Das Buch
Helgoland – ein rauer Felsen in der Nordseebrandung und zugleich Symbol und Kampfplatz deutscher wie englischer Historie. Als kleinste englische Kolonie war die Insel Rückzugsort deutscher Liberaler wie Heinrich Heine und Hoffmann von Fallersleben, später umkämpfte Seefestung und Schauplatz zweier Weltkriege. Der Historiker Jan Rüger behandelt Helgoland als Spiegelbild und Mikrokosmos einer großen europäischen Geschichte. Er zeigt die Insel jenseits der Nationen und Völker als einen Ort der historischen Vielfalt und als Mahnmal für einen dauerhaften europäischen Frieden.
»Eine brillante und subtile Geschichte der englisch-deutschen Beziehungen … ein Triumph der Mikrogeschichte.«
Christopher Clark
»Ein Prisma, durch welches die gesamte Spanne der anglo-deutschen Rivalität, des Konfliktes und der Versöhnung sichtbar wird.«
The Guardian
Der Autor
Jan Rüger ist Professor für Geschichte am Birkbeck College der University of London. Er studierte in München und London und promovierte in Cambridge. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt auf den deutsch-englischen Beziehungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Rüger veröffentlichte neben zahlreichen Aufsätzen bereits das Buch The Great Naval Game. Britain and Germany in the Age of Empire (2007).
Jan Rüger
HELGOLAND
Deutschland, England und ein Felsen in der Nordsee
Aus dem Englischen
von Karl Heinz Siber
Propyläen
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel
Heligoland. Britain, Germany, and the Struggle for the North Sea bei Oxford University Press.
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ISBN 978-3-8437-1669-7
© 2017 Jan Rüger
© für die deutsche Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017
Lektorat: Leo Schwarz
Titelabbildung: © August Piepenhagen/Van Ham-Sascha Fuis
Umschlaggestaltung: Morian & Bayer-Eynck, Coesfeld
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Für Paul und Anna
Die Insel ist wie ein zu kleiner Stern.
Rainer Maria Rilke, »Die Insel (Nordsee)«
Abbildung 0.1 Die Nordsee mit Helgoland im südöstlichen Teil. Ausschnitt aus »A Map of the Island of Heligoland« von G. Testoline, 1810
PROLOG
Zwischen den Welten
DRAUSSEN IN DER NORDSEE, fünf Stunden nordwestlich von Hamburg und 300 Meilen vor der Küste Englands, liegt Helgoland. Bei gutem Wetter sieht man aus mehr als zwölf Meilen Entfernung seine imposanten Klippen, die als steile Wand 25 Meter aus der Brandung aufragen: Helgoland ist eine sich aus dem Meer erhebende Felsenfestung. Einen knappen Kilometer östlich liegt eine flache Sandinsel, die »Düne«. Sie wirkt an dieser Stelle wie ein geologischer Zufall, der von der Nordsee jeden Moment weggeschwemmt werden könnte. Zwischen diesen Zwillingsinseln erstreckt sich ein bei Ebbe und Flut relativ ruhiger Streifen Wasser, eine Reede, durch die Klippen Helgolands von den nordwestlichen Winden abgeschirmt. Seeleute haben sich diesem Naturhafen anvertraut, seit Menschen begonnen haben, das Meer zwischen Kontinentaleuropa und den britischen Inseln zu befahren.
Über Generationen hinweg sind sich Großbritannien und Deutschland in diesem Archipel von der halben Größe Gibraltars begegnet, oft gewaltsam. Die Geschichte der beiden Länder hat die rostfarbenen, zerfurchten Sandsteinklippen Helgolands geprägt. Auf Schritt und Tritt offenbart die vernarbte Landschaft der Insel Spuren des Krieges: Krater und versprengte Felsformationen, Bruchstücke aus Eisen und Beton, Überreste des stark befestigten Flottenstützpunkts, mit derselben Entschlossenheit erbaut wie zerstört, die überwucherten Ruinen deutscher Seemachtträume, Hinterlassenschaft wiederholter Bombardierungen. Britische Truppen zündeten hier 1947 die größte nicht-atomare Explosion aller Zeiten und sprengten, was von Hitlers Inselfestung noch übrig war. In ihrem Trümmerschutt sollte die Geschichte des gewaltsamen Konflikts zwischen England und Deutschland ihren endgültigen Abschluss finden. Als die Regierung Attlee im Parlament hartnäckig gefragt wurde, weshalb sie nicht bereit sei, Helgoland »zurückzugeben«, erklärte sie, die Insel stehe für alles, was mit den Deutschen falsch gelaufen sei in der jüngsten Geschichte: »Wenn es eine Tradition gibt, die es verdient hätte, abgeschnitten, und eine Einstellung, die es verdient hätte, ins Gegenteil verkehrt zu werden, dann wäre das die deutsche Helgolandschwärmerei.«1 Vor allem stand der Inselvorposten für eine lange Tradition des Militarismus, die London für immer begraben sehen wollte.
