weiter. Was konnte er tun, um Hannah zu helfen und um ihre Beziehung zueinander wieder zu verbessern? War das überhaupt noch möglich, oder würden sie auch einander verlieren? Er stützte die Arme auf den Knien auf und vergrub das Gesicht in seinen Händen.

»Darf ich mich einen Moment zu Ihnen setzen?«, fragte eine weibliche Stimme. Sam hob den Kopf und blickte in das freundliche Antlitz der Ärztin, die Hannah bei der Einlieferung betreut und die Überweisung in die psychiatrische Abteilung veranlasst hatte. Er nickte nur, weil er seiner eigenen Stimme im Moment nicht über den Weg traute.

»Es ist sehr schwer für Ihre Frau. Sie macht sich große Vorwürfe, für das, was Ihr Sohn getan hat, und andererseits trauert sie dem Leben hinterher, das durch diese Tat zerstört wurde. Sie braucht Zeit, um mit der Situation klarzukommen.«

»Kommt man denn irgendwann damit klar?«, fragte Sam mit rauer Stimme.

»Weder Hannah noch Sie tragen die Verantwortung für das, was Ihr Sohn getan hat.«

»Das hört sich gut an, fühlt sich aber ganz anders an. Wir haben dieses Kind gezeugt, erzogen und auf den vermeintlich richtigen Weg gebracht … und dann zieht es los und bringt Menschen um.«

»Erziehung ist das eine, äußere Einflüsse das andere. Möglicherweise war Felix schon länger psychisch krank und konnte das einfach gut verstecken. So etwas lässt sich im Nachhinein schwer beurteilen.« Die Ärztin schwieg eine Weile. »Ich habe Ihre Frau in den letzten Tagen auf der Abteilung besucht, weil mich Ihr Fall auch bewegt. Mein Eindruck war, dass Sie einander im Moment nicht guttun.«

Sam lachte kurz verbittert auf, sagte aber nichts auf diese Bemerkung.

»Ich weiß, es steht mir nicht zu, so was zu sagen, zumal ich ja nicht die behandelnde Psychiaterin bin. Bei der Heilung ist der körperliche Aspekt nur ein Teil der Geschichte. Die Seele muss ebenfalls heilen, damit der Körper gesundet. Ihre Frau scheint mir sehr niedergeschlagen, wenn sie von Ihnen erzählt oder wenn Sie gerade zu Besuch waren. Ihnen scheint es nicht anders zu gehen.«

Obwohl die Ärztin es bestimmt nur gut meinte, ärgerte Sam sich über ihre offenen Worte. »Was raten Sie mir denn? Meine Frau im Stich zu lassen? Mich nicht mehr darum zu kümmern, wie es ihr geht?«

»Ich rate Ihnen, sich und Ihrer Frau eine Pause zu gönnen. Hannah ist bei uns gut aufgehoben, wir kümmern uns um sie. Auch Sie sollten sich psychologisch unterstützen lassen, oder fahren Sie doch einfach mal für ein paar Wochen weg. Fort von all dem, von der Presse, den Nachbarn und ja, auch von Ihrer Frau. Finden Sie wieder zu sich selbst, dann finden Sie bestimmt auch wieder zueinander. Wenn ich Ihnen irgendwie dabei helfen kann, Sie Adressen oder eine Selbsthilfegruppe brauchen, so melden Sie sich bei mir.« Damit stand sie auf. »Denken Sie darüber nach, Herr Berger.«

Sam seufzte tief. »Danke, das werde ich.«

Die Ärztin nickte und ließ ihn wieder allein. Gedankenverloren blickte er vor sich hin. Es wäre schon schön, mal alles hinter sich zu lassen, doch wohin sollte er schon gehen? Zudem erwartete die Schule ihn bestimmt bald zurück. Ganz geschweige davon, dass er sich mies vorkäme, Hannah hier zurückzulassen. Sie war seine Frau. Fünfundzwanzig Jahre hatten sie alles gemeinsam geteilt, da ließ man nicht einfach alles stehen und liegen, wenn es schwierig wurde, um für sich selbst den einfacheren Weg zu wählen. Entschlossen stand er auf und ging zurück zu seinem Wagen.

