Die Autorin
Jalda Lerch kommt aus Berlin und lebt, nunmehr mit Familie und Hund, bis heute dort. Sie lernte Wirtschaftskaufmann, studierte Soziologie und arbeitete einige Jahre in kleineren Redaktionen und Verlagen. Wenn sie nicht gerade Krimis schreibt oder kocht, liest sie und verreist, so oft es geht.

Das Buch

Nach seinem letzten Fall braucht Kommissar Lars Behm dringend eine Auszeit, weil er sich für den Tod zweier Männer verantwortlich fühlt. Also nimmt er ein Jahr frei, kümmert sich um seinen Sohn und wird zum perfekten Hausmann. Behm spielt sogar mit dem Gedanken, seine Polizeikarriere komplett an den Nagel zu hängen und einen Imbiss zu eröffnen. Seine Kollegin Inga will das verhindern. Sie setzt alles daran, Behm in ihren neuen Fall mit einzubeziehen. Vor einem Einkaufszentrum wurde ein Junge mit einem Messer attackiert. Als Behm im Krankenhaus von den schlimmen Verletzungen des Jugendlichen erfährt und dessen Mutter und Vater sowie deren Lebensgefährten beobachtet, weiß er sofort, dass da etwas faul ist …

Jalda Lerch

Auf des Messers Schneide

Ein Fall für Lars Behm

Midnight by Ullstein
midnight.ullstein.de

Originalausgabe bei Midnight
Midnight ist ein Digitalverlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
August 2017 (1)
 
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
 
ISBN 978-3-95819-125-9
 
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Prolog

Jenseits der Badezimmertür lärmt und lacht es, plätschert fröhliche Musik. Doch je weiter man sich von der verschlossenen Tür entfernt, umso mehr verschwimmen die Stimmen und Töne zu einem Rauschen, das an einen in der Ferne tosenden Wasserfall erinnert. Im Grunde angenehm, doch zugleich ein wenig bedrohlich. Hin und wieder treten einzelne Spritzer hervor: aufgeregte Kinderstimmen, Rufe nach mehr Sekt, grelles Gelächter.

Übers blitzsaubere Waschbecken gebückt, wäscht sich Jessica ihre schlanken Hände länger als üblich und ist froh, dem Trubel für eine Minute entronnen zu sein. Mit Wohlgefallen schaut sie herab auf ihre langen Finger, die sich unter dem Wasserstrahl winden und erfreut sich an dem rotbraunen Nagellack, der zwar auffällt, dabei aber nicht aufdringlich wirkt. Es ist sicher Wochen, wenn nicht sogar Monate her, seit sie sich das letzte Mal die Muße gegönnt hat, sich derart ausgiebig um die Schönheit ihrer Fingernägel zu kümmern. Denn dies war ihr persönliches Geschenk an sich selbst: einmal wieder ganz in Ruhe das Auftragen von Unterlack, Farbton und Überlack zu zelebrieren.

Als Jessica den Blick hebt, sieht sie in ein schmales Gesicht mit einem dezenten Silberblick aus dunklen Augen und einem ausdrucksvollen, beerenrot geschminkten Mund. Die wenigen zarten Fältchen neben Mundwinkeln und Augen fallen nicht weiter auf, wohl aber die dunklen Ringe unter den Augen, die sich nie restlos mit Concealer übertünchen lassen. Vor allem aber die Traurigkeit, die wie ein dunkler Schleier vor ihrem Gesicht hängt. Und die sogar einen Namen hat: Milan.

»Mama, Mama, kommst du? Papa ist jetzt auch da!«

Die Spritzer werden lauter. Und gelten ihr. Dieser kam von Elisa. Oder von Betty? Manchmal kann sie die Stimmen ihrer Töchter partout nicht auseinanderhalten. Ist sie deshalb eine schlechte Mutter?

»Ich komme!«

Jessica probiert ein paar Grimassen, um angemessen fröhlich auszusehen. Es ist ihr siebenunddreißigster Geburtstag, und sie sollte sich heute ordentlich feiern lassen. Nur leider ist ihr überhaupt nicht danach zumute. Doch ist es nicht etwa ihr Alter, das ihr die Stimmung so gründlich versaut, sondern Milan. Schon wieder Milan. Immer wieder Milan. Nicht nur, dass sie die vereinzelten grauen Haare, von denen sie wöchentlich neue entdeckt, mindestens zur Hälfte ihm zu verdanken hat. Nun vergisst er auch noch ihren Geburtstag!

Den Geburtstag seiner Mutter.

»Ich komme!«, singt Jessica noch einmal mit lauter Stimme für die Mädels, die offenbar direkt vor der Klotür hocken und auf sie warten. Wie alle dort draußen.