Lange bevor Helgoland ein deutsches Bollwerk in der Nordsee und ein Streitobjekt in zwei Weltkriegen wurde, war es Großbritanniens kleinste Kolonie gewesen, bewohnt von notorisch unzufriedenen Grenzgängern. Ihre Lage an den Rändern Europas, wo das britische Empire endete und die deutschsprachige Welt begann, faszinierte Geographen und Kolonialbeamte. Sir Charles Prestwood Lucas, Leiter des Referats für die Dominions im britischen Kolonialministerium, beschrieb Helgoland 1888 als
den Punkt, an dem Großbritannien und Deutschland am engsten miteinander in Kontakt kommen, und […] den einzigen Ort auf der Welt, wo die britische Regierung eine voll und ganz teutonische, nicht Englisch sprechende Bevölkerung regiert.2
»Kontakt« war dabei eine Untertreibung. Ein Dickicht aus Gesetzen und Gewohnheitsrechten machte es unmöglich, auf der Insel eine klare Grenze zu ziehen zwischen dem britischen Empire und den verschiedenen Inkarnationen Deutschlands, die das lange 19. Jahrhundert hervorbrachte. Für die Deutschen, die die Kolonie zunehmend besuchten, seit dort 1826 der Kurbetrieb eröffnet worden war, lag Helgoland ein kleines Stück jenseits des »Vaterlands«, war und blieb aber stets ein Teil davon.
Von früh an war Helgoland nicht nur ein tatsächlicher Ort, sondern auch eine Insel der Vorstellung.3 Dichter und Maler, von Heinrich Heine in den 1830er bis zu Anselm Kiefer in den 1980er Jahren, porträtierten den Außenposten als ein Wahrzeichen deutscher Identität. So unterschiedliche Gestalt diese Symbolisierung Helgolands im Verlauf der Neuzeit annahm, so blieben doch zwei Aspekte allen ihren Ausformungen gemeinsam: Es ging stets um die Grenzen Deutschlands und um seine Beziehung zum Meer. Letztere war fast zwangsläufig mit dem Blick nach England verbunden. Die emotionale Beziehung der Deutschen zu Helgoland ließ sich selten von dem Verhältnis zu Großbritannien, seiner Flottenmacht, seiner Haltung zu Europa und seiner Rolle in der Welt trennen. Über Generationen hinweg symbolisierte die Insel das Verlangen der Deutschen, mit den Briten gleichzuziehen und von ihnen als gleichrangig anerkannt zu werden. Nachdem Wilhelm II. Helgoland 1890 von den Briten erworben hatte, baute seine Regierung die Insel in eine Festung um. Helgoland wurde zum Aushängeschild des Tirpitz-Plans, jener großangelegten Strategie, mit der das Kaiserreich die Engländer zwingen wollte, Deutschland als Weltmacht anzuerkennen. Die Schlachtflotte Wilhelms II., über zwei Jahrzehnte hin aufgebaut, vermochte jedoch nicht, den Briten ihre maritime Vormachtstellung streitig zu machen.