Das Gespräch mit der Ärztin ließ ihn trotzdem nicht los, daher sprach er es bei seinem nächsten Besuch bei Hannah einfach an. Wie immer hatte Hannah ihr Gesicht dabei von ihm abgewendet. Sie saß in einem Stuhl und blickte zum Fenster hinaus. »Wäre es dir lieber, wenn ich eine Weile nicht vorbeikommen würde?«, fragte er rundheraus. Ohne sich nach ihm umzudrehen, nickte Hannah.

»Und warum sagst du mir das nicht einfach, Hannah? Wir haben uns doch all die Jahre über immer alles gesagt. Warum jetzt nicht mehr?«

»Ich bin so müde, Sam. Ich will dich nicht verletzen oder mich rechtfertigen müssen, dazu fehlt mir die Kraft. Alles, was ich möchte, ist Zeit für mich selbst. Verstehst du das?«

Er nickte, obwohl er sich nicht sicher war, dass er das tat. Aber im Moment verstand er sowieso vieles nicht mehr. »Gut, dann gehe ich jetzt wohl besser«, sagte er leise und ging zur Tür, wo er sich noch einmal nach ihr umdrehte. »Ruf mich an, wenn du mich brauchst. Du weißt, ich bin immer für dich da.«

Auf dem Weg nach Hause ließ er das Autoradio laufen. In den Nachrichten wurde gesagt, dass die Frau, die bei dem Amoklauf seines Sohnes lebensgefährlich verwundet worden war, nun ebenfalls ihren Verletzungen erlegen wäre. Sie ließe einen Ehemann und ein dreijähriges Kind zurück. Sam hielt den Wagen am Straßenrand an und krümmte sich über das Lenkrad, während sein Körper von Schluchzen geschüttelt wurde. Felix, wie konntest du nur!

Als Sam mit dem Wagen in die kleine Nebenstraße zu seinem Haus einbog, lauerte bereits wieder eine Meute Reporter davor. Sam parkte den Wagen, stieg aus und wurde sogleich von einem Kamera-Blitzgewitter empfangen.

»Wie geht es Ihrer Frau?«

»War es ein Selbstmordversuch?«

»Gibt Sie sich die Schuld an dem Amoklauf Ihres Sohnes?«

»Haben Sie gehört, dass nun eine weitere Frau gestorben ist? Was sagen Sie dazu?«

Fragen hagelten auf ihn ein, während er sich einen Weg zum Haus bahnte. Vor der Tür drehte er sich zu den Reportern um. »Es tut mir sehr leid, für die Opfer und die Angehörigen«, sagte er aufrichtig. »Es gibt keine Entschuldigung oder Rechtfertigung für das, was mein Sohn getan hat. Meine Frau und ich sind fassungslos. Ich bitte Sie dennoch zu respektieren, dass auch wir einen Sohn verloren haben und trauern. Danke.« Erschöpft schloss er die Tür hinter sich und lehnte sich einen Moment dagegen. Das Stimmengewirr der Reporter war nur noch schwach zu hören und verstummte schließlich ganz. Hatten sie endlich aufgegeben? Sam schlüpfte aus seiner Jacke und den Schuhen, dann ging er ins Schlafzimmer, wo er die Jalousien herunterließ. Matt ließ er sich aufs Bett fallen und schloss die Augen. Doch seine Gedanken kreisten nur um Hannah und um die Familien der Opfer. Irgendwann klingelte das Telefon, und er schleppte sich in sein Büro, um den Anruf entgegenzunehmen. Sein Freund Daniel war am anderen Ende der Leitung.

