Der Autor

Christian Baron wurde 1985 in Kaiserslautern geboren. Er studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Germanistik in Trier. Nach Stationen bei der Lokalzeitung Die Rheinpfalz und Neues Deutschland sowie Veröffentlichungen bei nachtkritik, Neue Zürcher Zeitung und Theater der Zeit arbeitet er seit 2018 als Redakteur bei der Wochenzeitung der Freitag.

Das Buch

»Mochte mein Vater auch manchmal unser letztes Geld in irgendeiner Spelunke versoffen, mochte er auch mehrmals meine Mutter blutig geprügelt haben: Ich wollte immer, dass er bleibt. Aber anders.«

Kaiserslautern in den neunziger Jahren: Christian Baron erzählt die Geschichte seiner Kindheit, seines prügelnden Vaters und seiner depressiven Mutter. Er beschreibt, was es bedeutet, in diesem reichen Land in Armut aufzuwachsen. Wie es sich anfühlt, als kleiner Junge männliche Gewalt zu erfahren. Was es heißt, als Jugendlicher zum Klassenflüchtling zu werden. Was von all den Erinnerungen bleibt. Und wie es ihm gelang, seinen eigenen Weg zu finden.

Mit großer erzählerischer Kraft und Intensität zeigt Christian Baron Menschen in sozialer Schieflage und Perspektivlosigkeit. Ihre Lebensrealität findet in der Politik, in den Medien und in der Literatur kaum Gehör. Ein Mann seiner Klasse erklärt nichts und offenbart doch so vieles von dem, was in unserer Gesellschaft im Argen liegt. Christian Baron zu lesen ist schockierend, bereichernd und wichtig.

Christian Baron

Ein Mann seiner Klasse

Ullstein

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Umschlaggestaltung: Sabine Wimmer, Berlin
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ISBN 978-3-8437-2244-5

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Zorn

Am Sterbebett hielt er ihn an der Hand. Ihn, der vor lauter Schläuchen und Verbänden und Kanülen nicht mehr reden konnte. Also waren die Tränen ihre Sprache. Tränen der Trauer, Tränen der Wut, Tränen der Reue – und Tränen der Erleichterung. In diesem Moment auf der Intensivstation des Westpfalz-Klinikums in Kaiserslautern erhielt ein Vater von seinem Sohn das Wertvollste, das ein Vater von seinem Sohn erhalten kann: einen Freispruch in allen Anklagepunkten.

Er sprach den Vater frei von jeder Schuld an den Wunden, die sich in die Kinderseele eingebrannt hatten. Er sprach den Vater frei von jeder Schuld an der Armut, in der die Familie leben musste. Und er sprach den Vater frei von jeder Schuld am Krebs, an dem acht Jahre zuvor die Mutter gestorben war, im Alter von zweiunddreißig Jahren. Ohne ein einziges Wort, nur mit einem Händedruck und einem sanften Blick, sagte der Sohn dem Vater während dessen letzten Atemzügen im Oktober 2003: »Ich verstehe dich. Ich verzeihe dir. Ich hab dich lieb.«

Ich hab dich lieb. Das ist ein Satz, der dem Vater niemals über die Lippen gekommen wäre. Mir aber auch nicht. Zumindest nicht ihm gegenüber. Für meinen Vater war das ein Frauensatz. Darum war es das auch für mich. Wenn ihn ausnahmsweise die Zuneigung zu seinen Söhnen übermannte, dann nannte er mich und meinen Bruder Benny »Meine Gutsten«. Den sprachlichen Fehler und den daraus sich ergebenden Witz erkannten wir schon damals, und ohne es als Kinder wirklich begreifen zu können, fühlten wir uns mit diesem ironischen Bekenntnis des Vaters wohler, als wenn er uns »in Frauensprache« bezärtelt hätte.


An Gott hab ich nie geglaubt. Aber wen hätte das je vom Beten abgehalten? Also lag ich wispernd unter der Bettdecke: Heute Abend, nur heute Abend möge der Sturm bitte schnell vorüberziehen. Ich dachte an die Nachbarin von gegenüber, die beim Müllrausbringen immer die Dresche überhörte. Ich dachte an den Mann von oben mit dieser Elvisfrisur, der beim Treppenhinabsteigen seine Kopfhörer aufsetzte und die Technomusik aufdrehte, bis das Wummern seines Walkmans das Wimmern meiner Mutter verschlungen hatte. Und ich dachte an das Keuchen der Alten aus dem Erdgeschoss, die vor ihrer Wohnungstür spätabends den Staub von der Fußmatte klopfte, im gleichen Rhythmus, wie die Schläge und Schreie durch das Treppenhaus hallten. Sie war die selbst ernannte Hausmeisterin, die über alles Bescheid wusste, aber nichts mit dem zu tun haben wollte, was sich bei uns abspielte.

