Das Buch

»Es klingt vollkommen unglaublich, aber lesen Sie die verblüffenden Beweise, die die Familie dieses Jungen zusammengetragen hat und Sie werden anfangen sich zu wundern ... «

The Daily Mail

Die Eltern des zweijährigen James sind verängstigt und überfordert von den Albträumen ihres Sohnes. Im Traum stürzt er in einem brennenden Flugzeug vom Himmel, und er erklärt gegenüber seinen Eltern: »Flugzeug fällt runter! Flugzeug brennt! Kleiner Mann kann nicht raus!« James ist außerdem ganz fixiert auf Flugzeuge und gibt Fachwissen preis, das die Kenntnisse eines Kleinkindes übersteigt. Fest entschlossen herauszufinden, was der Grund für das ungewöhnliche Verhalten und die Aussagen ihres Sohnes ist, starten Bruce und Andrea Leininger eine aufwendige mehrjährige Recherche. Ein Weg, der sie zu einer für sie unglaublichen Entdeckung führt. Trotz ihrer eigenen Skepsis überprüfen sie die Möglichkeit, dass James schon einmal gelebt haben könnte und in seinem Traum den Tod eines Soldaten im Zweiten Weltkrieg durchlebt.

Soul Survivor ist eine spannende, wahre Geschichte, der man sich nicht entziehen kann. Aufgrund der großen Übereinstimmung von Fakten und den Erinnerungen des kleinen James wird sie als größtes Argument dafür gewertet, dass es Reinkarnation tatsächlich gibt.

Die Autoren

Andrea Leininger war bis zur Geburt ihres Sohnes James Tänzerin. Bruce Leininger ist ein erfolgreicher Geschäftsführer. In einer jahrelangen akribischen Recherche sammelten sie Beweise für ein früheres Leben ihres Sohnes. Sie leben in Lafayette, USA. Ken Gross ist Schriftsteller und lebt in Brooklyn, New York.

BRUCE & ANDREA LEININGER

MIT KEN GROSS

Soul Survivor

Ein Junge erinnert sich
an ein Leben vor seiner Geburt

Aus dem Amerikanischen von
Maja Ueberle-Pfaff und Yvonne Eglinger

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ISBN 978-3-8437-1671-0


Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel
Soul Survivor. The Reincarnation of a World War II Fighter Pilot
im Verlag Grand Central Publishing.

© der deutschen Ausgabe 2017 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

© der Originalausgabe 2009 by Andrea Leininger und Bruce Leininger

Published by Arrangement with Bruce and Andrea Leininger.

All Rights Reserved.

Übersetzung: Maja Ueberle-Pfaff (Vorwort – Kapitel 14, Kapitel 27 – Danksagung),
Yvonne Eglinger (Kapitel 15 – Kapitel 26, Widmung)

Lektorat: Ulla Mothes

Covergestaltung: zero-media.net, München
nach einer Vorlage von © Hay House
Covermotiv: © Jupiterimages

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Vorwort

Mir sind Tausende von Fällen bekannt, in denen das frühere Leben eines amerikanischen Kindes dokumentiert wurde; die Geschichte von James Leininger halte ich von allen für die überzeugendste. Sie ist außergewöhnlich, weil der kleine James sich an Namen und Orte aus seinem früheren Leben erinnert, die sich zu echten Menschen und realen Ereignissen zurückverfolgen lassen – Fakten, die sich leicht verifizieren lassen. Er ist sogar Menschen begegnet, die ihn in seinem einstigen Leben als Pilot im Zweiten Weltkrieg kannten.

Ich glaube, dass seine Geschichte endlich auch bei den skeptischen Bewohnern der westlichen Welt eine gedankliche Öffnung herbeiführen wird, die die Möglichkeit von kindlichen Erinnerungen an frühere Leben einschließt. Das vorliegende Buch demonstriert, dass solche Erinnerungen sich emotional und spirituell höchst gewinnbringend für das Kind selbst und seine Familie auswirken können.

In mancherlei Hinsicht ist James’ Geschichte nicht ungewöhn­lich. Viele Kinder auf der ganzen Welt haben Erinnerungen an frühere Leben. Es ist ein natürliches Phänomen. Ich weiß das, weil ich vor über zwanzig Jahren angefangen habe, solche Fälle zu sammeln, nachdem sich bei meinen beiden eigenen Kindern lebhafte Erinnerungen an frühere Leben einstellten. Mein Sohn erinnerte sich an seinen Tod auf einem Schlachtfeld im Amerikanischen Bürgerkrieg, meine Tochter erinnerte sich, dass sie als Kind bei einem Hausbrand umgekommen war. Ich war erstaunt, als ich feststellte, dass allein durch unsere Gespräche darüber beide von Phobien geheilt wurden, die sich aus der Art und Weise ergaben, wie sie in ihrem früheren Leben zu Tode gekommen waren.

Ähnliches, folgerte ich, geschah sicher auch in anderen Familien. Doch als ich Bücher wälzte, um zu verstehen, was mit meinen Kindern vor sich ging, konnte ich keines finden, in dem von den heilsamen Auswirkungen die Rede war, die Erinnerungen an frühere Leben haben können. Ich fand nur Bücher über Erwachsene, denen durch Rückführungstherapien geholfen worden war. Deshalb beschloss ich, die Lücke selbst zu füllen, und schrieb Mama, ich war schon einmal erwachsen! Kinder erinnern sich an frühere Leben als Ratgeber für Eltern, die derartige Erinnerungen bei ihren eigenen Kindern erleben.