»Wie geht es dir?«, fragte Daniel mitfühlend. Sie hatten seit der Tat schon öfters miteinander geredet, und er wusste auch von Hannahs Selbstmordversuch.

»Beschissen wäre noch nett formuliert.«

»Hör mal, die Behörde hat mich beauftragt, dich für Donnerstag auf ein Gespräch in die Schulverwaltung zu bestellen. Wäre zehn Uhr okay für dich?« Daniel klang irgendwie seltsam, so als hätte er ein schlechtes Gewissen.

»Ja, das passt. Im Moment habe ich nicht wirklich was vor. Weißt du, was die wollen?«

»Die Präsidentin hat mir untersagt, darüber zu sprechen. Es stünde nicht in meiner Befugnis.«

»Na ja, um eine Lohnerhöhung wird es wohl kaum gehen«, scherzte Sam trocken.

»Wie geht es Hannah?«, lenkte Daniel ab.

»Sie zieht sich immer mehr von mir zurück, und ihre Ärztin meinte gar, ich würde ihr nicht guttun und solle Hannah eine Pause gönnen.« Sam merkte selbst, wie tief ihn diese Aussage der Ärztin getroffen hatte.

»Sollen wir uns auf ein Bier treffen und ein wenig quatschen?«, fragte Daniel verständnisvoll.

»Danke für das Angebot, aber ich will mich nicht noch mal den Reportern stellen.«

»Lauern sie dir immer noch auf?«

»Seit der Notarzt und der Krankenwagen da waren, hat ihr Interesse an uns wieder zugenommen.«

»Mieses Pack«, schimpfte Daniel. »Ich könnte auch zu dir kommen.«

»Schon okay, aber danke. Ich brauche im Moment einfach nur mal eine Mütze voll Schlaf. Bist du beim Gespräch am Donnerstag dabei?«

»Klar. Ich lasse dich doch nicht allein den Wölfen gegenübertreten.«

***

Am Donnerstagmorgen wartete Daniel vor der Schulverwaltung, als Sam eintraf. Zusammen gingen sie die steinerne Treppe hinauf in die erste Etage, wo sich das Sitzungszimmer befand. Zwei Behördenmitglieder sowie der Leiter der Schulverwaltung saßen bereits an dem langen Besprechungstisch. Der Schulverwaltungsleiter erhob sich, um die beiden Neuankömmlinge zu begrüßen, und schloss dann hinter ihnen die Tür. Das flaue Gefühl, das Sam seit dem Anruf von Daniel im Magen hatte, nahm zu, als er die angespannte Stimmung im Raum spürte. Man war zwar überaus freundlich zu ihm, aber er bemerkte auch, wie niemand ihm in die Augen schauen konnte. Schließlich begann die Präsidentin der Schulpflege mit ihrer einstudierten Rede, wie leid ihr das tue, was Sam und seine Frau im Moment durchleben mussten. Kaum hatte sie ihrem Mitgefühl genügend Ausdruck verliehen, kam sie endlich zum Kern der Sache: »Du weißt ja, wie rasch Eltern um ihre Kinder besorgt sind, Samuel. Seit dein Sohn … nun ja, seit er eben diese schreckliche Tat begangen hat, werden wir bombardiert mit Fragen und auch Vorwürfen. Daniel hatte vorletzte Woche einen Elternabend einberufen, an dem auch ich teilgenommen habe. Leider gelang es uns trotz intensivster Bemühungen nicht, die Eltern zu beruhigen. Sie verlangen, dass wir dich nicht länger an unserer Schule beschäftigen.«

Sam starrte seine Chefin entgeistert an. »Aber warum? Ich war es nicht, der Amok gelaufen ist.«

»Nein«, sagte die Präsidentin leise, die sich sichtlich unwohl fühlte in ihrer Haut. »Natürlich nicht. Doch die Eltern sind der Ansicht, dass sie ihre Kinder nicht von jemandem unterrichten lassen wollen, dessen eigenes Kind eine solche Bluttat begangen hat.«

»Was bietet die Schule Sam an?«, fragte Daniel an seiner Stelle, weil er selbst noch damit beschäftigt war, diesen Brocken zu schlucken.