Denn wie jedes Jahr hat ihre Mutter eine barocke Buttercremetorte kreiert, die nun endlich geschlachtet werden muss, was sich über die Jahre hinweg zu einem beliebten Ritual entwickelt hat. Zum Leidwesen ihrer Mutter, die es sich nicht nehmen lässt, jedes Jahr so eine üppige Torte zu backen, lädt Jessica ihre Geburtstagsgäste nie zu einem gepflegten Kaffeetrinken ein, sondern lediglich zu einer Sektsause mit Canapés. Die unvermeidliche Torte gibt es dann einfach so zwischendurch, doch ihre Verteilung artet von Jahr zu Jahr immer mehr zum eigentlichen Höhepunkt ihrer Geburtstagsparty aus – zu einem feierlichen Gemetzel, das eher an eine Tortenschlacht als an kultiviertes Essen erinnert. Bei dem Gedanken daran muss Jessica nun doch von Herzen lächeln. Sie nutzt diese Gelegenheit, um das Badezimmer endlich zu verlassen und sich mit einem waschechten Lächeln wieder unter ihre Gäste zu mischen.

Elisa und Betty fangen sie sofort ab, als sie aus dem Bad kommt. Sie nehmen ihre Mutter an die Hand und zerren sie ins Wohnzimmer, wo Freunde und Verwandte bereits ungeduldig darauf warten, dass die Torte endlich angeschnitten wird, die jedes Jahr die gleiche ist: goldgelber Biskuitteig, gefüllt mit hausgemachter Erdbeermarmelade und zwei verschiedenen Schichten Buttercreme, einmal vanillehell und einmal schokoladig dunkel. Der hellcremige Überzug wurde mittels einer Gabel kunstvoll mit geometrischen Mustern verziert und darauf schwungvolle Tupfer aus dunkler Buttercreme in akkuraten Abständen an den Rand gesetzt. Ein konditorisches Meisterwerk.

Direkt neben der Torte steht Christoph, breitet seine Arme aus und strahlt sie an. Für einen Moment denkt Jessica finster, wie gut die beiden doch zusammenpassen, die klebrig-süße Torte und ihr allzu freundlicher Mann. Dann aber lächelt sie zurück und lässt sich, durchaus ein wenig gönnerhaft, von Christoph umarmen.

»Geht’s endlich los? Annie kann es kaum erwarten!«, fragt ihr Bruder Daniel, indem er neckend auf seine dralle Freundin Anne guckt, während seine halbwüchsige Tochter Louisa ob der derben Scherze ihres Vaters angewidert die Augen verdreht.

Als Jessica nickt, hebt ein beifälliges Gejohle an.

»Wollen wir nicht auf Milan warten?«, fragt ihre Mutter aus dem Hintergrund. »Hast du ihn noch mal angerufen?«

Genervt sieht Jessica ihre Mutter an.

»Nein, wir wollen nicht länger auf Milan warten«, antwortet sie, schroffer als beabsichtigt.

Denn natürlich hat sie angerufen. Seit vier Uhr mindestens jede Viertelstunde. Doch der Junge geht einfach nicht an sein Handy.

Daran aber will Jessica jetzt nicht denken. Auch nicht daran, wie sie ihrem Sohn tagelang eingebläut hatte: Samstag, um vier! Oma und Opa kommen! Tante Annie und Onkel Daniel, deine Cousine Louisa! Das ist alles, was ich mir von dir zum Geburtstag wünsche – dass du da bist!

Abrupt dreht sich Jessica um und geht in die Küche, um ein großes, scharfes Messer zu holen. Sie hält die Klinge unter einen Strahl heißen Wassers, was verhindern soll, dass beim Schneiden zu viel Buttercreme an ihr kleben bleibt. Dann geht sie unter dem Gekreische ihrer Töchter mit dem gezückten Messer zurück ins Wohnzimmer. Die erwartungsvollen Gäste haben bereits einen fröhlich lärmenden Halbkreis um die Torte gebildet. Sie halten Teller und Kuchengabeln in den Händen und feuern das Geburtstagskind lautstark an. In diesem Moment ist Milan endlich vergessen, wenigstens für diesen einen Augenblick.

»Attacke!«, ruft Jessica wie jedes Jahr und grinst. Dann beugt sie sich über die nach Rum duftende Torte und nähert sich ihr zielsicher mit dem scharfen Messer.

Erstes Kapitel

1

Lars Behm nahm den Kampf auf. Kurz bevor er die Wohnung verlassen wollte, hatte er im Flur eine dieser grauen Flocken entdeckt, mindestens so groß wie eine Walnuss. Wo nur diese Wollmäuse immer herkommen? Lars wunderte und freute sich zugleich darüber, denn erst letzte Woche hatte er sich einen handlichen Akkustaubsauger zugelegt. Und so ging er ihn schnell holen, so viel Zeit musste sein.

Im letzten Jahr hatte Lars Behm in Sachen Haushalt so viel gelernt wie in all den vierzig Jahren nicht, die er bei seiner Mutter gewohnt hatte. Zu seiner absoluten Verwunderung konnte er sogar einigermaßen kochen, zum Beispiel Nudeln und Kartoffeln, und sogar das eine oder andere braten. Seine Bouletten besaßen unter Freddys Freunden bereits so was wie Kultstatus. Außerdem konnte er ziemlich gut Wäsche waschen und zusammenlegen, Klein- und Großreinemachen und recht effizient einkaufen. Er beherrschte all das, was an ihm im Laufe des letzten Jahres hängen geblieben war, seit er hauptberuflich als Hausmann praktizierte. Dieses Wort klang in seinen Ohren zwar so derb wie eine Mischung aus Waschlappen und Weichei, aber eine attraktivere Bezeichnung für das, was Lars derzeit tagsüber tat, gab es nun einmal nicht. Er war derzeit also Hausmann und basta.