Nach der Veröffentlichung des Buches 1997 und dem Start meiner Website www.reincarnationforum.com erhielt ich Tausende E-Mails von Eltern, deren kleine Kinder sich spontan an frühere Leben erinnerten. Die große Zahl der Fälle führte dazu, dass ich wiederkehrende Muster erkannte. Einige Kinder fangen an, von ihren Erinnerungen zu erzählen, sobald sie sprechen können – manche so klein, dass sie noch Windeln tragen! Sie überraschen ihre Eltern mit Aussagen wie »als ich früher groß war« oder »als ich mal tot war«. Oder sie weisen ungewöhnliche Verhaltensweisen auf, beispielsweise Phobien, Albträume, angeborene Fähigkeiten, erstaunliche Talente oder frappierende Einblicke in die Welt der Erwachsenen, die sie mit ihren zwei oder drei Jahren eigentlich noch nicht haben können. Manche Erinnerungen manifestieren sich als starke Gefühle, zum Beispiel tiefe Traurigkeit, wenn sie vom einsamen Sterben in der Schlacht berichten, oder als Sehnsucht nach ihren anderen Familien, ihren Ehefrauen, Ehemännern, ihren eigenen Kindern.

Die Fälle, die mir geschildert wurden, waren hochdramatisch, wiesen erstaunliche Details auf und waren mit überwältigenden Gefühlen verbunden. Eines jedoch fehlte: Fakten, die sich überprüfen ließen und objektive Beweise dafür lieferten, dass die Erinnerungen echt waren. Keines meiner Kinder und keines der anderen Kinder, deren Erinnerungen ich untersuchte, konnte sich an seinen früheren Namen oder Wohnort erinnern oder an andere objektive Tatsachen, die man hätte belegen können. Deshalb ist die fesselnde Geschichte von James Leininger so außergewöhnlich.

Die Einzige ihrer Art ist sie freilich nicht. Es gibt eine große Anzahl bestätigter Fälle von kleinen Kindern mit Erinnerungen an frühere Leben, jedoch in nicht-westlichen Kulturen. Dr. Ian Stevenson, der ehemalige Leiter des Fachbereichs Psychiatrie an der University of Virginia Medical School, forschte seit den frühen 1960er Jahren zu spontanen kindlichen Erinnerungen an frühere Leben. Als er 2007 starb, hatte er fast dreitausend Fälle gründlich untersucht und gewissenhaft dokumentiert, vor allem aus Asien. Etwa siebenhundert dieser Kinder unter fünf Jahren erinnerten sich so lebhaft an ihre früheren Leben, dass sie ihre ehemaligen Namen noch kannten, wussten, wo sie gelebt hatten, und sich auch an die Namen von Verwandten und spezifische Alltagsdetails erinnerten, Details, die ihnen, wie Dr. Stevenson bewies, gar nicht bekannt sein konnten. Dr. Stevenson glich sämtliche Aussagen, Verhaltensweisen, Eigenheiten und sogar körperliche Merkmale (er schrieb ein ganzes Buch über Muttermale und Geburtsfehler im Zusammenhang mit früheren Leben) mit den Daten der Person ab, die das Kind gemäß seiner Erinnerung einmal gewesen war. Die Ähnlichkeiten gehen weit über Zufallstreffer oder Koinzidenz hinaus.

Doch die große Mehrzahl dieser Fälle stammt aus Kulturen, in denen der Glaube an Reinkarnation vorherrscht: Indien, Myanmar, Thailand, Sri Lanka, Türkei, Libanon und Westafrika. Das macht es den Skeptikern leicht, Dr. Stevensons Ergebnisse zu diskreditieren, ganz gleich, wie stichhaltig seine Belege sein mögen, denn die betreffenden Kulturen glauben ohnehin an die Reinkarnation. Ich wusste, dass ein sehr detaillierter und verifizierbarer Fall aus einer jüdisch-christlichen Familie notwendig sein würde, um auch das westlich geprägte Denken für diese Form der Wirklichkeit zu öffnen. Doch weder Dr. Stevenson noch seine internationalen Kollegen noch ich selbst hatten je Fälle in den USA oder in Europa gefunden, die mit so vielen gut dokumentierten Details aufwarten konnten wie die asiatischen. Das war verblüffend und ziemlich frustrierend.

Dann erhielt ich 2001 eine E-Mail von Andrea Leininger. Auf den ersten Blick glich sie vielen anderen. Ihr Sohn James litt unter schweren, wiederkehrenden Albträumen, in denen sein Flugzeug abstürzte. Der Zweijährige war besessen von Flugzeugen und schien sich beängstigend gut mit Kampfjets aus dem Zweiten Weltkrieg auszukennen. Als ich Andreas E-Mail las, fielen mir Umstände auf, die in ein vertrautes Muster zu passen schienen: Albträume von Ereignissen, die ein Kind in seinen ersten zwei oder drei kurzen Lebensjahren nicht erlebt haben konnte, und ein an Besessenheit grenzendes Interesse am Inhalt der Albträume.

Wir schrieben uns ein paar Mal, und ich war beeindruckt von Andreas Beobachtungsgabe. Ich bekam das Gefühl, dass sie und ihr Mann Bruce bodenständige, gebildete Menschen waren, die sich redlich zu verstehen bemühten, was mit ihrem geliebten kleinen Jungen los war. Sie suchten verzweifelt nach einer Möglichkeit, die furchtbaren Albträume zu lindern, die das Leben der Familie zerrütteten. Besonders interessierten mich James’ umfassende Kenntnisse über Flugzeuge. Er wusste Dinge, die selbst seine Eltern nicht wussten.

Ich erklärte den Leiningers, dass James sich an seinen Tod in einem früheren Leben erinnerte, und rekapitulierte die Methoden aus meinem Buch: Sie sollten das, was James erlebte, als echte Erfahrung anerkennen und ihm versichern, dass er sich jetzt in Sicherheit befand, dass die beängstigende Erfahrung vorüber war. Andere Eltern hatten feststellen können, dass diese Vorgehensweise die Ängste ihrer Kinder wirksam linderte und ihnen dabei half, das Trauma eines früheren Todes zu überwinden. Andrea verstand. Sie wusste intuitiv, was mit James passierte: Er litt unter realen Erinnerungen an seinen Flugzeugabsturz. Ich versicherte ihr, dass sie fähig sein würde, ihrem Sohn zu helfen.