»Wir haben uns beim Volksschulamt erkundigt, und man riet uns, dich per sofort freizustellen, Samuel. Aber natürlich bekommst du eine ordentliche Abfindung ausbezahlt. So hast du Zeit, etwas Neues zu finden.«

Verständnislos schüttelte Sam den Kopf: »Wenn nicht mal ihr mich noch beschäftigen wollt, nachdem ich hier fünfzehn Jahre unterrichtet habe, glaubt ihr da wirklich, jemand anderer stellt mich noch ein?«

»Vielleicht solltest du über eine Umschulung nachdenken«, riet der Schulpfleger, der sich bisher nicht am Gespräch beteiligt hatte.

»Aber unterrichten ist alles, was ich will, alles, was ich kann …« Für Sam fühlte es sich an, als würde ihm ein weiteres Mal der Boden unter den Füßen weggezogen. Sein Job war für ihn in der jetzigen Situation einer der letzten Rettungsanker gewesen.

»Du kannst ja auch Erwachsene unterrichten. Irgendwann wird bestimmt Gras über die Sache gewachsen sein …«, versuchte es die Präsidentin.

Doch Sam stand bereits auf und blickte den beiden Behördenmitgliedern offen ins Gesicht. »Die Ratten verlassen also das sinkende Schiff, ja? Na schön … dagegen kann ich wohl nichts tun.« Ohne einen Abschiedsgruß drehte er sich um und verließ das Besprechungszimmer. Erst als er schon fast wieder auf der Straße war, hörte er, wie Daniel hinter ihm herlief. Sam wartete, bis sein Freund ihn eingeholt hatte.

»Komm, lass uns da drüben ins Café gehen«, forderte Daniel ihn auf.

»Willst du es wirklich riskieren, mit mir gesehen zu werden?«

»Ach, nun komm schon.« Daniel duldete keinen Widerspruch und zog ihn mit sich in das Café, das wesentlich anheimelnder wirkte als das kühle Sitzungszimmer, aus dem er gerade geflohen war. Es waren nur wenige Tische besetzt, und niemand beachtete die beiden weiter. »Siehst du, so eine Berühmtheit bist du gar nicht«, scherzte Daniel.

Sie bestellten sich einen Kaffee. Als die Kellnerin weg war, seufzte Sam schwer. »Irgendwie kann ich die Behörde ja verstehen, aber ich hatte mich wirklich darauf gefreut, wieder mit der Arbeit in meiner Klasse beginnen zu können. Es hätte mich beschäftigt und auf andere Gedanken gebracht, verstehst du?«

Daniel nickte. »Die Eltern sind an besagtem Abend wirklich massivst aufgetreten. Nichtsdestotrotz war ich überzeugt, dass sich das gelegt hätte, sobald du wieder unterrichtet hättest. Die Behörde befürchtete jedoch negative Schlagzeilen, weil einer der Väter gedroht hatte, an die Öffentlichkeit zu gehen. Ich wurde Anfang dieser Woche eingeweiht, dass die Schule dir kündigen will. Die Präsidentin hat mich aber zu Stillschweigen verdonnert. Es tut mir leid, dass ich dich nicht vorwarnen konnte.«

»Schon gut. Es ist nicht deine Schuld.«

»Du schaust gelinde gesagt beschissen aus. Kann ich irgendwas für dich tun, Kumpel?«

Sam schüttelte den Kopf. »Nein, außer du kannst mir mein altes Leben zurückgeben.«

Die Kellnerin brachte ihnen den Kaffee. Versonnen nahm Sam einen Schluck des heißen Gebräus, ohne wirklich was davon zu schmecken. »Ich hätte nie gedacht, dass ich mal an einen Punkt gelange, wo ich einfach nicht mehr weiterweiß.«