Das nach dem Ersten Weltkrieg entmilitarisierte Helgoland wurde zum Symbol dieses Scheiterns. Die Nazis stilisierten es zur Metapher für die schändliche Demütigung ihres »Vaterlands« durch die Siegermächte – Joseph Goebbels sprach von einer »stummen Warnung«, die nach Vergeltung verlangte.4 Hitler ließ nach seiner Machtübernahme die Festung wieder auf- und erheblich ausbauen. Sie sollte den Willen Deutschlands unterstreichen, Großbritannien selbstbewusst entgegenzutreten. Die Ruinen der von der Royal Air Force gründlich zerbombten Insel wurden nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Mahnmal, aber auch zu einem Symbol des deutschen Nationalismus nach 1945. Als Großbritannien Helgoland 1952 der Bundesrepublik unterstellte, verkündete Bundeskanzler Adenauer, seinem Land sei endlich ein Stückchen Erde zurückgegeben worden, dem die Deutschen mit so viel Liebe verbunden seien. Die Insel werde von jetzt an der Welt zeigen, dass die Deutschen ihre Vergangenheit überwunden hätten: »Das friedliche Helgoland, im Meere zwischen Deutschland und England gelegen, wird in Zukunft Wahrzeichen für den Friedens- und Freundschaftswillen beider Nationen sein.«5
Für die Briten fungierte Helgoland als Fenster, das ihnen Einblicke in die deutsche Politik eröffnete. Austin Harrison, Chefredakteur des Observer, hatte die Insel schon 1907 als eine »Parabel« für das englisch-deutsche Verhältnis bezeichnet.6 Das Bedeutungsspektrum dieser Metapher erlebte im Verlauf der zwei Jahrhunderte dramatische Veränderungen, während sich das Verhältnis zwischen den beiden Ländern grundlegend wandelte. Als die Regierung Salisbury die Kolonie ans Deutsche Reich abtrat, wurde dies zu einer Geste der Freundschaft erklärt, die ein neues Zeitalter englisch-deutscher Zusammenarbeit einläuten werde. Doch ab der Wende zum 20. Jahrhundert nahm Helgoland in der Vorstellung der Briten einen entschieden anderen Charakter an: Aus der entlegenen Kolonie, dem »Schmuckstück der Nordsee«, wurde ein finsterer Inselfelsen, der die deutsche Gefahr symbolisierte.7 H. G. Wells, Erskine Childers und eine Vielzahl weniger hochkarätiger Autoren stilisierten die Meeresbastion zum Symbol der Bedrohung durch Deutschland – und des britischen Unvermögens, sich ihr entgegenzustellen.8 Die Insel dem Kaiser zu überreichen, sei ein monumentaler Fehler gewesen, erklärten Winston Churchill und Admiral John Fisher. Mit ihrem Mantra »No more Heligolands« meinten sie: keine weiteren Zugeständnisse, kein weiteres Appeasement.9
Als Ort, an dem sich imperiale und nationale Geschichte überschneiden, lässt Helgoland die englisch-deutsche Vergangenheit in einem neuen Licht erscheinen. Die meisten Geschichtswerke, die sich mit dem Verhältnis zwischen den zwei Ländern befassen, konzentrieren sich auf die beiden Weltkriege. Es gibt kaum wissenschaftliche Darstellungen, die sowohl das 19. als auch das 20. Jahrhundert überspannen.10 Dieses Fehlen einer langfristigen Perspektive hat ein irreführendes Bild erzeugt: Das 19. Jahrhundert erscheint als bloßer Vorlauf zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Wir haben uns an eine Geschichtsdeutung gewöhnt, die die hundert Jahre zwischen dem Wiener Kongress und dem Ersten Weltkrieg als eine Kontrastfolie sieht, der sich eine Geschichte der »Eskalation des Antagonismus« entgegenstellen lässt, die Geschichte einer dramatischen Wende von der Eintracht zur Feindschaft. Tatsächlich waren Großbritannien und Deutschland über weite Teile des 19. Jahrhunderts weder Bündnispartner noch in ständige Konflikte miteinander verwickelt. Zwischen beiden herrschte ein entschieden ambivalentes Verhältnis, schon lange bevor Wilhelm II. beschloss, seine Schlachtflotte als Gegengewicht zur britischen hochrüsten zu lassen. Was in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg passierte, war kein unaufhaltsames Auseinanderdriften in Richtung Gegnerschaft, sondern eine Entwicklung, bei der sich sowohl die Zusammenarbeit als auch die Konflikte steigerten. Diese Dynamik der wechselseitigen Abhängigkeit kam nach dem Zweiten Weltkrieg erneut zum Tragen, wenngleich unter radikal veränderten Bedingungen. Um diesem Geschehen gerecht zu werden, müssen wir die traumatischen Phasen der Weltkriege in die übergreifende Geschichte der englisch-deutschen Koexistenz einpassen – die in diesem Buch von den napoleonischen Kriegen bis in den Kalten Krieg hineinreicht.