Schon bald war Lars mit den Ecken und Kanten des Flurs fertig. Da er den Staubsauger jedoch gerade in der Hand hielt, guckte er sich noch im Wohnzimmer um. Aber so gründlich er dort auch den Boden absuchte, er konnte keine Staubflusen entdecken. Fast ein wenig enttäuscht trennte sich Lars von seinem Staubsauger und hängte ihn zurück in die Halterung. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es allerhöchste Zeit war. Er musste seinen Sohn Frederik vom Tischtennis abholen. Was allerdings weder für ihn noch für Klein Freddy ein Vergnügen war.

Nahezu alle anderen Jungs und die wenigen Mädels wurden von schlanken, energiegeladenen Müttern abgeholt, meist mit vorzeigbaren Autos. Auf Freddy aber wartete vor der Turnhalle ein schwammiger Mann mit graubraunen Locken und missmutigem Blick, mit dem er nicht etwa zum Parkplatz, sondern zur Straßenbahn laufen musste. Nicht, dass Freddy es je offen sagen würde, wie peinlich ihm seine Erscheinung war. Lars aber glaubte die Verlegenheit seines empfindsamen Sohnes jedes Mal zu spüren, wenn er ihn abholte. Von wo auch immer. Und sobald sich eine der Muttis während einer Plauderei mit Lars nach dessen Beruf erkundigte, warf sich der Junge tapfer mitten ins Gespräch und antwortete mit überraschend fester Stimme: »Polizist!«, bevor Lars erwidern konnte, dass er derzeit als Hausmann tätig war.

Doch nicht nur sein Sohn, auch Lars selbst trauerte zuweilen seiner Zeit als Polizist hinterher. Dennoch fand er es richtig, dass er sich diese Auszeit von einem Jahr gegönnt hatte. Denn Behm war, so jedenfalls sah er es, bei seinem letzten Fall gescheitert. Zwei weitere Männer hatten dran glauben müssen, nur weil er die Mörderin eines Familienvaters nicht rechtzeitig gefasst hatte. Und diese beiden Toten gingen auf sein Konto. So jedenfalls sah es der Hauptkommissar außer Dienst und ließ sich da von niemandem reinreden.

In wenigen Wochen aber war das Jahr um. Spätestens bis zum Ende dieses Monats musste Lars sich entscheiden, wie es beruflich mit ihm weiterging. Manchmal lag er die ganze Nacht lang wach, starrte an die Wohnzimmerdecke und grübelte über seine Zukunft. Vermutlich würde er in seinen alten Job zurückmüssen. Denn bisher hatte er leider keinen anderen gefunden, der zu ihm passte.

Als Lars endlich in der Tram saß, um Freddy abzuholen, stellte er erleichtert fest, dass er sich nur um wenige Minuten verspäten würde. Die letzten Meter bis zur Turnhalle rannte er trotzdem. Als er diese keuchend erreichte, traf er im Vorraum auf Trainer Herbert, der zwar steinalt und ruppig, bei den Kindern aber äußerst beliebt war.

»’n Abend«, grüßte ihn Lars. »Ist Freddy noch in der Umkleide?«

Trainer Herbert setzte die Kiste, die er gerade durch die Gegend hievte, mit lautem Krachen ab.

»Der Freddy? Der is’ längst weg!«

»Er ist allein losgegangen?«

»Ja, zur Tram!«

»Was?!«

Lars überhörte das entschuldigende Gebrabbel des Trainers, der behauptete, der Junge sei doch schon groß, total vernünftig und außerdem nicht auf den Kopf gefallen.

»Mensch, machen Se sich mal keen Kopp! Der kennt doch den Weg nach Hause aus dem Effeff!«

Lars aber sah nur einen zarten Jungen von acht Jahren, der ganz allein in diesem Moloch von Stadt unterwegs war, wo hinter jeder Häuserecke eine Gefahr lauern konnte. Wie wenig wahrscheinlich so eine dramatische Annahme auch sein mochte, war völlig egal, denn es reichte ja eine einzige! Große Jungs, die kleine quälten; freundliche Pädophile, die auf Gelegenheiten lauerten; aggressive Autofahrer, die das Gaspedal extra durchtraten, wenn sie Rot sahen; und nicht zu vergessen all die Köter, die bloß spielen wollten – die Liste der Gefahren, die Lars durch den Kopf ratterten, wurde immer länger und seine hohe Stirn immer schweißiger. Automatisch versenkte Lars seine Hände in den Hosentaschen. Doch natürlich trug er keines seiner Stofftaschentücher bei sich, weil er die erstens in seinem normalerweise beschaulichen Leben als Hausmann gar nicht brauchte und er zweitens genau diese Gelegenheit nutzen wollte, um sich von den Dingern zu befreien.