»Vielleicht täte es dir gut, mal rauszukommen. Wegzufahren.«

Sam lachte kurz auf. »Du bist schon der Zweite, der mir das rät. Hannahs Ärztin meinte dasselbe.«

»Und, was spricht dagegen?«

»Ich kann doch Hannah nicht allein zurücklassen … sie ist meine Frau!«

»Na, wenn dir aber selbst ihre Ärztin das rät? Hör mal, ich habe in Wales das Cottage, wo ich hin und wieder in den Ferien hinfahre, um abzuschalten und zu angeln. Es ist jetzt nichts Weltbewegendes, das Haus ist alt und nicht gerade groß, aber es ist wunderschön gelegen. Da ist nichts außer Natur pur. Der nächste Nachbar ist etwa einen Kilometer entfernt.«

»Ich weiß nicht …«

»Es ist der ideale Ort, um Kraft zu tanken, um nachzudenken. Hannah ist in der Klinik gut aufgehoben, und sollte sie dich dennoch brauchen, reicht ein Telefonanruf. Mit dem Flieger wärst du in einem halben Tag wieder hier.«

Einen kurzen Augenblick gestattete es Sam sich, sich vorzustellen, wie es wäre, die Verantwortung einfach mal abzulegen und hinter sich zu lassen. An einem Ort sein zu dürfen, wo niemand ihn kannte oder wusste, was Felix getan hatte. Es fühlte sich schon ziemlich gut an. Doch dann sah er wieder Hannahs Gesicht vor sich. Er konnte es einfach nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, sie alldem ausgesetzt zu lassen, während er sich davonschlich. »Es klingt wirklich verlockend«, gestand Sam. »Aber ich kann das nicht.«

»Wenn du es dir anders überlegst, gib einfach Bescheid.«

Sam war der Meinung, er hätte Hannah in den letzten drei Tagen nun genügend Zeit für sich gelassen, und beschloss, sie am Nachmittag wieder im Krankenhaus zu besuchen. Vielleicht bereute sie ihre Worte ja bereits und wäre froh, dass er trotzdem vorbeischaute. Er würde nur kurz nach ihr sehen und gleich wieder gehen. Natürlich würde er Hannah nichts davon erzählen, dass die Schulbehörde ihn freigestellt hatte oder dass nun die zweite Frau, die Felix attackiert hatte, ihren Verletzungen erlegen war. Damit wollte er sie nicht belasten. Erstaunt stellte er fest, dass seine Frau nicht wie sonst in ihrem Zimmer war. Vielleicht war das ja ein gutes Zeichen, dachte er hoffnungsvoll. Er wollte sich gerade nach ihr im Schwesternzimmer erkundigen, als er ein vertrautes Lachen aus dem Gemeinschaftsraum hörte. Erfreut, dass es Hannah anscheinend besser ging, eilte er über den Flur. Hannah saß mit zwei weiteren Frauen an einem Tisch. Sie spielten irgendein Brettspiel. Auf ihrem Gesicht war ein Lächeln zu sehen, doch als sie ihn in der Tür entdeckte, verlosch es, wie ein Licht, dessen Schalter ausgeknipst wurde. Der Stein, der sich etwas von seinem Herzen gelöst hatte, polterte mit voller Wucht zurück. Er versuchte sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen und trat mit einem Lächeln zu den Frauen hin. »Guten Tag zusammen«, sagte er. Sam beugte sich zu Hannah und wollte ihr einen Kuss geben, so wie sie das immer zur Begrüßung taten. Doch sie hielt ihn mit der Hand auf Abstand.

»Hallo, Sam.« Aus ihrer Stimme war jegliche Fröhlichkeit verschwunden.

»Wir können ja nachher weiterspielen«, bot eine der Frauen an.