Danach hörte ich nichts mehr von ihr und interpretierte ihr Schweigen dahingehend, dass mein Rat geholfen hatte und es James besser ging. Dann rief mich etwa ein Jahr später ein Produzent von ABC an, der eine Fernsehsendung über Kinder und ihre früheren Leben machen wollte. Ich sah meine E-Mails durch und suchte ein paar vielversprechende Fälle heraus, darunter den der Leiningers. Dabei tauchte in mir die Frage auf, was wohl aus James geworden war.

Ich rief Andrea an und erkundigte mich nach ihm. Sie konnte zufrieden berichten, dass sie meine Methoden angewandt hatte und James’ Albträume so gut wie nicht mehr auftraten. Gute Nachrichten!

Aber sie hatte noch mehr zu berichten. Obwohl die Albträume und James’ Angst vor einem Flugzeugabsturz nachgelassen hatten, erstaunte er seine Eltern mit immer neuen Details aus seinem Leben als Kampfpilot. Er erinnerte sich an den Flugzeugtyp, den er geflogen war, an den Namen eines Geleitträgers und den Namen eines seiner Pilotenfreunde. Ich freute mich zu hören, dass die Geschichte weiterging, und äußerte die Hoffnung, dass die Leiningers im Fernsehen von ihren Erfahrungen berichten würden. Andrea war von der Idee angetan, aber sie musste sich erst mit ihrem Mann abstimmen. Als ich dann mit Bruce sprach, lautete sein erster Satz mir gegenüber: »Sie müssen verstehen, ich bin Christ.« Es kam mir vor, als wäre ich gegen eine Wand gelaufen. Ich dachte schon, ich müsste für das Fernsehen einen anderen Fall finden. Doch dann fuhr er zu meiner Überraschung fort: »Aber ich kann nicht erklären, was mit meinem Sohn passiert.« Wir unterhielten uns weiter, und ich spürte eine gewisse Öffnung. Er kämpfte offensichtlich darum, dass sein christlicher Glaube unangetastet blieb, wollte aber dennoch verstehen, was mit James geschah. Er suchte verzweifelt nach einer anderen Erklärung als die einer Reinkarnation. Ich begriff, wie schockierend das alles für ihn sein musste, und beteuerte ihm, das sei völlig normal.

Die Fernsehsendung war ein großer Erfolg, die Geschichte wurde klar und fair dargestellt. Wir waren alle sehr zufrieden. In den nächsten Jahren schrieben wir uns Dutzende E-Mails. Andrea schickte mir Fotos von James und seinen vielen Bildern von abgeschossenen Flugzeugen. Wir redeten stundenlang am Telefon über James’ neueste Enthüllungen und die erstaunlichen »Zufälle«, die immer weiter in unbekanntes Terrain führten.

Für Andrea und mich war jede neue Aussage eine Bestätigung dessen, was wir bereits wussten: dass sich James an ein früheres Leben erinnerte, das tatsächlich stattgefunden hatte. Doch Bruce haderte immer noch. Jede neue Enthüllung verschärfte den Konflikt. Das vorliegende Buch handelt deshalb von Bruce ebenso wie von James. Er war hin- und hergerissen zwischen seinem christlichen Glauben, der uns sagt, dass »wir nur einmal leben, dann sterben und in den Himmel kommen«, und dem, was er bei seinem Sohn hautnah miterlebte. So sehr er sich auch bemühte, er konnte sich einfach keinen Reim darauf machen.

Bruces Bemühen, die Erinnerungen seines Sohnes an ein früheres Leben zu widerlegen, macht die faszinierende Geschichte der Leiningers noch vielschichtiger. Wir sehen, wie angestrengt Bruce versucht, eine »rationale« Erklärung zu finden. Wir beobachten ihn, wie er Spuren mit der sturen Hartnäckigkeit eines Detektivs verfolgt, erst zufrieden, wenn er auf harte Fakten gestoßen ist. Die Menge an Beweismaterial, die er und Andrea durch ihre gewissenhafte Recherche zusammengetragen haben, ist genau der Grund, warum ihre Geschichte so außergewöhnlich ist.

Soul Survivor. Ein Junge erinnert sich an ein Leben vor seiner Geburt ist aber auch aus einem anderen Grund sehr besonders. Wir werden Zeugen einer wunderbaren Kraft, die durch den kleinen James wirkt und die Herzen vieler Menschen berührt. Seine gegenwärtige Familie, seine frühere Familie und die überlebenden Veteranen, die in seinem früheren Leben an seiner Seite gekämpft haben, wurden alle tief von James an­gerührt. Was für den kleinen Jungen so selbstverständlich war, erschütterte die fundamentalsten Glaubenssätze der Menschen in seiner Umgebung. Seine Geschichte eröffnet für all jene, die sie nicht als kindliche Fantasie, sondern als schmerzliche Realität betrachten können, eine neue Perspektive auf das Leben und den Tod.

Carol Bowman

Autorin von Mama, ich war schon einmal erwachsen! Kinder erinnern sich an frühere Leben und Ich werde wieder bei dir sein! Wiedergeburt in der Familie.

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Der Traum

1

Es ist nur ein schlechter Traum, und wenn du
morgen früh aufwachst, ist alles vorbei.

Montag, 1. Mai 2000, Mitternacht

Die Schreie kamen wie aus dem Nichts. Eben noch war James Leininger, gerade mal zwei Jahre und drei Wochen alt, ein fröhlicher, verspielter kleiner Junge gewesen, der Mittelpunkt einer liebevollen Familie, die im flachen Küstenschwemmland von Süd-Louisiana lebte. Und dann auf einmal, in der dunkelsten Stunde der Nacht, zuckte und zappelte er in seinem Kinderbett wie ein wild gewordenes Stromkabel und schrie, als könnte er mit seiner ohrenbetäubenden Verzweiflung wie einst König Lear den Himmel sprengen.

Die Tür des Elternschlafzimmers flog auf, und seine Mutter Andrea lief den Flur entlang. Sie blieb an der Tür des Kinderzimmers stehen und sah, wie ihr erster und einziger Sohn herzzerreißend weinte und sich hin und her warf. Was sollte sie tun? Irgendwo in einem ihrer vielen Erziehungsratgeber hatte sie gelesen, dass es gefährlich sein konnte, ein Kind abrupt aus einem Albtraum zu reißen.