Denn Lars war abhängig. Seit seiner Jugend trug er permanent einen dieser grau-braun karierten Stofffetzen mit sich herum, ob als Schweißtuch oder Talisman. Doch seit Lars erfahren hatte, dass sein Opa, von dem er die Taschentücher geerbt hatte, in der Fremdenlegion gekämpft hatte, tat er das mit gemischten Gefühlen und wollte diese Marotte eigentlich loswerden.

Trainer Herbert registrierte sofort, wie Lars vergeblich in seinen Hosentaschen herumwühlte, und reichte ihm ein Papiertaschentuch.

»Nu beruhijen Se sich mal. Und det Atmen bloß nich verjessen.«

Lars bedankte sich überschwänglich für diesen guten Rat. Und obwohl er eigentlich völlig andere Sorgen hatte, hoffte er, dass seine Worte genauso ironisch geklungen haben mochten, wie sie gemeint waren. Dann machte er kehrt und rannte, so schnell er konnte, zurück zur Tram. Keuchend und schwitzend walzte er an Menschen vorbei, die entsetzt vor ihm zurückwichen.

Denn Lars war richtig wütend vor lauter Sorge.

Und das sah man ihm an.

2

Vor dem Haupteingang des Gesundbrunnencenters flatterten rot-weiße Plastikbänder im Spätsommerwind. Hin und wieder blieben Schaulustige stehen, um mit Schaudern die dunklen Flecken am Boden zu mustern und die geheimnisvolle Arbeit der Spurensicherung zu beobachten. Mit ihren weißen Überzügen sahen die beiden Männer wie außerirdische Archäologen aus, die einem gigantischen Raumschiff entstiegen waren – dem futuristisch aussehenden Einkaufszentrum mit seiner Saturnwerbung – und nun die Gehwegplatten einer fremden Kultur akribisch unter die Lupe nahmen. Dabei gaben sie sich so neugierig, als würden sie die Steine am liebsten vom Boden reißen und mitnehmen, um die geheimnisvollen Zeichen darauf konservieren und archivieren zu können, vor allem aber eines: enträtseln.

Noch immer zitterte Erik, als wäre er soeben einer Kühltruhe entstiegen. Zugleich war er innerlich wie gelähmt. Er konnte sich nicht vom Fleck rühren, nicht einmal bewegen. Es war direkt vor seinen Augen passiert. So viel Blut. Wie lange mochte es her sein? Zwei Minuten oder vielleicht sogar drei Stunden? Sein Zeitgefühl funktionierte nicht mehr. Wie eine Uhr, die man voller Wucht auf den Boden geworfen hatte.

Und so hätte Erik auch nicht sagen können, wann sein Freund Murphy in einem Krankenwagen mit Blaulicht abtransportiert worden war. Aber immerhin war es geschehen. Und das war die Hauptsache. Also lebte er noch. Vermutlich.

Erik spürte seine Füße, sie fühlten sich an wie schmerzender Matsch. Über mehrere Stunden war er seinem Kumpel heimlich durch die halbe Stadt gefolgt, um ihm auf die Schliche zu kommen. Dass dessen Alleingänge gefährlich werden könnten, ahnte er schon länger. Nicht aber, dass es zu einer so brutalen Attacke kommen würde. Ausgerechnet heute.

Erik ballte seine Rechte zur Faust. Dann boxte er sie gegen seine Linke, immer wieder. Am liebsten aber hätte er gegen seinen eigenen Schädel geboxt, um diesen leer zu kriegen von den blutigen Bildern und sinnlosen Gedanken.

Am Anfang war alles nur ein Joke gewesen. Murphy, der eigentlich Milan hieß, war ein ziemlicher Streber. Genau wie er selbst. Plötzlich aber wurden die Mädchen ihres Jahrgangs immer heißer – sie dagegen, und das begriffen sie rasch, immer langweiliger. Es musste was passieren. Da sie beide nicht blöd waren, erkannten sie schnell, dass vor allem die krassen Weiber eher auf richtige Kerle standen statt auf brave Jungs, die Logarithmusfunktionen im Schlaf beherrschten oder wussten, wann und wieso die Französische Revolution stattgefunden hatte.

Also beschlossen sie eines Tages, auf böse Jungs machen. Nur so zum Spaß.

Doch dann war alles eskaliert.

Deshalb war Erik heute, als sich Murphy nach der Schule mit so einer blöden Ansage aus dem Staub gemacht hatte, seinem Freund heimlich gefolgt. Stundenlang passierte nichts Spektakuläres. Murphy hing in einem Elektromarkt ab, um ein paar Spiele zu testen, kaufte sich einen Döner, telefonierte hin und wieder. Als Murphy schließlich in Richtung Gesundbrunnencenter lief, hatte Erik endgültig die Nase voll. Gerade wollte er seine Observation einstellen, weil nichts auch nur ansatzweise Aufregendes oder gar Kriminelles während Murphys Nachmittagstour passierte. Doch in dem Moment, als Erik zur U-Bahn abbiegen wollte und einen letzten Blick in Richtung Murphy warf, um zu gucken, ob ihn das Center schon verschluckt hatte, geschah es.

So viel Blut! Wahnsinn. Aber wieso? Und was genau war eigentlich passiert?