Hannah nickte leicht und stand von ihrem Platz auf. »Lass uns in mein Zimmer gehen«, sagte sie zu Sam.

»Ich fände es im Garten schöner, die Sonne scheint so herrlich, und etwas frische Luft täte dir bestimmt gut.«

»Wenn du meinst.« Hannah ging voran und zügelte ihr Tempo erst beim Aufzug. Keiner von ihnen sprach ein Wort, bis sie im Garten unter sich waren.

»Es scheint dir etwas besser zu gehen«, stellte Sam mit einem leichten Lächeln fest.

»Wie kommst du darauf?«

»Ich habe dich lachen gehört, und du glaubst gar nicht, wie schön … «

»Nur weil ich einmal lache, denkst du, mir geht es gut? Sam … du verstehst einfach nicht, wie es in mir ausschaut.«

»Dann sag es mir! Erkläre es mir, Hannah, damit ich es verstehen kann.«

Hannah setzte sich auf eine Bank. Sie blickte still vor sich hin. Sam wusste nicht, ob sie nach den richtigen Worten suchte oder was gerade in ihr vorging. Innerlich ausgelaugt ließ er sich ebenfalls auf der Bank nieder. »Wir haben doch dasselbe durchgemacht, Hannah. Wir haben beide unser Kind …«

»Sam!«, unterbrach sie ihn vehement. »Ich will nicht darüber reden! Und ich will auch nicht darüber nachdenken müssen. Weder darüber, was Felix getan hat, noch was es bedeutet, dass er nicht mehr da ist. Ich will mir keine Gedanken darüber machen müssen, was du oder sonst jemand fühlen könnte. Verstehst du das denn nicht? Ich habe keine Kraft dazu!«

Sam schwieg betroffen.

»Jedes Mal, wenn ich dich anschaue, sehe ich Felix vor mir«, fuhr Hannah nun trotzdem leise fort. »Jedes Mal, wenn du vor mir stehst, habe ich Schuldgefühle, dass ich nicht stärker bin, dass ich dir keinen Trost geben kann, dass mich unser Sohn gehasst hat …«

»Er hat dich doch nicht gehasst, Hannah!«

»Wie erklärst du dir dann, dass er nur Frauen angegriffen hat? Er hasste Frauen, das haben sie auch in den Nachrichten gebracht.«

Sam sah in Hannahs müde Augen. »Ich weiß es nicht, Hannah. Ich weiß nur, dass er dich mit Sicherheit nicht gehasst hat, das hätte ich doch bemerkt.«

»Genauso wie du bemerkt hast, dass er psychisch krank war? Dass er unglücklich war? Dass er diese Wahnsinnstat geplant hat?«

»Hannah!«

»Was?! Hältst du es nicht aus, Sam? Schön, ich nämlich auch nicht!« Tränen liefen Hannah übers Gesicht.

Sam wollte sie tröstend in die Arme nehmen, aber wieder wehrte sie ihn ab. »Lass mich! Ich ertrage deine Nähe nicht.«

Er wich von ihr zurück, als hätte sie ihn geohrfeigt. »Du willst also wirklich, dass ich nicht mehr herkomme?«, fragte er schließlich mit belegter Stimme.

Hannah nickte und zog ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche, um sich die Nase zu putzen. »Zumindest vorerst nicht … ich hatte das nicht nur so dahergesagt, es war mir ernst damit. Ich muss zuerst wieder mit mir selbst klarkommen, bevor ich mich allem Weiteren stellen kann. Meine Ärztin hat mir einen Therapieplatz in einer Klinik in den Bergen besorgt. Ich denke, dass ich da hingehen werde.«

Sam starrte eine Weile vor sich hin. »Gut«, willigte er schließlich ein. »Du meldest dich bei mir, wenn du irgendwas brauchst, ja?«

»Danke, Sam«, sagte Hannah und stand auf. Sam blieb sitzen und schaute ihr hinterher, wie sie zurück ins Krankenhaus ging. Er hätte ihr gerne gesagt, dass sie ihm sehr viel bedeute und er sie liebe, aber das hätte wohl nicht nur Hannah, sondern auch ihn überfordert. Im Moment war er sich über seine eigenen Gefühle nicht mehr sicher. Die Wut auf alles und jeden in ihm drin war wie eine riesige schwarze Wolke, die er nicht beiseiteschieben konnte.

