WAS WIR VON QUALLEN LERNEN KÖNNEN

KATHARINA WOLF

TRIGGERWARNUNG

Liebe Leser*innen, dieses Buch beinhaltet potenziell triggernde Inhalte. Eine detaillierte Triggerwarnung findet ihr am Ende des Buchs, nach der Danksagung. Beachte: Diese enthält Spoiler.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Epilog

Danke

Triggerwarnung

Drachenpost

Für Rica

Ohne dich würde es diese Geschichte nicht geben.

Wirklich nicht!

Kapitel 1

»Oh Shit, ich hab die Zeit vergessen«, rief ich erschrocken aus und klappte meine Bücher zu. Dabei hatte ich mir den Stoff meiner letzten Literaturvorlesungen nur ganz kurz ansehen wollen. Hektisch blickte ich mich um und klopfte meine Hosentaschen ab. Im Kopf ging ich alles durch, was ich auf keinen Fall vergessen durfte: Geldbeutel, Schlüssel, Autoschlüssel, Handy und natürlich meine obligatorische Beanie, die auf meinem Schreibtisch lag und die ich mir direkt auf den Kopf zog.

In Eile und immer zwei Stufen gleichzeitig nehmend, polterte ich die Treppe nach unten und schnappte mir meine Lederjacke von der Garderobe. Eigentlich war die für diese Jahreszeit viel zu dünn, aber sie stand mir, glaube ich, ziemlich gut. Ich hatte da andere Prioritäten. Zumindest, bis im Winter die 0 Grad unterschritten wurden. Dann war die Lederjackenzeit leider vorbei.

»Ich bin weg«, brüllte ich in die Richtung, in der ich meine Eltern vermutete. »Ich muss noch Mike und Zoya abholen.«

»Okay, viel Spaß beim Quiz«, riefen Papa und Mama gleichzeitig.

Ich lief zu meinem knallroten Opel Corsa, den ich, aufgrund mangelnder Parkplätze in unserem Viertel, zwei Straßen weiter geparkt hatte, stieg ein und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Auf mein Auto war ich stolz. Es war zwar nur eine gebrauchte Schrottkiste mit extrem vielen leeren Pfandflaschen im Fußraum, aber es war meine vermüllte Schrottkiste, und ich liebte sie.

Zuerst fuhr ich zu Mike, meinem besten Freund, der quasi um die Ecke wohnte, und machte mich mit einem Hupen bemerkbar. Mike schien nur darauf gewartet zu haben, da er in der gleichen Sekunde aus der Haustür stürmte, einstieg und sich auf den Beifahrersitz warf.

»Hi, Henry.«

»Hi. Alles fit?«

»Logisch«, entgegnete er. Mike und ich kannten uns schon eine gefühlte Ewigkeit. Im Gegensatz zu mir war er ziemlich laut und stand gern im Mittelpunkt. Aber das war okay. Ich beobachtete ihn dabei, wie er die Sonnenblende runterklappte und sein Aussehen im Spiegel kontrollierte.

»Können wir los? Oder musst du noch Rouge auflegen?«, fragte ich und konnte mir ein Lachen kaum verkneifen.

»Brauch ich nicht, bin schön genug.«

Und eindeutig auch selbstbewusst genug. Wir fuhren weiter. Nach ungefähr fünf Minuten hielten wir vor dem kleinen Häuschen von Zoyas Familie. Auch hier reichte es zu hupen, und schon kam sie mit hüpfenden Locken herausgestürmt und setzte sich hinter Mike.

»Hey, ihr zwei.«

»Hi, Zoya«, begrüßten wir sie unisono.

»Nächste Woche fahre ich, okay? Dann ist mein Auto auch wieder aus der Werkstatt raus«, sagte Mike.

Ich winkte ab. »Wie du magst, mir macht das nichts aus, und ich weiß ja, wie gern du das eine oder andere Bier trinkst. Und solange du die naturwissenschaftlichen Fragen alle beantworten kannst, darfst du so viel bechern, bis du umfällst.«

»Wie gnädig von dir, Mami.« Mike alberte mal wieder herum. Ich schenkte ihm nur ein Augenrollen.