Und so hielt sie sich mühsam zurück und blieb regungslos im Türrahmen stehen. Doch sie analysierte blitzschnell die ­Situation, denn sie war eine durch und durch vernünftige und kundige Mutter. James lag nicht eingeklemmt unter einem Holzbalken. Er blutete nicht. Sie konnte keinen körperlichen Grund für den schrecklichen Ausbruch erkennen. Er hatte einfach nur einen Albtraum. Es musste ein grausiger Traum sein, aber dennoch etwas, das im Rahmen der unvermeidlichen Kindheitsschrecken vorkommen konnte.

Natürlich wäre sie am liebsten an sein Bett gestürzt, hätte ihren kleinen Jungen geweckt, den bösen Traum verscheucht und ihn in ihren Armen gewiegt. Aber das tat sie nicht. Denn Andrea Leininger war keine gewöhnliche Mutter. Die schlanke rothaarige Frau, die mit achtunddreißig immer noch aussah wie ein Filmstar, verfügte über eine nicht sofort sichtbare Eigenschaft: eiserne Disziplin. Erworben hatte sie sich diese während ihrer Ausbildung zur Balletttänzerin; sie hatte ihren Beruf aufgegeben, als der Schmerz die Freude am Tanzen zu überschatten begann. Und nun trat ihr neuer »Beruf« wie von Sinnen gegen seine Bettdecke und schrie zum Steinerweichen.

Andrea bemühte sich, die Lage realistisch einzuschätzen, und sie glaubte zu wissen, woher der Albtraum kam: von der ungewohnten Umgebung. Die Familie war erst vor zwei Monaten aus Dallas, Texas, nach Louisiana in ein siebzig Jahre alte Haus in Lafayette umgezogen. Wenn sich das Haus für sie selbst noch fremd anfühlte, musste der kleine James, ihre neue große Liebe, noch viel stärker das Gefühl haben, dass ihm seine vertraute Welt abhanden gekommen war. Sogar die Geräusche, die von draußen hereindrangen, klangen ungewohnt – der Wind, der durch das Louisianamoos wisperte, die Sumpfvögel, die auf den Ästen der alten Eichen krächzten, die Insekten, die gegen die Fliegengitter surrten. Alles war so ganz anders als in dem Vorort von Dallas, auf den sich nachts vollkommene Stille wie eine Decke gesenkt hatte.

James’ Zimmer war mit seinen verblichenen rosaroten Tapeten und den fest verschlossenen Jalousien alles andere als ein typisches Kinderzimmer. Andrea fühlte sich, als sei sie in einem Mausoleum eingeschlossen, es war fast unheimlich. Ja, das mussten die Auslöser für James’ nächtlichen Gefühlsaufruhr sein. Beruhigt schlich sie auf Zehenspitzen zum Bett ihres Sohnes, hob ihn heraus und nahm ihn auf die Arme. Dabei flüsterte sie leise: »Schlaf, schlaf, mein süßes Baby. Alles ist gut, nichts passiert. Es ist nur ein böser Traum, und wenn du morgen früh aufwachst, ist alles vorbei.«

James beruhigte sich tatsächlich, er hörte auf, um sich zu schlagen, und seine Schreie erstarben zu einem leisen Wimmern. Noch ein paar kummervolle, kleine Seufzer, dann atmete er wieder regelmäßig. In der ersten Nacht, erinnerte sich Andrea später, hatte sie nicht richtig darauf geachtet, was ihr Sohn schrie, sie hatte keine Worte heraushören können, die einen Sinn ergaben. In ihren Ohren schrillte nur das helle Kreischen eines Kleinkindes, das aussah und sich anhörte, als würde es verzweifelt um sein Leben kämpfen. Aber nein, dachte sie, sein Leben war ja nicht wirklich in Gefahr. James wurde lediglich von einem Albtraum heimgesucht.

Andrea war einerseits zutiefst verunsichert, andererseits auch entschlossen, die Sache in den Griff zu bekommen. Das war ein Teil des Deals. So lautete die Abmachung, als sie den zwölf Jahre älteren Bruce Leininger heiratete, der aus einer früheren Ehe schon vier Kinder hatte. Auch Andrea hatte eine Ehe hinter sich, aber noch keine Kinder. Heiraten bedeutete für sie, dass sie ein Kind bekäme, hatte sie Bruce entschieden erklärt. Da­rüber mussten sie sich einig sein, das war ihre Bedingung.

Bruce nahm den Deal ernst, und als er die Schreie aus James’ Zimmer hörte, rollte er sich auf die Seite und murmelte: »Übernimmst du das?« So etwas gehörte zu Andreas Job.

Im großen Ganzen war es ein durchaus fairer Handel. Bruce bekam die hinreißende Tänzerin, und Andrea bekam den großen, gut aussehenden Manager – plus Kind. Natürlich lief nicht alles wie geplant. Bruce arbeitete bis zum Umfallen, um seinen Teil der Abmachung zu erfüllen, denn der besagte, dass er seiner verzweigten Familie den Lebensunterhalt sicherte.

Hier in Lafayette war Bruce derjenige, der stärker unter Druck stand, denn er kämpfte mit einer neuen Arbeit, die er unbedingt meistern und behalten wollte. Er war von seiner letzten, sehr gut bezahlten Stelle in Dallas wegen Meinungsverschiedenheiten mit der Firmenleitung »freigestellt« worden. Er hatte zwar eine ordentliche Abfindung erhalten, aber die schockierende Erfahrung, dass ein Mann, der schon in der Schule zu den Überfliegern gehört hatte, der ziemlich weit oben in der Firmenhierarchie stand, ein Musterbeispiel für Souveränität und Selbstbeherrschung, auf einmal von Arbeitslosigkeit bedroht war, hing wie eine dunkle Wolke über der Familie.