Mein Bruder Benny und ich, zwei Jungs von neun und acht Jahren, ich blond und klein, er mit dunkler Mähne und ein echter Schlaks, teilten uns im Jahr 1994 ein Etagenbett. Unsere Eltern schliefen direkt neben unserem Zimmer. Darum drang es dumpf bis zu uns, wenn Mamas Kopf gegen die Wand donnerte. Niemals verloren wir darüber ein Wort. Wir spürten den Schmerz, wir betrachteten unsere zitternden Hände, wir warfen einander Blicke zu. Das Flehen und das Flennen wurden uns mit der Zeit zur Normalität.

Heute ließ beides besonders lange auf sich warten. Ich vergrub mein Gesicht unterm Kissen und genoss die letzten Minuten der Abendstille. Wie lange wartete ich? Vielleicht fünf Minuten. Kurz zog ich das Kissen weg, um frische Luft zu schnappen. Nichts. Oder doch? Draußen schlurfte mein Vater umher. Aus den halbwegs regelmäßig vernehmbaren Schritten schloss ich, dass er diesmal unter zehn Flaschen Bier geblieben war. Das aber musste noch nichts heißen. Auf der Türschwelle blieb er stehen. Der Schatten seiner starken Arme wanderte die Tapete entlang, da versenkte ich meine Nase wieder in das mit Tränen und Schweiß getränkte Kissen.

Schon vor Monaten hatte ich daraus einen Wettbewerb gegen meine Lunge gemacht. Mit jedem Mal nahm ich mir vor, einen neuen Rekord aufzustellen. Irgendwann würde ich bei den Paralympischen Spielen antreten. Ja, ich würde dort antreten und als Asthmakranker im Luftanhalten die Goldmedaille gewinnen. Irgendwann. Jetzt war ich durchgeschwitzt und brauchte Sauerstoff. Nichts war zu hören. Warum, dachte ich, bringt er es nicht hinter sich? Wieso zögert er? Was soll das alles?

Alle paar Monate tauschten Benny und ich die Plätze im Bett. Gerade lag ich oben. Von da konnte ich durch die offene Tür direkt ins Wohnzimmer blicken. Dort fuhrwerkte mein Vater am Fernseher, er verschob das Sofa, er rülpste sein Scheißegal-Rülpsen, und dann stand er wieder auf der Schwelle zum Kinderzimmer.

Seine glasigen Augen starrten mich an. Seinen rechten Arm hob mein Vater an, als schwinge er einen Hammer. Da kam aber kein Hammer zum Vorschein, sondern nur seine Hand. Seine winkende Hand. Wollte er sein Werk also diesmal im Wohnzimmer vollbringen?

Wie zwei zum Tode verurteilte Verbrecher auf ihrem letzten Gang, verließen mein Bruder und ich gesenkten Hauptes unsere Zelle und schritten dem Henker hinterher. Im Wohnzimmer spendete nur der flimmernde Fernseher ein wenig Licht.

»Wo ist Mama?«, fragte ich.

»Weg«, sagte mein Vater.

»Weg?«

»Weg.«

Sie war noch nie »weg« gewesen. Schon gar nicht ohne Vorwarnung. Ich musste ziemlich verdutzt dreingeschaut haben, denn das folgende Lächeln und der erklärende Zusatz »Krankenhaus« sahen meinem Vater so gar nicht ähnlich. Was sollte sie im Krankenhaus schon machen? War dort irgendwer eingeliefert worden, den wir kennen? War gar Mama krank?

»Was macht sie im Krankenhaus?«, fragte Benny.

»Hinsetzen«, befahl mein Vater, während er sich wieder am Fernseher zu schaffen machte und kniend den Kabelsalat entwirrte.

Als ich mich auf das Sofa setzte, starrte Benny schon auf den Bildschirm. Ich tat es ihm nach, und mein Mund blieb offen stehen. Ich las die riesigen Buchstaben auf der Mattscheibe: Super Mario Bros. Darüber ein paar Zahlen, darunter »1 Player Game« und »2 Player Game«, und ganz unten links stand ein winziges Männlein mit roter Mütze und in roten Latzhosen mitten in der Landschaft. Die Anspannung entwich mir so heftig wie die Luft einem platzenden Ballon.