Sosehr Erik sich auch den Kopf zerbrach, konnte er sich höchstens an eine verdächtige Szene erinnern, die wie eine kleine Rempelei gewirkt hatte. Wenn überhaupt. Zwei, drei Leute hatten ihm für einen Augenblick die Sicht versperrt. Nur gegen wen war Murphy gerannt? Oder wer hatte Murphy angerempelt? Dazu fand Erik in seinem Kopf absolut kein Bild. Vermutlich war da nichts gespeichert, weil ihm die Situation zu diesem Zeitpunkt viel zu harmlos erschienen war, als dass er sie bewusst wahrgenommen hätte. Und wie hätte er auch ahnen können, dass Murphy kurz nach dieser belanglosen Rempelei zu taumeln beginnen würde, als wäre er betrunken. Überrascht hatte Erik noch gedacht, dass der Zusammenprall wohl heftiger gewesen sein musste, als er ausgesehen hatte. Doch nach ungefähr zwei oder drei Metern war Murphy langsam in sich zusammengesackt, als bestünde er nicht aus Muskeln und Knochen, sondern aus Pappmaché. Und wie er so auf dem Steinboden lag, bildete sich neben seinem Bauch eine dunkle Pfütze, die stetig größer wurde. Erik dachte zunächst, dass dort wohl Öl auslief. Und wusste zugleich, wie absurd dieser Gedanke war.

Dass diese Flüssigkeit Blut war, kapierte Erik erst, als sich um seinen am Boden liegenden Freund ein immer dichter werdender Kreis aus schreienden Frauen, Neugierigen und potenziellen Helfern bildete. Da trat Erik ein paar Schritte zurück. Zunächst wollte er einfach nur weglaufen, so weit wie möglich. Doch schließlich zog ihn das Geschehen um seinen Freund derart in seinen Bann, dass er gar nicht abhauen konnte. Er blieb im Schatten des nahe gelegenen U-Bahnhofs, schmiegte sich an das alte Backsteingebäude wie ein Baby an seine Mutter und beobachtete von dort aus die Lage. Die Polizei. Den Krankenwagen. Und nun eben die beiden weißen Gestalten von der Spurensicherung.

Plötzlich ging ein Ruck durch seinen Körper. Eiserne Griffe hatten ihn links und rechts an den Armen gepackt und hielten ihn fest.

»Keine Angst, wir wollen nur mit dir reden«, tönte eine gelangweilte, tiefe Stimme in sein Ohr.

Gut gesagt, dachte Erik noch, während die Angst seinen Körper vibrieren ließ. War er jetzt ebenfalls dran? Erst Murphy und nun er? Fieberhaft überlegte Erik, was der Grund dafür sein könnte. Die Graslieferung letzte Woche? War die nicht bezahlt? Oder gab es noch andere krumme Geschäfte, von denen er nichts wusste? Würde er jetzt entführt und an einem abgelegenen Ort gequält werden? Doch was wusste er schon? Was könnte er verraten, um sein Leben zu retten? Nichts!

»Was hat denn der Junge?«

»Der schiebt voll die Panik!«

»Eh, du brauchst doch keinen Schiss zu haben!«

Vorsichtig drehte sich Erik um. Hinter ihm standen zwei Polizisten in Uniform, die ihn festhielten, ihren Griff nun jedoch etwas lockerten.

Keuchend vor Erleichterung atmete Erik auf.

Die Polizei hatte offenbar nicht nur den Tatort observiert, sondern auch die umliegende Gegend ins Visier genommen. Dabei musste ihnen aufgefallen sein, dass einer der Gaffer einfach nicht verschwand, so wie alle anderen normalerweise nach ein paar Minuten, wenn sie sich an dem dramatischen Geschehen sattgesehen hatten. Erik fluchte vor sich hin. Was hatte er sich dämlich angestellt, nicht von hier zu verschwinden! Das musste echt bestraft werden, dachte er und schüttelte verständnislos den Kopf über sich.

»Los, sperren Sie mich doch ein!«, schrie er die beiden Polizisten an, die ihn noch immer festhielten und nun, da er zu toben begann, wieder derber zupackten.

Die junge Frau in grünen Shorts, mit kecken Sommersprossen und rotblondem Haar, die Erik die ganze Zeit für eine neugierige Touristin aus Irland gehalten hatte, trat vor ihn und musterte ihn kritisch. Sicher bemerkte sie sein Zittern, das ihn noch immer sanft durchrüttelte, als säße er in der U-Bahn.

»Ich war das nicht! Murphy ist mein Freund!«

»Aha«, sagte Inga Frenzel mit gleichgültiger Stimme, als wäre dies eine beliebige Information. Insgeheim aber war sie froh: Mit Hilfe dieses Jungen könnte der Schwerverletzte umgehend identifiziert und dessen Eltern benachrichtigt werden. Eventuell hatte der vermeintliche Freund sogar den Täter gesehen! Da er sich schon seit mindestens einer Stunde hier am Eingang des U-Bahnhofs aufhielt, konnte es sein, dass er das Verbrechen an seinem Freund beobachtet hatte und somit ein wichtiger Zeuge war. Oder vielleicht doch der Täter?