Die Umstellung war nicht leicht. Bruce war Personalleiter und damit so etwas wie die firmeneigene Feuerwehr. Immer wenn Probleme mit Mitarbeitern auftraten, musste er hin und den Brand löschen. Das bedeutete häufige Versetzungen, viele Reisen und Neuanfänge. Solange Bruce und Andrea allein gewesen waren, hatte sie das nicht gestört, aber nun gab es James. Innerhalb von vier Jahren hatte Bruce die Familie dreimal entwurzeln müssen. Zuerst hatte er in San Francisco einen neuen Job ergattert. Er fand ein schönes Stadthaus in Pacifica, mit Blick aufs Meer. Andrea war begeistert. »Nichts liegt zwischen uns und Japan«, schwärmte sie.

Es war eine glückliche und romantische Zeit. In San Francisco wurde James geboren. Zwei Jahre später bekam Bruce ein besseres Jobangebot aus Dallas, was auch den Vorteil hatte, dass Andrea ihrer Familie wieder näher war. Sie stammte aus Dallas und hatte eine enge Beziehung zu ihren Schwestern und ihrer Mutter. Doch dazu mussten sie wieder umziehen. Und dann ging der Job in die Binsen, weil Bruce die Entscheidung eines Vorgesetzten kritisierte. Wieder musste er auf Stellensuche gehen, einen neuen Chef beeindrucken, ein neues Zuhause finden und den Umzug organisieren. Nicht, dass er sich beklagt hätte – aber er war erschöpft. Und Andrea hatte genug vom Umziehen. Als Bruce das Haus in Lafayette gefunden hatte, war sie entschlossen, dort zu bleiben.

Und nun auch noch dieser grässliche Albtraum! Schlechtes Timing, dachte Bruce. Aber gut, ab und zu träumten Kinder geräuschvoll – keine große Sache. In seiner ersten Ehe hatte Bruce es ohne Weiteres geschafft, seine vier Kinder zu trösten, wenn sie schlecht geträumt hatten. Doch heute war er schlicht und einfach zu müde dazu.

Als er sich auf die andere Seite drehte, konnte er nicht ahnen, dass seine Familie am Rand einer absolut unfassbaren, völlig unglaublichen Erfahrung stand. Hundemüde, wie er war, ließ er sich vom Schlaf überwältigen.

Doch nicht nur Bruce stand unter großem Druck, auch Andrea war mitgenommen. James’ Geburt hatte sie sehr angestrengt. Sie war sechsunddreißig, als er auf die Welt kam – ihre biologische Uhr hatte immer lauter getickt. Sie erlebte eine schwierige Schwangerschaft, bei der eine Präklampsie auftrat, eine gefährliche Erkrankung, die hohen Blutdruck, Ödeme und Krämpfe mit sich bringt. In einem späten Stadium der Schwangerschaft hörte der Fötus unerklärlicherweise auf zu wachsen. Als die Ärzte das Baby im Ultraschall maßen, errechneten sie, dass James etwas über drei Pfund wog. Er wurde nicht größer, und das Ärzteteam war ratlos und unsicher, ob das Kind am Ende »lebensfähig« sein würde. Und es sprach eine Warnung aus: Selbst wenn Andrea das Baby bis zum Geburtstermin aus­tragen würde, sei die Gefahr groß, dass es mit dem Down-Syndrom, Autismus oder anderen körperlichen oder geistigen Behinderungen auf die Welt kommen würde.

Bruce weigerte sich, die Meinung der Ärzte zu akzeptieren. Er strahlte seinen üblichen Optimismus aus: »Blödsinn! James wird gesund sein.«

Und dabei handelte es sich nicht etwa um eine plötzliche Anwandlung von Leichtfertigkeit oder Unbekümmertheit. Bruce und Andrea nahmen ihre Elternschaft sehr ernst, sie sahen sie als positive Verpflichtung, die sie beide eingegangen waren und die sich auch in der Wahl des Namens für das Baby niederschlug: James Madison Leininger. Kein Zufall, sondern das Ergebnis einer ausgiebigen Ahnenforschung, die Andrea zu Beginn ihrer Ehe betrieben hatte. Sie hatte entdeckt, dass ihr Ururgroßvater, James Madison Scoggin, im Amerikanischen Bürgerkrieg in der Armee der Konföderierten gedient hatte. So besaß ihr zarter kleiner Fötus bereits einen Namen mit einer stolzen Vergangenheit – und darüber hinaus kämpferische Eltern, denen es nie in den Sinn gekommen wäre, ihn aufzugeben.

Schließlich wurde am 10. April 1998, einem Karfreitag, sechs Wochen vor dem errechneten Geburtstermin der kleine James durch einen Kaiserschnitt geholt. Bruce war im OP, und als man den Kleinen herausholte, ergriff Bruce seine Hand – und Vater und Sohn ließen sich, wie man es in der Familie ausdrückte, nie wieder los.

Nach James’ Geburt entdeckten die Ärzte den Grund für seine verzögerte Entwicklung. Sie lag in einer anatomischen Besonderheit begründet. Andreas Plazenta war nicht größer als eine Grapefruit, hätte jedoch so groß wie eine kleine Wassermelone sein sollen. Es war ein Wunder, dass James überhaupt überlebt hatte, denn er hatte viel weniger Nährstoffe erhalten, als für seine Entwicklung eigentlich nötig gewesen wären. (Natürlich tauchte irgendwann die Frage auf, ob man die traumatische Situation im Uterus mit den späteren Ereignissen in Zusammenhang bringen könnte. Vielleicht erinnerte James sich unbewusst an die Schwierigkeiten vor der Geburt.)

Nachdem er eine Zeitlang im Brutkasten gelegen hatte, stellte sich heraus, dass James ein völlig normales Baby war. Er wies weder körperliche noch geistige Defizite auf.