Ein solchermaßen verlängerter Zeithorizont regt uns an, in unserer Geschichte mehr als nur ein nationales Gebilde zu sehen. Das erste Kapitel dieses Buches öffnet ein Fenster in eine Zeit, in der »Deutsche« und »Briten« nur unscharf definierte Bezeichnungen waren. Die Nordseeanrainer, die sich gegen Napoleon zusammentaten, identifizierten sich noch kaum nach den nationalen Kategorien, die erst später in feste Formen gegossen wurden. Für viele von ihnen waren lokale und regionale Zugehörigkeiten sehr viel entscheidender. Die Bewohner der kleinen britischen Nordseekolonie zeigten das ganz besonders. Eingekeilt zwischen dem britischen Weltreich und dem deutschen Nationalstaat, legten die Helgoländer großen Wert darauf, eine eigene, unabhängige Identität zu pflegen. Im August 1890 erfuhren sie, dass sie nicht mehr Untertanen des britischen Empires waren, sondern Bürger des Deutschen Reiches. Aber sie mussten erst noch »eingedeutscht« werden, wie der auf die Insel entsandte Beamte des deutschen Auswärtigen Amtes es ausdrückte.11 Die Geschichte der Menschen ist für dieses Buch genauso wichtig wie der Blick auf Helgoland aus Berlin und London. Sie spiegelt die vielen Episoden der englisch-deutschen Vergangenheit wider, in denen Flüchtlinge und Migranten eine Schlüsselrolle für die Entwicklung beider Länder gespielt haben. Wenn etwas das Verhältnis zwischen diesen Ländern in den vergangenen zwei Jahrhunderten dauerhaft gekennzeichnet hat, dann war es die Tatsache, dass das Hin und Her von Menschen zwischen den deutsch- und den englischsprachigen Teilen Europas nie aufgehört hat. Diese Tatsache macht es ungeheuer schwer, die britisch-deutsche Geschichte, wie so viele Historiker es tun, in einen klassisch nationalen Rahmen einzupassen.
Den großen, zwei Jahrhunderte überspannenden Bogen der englisch-deutschen Beziehungen nachzuzeichnen, eröffnet uns ein besseres Verständnis für die vielen Ebenen, auf denen Europa und das britische Empire miteinander verflochten waren. Historiker haben, ebenso wie Politiker, eine Sichtweise gepflegt, die davon ausgeht, dass das Empire Großbritannien in die Lage versetzte, sich von Europa abzuwenden – als seien dies zwei einander ausschließende Optionen, zwischen denen die Briten sich entscheiden mussten. Das ist in hohem Maß eine Vorstellung des 20. Jahrhunderts, die vor allem die veränderte Stellung Großbritanniens in der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg reflektiert. Tatsächlich hatte das imperiale Projekt der Briten nie eine Loslösung von Europa als Vorbedingung. Genauso wenig eröffnete es den Briten die Möglichkeit, sich von Europa zu isolieren. Seinen Handel trieb das Vereinigte Königreich nur selten ausschließlich mit Europa oder mit dem Rest der Welt, sondern fast immer mit beiden. Dasselbe galt in strategischer Hinsicht: Die koloniale Expansion setzte Ruhe in Europa voraus, und umgekehrt gingen Konflikte in den Kolonien typischerweise mit Krisen in Europa einher.
So wie Empire und Europa nie zwei getrennte Sphären waren, zwischen denen Großbritannien wählen konnte oder musste, waren auch für das moderne Deutschland die nationale und die imperiale Entfaltung nie zwei sauber getrennte Handlungsfelder. Die Erzwingung des Bismarck’schen Nationalstaats und dessen dynamische Expansion in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg vollzogen sich in einem globalen Kontext, in dem das britische Empire eine Schlüsselrolle spielte.12 Gerade in dieser Zeit, in der den Landesgrenzen eine neue nationale Symbolkraft zuwuchs, hing der Wohlstand der Nationen immer mehr davon ab, dass sie die Grenzen zwischen sich überwinden konnten.13 Der Fall Helgoland ist exemplarisch für diesen Widerspruch. Er zeigt die Geschichte der transnationalen Beziehungen zwischen Deutschland und dem britischen Empire im 19. Jahrhundert. Er zeigt aber auch die zunehmende Infragestellung dieser Zusammenarbeit durch den Prozess der Nationalisierung, der sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts beschleunigte. Nachdem das Deutsche Reich 1890 Helgoland im Tausch für koloniale Zugeständnisse in Afrika erworben hatte, versuchte es auf der Nordseeinsel einen symbolischen Trennungsstrich zwischen Deutschland und England zu ziehen – dies aber ausgerechnet in einer Phase, in der die wechselseitigen Abhängigkeiten immer größer wurden.