»Aufs Präsidium mit ihm, seine Personalien nehmen wir dort auf.«

Wie ein zufälliger Passant schlenderte nun auch Kommissar Bruckner heran, der bis zuletzt die Arbeit am Tatort überwacht und kommentiert hatte.

»Vielleicht haben wir Glück, und der Mörder sitzt bereits, nämlich in unserem Auto!«, sagte er lächelnd zu Inga, während er zusah, wie die Streifenpolizisten den Jungen ins Auto verfrachteten.

Inga zog ihre Stupsnase kraus und sah ihren Kollegen angewidert an. Sie hätte es nicht unbedingt als Glück bezeichnet, sollte dieser Junge eine so grausame Tat begangen haben. So groß und kräftig er auch sein mochte, sein Zittern ließ ahnen, dass noch jede Menge Kind in ihm steckte.

»Ich glaub nicht, dass es der Junge war«, entgegnete Inga schnippisch und hoffte, dass sie recht behalten würde. Als sie ihren Blick vom dauergrinsenden Bruckner abwandte und auf die gegenüberliegende Straßenseite sah, stutzte sie. Über das Straßenschild. Und las noch einmal.

»Behmstraße« stand dort geschrieben.

Inga lächelte wehmütig.

Da kam ihr eine Idee

3

Ein wenig irritiert betrachtete Behm das Symbol auf dem Torbogen, durch den es zum Pratergarten ging: Eine schwarzgrüne Schlange mit gelben Flecken und einer Zunge, die wie eine Flamme aussah, wand sich um ein rotes Herz. Was wollte uns der Maler damit sagen?

Vermutlich nichts weiter, mutmaßte Behm und schlenderte den Weg zwischen überfüllten Fahrradständern und dem klotzigen Gebäude entlang, das als Theater genutzt wurde, hinter zu dem großen Hof mit den alten Kastanienbäumen. Er freute sich auf das Wiedersehen mit Inga, seiner ehemaligen Assistentin. Doch mindestens ebenso froh war er, den Diskussionen in der Tucholskystraße entkommen zu sein.

Die erste hatte er mit Sohn Freddy führen müssen. Schon die lief nicht rund. Inzwischen wusste der Junge auf alles eine vorwitzige Antwort und trieb ihn damit sanft, aber zielsicher in den Wahnsinn. Erst kurz vor einem fundamentalen Wutausbruch seines Vaters, der sich durch dessen rotes Gesicht und die ausnahmsweise zu normaler Größe geöffneten Augen deutlich ankündigte, hatte der Junge endlich eingesehen, dass er nicht ohne Absprache allein nach Hause fahren durfte. Was er allerdings künftig, so beschloss Freddy, auch so machen würde: allein mit der Tram nach Hause fahren. »Nach einer Absprache!«, setzte der Junge hinzu. Und Behm kapitulierte.

Die Nächste, die mit Lars herumdiskutierte, war Annika. Als er verkündete, dass er sich mit Inga treffen wollte, ging überraschenderweise ein Riesentheater los: Mit ihr würde er nie weggehen, immer nur mit andern Frauen! Lars konnte nur den Kopf schütteln, statt zu argumentieren. Mit welchen anderen Frauen denn? Inga war die erste und einzige Verabredung seit einer halben Ewigkeit. Aber das klarstellen zu wollen, war vergebliche Mühe. Annika sah die Sache nun einmal konsequent anders.

Behm blieb stehen. Er wollte noch einmal kurz durchatmen, bevor er auf Inga treffen würde. Die Luft war frisch, fast ein wenig kühl, doch das störte ihn nicht. Er inhalierte den ganzen Moment: das mediterrane Azurblau der Abenddämmerung, das Gebrabbel an übervollen Tischen, die Vorfreude auf das Wiedersehen mit Inga. Und er genoss die Erholungspause von seiner Familie – auch wenn er dieses Wort noch immer in Gänsefüßchen zwängte. Biologisch gesehen waren sie eine, schließlich war Freddy der gemeinsame Sohn von Annika und Lars. Andererseits waren Annika und er nun einmal nie zusammen gewesen – lediglich für eine Nacht, sonst würde es ja Freddy nicht geben.

Das Zusammenleben zu dritt war nicht etwa seine oder Annikas Idee gewesen, sondern die seiner Mutter, bei der Lars zuvor über vierzig Jahre gelebt hatte. Ohne ihren Sohn in ihre Pläne einzuweihen, hatte Sibylle Behm die Mutter ihres Enkels davon überzeugt, wie superpraktisch es für alle Beteiligten wäre, wenn Lars bei ihr und Freddy einzöge. Danach hatten die beiden Frauen ihn mit Hilfe billiger Suggestivfragen – ob er seinen Sohn nicht öfter sehen und überhaupt nur das Beste für ihn wolle – gekonnt überrumpelt.

So war Lars eben zu Annika gezogen und musste feststellen, dass das Zusammenleben mit ihr und Sohn Freddy überraschend harmonisch verlief. Und wie sollte es nicht? Da Lars nicht arbeiten ging, kümmerte er sich um Freddy und den Haushalt, während Annika sowieso selten zu Hause war. Tagsüber arbeitete sie im Büro eines Versandhandels, und abends ging sie oft weg, meist mit einer ihrer zahlreichen Freundinnen.