3. Kapitel

Aus der Zeitung hatte Sam erfahren, wo und wann die Beerdigung der Frau war, die vor wenigen Tagen ihren Verletzungen erlegen war. Lange hatte er abgewogen, ob er daran teilnehmen sollte. Irgendwie wollte er der Verstorbenen seinen Respekt zollen, der Familie zeigen, wie leid es ihm tat und wie sehr er mit ihnen fühlte. Gleichzeitig wollte er ihnen aber mit seiner Anwesenheit nicht noch mehr Schmerz bereiten. Am Ende entschied er sich dazu, der Zeremonie aus etwas Distanz zu folgen. In einen schwarzen Anzug gekleidet beobachtete er das Geschehen gut fünfzig Meter entfernt. Während die Sonne ein verwirrendes Netz von Schatten durch die Äste der angrenzenden Bäume warf, wurde die Urne in das kleine Grab gelegt. Sam konnte die Worte des Pfarrers nicht genau verstehen, aber das war ihm nicht so wichtig. Bedrückt verfolgte er, wie der Geistliche die Zeremonie beendete und einem Mann Trost spendend die Hand auf die Schulter legte. Langsam löste sich die Gemeinschaft wieder auf, bis auf eine kleine Gruppe, die mit hängenden Köpfen um das Grab stehen blieb. Sam sah, wie plötzlich jemand dem Trauernden, dem zuvor der Pfarrer seinen Trost ausgedrückt hatte, etwas zuflüsterte und in seine Richtung wies. Der Mann blickte zu ihm hin und kam dann mit langen Schritten auf ihn zu. Sollte Sam jetzt besser gehen? Er entschied sich zu bleiben, es auszuhalten und dem Mann zumindest sein Beileid auszusprechen.

»Was denken Sie sich, hier aufzutauchen?!«, schrie der Mann ihn an, packte Sam gleich am Aufschlag seines Anzuges und drückte ihn gegen den Baum hinter ihm. Sam wehrte sich nicht.

»Es tut mir leid … ich wollte Ihnen mein Beileid aussprechen und mich für das, was mein Sohn getan hat, entschuldigen.«

»Entschuldigen?! Glauben Sie wirklich, damit ist es getan? Ihre Missgeburt von Sohn hat meiner Frau das Leben geraubt und das mit voller Absicht. Dafür kann man sich nicht entschuldigen. Was haben Sie eigentlich Ihrem Sohn mit auf den Weg gegeben, dass er rumläuft und Menschen umbringt? Sie verdammter Mistkerl!« Der Mann holte aus und verpasste Sam mit seiner Faust einen heftigen Schlag ins Gesicht, so dass er mit dem Hinterkopf gegen den Baum schlug. Sam sah buchstäblich Sterne, dennoch wehrte er sich nicht gegen seinen Angreifer. Er hatte es nicht anders verdient. Erneut setzte der Typ zu einem Schlag an, doch zwei Männer aus der Trauergemeinde hatten das Geschehen mitverfolgt und kamen angerannt. Gerade noch rechtzeitig hielten sie den Witwer zurück und versuchten ihn zu beruhigen. »Komm, der ist es doch nicht wert. Eva hätte das nicht gewollt.« Einer der Männer legte dem verzweifelten Mann den Arm um die Schulter und führte ihn von Sam weg.