Am nächsten Tag würden wir nicht zur Schule gehen. Wir würden ausschlafen. Eine traumschöne Aussicht vor einer traumschönen Nacht. Bis zum Morgengrauen spielten wir zu dritt Super Mario Bros. auf dem Nintendo. Konsole und Spiel hatte unser Vater am selben Tag klargemacht. Als Möbelpacker schleppte er für viele rund um Kaiserslautern stationierte US-Soldaten die Umzugskisten. Nicht immer, aber immer wieder fand er darin Dinge, die wir uns in hundert Jahren nicht hätten leisten können – und ließ sie »mitgehen«, wie er es formulierte. Das sei nicht recht, sagte er, aber es sei gerecht.


Beim Ausmisten finde ich im Keller in einer beinahe vergessenen Kiste diese verloren geglaubte Konsole. Meiner Geburtsstadt Kaiserslautern hatte ich schon mit neunzehn den Rücken gekehrt. Genau neun Mal bin ich in den vergangenen sechzehn Jahren umgezogen, ich habe in fünf Städten gelebt, und unbemerkt ist dieser Nintendo-Kasten mitgereist.

Den Tod meiner Mutter hat er überstanden, meinen unwahrscheinlichen Weg zum Abitur, den Tod meines Vaters, meinen noch unwahrscheinlicheren Universitätsabschluss, meine Ausbildung zum Zeitungsredakteur, vor allem aber mein Hineinwachsen in ein akademisches Milieu, das jedem Einzelnen in meiner Familie bis heute wie eine Parallelgesellschaft erscheint.

Eine intensive Lust am Spielen und eine eigentümliche Erinnerung an eine verdrängte Kindheit packen mich. Als ich die Konsole aus der Kiste nehme, entdecke ich auf dem Boden des Kartons eine Kassette. Super Mario Bros. Mein letztes noch erhaltenes Nintendo-Spiel. Ich versuche, das Ding an mein Smart-TV anzuschließen. Stundenlang klappt es nicht. Zwar signalisiert die Konsole Einsatzbereitschaft, doch es blinkt abwechselnd schwarz und grau, ich denke nach, stecke um, schnaufe schwer, schalte um, diesmal sind da nur diese zufällig flackernden Punkte, die ich früher immer »Schnee« genannt und in diesem fünfzig Zoll großen Heimkino noch nie gesehen habe.

Wenn meine in Akademikerhäusern aufgewachsenen Freunde erstmals meine Wohnung betreten, dann fällt ihr Blick immer zuerst auf diesen riesigen Fernseher. Zwischen überfüllten Bücherregalen hängt dieser Klotz an der Wand, und wenn mich der Besuch noch nicht gut kennt, dann führt diese Entdeckung regelmäßig zu erstaunten, ja peinlich berührten Reaktionen, so als hätte die jeweilige Person gerade erkannt, dass der Papst sich jede Nacht auf Sport 1 die Sexy Sport Clips reinzieht. Ein Fernseher gilt vielen Bildungsbürgern als Statussymbol der Ungebildeten. Sie selber pfeifen aufs lineare Fernsehen, denn sie bingewatchen ihre Serien auf dem Laptop oder über einen Beamer.

Als Kind war der Fernseher für mich ein Schaufenster in die große weite Welt, die ich normalerweise niemals hätte zu Gesicht bekommen können. Seit meinem Bildungsaufstieg habe ich viele Länder gesehen, aber die Sehnsucht nach einem Fernseher werde ich nicht los. Dazugehören zu den jungen, gesunden, progressiven Großstadtakademikern will ich aber auch. Darum ist es heute bei mir so: Wenn der Flachbildschirm ausgeschaltet ist, dann verdeckt ihn ein Vorhang, so als verstecke ein Teenager seine Schmuddelhefte unter dem Bett. Die Bücherregale dagegen stelle ich aus wie ein Pfau seine Federnpracht.