Heute aber ging Lars aus.

Er setzte sich wieder in Bewegung. Den suchenden Blick auf die schwatzenden und trinkenden Menschen gerichtet, schritt Behm die Reihen der Bierbänke ab. Endlich entdeckte er Inga. Sie schien sich gar nicht verändert zu haben. Beim Anblick ihres frischen Lachens und ihrer zerstrubbelten rotblonden Haare merkte Lars, dass er ihre Gegenwart ein wenig vermisst hatte.

»Hi, Behm!«

Inga sprang auf und strahlte ihn an, als wäre er ein nagelneuer BMW – sie liebte nämlich schicke Autos über alles. Immer hatte sie das Steuer seines Dienstwagens an sich gerissen. Umgehend fielen Behm weitere Schattenseiten seiner Assistentin ein. Ihre allzu überschwängliche Art, ihr endloses Geplapper, und nicht zuletzt erinnerte er sich der vielen peinlichen Situationen, in die sie ihn immer wieder gern gebracht hatte, um sich dann über ihn »beömmeln« zu können.

»Was gibt es denn Dringendes?«, fragte Behm ruppig statt einer Begrüßung, während er sich in die Bierbank gegenüber quetschte.

»Wollen wir uns nicht erst mal was zu trinken holen?«

Während sie sich nebeneinander ans Ende der Schlange am Ausschank stellten, zog Inga einen Schmollmund. Sie ärgerte sich ebenfalls. Über acht Monate hatten sie einander nicht gesehen, zuletzt auf der Weihnachtsfeier. Da konnte man doch zumindest ein kleines »Hallo« erwarten! Vielleicht sogar die Frage »Wie geht’s?« statt »Was gibt’s?«!

Doch nach einem kurzen Aufblitzen von Freude über das Wiedersehen mit Inga gab sich Behm keinerlei Illusionen über die Gründe dieses Treffens hin. Um ihn selbst ging es seiner ehemaligen Kollegin wohl kaum, dazu hatte sie sich viel zu überstürzt mit ihm verabredet. »Möglichst noch heute!«, hatte sie am Telefon gedrängelt.

»Es gibt einen neuen Fall«, mutmaßte Behm, da er von der enttäuschten Inga noch immer keine Antwort auf seine Frage bekommen hatte.

Inga nickte.

»Und ich muss mit Major Tom zusammenarbeiten. Er leitet die Ermittlungen.«

Beim Namen dieses Kollegen stieg in Behm ein wenig Wehmut auf. Mit dem Schnösel Tom Bruckner hatte er nämlich, wie die ganze Abteilung wusste, im Clinch gelegen. Bis auf extreme Ausnahmesituationen wie im letzten Fall, wo man, um weitere Tote zu vermeiden, notgedrungen miteinander hatte kooperieren müssen, verband die beiden Kommissare eine gepflegte Antipathie. Sogar die vermisste Behm auf einmal! Heute war er aber wirklich sentimental wie seine alte Tante Hertha.

»Das Opfer ist ein Junge von fünfzehn Jahren. Er wurde auf offener Straße mit einem Messer attackiert. So schwer, dass man nicht weiß, ob er durchkommt.«

»Auf offener Straße?«, wunderte sich Behm.

»Ja, direkt vor dem Gesundbrunnencenter im Wedding. Und es gibt keine Zeugen, so verrückt, wie sich das anhört. Also keine, die etwas Verwertbares gesehen hätten.«

Das hörte sich nach einem Terrorakt an.

»Ist der Staatsschutz informiert?«

Inga verdrehte die Augen.

»Na klar. Schon mal wegen der Messerattacke an der Alster im vergangenen Jahr. Da war das Opfer auch ungewöhnlich jung. Aber die Kollegen vom Staatsschutz finden es seltsam, dass er kein Handy dabeihatte.«

Verrückt, wie sehr es in heutiger Zeit vorausgesetzt wurde, dass man jederzeit sein Handy bei sich trug! Und doch musste Behm den Kollegen recht geben. Für einen Jungen dieses Alters war es absolut untypisch, kein Telefon mit sich zu führen.

»Vielleicht hat er das Handy kurz zuvor verloren?«

»Das wäre aber ein ganz schöner Zufall, oder?«

Diesmal musste Behm Inga recht geben.

Auf den ersten Blick wirkte die Tat also wie ein klassischer Raubüberfall. Wer aber würde heutzutage allein wegen eines Handys auf offener Straße zu morden versuchen? Doch nur ein Irrer. Oder vielleicht ein Junkie. Also jemand ohne jeden Bezug zum Opfer, was die Ermittlungen extrem erschweren würden. Das fehlende Handy könnte allerdings auch ein Hinweis darauf sein, dass es dem Täter genau auf dieses Telefon angekommen war. Dass da etwas drauf war. Was vertuscht werden sollte.

»Vielleicht waren auf dem Gerät brisante Fotos oder Filme gespeichert, auf die es der Mörder abgesehen hatte.«

Inga nickte und riss die Augen auf.