Und er war ein sehr pflegeleichtes Baby. Er weinte wenig, er machte kaum Umstände. Er nahm die vielen Ortswechsel und Umzüge klaglos hin. Die meiste Zeit wirkte er glücklich und zufrieden. Seinen Eltern kam seine verblüffende Ausgeglichenheit fast schon unheimlich vor, auf jeden Fall ungewöhnlich reif, und genau deshalb traf sie sein erster Albtraum wie ein Schock.

Bruces neue Arbeitsstelle verlangte ihm viel ab. Er hatte einen langen, anstrengenden Arbeitstag, und Andrea hielt James deshalb abends länger wach, als es bei Zweijährigen allgemein üblich ist. Der Grund dafür war eine Art Tauschhandel: James bekam etwas weniger Schlaf, konnte dafür aber jeden Tag noch etwas Zeit mit seinem Vater verbringen. Er ging erst um zehn Uhr ins Bett. Wenn seine Eltern ihn dann schlafen gelegt hatten, setzten sie sich noch mit einem Glas Wein zusammen und erzählten sich von ihrem Tag, bevor sie ebenfalls schlafen gingen.

Zwei Tage nach dem ersten Albtraum drangen kurz nach Mitternacht erneut laute Schreie aus dem Kinderzimmer. Bruce und Andrea wurden unvermittelt aus dem Schlaf gerissen. Natürlich war es Andrea, die aus dem Bett sprang und den langen Flur entlanglief, um ihren Sohn in den Arm zu nehmen und, wenn möglich, zu trösten.

Am Morgen versuchte sie Bruce in allen Einzelheiten zu erläutern, warum die Albträume sie so verstörten, damit er begriff, was sie belastete, aber er zuckte nur die Achseln und fand, sie sollten die Sache nicht aufbauschen, nächtliche Angstzustände kämen bei Kindern nun mal vor. Andrea ließ nicht ­locker und schilderte ihm James’ wildes Strampeln und Um-sich-Schlagen. Bruce zeigte wenig Interesse. Er erlebte gerade seinen eigenen Albtraum, in dem er sein Unternehmen beim Börsengang unterstützen musste.

Bruce arbeitete in der Oil Field Services Corporation of America (OSCA), einer Ölfirma, die sich auf die Durchführung und Logistik von Tiefseebohrungen weit draußen im Golf von Mexiko spezialisiert hatte. Die OSCA bereitete gerade ihren ersten Börsengang vor. Als Personalleiter und -berater musste Bruce tragfähige Gesundheitspläne und Vergütungspakete formulieren, die den staatlichen Richtlinien entsprachen, damit die OSCA an einer großen Wertpapierbörse notiert werden konnte. Das war keine leichte Aufgabe, da Bruce sich selbst noch in der Einarbeitungsphase befand. Anspruchsvolle Firmenverhandlungen und die Ansprüche Hunderter Bohrinselarbeiter standen auf seiner Agenda, eine hochkomplizierte Materie, mit der verglichen ihm die Albträume seines Sohnes wie ein Klacks erschienen.

»Hör zu«, sagte er beschwichtigend zu Andrea, »wir wohnen in einem alten Haus, in dem es knirscht und knackt, wie das in alten Häusern so üblich ist. Es hat mit dem Umzug zu tun. Du wirst sehen, es hört bald auf.«

Aber die Albträume hörten nicht auf. Nach dem zweiten folgte in der nächsten Nacht der dritte. Manchmal herrschte ein, zwei Nächte lang Ruhe, doch dann ging es wieder los, beängstigender denn je. Die Träume traten mit erschreckender Regelmäßigkeit auf, bis zu fünf Mal die Woche.

Und so hallte in jenem ersten Frühling des neuen Jahrtausends nahezu täglich das laute Weinen eines kleinen Jungen durch das traditionelle Holzhaus im Küstenstreifen von Loui­siana. Andrea gab sich größte Mühe, aber James ließ sich von nichts und niemandem beruhigen. Da er zu früh zur Welt gekommen war und als Neugeborenes Gewichtsprobleme gehabt hatte, achtete Andrea besonders auf eine sorgfältige medizinische Begleitung. Bald nach ihrem Umzug nach Lafayette hatte sie eine Straße weiter den jungen Kinderarzt Dr. Doug Gonzales gefunden, der bei seiner ersten Untersuchung keine Auffälligkeiten bei James festgestellt hatte. Als die Albträume anfingen, rief sie ihn an. Er beruhigte sie: Solche Nachtängste seien normal und würden bald nachlassen. Kein Grund zur Besorgnis. Und er bestätigte das, was sie in den Ratgebern gelesen hatte: Sie solle den Jungen, wenn er träumte, nicht plötzlich aus dem Schlaf reißen oder erschrecken.

Nach ein paar Wochen legte sich Andrea zum Schlafen näher an James’ Kinderzimmer, damit sie schneller bei ihm sein konnte. Sie war immer darauf gefasst, dass er mitten in der Nacht weinte, und wachte beim kleinsten Geräusch auf. James dagegen, berichtete sie Bruce, schlief während seiner Albträume so fest, dass sie ihn mit aller Macht an sich drücken musste, um den Bann zu brechen.

Bruce redete seinem Sohn ins Gewissen. »Hör mal«, sagte er, »du musst damit aufhören. Was immer der Grund dafür ist, du musst darüber hinwegkommen.« Doch es stellte sich heraus, dass die Träume nichts waren, was ein Zweijähriger kontrollieren konnte, selbst wenn Daddy deshalb böse wurde.

Fast zwei Monate nach dem ersten Albtraum schrie und strampelte James in den Nächten immer noch, und Andrea wollte endlich herausfinden, was er dabei sagte. Seine Schreie, hatte sie festgestellt, waren nicht bloß schrille Laute, in ihnen verbargen sich einzelne Worte. Eines Nachts glaubte sie etwas zu verstehen und lief eilig den Flur zurück zu ihrem schlafenden Mann. Sie rüttelte ihn wach.

»Bruce, du musst dir anhören, was er sagt!«

Bruce blickte sie schlaftrunken an. »Was meinst du damit?«

»Bruce, du musst dir anhören, was er sagt!« Bruce war genervt, aber er quälte sich aus dem Bett. »Was zum Teufel ist denn los«, knurrte er missmutig.