Warum verdammt noch mal läuft dieses Scheißding nicht? Ich will die Controller gegen die Wand schleudern und bemerke, dass ich diesen Jähzorn von meinem Vater geerbt haben muss. Wenn ihm etwas misslang, und sei es nur, dass ihm beim Kreuzworträtsel eine Lösung nicht einfiel, dann mussten alle in Deckung gehen. Teller und Tassen, Flaschen und Feuerzeuge, Aschenbecher und Asthmaspray flogen durch die Gegend. Meine Mutter drückte routiniert die Köpfe ihrer Kinder herunter, und jeder betete für sich allein, der Zorn möge heute nicht von Gegenständen auf Menschen übergehen.

Manchmal zwangen Benny und mein Vater mich, ein Bild aufzuhängen, eine Glühbirne auszuwechseln oder eine Konservenbüchse zu öffnen. Hahaha, da saßen sie dann und kriegten sich nicht mehr ein, hahaha, da helfen dir deine guten Noten auch nichts mehr, was? Du hast ja zwei linke Hände! Womit willst du später mal Geld verdienen?

Eine Suchmaschine im Internet gibt mir die Antwort. Mein Nintendo läuft. Ich lese die riesigen, stark verpixelten Buchstaben auf der Mattscheibe: Super Mario Bros. Darüber ein paar Zahlen, darunter »1 Player Game« und »2 Player Game«, und ganz unten links steht ein winziges Männlein mit roter Mütze und in roten Latzhosen mitten in der Landschaft. Mein Mund steht offen. Die jazzige Spielmelodie in C-Dur ertönt, und als Super Mario zerquetsche ich ein Gumba, ich hole mir die ersten drei Geldstücke, ich erwische den ersten Wachstumspilz, und ich klettere durch die ersten grünen Röhren, so als hätte ich nie etwas anderes getan. Wie ein junges Zebra hüpft mein Super Mario durch »World 1–1«, und noch bevor meine Spielfigur durch einen Sprung auf den Fahnenmast das erste Level erfolgreich beendet, fange ich an zu lachen und zu heulen.

Was würde mein Vater zu dieser Verbindung von uralter und nagelneuer Technik sagen? Wie fände er es, dass sein Sohn sich auch nach mehr als zwanzig Jahren noch so sicher durch die Welt von Super Mario Bros. bewegen kann? Wo und was wäre er heute, wenn er noch lebte? Würden wir überhaupt noch miteinander reden? Wieder miteinander reden? Und wenn ja: Wann, wie und wie oft würden wir miteinander reden? Wann, wie und wie oft würden wir miteinander schweigen? Säße ich überhaupt in einer Altbauwohnung mitten in der Großstadt, wenn er nicht schon im Jahr 2003 gestorben wäre? Könnte ich, bestimmt eine ganz und gar absurde Vorstellung für meinen Vater, meine berufliche Existenz heute mit geistiger Arbeit bestreiten?

Ich glaube nicht, dass mein Vater wirklich um die Bedeutung jener Nintendo-Nacht wusste. Andere hätten ihre ganze Kindheit über gehofft, er würde verschwinden, dieser trinkende und prügelnde Vater. In meinem Fall war es anders. Mochte er auch gesoffen und geprügelt haben, ich wollte immer, dass er bleibt.


Für die anderen waren wir »Unterschicht«, »Asoziale«, »Barackler«, »Dummschüler«. Niemand in unserer Familie war je über den Hauptschulabschluss hinausgekommen. Außer Opa Willy, meinem Großvater mütterlicherseits, hatte keiner eine Berufsausbildung abgeschlossen. Während unsere Mitschüler mit ihren Eltern in den Urlaub flogen, einander vor dem Zubettgehen aus Büchern vorlasen und häufig in Restaurants aßen, ertrugen wir den Mangel, hingen den ganzen Sommer im Wohnblock ab, kannten die besten Kinderbücher nur als Filme.

Unsere Wohnung war ein Skandal. Ein versiffter Teppich überdeckte den grauen Betonboden, die Fenster waren nur einfach verglast und obendrein undicht, es gab keine Heizung, an den Wänden gediehen Feuchtigkeitsflecken, die in jedem Raum jenen Schimmel sprießen ließen, der meiner Lunge schweres Asthma bescherte.

Viele Jahre lang fiel es mir schwer, etwas oder jemand anderes für diese Zustände verantwortlich zu machen als meinen Vater. Jeden Morgen stand er um Punkt sechs Uhr unten an der Straße, stieg in den Lkw ein und fuhr zur Arbeit. Er fuhr zur Arbeit, so wie auch die Väter meiner Schulfreunde jeden Morgen zur Arbeit fuhren. Warum konnten wir uns dann aber oft nicht genug zu essen kaufen, weshalb durften wir so selten ins Kino gehen, und wieso fuhren wir nie, nie, nie in den Urlaub?