Indem dieses Buch eine kleine Insel in der Nordsee zur Hauptfigur einer Geschichte Großbritanniens und Deutschlands macht, knüpft es an eine Tradition der Geschichtsschreibung an, die das Große im Kleinen entdeckt hat – die Mikrogeschichte.14 Niemand wird bezweifeln, dass der Ort, der das Herzstück dieses Buches bildet, winzig ist: Helgoland war die kleinste aller britischen Kolonien und selten von mehr als 3000 Menschen bewohnt.15 Ein britischer Diplomat beschrieb die Insel in den 1870er Jahren als »den verwunschensten kleinen Flecken, den man sich vorstellen kann«.16 Helgoland besitze »die Attribute einer jener wunderbar malerischen Inseln, wie sie in Märchenbüchern erscheinen«, kommentierte ein britischer Reisender noch in den 1930er Jahren.17 Auch deutsche Besucher waren dieser Meinung: Die Klippen, die Strände, das Städtchen mit seinem Kirch- und seinem Leuchtturm, all das entsprach perfekt der Vorstellung von einer »Heimat« mitten im Meer.
Die Erkundung dieser kleinräumigen Welt und der Anziehung, die sie auf Zeitgenossen ausübte, erlaubt uns, von der »olympischen« Warte herabzusteigen, die so viele historische Darstellungen charakterisiert.18 Allzu oft sind die Protagonisten in Geschichtswerken über internationale Beziehungen ausschließlich Staatsmänner und Politiker. Der »Aufstieg und Fall der großen Mächte« vollzog sich jedoch nicht nur in den Amtszimmern von Whitehall und der Berliner Wilhelmstraße, sondern manifestierte sich auch im Alltagsleben der Menschen. Das Beispiel Helgoland versetzt uns in die Lage, eine Lokalgeschichte der englisch-deutschen Beziehung zu schreiben. »Lokal« sollte dabei allerdings nicht im Sinne eines von der großen Politik losgelösten örtlichen Geschehens verstanden werden.19 Eine überzeugende Mikrogeschichtsschreibung befasst sich stets zugleich mit den kleinen Gegebenheiten und dem größeren Kontext. Dieses Buch versucht das zu tun, indem es ständig Verknüpfungen schafft zwischen lokalen, regionalen, nationalen und imperialen Archiven. Der Bogen spannt sich von kleinen Aktenbeständen an verschiedenen Orten im Norden Deutschlands und im Süden Englands bis zu den großen Staatsarchiven (vor allem in Großbritannien und Deutschland, aber auch in Dänemark, Australien, Kanada und den USA). Das Buch lässt die Perspektive, wie sie sich aus den politischen Cockpits in London und Berlin bot, keineswegs außer Acht. Es bricht diesen Blick jedoch durch die Sicht des alltäglichen Lebens der Helgoländer und derer, die mit ihnen verkehrten, darunter Spione, Schmuggler, Soldaten und Geschäftsleute. Ihre Stimmen unterbrechen den Fluss der Depeschen und Memoranden, die sich in den Aktenschränken der deutschen und britischen Ministerien aneinanderreihen. Wir gewinnen ein stimmigeres Bild der Vergangenheit, wenn wir denen Gehör schenken, die ganz direkt im englisch-deutschen Kampf um die Nordsee verwickelt waren.
Der bedeutende französische Historiker Fernand Braudel hat einmal geschrieben, die Geschichte bediene sich der Inseln.20 Er meinte das in einem geographischen Sinn: Inseln haben nach seiner Erkenntnis seit jeher als Trittsteine für Handel und Migration fungiert. Die Aussage gilt aber auch im metaphorischen Sinn: Von dem Augenblick an, da Helgoland im Zuge der napoleonischen Kriege die politische Bühne Europas betrat, bis zu der Phase gegen Ende des 20. Jahrhunderts, in der es sich von dieser Bühne verabschiedete, war es nie nur eine geographische Realität, in der Menschen lebten und starben, sondern immer auch ein Produkt menschlicher Vorstellungen. Das vorliegende Buch bewegt sich ständig in sowohl der einen als auch der anderen Sphäre. Es erklärt, welche Rolle dieser insulare Außenposten am Rande des Kontinents spielte, an dem sich die Schnittlinien von Empire und Europa kreuzten. Gleichzeitig legt es dar, was die Menschen in den letzten zwei Jahrhunderten über die Insel gedacht haben – und wie sie dadurch die Beziehung von Großbritannien, Deutschland und dem zwischen ihnen liegenden Meer deuteten. Ein reicher Schatz an Dokumenten versetzt uns in die Lage, dies zu tun: Gemälde, Gedichte, Schriften, Musik, Landkarten, Reisetagebücher, Fotografien, Filme. Das Buch schnürt diese vielfältigen Quellen unter einem Ortsnamen zusammen.21 Es eröffnet, mehr oder weniger chronologisch geordnet, Einblicke in die Lebensläufe, die Entscheidungen und Ereignisse, die Kultur und die Politik, welche diesen Inselfelsen zu einem Mikrokosmos der englisch-deutschen Beziehungen gemacht haben.