Doch als er in der Tür zum Kinderzimmer stand, verstand auch er einzelne Worte, und sein Ärger schwand.

James lag auf dem Rücken, strampelte und krallte die Hände in die Bettdecke … als ob er sich aus einem Sarg befreien wollte. Es sieht aus wie in Der Exorzist, dachte ich – fast erwartete ich, dass sich sein Kopf nach hinten verdrehen würde wie bei diesem kleinen Mädchen im Film. Mir kam sogar der Gedanke, dass ich vielleicht einen Priester holen sollte. Aber dann hörte ich, was James sagte …

»Flugzeug fällt runter! Flugzeug brennt! Kleiner Mann kann nicht raus!«

James’ zweiter Geburtstag lag noch nicht lange zurück. Der Junge lernte gerade erst, sich in zusammenhängenden Sätzen auszudrücken und seine Gedanken zu formulieren. Doch was er in seinem Bett liegend ausstieß, klang so eindringlich, plausibel und in seiner Verzweiflung so unkindlich, dass es Bruce Leininger die Sprache verschlug. Sein Leben lang war er ein Macher gewesen, ein Mann, der alles in Ordnung brachte, der wusste, was zu tun war, weil er fast jedes Problem rasch erfasste, zergliederte und eine Lösung fand. Doch in jener Nacht, an der Schwelle zum Zimmer seines Sohnes, stand er da wie gelähmt – und verspürte einen Anflug von Angst. Für diese panischen Sätze musste es einen Grund geben, davon war er überzeugt.

2

In dem, was dem kleinen James Leininger zustieß, versteckten sich viele spannende Hinweise. Wären Bruce und Andrea nicht so sehr von ihren eigenen kräftezehrenden Herausforderungen absorbiert gewesen, hätten sie früher darauf kommen können, dass Flugzeuge eine wichtige Rolle spielten.

Zunächst lenkten die vielen anderen Aufgaben sie von dieser Spur ab. (Das sollte sich in den folgenden Monaten gründlich ändern.) Vorläufig stand das Einleben in Lafayette, ihrer neuen Heimat, im Vordergrund.

Der Beginn des neuen Jahrtausends hatte sie nervlich sehr beansprucht. Zuerst war bei vielen Menschen die Angst vor dem Jahr-2000-Problem umgegangen, die sich zum Glück als unbegründet herausstellte.

Dann hatten die Leiningers den Umzug von Dallas nach Lafayette zu bewältigen gehabt, eine hektische, komplizierte Neuordnung ihres häuslichen Lebens.

Schon die Logistik war knifflig. Und für Andrea kam noch die traurige Tatsache hinzu, dass ihre Schwestern und ihre Mutter künftig über sechshundert Kilometer von ihr entfernt wohnen würden. Aber sie riss sich zusammen, weil sie begriff, dass die Karriere ihres Mannes an einem kritischen Punkt angelangt war und ihr selbst die Aufgabe zukam, ihn zu unterstützen. Am Donnerstag, den 1. März 2000, unterzeichneten Bruce und Andrea den Kaufvertrag für ein siebzig Jahre altes Holzhaus im traditionellen Stil dieser Gegend in einer ruhigen, baumreichen Straße von White Oak.

Während Andrea sich in Optimismus übte (der Frühling hatte begonnen, die Azaleen blühten, die ganze Stadt war ein Traum in Rosa, Weiß und Rot), traf sie die schnöde Realität wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Bevor sie ihr Haus am West St. Mary Boulevard beziehen konnten, mussten sie ein verlängertes Wochenende in einem schäbigen kleinen Zimmer durchstehen, sechs Kilometer entfernt im Industriegebiet von Lafayette.

Es war nur eine Zwischenlösung, bis am Samstag der Umzugswagen eintreffen sollte. Danach würde Andrea genug Zeit haben, ihr neues Zuhause wohnlich einzurichten, was in ihrem Fall gleichbedeutend war mit makelloser Sauberkeit. Denn diesmal, erklärte sie Bruce entschlossen, würde sie bleiben. »Ich ziehe nicht noch einmal um«, war die resolute Aussage.

Zuerst allerdings musste die Familie das lange Wochenende in einem der schmuddeligen Oakwood Bend Apartments überstehen, in denen die OSCA übergangsweise ihre müden, verdreckten Arbeiter unterbrachte, wenn sie von der monatelangen Schichtarbeit auf den Bohrinseln im Golf von Mexiko aufs Festland zurückkehrten. Wie Bruce es seit November in diesem erbärmlichen Loch aushielt, war Andrea ein Rätsel.

Als sie das Licht anknipste, kam es ihr vor, als kröche ihr der Dreck an den Beinen hoch. Die Schmutz- und Staubschichten, auf denen sich mit den Jahren Erdölkrusten gebildet hatten, erschienen ihr widerwärtig organisch.

Selbst an der Decke klebte die ölige Hinterlassenschaft der vielen vorigen Bewohner. Die Innenseite des Duschvorhangs war überzogen von schwarzem Schimmel und Stockflecken. Als Andrea den Ventilator anschaltete, wirbelte in dicken Klumpen der Staub herunter. Im ersten Moment glaubte sie, eine Katze wäre von den Flügeln gesprungen.

»Sieh zu, dass James nichts anfasst«, schärfte sie Bruce ein. »Ich gehe und kaufe Putzmittel.«

Zuerst brachte sie ihre Notunterkunft so weit in Schuss, dass sie zumindest frei atmen konnten. Dann klingelte das Telefon: Ihr Umzugswagen hatte auf der Interstate eine Panne gehabt und würde erst am Montag in Lafayette ankommen.

Es blieb ihnen nichts weiter übrig, als das Beste aus der ­Situation zu machen. In diesen Tagen entwickelten die Leiningers eine Standardgeste, mit der sie zukünftig auf jede Art von Alltagsärger reagierten: Achselzucken. Schließlich kam der ersehnte Moment: Sie stiegen ins Auto, um zu ihrem neuen Heim zu fahren. Unterwegs kam der Verkehr plötzlich fast zum Stillstand. Die beiden großen Durchgangsstraßen waren nur noch einspurig befahrbar. Die anderen Spuren waren gesperrt, auf ihnen standen bunte Imbissbuden. Es war Mardi Gras.