»Danke, Behm, das ist doch schon mal ein Anfang!«

»Kein Problem.«

Sein Beitrag war lächerlich, dennoch fühlte sich Behm geschmeichelt.

»Ich sehe so was schon gar nicht mehr. Und du bist halt wieder frisch!«, sagte Inga mit kokettem Unterton. Endlich waren sie an der Reihe und bestellten sich Praterpils. Dann gingen sie zurück zu einem freien Tisch und stießen zusammen an, wie in alten Zeiten. Das Bier schmeckte Behm so köstlich, dass er Schluck um Schluck in recht kurzen Abständen zu sich nahm.

»Kommst du nun im November eigentlich zurück, Behm? Oder was hast du sonst in Zukunft beruflich vor?«

Behm guckte in sein halb volles Glas. Beruflich? Plötzlich kitzelte ein verführerischer Duft seine Nase. Er kam herübergeweht von den Holzbaracken, in denen Würste und andere herzhafte Leckereien verkauft wurden.

»Vielleicht mache ich eine Boulettenbude auf.«

Er sah es klar vor sich: einen winzigen Kiosk, in dem seine Bouletten vor sich hin brutzelten. Ohne Schnickschnack. Es gäbe nur eine einzige Sorte, mit Senf oder Ketchup, dazu Toastbrot oder Schrippe. Behm fand diese Idee gar nicht so übel und überhörte Ingas schallendes Gelächter. Als sie sich davon erholt hatte, erkundigte sie sich wie nebenbei: »Okay, aber morgen früh kommst du doch mit?«

»Wohin denn?«, fragte Behm überrascht und ahnte, dass er sich bestimmt wieder überrumpeln lassen würde. Wie von Annika. Oder seiner Mutter.

Gleichgültig zuckte er mit den Schultern.

Das war wohl sein Schicksal.

4

Endlich ging diesem Tag die Luft aus, er schlingerte aus wie ein zu grell erleuchtetes, viel zu lautes und schnelles Karussell, in das Jessica niemals freiwillig eingestiegen wäre. Dabei war ihr Geburtstagstrubel zunächst vergnüglich gewesen wie eine beschauliche Kirmes auf dem Dorf, jedenfalls bis zu diesem späten Klingeln an der Wohnungstür. Noch vor ihren beiden flinken Töchtern war sie selbst, voller Vorfreude, zur Tür gerannt. Hatte Milan seinen Schlüssel vergessen? Hoffentlich hatte er ihn nicht schon wieder verloren, dachte sie noch, während sie die Klinke herunterdrückte und die Tür aufriss.

Doch statt ihres Sohnes standen lauter fremde Menschen da draußen. Polizisten, einer, der sich als Arzt vorstellte, später kam sogar noch eine Psychologin vorbei, die dauernd auf sie einredete. Alles viel zu schrill, zu laut, zu schnell. Ganz schwindelig war ihr von diesem Gequatsche geworden, das von allen Seiten auf sie einprasselte, erinnerte sich Jessica, während sie die leeren Sektflaschen in die Ecke des Flurs räumte. Das ging nicht völlig geräuschlos ab, die Flaschen schepperten zuweilen laut klirrend gegeneinander. Jessica dröhnte der Kopf davon, und sie hielt inne. Wie spät war es eigentlich? Egal, die Mädchen würde sie damit ja doch nicht aufwecken, die schliefen sowieso woanders. Ihre Mutter hatte sie mit zu sich genommen. Aber warum eigentlich?

Ihr fiel weiterhin ein, wie die meisten Gäste beim Verabschieden, wenn auch nur knapp, an ihr vorbeigesehen und ihr viel Glück und alles Gute gewünscht hatten. Auch wenn Jessica sich nicht mehr an jedes Detail dieses Abends erinnerte – diese ausweichenden Blicke von Annie, Ralf und Ines würde sie nie im Leben vergessen.

»Willst du nicht auch endlich ins Bett? Es ist schon fast zwölf.«

Christoph stand verschlafen in der geöffneten Schlafzimmertür. Er trug bereits sein hellgraues Schlafshirt mit einem Muster von Gaudí, Erinnerung an einen Kurzurlaub in Barcelona, und sah sie ein wenig vorwurfsvoll an. Direkt in die Augen. Obwohl Jessica vermutete, dass auch er lieber rechts oder links an ihr vorbeischauen würde.

Als sie ihren Mann ansah, wusste Jessica plötzlich wieder, wieso alles so war. Wieso die fremden Leute hier gewesen waren, die Mädels mitten in der Woche bei der Oma übernachteten und ihre Freunde so offensichtlich an ihr vorbeigeschielt hatten.

»Wie geht es Milan?«

Jessica sah Christoph fragend an, als hielte er den Jungen bei sich im Schlafzimmer versteckt und wüsste daher bestens Bescheid über seinen Zustand.

»Das weißt du doch. Er wird gerade operiert. Die Ärzte sind optimistisch, und morgen im Laufe des Tages können wir kurz zu ihm.«

Dann kam Christoph auf sie zu und nahm sie in die Arme.