Es ging mir einfach nicht in den Kopf. Ich sah doch, wie er uns jede Woche die Geldscheine aus seiner Lohntüte präsentierte. Geldscheine, wie ich sie aus Gangsterfilmen kannte, in denen Anzugträger mit Sonnenbrillen sie nicht etwa aus Briefumschlägen zogen, sondern mit düsterer Musik unterlegt in schwarzen Koffern umhertrugen. Was mein Vater da beim täglichen Schleppen von Möbeln und Umzugskisten verdiente, das musste doch für uns alle reichen. Warum sollte sein Chef ihm nicht genug Geld geben, um seine Familie zu ernähren, das ergab doch überhaupt gar keinen Sinn, welcher Chef würde denn so was tun!


Fast alle schönen Momente meiner Kindheit fanden vor dem Fernseher statt. Meine Helden hießen Super Mario und Mega Man, Bud Spencer und Terence Hill, Arnold Schwarzenegger und Jackie Chan, Obelix und He-Man, Hulk Hogan und Bret »Hit Man« Hart, Andi Brehme und Thomas Häßler. Selbst wenn der Fernseher mal zu nichts weiter nützte als dem Erzeugen eines Hintergrundrauschens, er war immer da, er war immer eingeschaltet, und unser Leben spielte sich im Nahbereich dieses Gerätes ab.

So auch nach der magischen Männernacht mit dem Nintendo. Übermüdet saßen wir vor der Glotze, als Mama hereinkam. Wir Jungs sprangen auf, quiekten vor Glück, fielen ihr in die Arme. Mein Vater blieb auf dem Zweipersonensofa sitzen und wandte den Blick nicht vom Fernseher ab. Dafür brummte er: »Gutn Tach.«

Benny und ich nahmen Mama zu uns in die Mitte. Sie fragte, warum er nicht auf der Arbeit sei. Mein Vater verstand das als Startsignal zum Saufen. Binnen einer halben Stunde trank er mehrere Halbliterflaschen Parkbräu Export. Es war elf Uhr am Vormittag. Mamas giftige Blicke verdarben offenbar nicht die Laune meines Vaters. Vielleicht, weil er Die Wüstensöhne in den Videorekorder gelegt hatte, unseren gemeinsamen Lieblingsfilm von Stan Laurel und Oliver Hardy. Darin geht es um zwei Freunde, die zum Jahrestreffen einer Freimaurerloge fahren wollen. Ihre Ehefrauen, zwei echte Hausdrachen, sind strikt dagegen. Sie wollen mit ihren Männern ins Gebirge. Da lassen sie sich was einfallen: Ein von Stan angeheuerter Tierarzt attestiert Ollie ein »Doppeldackeldelirium« und verordnet ihm eine Kur in Honolulu. Natürlich reisen Stan und Ollie nicht nach Honolulu, sondern zu ihrem Treffen. Später fliegen sie auf, und Ollies Frau rastet aus. Während Ollie immer mehr Geschirr und Vasen an und um den Kopf sausten, fixierte Mama noch immer meinen gackernden Vater.

»Haste was?«, sagte er.

Sie reagierte nicht. Wie so oft reagierte sie nicht – und brachte meinen Vater damit erst recht auf die Palme. Ich setzte mich direkt neben ihn. Er klopfte sich eine Kippe aus der Schachtel und nahm einen tiefen Zug. Ich fing an zu husten, wich ihm aber nicht von der Seite.

»Warum sind die Jungs nicht in der Schule?«, fragte Mama, die sich mittlerweile auch eine Zigarette angezündet hatte und an ihren Fingernägeln kaute.

»Weil darum«, sagte mein Vater.

»Wenn die zu oft schwänzen«, sagte sie, »dann steht bald die Polizei vor der Tür.«

Mein Vater schlug die Faust auf den Couchtisch und brüllte: »Immerhin bin ich für die beiden da. Du warst die ganze Nacht fort.«

Jetzt lachte Mama. Sie versuchte es mit Häme, und sie wusste, dass meinem Vater das viel mehr wehtat, als wenn ihm jemand die Fresse poliert hätte.