Bruce und Andrea wussten, dass Lafayette im Kernland der Cajun-Kultur lag, einem Gebiet, das ursprünglich von Frankokanadiern besiedelt worden war, die man 1755 aus Neuschottland ausgewiesen hatte, als sie sich weigerten, den Briten Gefolg­schaft zu schwören. Aber sie hatten nicht damit gerechnet, dass die katholische Cajun-Kultur noch so tief in der Gegend verwurzelt war. Die Nachfahren der Cajuns nahmen die festlichen Aktivitäten vor der Fastenzeit sehr ernst. New Orleans war natürlich weltberühmt für seinen Umzug am Fastnachtsdienstag, aber auch Lafayette feierte ausgelassen und stolz. An diesem Tag lieferte in Lafayette niemand die Post aus. Die Schulen blieben eine Woche lang geschlossen, und fünf Tage wurden die Hauptstraßen zwei bis drei Mal täglich wegen der prachtvollen Umzüge gesperrt.

Nach dem strapaziösen Putzen, dem Verkehrsstau und dem aufreibend engen Zeitplan waren die Leiningers bereits völlig erschöpft, als früh am Morgen des 5. März, einem Montag, endlich ihr Umzugswagen um die Ecke bog. Trotzdem schickte Andrea Bruce zur Arbeit. Sie würde das Entladen und Einräumen des Mobiliars allein beaufsichtigen. Es fehlte gerade noch, dass ihr neben James auch Bruce dabei in die Quere kam. Sie hatte eine genaue Vorstellung, wo alles stehen sollte.

Doch sogar ihre Energie hatte irgendwann ein Ende. Sie konnte schlicht und einfach nicht überall zugleich sein. Immer wieder verlor sie James aus den Augen. Sie hatte ihm eingeschärft, er müsse im Haus bleiben, solange sie die Helfer dirigierte. Aber in einem unbeobachteten Moment tapste der knapp zweijährige Knirps aus der Haustür, die die Helfer beim Hereintragen der Kartons und Möbel offengelassen hatten.

Andrea sprintete hin und her, gab den Umzugshelfern Anweisungen und zog zwischendurch James unter Hecken und Büschen hervor. Schließlich – das brachte das Fass zum Überlaufen – musste sie ihn auch noch aus dem Umzugswagen ­holen. Als sie sich daraufhin vorstellte, wie ihr Kleiner von einem schweren Stiefel getroffen wurde oder gar blutend unter einem heruntergefallenen Möbelstück lag, gab sie auf. Sie rief Bruce auf seinem Handy an und bat ihn, sofort nach Hause zu kommen. Dessen Chef, der wegen des bevorstehenden Börsengangs und der damit verbundenen Arbeitsbelastung nicht ­weniger unter Stress stand, musste widerstrebend einräumen, dass Bruce an diesem Tag seiner Frau zur Seite stehen sollte.

In den folgenden Tagen beruhigte sich die Lage. Nachbarn tauchten auf und brachten Einzugsgeschenke – Essen zum Aufwärmen, Blumenkörbe und Listen von Drugstores, die am Wochenende und abends geöffnet hatten. Nach dem beschwerlichen Einzug in das neue Heim folgte eine entspannte Zeit.

Und das Leben ging weiter. Andrea war von früh bis spät damit beschäftigt, dem Haus ein freundliches Gesicht zu geben. Bruce arbeitete fünfzehn, sechzehn, siebzehn Stunden pro Tag.

Erst neun Tage nach ihrem Einzug und nachdem das Mardi-­Gras-Fieber abgeklungen war, fand Andrea die Zeit, nach den passenden Handtüchern fürs Badezimmer zu suchen. Sie fuhr zum Einrichtungshaus und erlebte die Innenstadt von Lafayette im Normalzustand, ohne Umzüge, Imbissbuden und Scharen von Touristen.

Es war ein sonniger Tag, und sie war bester Laune. Die neue Stadt erschien ihr schon gar nicht mehr so fremd. Als sie James in seinem Buggy zur Badabteilung schob, kamen sie an dem Bastel- und Spielzeuggeschäft Hobby Lobby vorbei. Neben dem Eingang standen Behälter mit allen möglichen Plastikfahrzeugen.

»Oh, schau mal«, sagte Andrea und zog ein kleines Propellerflugzeug aus dem Behälter. Sie gab es James, der es genau betrachtete. »Und da unten ist sogar eine Bombe dran!«, sagte sie, um ihm das Spielzeug schmackhaft zu machen. Sie hoffte, es würde ihren Sohn ablenken, während sie nach Handtüchern suchte.

Aber was der kleine James dann sagte, machte sie sprachlos. »Das ist keine Bombe, Mama, das ist ein Abwurftank.«

Andrea hatte keine Ahnung, was ein Abwurftank war. Erst als sie abends mit Bruce darüber sprach, erfuhr sie, dass damit ein Zusatztank gemeint ist, mit dem die Reichweite von Flugzeugen erhöht wird. »Woher kann er das wissen?«, fragte sie verblüfft.

Bruce schüttelte den Kopf. Vielleicht hatte James bemerkt, dass sich an dem Tank keine Flossen befanden – eine Bombe hätte Flossen gehabt.

Aber auch das konnte der Kleine eigentlich nicht wissen.

»Er kann das Wort nicht mal richtig aussprechen«, sagte Andrea. »Ich hätte ihn fast nicht verstanden. Statt Hobby Lobby sagt er Hobbly Wobbly. Woher soll er wissen, was ein Abwurftank ist? Ich hab das Wort ja selbst noch nie gehört!«

Es war eine merkwürdige Geschichte, aber Sorgen machten sich James’ Eltern nicht. Noch nicht. Erst als die Albträume anfingen.