Langsam glitt Sam am Baumstamm entlang zu Boden. Wenigstens konnte er jetzt den Schmerz, der in ihm tobte, auch körperlich spüren. Er legte den Kopf auf die angezogenen Knie. Vermutlich wäre es besser gewesen, nicht herzukommen, aber er hatte wirklich gedacht, dass es der Familie vielleicht helfen würde, zu wissen, dass es ihm und Hannah naheging, was passiert war. Dass sie mit ihnen fühlten und selbst nicht verstehen konnten, warum ihr Sohn so etwas getan hatte. Oh, Felix, ich würde alles geben, wenn ich noch einmal mit dir sprechen könnte … um zu begreifen, mit dir zu hadern, mit dir zu fühlen und Himmel Herrgott noch mal, dich von diesem Wahnsinn abzuhalten.

»Brauchen Sie Hilfe? Soll ich einen Arzt rufen?«, sprach ihn ein Mann an. Sam hob den Kopf und blickte in das freundliche Gesicht des Friedhofgärtners.

»Nein, danke. Es geht schon.« Mühsam rappelte sich Sam vom Boden auf.

Der Friedhofgärtner pfiff durch die Zähne: »Das wird ein schönes Veilchen geben. Besser, Sie lassen die Wunde von einem Arzt anschauen.«

Sam nickte nur und ging zum Parkplatz. Achtlos wischte er sich mit dem Ärmel seines Sakkos das Blutrinnsal weg, das seine Wange hinunterlief. Dann setzte er sich in seinen Wagen und machte sich auf den Heimweg. Zu Hause in seinem Badezimmer wusch er sich das Gesicht und klebte über die klaffende Wunde einfach ein Pflaster. Das musste reichen. Was spielte es schon für eine Rolle, ob danach eine Narbe zu sehen war oder nicht? Anschließend wechselte er aus seinem Anzug in eine bequeme Jogginghose und einen Sweater. Das Sakko war definitiv hinüber. Gleichgültig knüllte er es zusammen und warf es in den Müll. Hose und Hemd landeten im Wäschekorb. Schon war wieder Ordnung hergestellt, so wie Hannah es gerne mochte. Irgendwie absurd, dass er sich auch an ihre Ordnungsregeln hielt, wenn sie gar nicht im Haus war. Wütend auf Hannah, Felix, sich selbst und die ganze beschissene Situation griff er im Wohnzimmer nach dem Kissen auf dem Sofa und schleuderte es quer durch den Raum. Es traf auf seinem Flug auf eine Vase, die klirrend vom Sideboard auf den Boden fiel. Ja, das war das Geräusch, das seinem Leben entsprach. Er griff nach der Lampe auf dem Beistelltisch und warf sie mit voller Wucht gegen die Wand. Es war so befreiend, seine Wut herauszulassen, dass er sich selbst nicht mehr bremsen konnte. Mit der Stehlampe zertrümmerte er den gläsernen Salontisch, dann nahm er das Sofa auseinander. Zimmerpflanzen flogen durch die Luft, Vorhänge landeten mit einem befreienden Ratsch auf dem Fußboden, und Bilder zersplitterten über einer Stuhllehne. Während er wie ein Tornado durch sein Wohnzimmer wütete, merkte er gar nicht, wie ihm die Tränen über das Gesicht liefen. Irgendwann war nichts mehr da, das er noch hätte zerstören können. Mit zitterndem Atem und völlig entsetzt über seine Tat blickte er sich im Raum um. Dann griff er sich seine Jacke und stürmte aus dem Haus. Er brauchte jetzt dringend etwas, um sich die Birne zuzudröhnen, und Hannah hatte kaum noch was vom Wodka übrig gelassen. Mit schnellen Schritten ging er die Straße hinunter in den kleinen Einkaufsladen. Als er mit der Flasche Williams an der Kasse stand, hörte er, wie hinter ihm getuschelt wurde. »Ist das nicht der Vater des Amokläufers?«

»Aber ja.«

»Scheint sich geprügelt zu haben. Kein Wunder …«