Er erhob den Zeigefinger und sagte: »Letzte Warnung, du Brunskachel. Allerletzte Warnung!«

Ich sah ihn an. Sein schütteres rotes Haar war zerzaust, der rote Schnurrbart ebenfalls, das aufgedunsene Gesicht war zum Zerreißen gespannt, seine Halsschlagader pochte.

Ich konnte den Blick nicht von seinen Tätowierungen abwenden. Sie ließen diesen gar nicht mal so großen Mann wirken wie einen Knochenbrecher jener Sorte, wie ich sie aus den Filmen dieses Regisseurs kannte, dessen Namen mein Vater immer stotternd und zugleich lallend aussprach, sodass ich Lachkrämpfe kriegte, wenn er sagte: »Maddin Sosesesese«.

Wie sehr ich mich auch dagegen stemmte, es half nichts: Ich sah in diesem Augenblick niemand anders als Max Cady aus Kap der Angst vor mir, und hätte mein Vater so grauenhaft gelacht wie Max Cady in der Kino-Szene, ich wäre wahrscheinlich weinend davongelaufen. Stattdessen sagte mein Vater zu mir, ohne mich anzusehen: »Hol mal n Bier.«

»Hols dir doch selber«, sagte ich. »Ich bin doch nicht dein Neger.«

Er sah mich an. Seine Augen verengten sich. »Pass auf, wie du mit mir redest«, drohte er.

»Ich red mit dir, wie ich es will«, sagte ich.

Da stand er auf. Er packte mich im Nacken, als wäre ich ein Kaninchen. Dann holte er aus und schmetterte mich gegen die Wand. Weil ich nicht mit dem Kopf voraus gegen den Gips geklatscht war, tat mir nur der Arm höllisch weh. Mama regte sich nicht, mein Bruder schluckte den Schreck hinunter, mein Vater holte sich ein Bier und nannte mich »Depp«.

Auf allen vieren kroch ich zum Bollerofen in der hinteren Ecke des Wohnzimmers. Ich spürte Tränen auf meiner Wange und wischte sie weg. Während ich aufstand, sah ich den Behälter mit dem zum Verfeuern zurechtgeschnittenen Holz. Ich packte eines der Stücke. Noch immer der Wand zugeneigt, stemmte ich es mit beiden Händen weit über meinen Kopf. Langsam drehte ich mich um. Mein Vater war zurück auf seinem Zweisitzer und starrte in den Fernseher. Den anderen beiden stand der Schock ins Gesicht geschrieben.

Ich ging einen Schritt auf ihn zu. Ich blieb stehen. Ich ging noch einen Schritt auf ihn zu. Als ich vor ihm stand, zog er die Augenbrauen zusammen. Er hatte Angst vor mir. Angst. Vor mir. Der Möbelpacker mit den Muskeln ängstigte sich vor seinem achtjährigen Sohn. Mein Blick muss furchteinflößend gewesen sein: entstellt, irre und hässlich. Ich schrie. Markerschütternd. Ich wollte ihm nicht mehr alles durchgehen lassen. Es musste ein Ende nehmen. Es musste neu beginnen. Ich wollte so sehr, dass er bleibt. Aber anders.


Der Sohn am Sterbebett meines Vaters im Oktober 2003 war nicht ich, sondern mein Bruder Benny. Wenige Tage zuvor hatten wir erfahren, dass es mit dem Vater zu Ende gehen würde. Multiorganversagen. Mit dreiundvierzig Jahren. Ich stand mitten in den Abiturprüfungen. Einen Abschied von mir wollte ich ihm nicht gönnen.

Heute weiß ich, dass Benny richtig gehandelt hat. Wofür ich komplizierte Bücher lesen musste, das spürte er von selbst: Unser Vater war ein Mann seiner Klasse. Ein Mann, der kaum eine Wahl hatte, weil er wegen seines gewalttätigen Vaters und einer ihn nicht auffangenden Gesellschaft zu dem werden musste, der er nun einmal war.

Das entschuldigt nichts, aber es erklärt alles. Und es gilt ebenso für mich. Mein Fortbleiben vom Sterbebett des Vaters gründete in der Weigerung zum Verzeihen und in der Unfähigkeit zu trauern. Beides steht für eine Männlichkeit, von der ich einzig deshalb loskommen konnte, weil ich zufällig nicht frühzeitig aus dem Bildungssystem eliminiert wurde.

Heute, da ich ehrlich zu mir selbst sein kann, gestehe ich ein, was schon damals galt und was bis heute gilt: Ich hab ihn lieb.