»Und was geht bei dir?«, fragte ich nach hinten. »Gibt’s was Neues?«

»Du glaubst es nicht«, brach es da aus Zoya heraus. »Ich hab eine richtig alte CD ergattert. Eine Bravo Hits 11. Und jetzt haltet euch fest: Ich hab die für drei Euro dreiundsiebzig auf eBay ersteigert.«

»Schnäppchen«, sagte Mike neben mir.

»Ja! Ich konnte es gar nicht fassen! Die ist aus dem Jahr 1995.«

Zoya war ein riesiger Fan von Neunzigerjahre-Musik. Vor allem, wenn es um Boybands ging, machte ihr niemand etwas vor. Das war einer der Gründe, warum wir beim wöchentlichen Pub-Quiz in unserer Stammkneipe auch ziemlich unschlagbar waren. Jeder aus unserer Truppe hatte Themengebiete, in denen er oder sie sich besonders gut auskannte.

Ich liebte zum Beispiel Fantasygeschichten wie Game of Thrones oder Herr der Ringe und hegte seit meiner Kindheit eine seltsame Faszination für Aquarien und Meerestiere. Wir alle waren Studierende der hiesigen Universität und nannten uns Masterminds. Andere sahen in uns eine Ansammlung von Nerds. Wir waren hingegen einfach nur glücklich, das ganze unnütze Wissen in unseren Köpfen endlich gebrauchen zu können. Das machte uns einen Heidenspaß.


Als wir das Irish Pub The Green Leaf betraten, wartete Fatih, ein weiteres Mitglied unserer Quiz-Truppe, schon an unserem Stammtisch. Wir setzten uns dazu, und noch bevor wir uns begrüßen konnten, stand auch schon Jenny, die Bedienung, die fast jeden Dienstag beim Quiz hier arbeitete, an unserem Tisch.

»Hey, was kann ich dir bringen? Bist du wieder der Fahrer heute?« Jenny kannte uns mittlerweile schon sehr gut.

»So sieht’s aus. Eine Coke für mich bitte.«

»Könnte aber ein bisschen dauern. Irgendwie kamen gerade alle auf einmal. Fühlt sich an, als wäre ein Reisebus voller Trinkwütiger vorgefahren. Unsere beiden Barkeeper kommen kaum hinterher.« Sie tippte auf ihrem Bedienungsgerät herum, das ein wenig wie ein altes, klobiges Handy aussah.

»Ist das so?« Ich drehte mich um und musterte das Treiben hinter der Bar. Und vor allem beobachtete ich Max, einen der beiden Barkeeper. Den Kerl, für den ich seit einiger Zeit schwärmte und der gerade an der Zapfsäule stand und zig Biere zapfte, die die Bedienungen im Akkord wegbrachten. Die größte Aufmerksamkeit schenkte ich dabei seinen muskulösen Oberarmen. »Der ist echt so heiß«, sagte ich leise, sodass es nur Zoya neben mir hörte. Ich ließ meine Augenbrauen anzüglich hüpfen, woraufhin sie mich mit dem Ellenbogen traktierte.

»Du unanständiger Kerl.«

»Bin ich gern, wenn er auf unanständig stehen sollte.«

Mike neben mir prustete los. Ganz so leise waren wir wohl doch nicht gewesen.

»Junge, ganz ruhig. Du hast dich bisher kaum getraut, mehr als drei Worte mit ihm zu wechseln! Vielleicht solltest du erst mal daran arbeiten.«

»Womöglich hast du recht. Der spielt aber eh in einer ganz anderen Liga und ist garantiert hetero. Oder was meint ihr?«

Mike zuckte mit den Schultern.

»Also, ich habe zumindest den Eindruck, dass er hinter der Bar sehr flirty ist. Jedem gegenüber. Aber vielleicht will er auch einfach nur viel Trinkgeld.« Zoya sah ihn nachdenklich an und versuchte ihn wohl zu analysieren. Das konnte sie aber vergessen, das machte ich schon, seit er hier angefangen hatte zu arbeiten. Und zwar mit mäßigem Erfolg. Der Kerl war nicht so leicht zu durchschauen.

Wie konnte man am besten herausfinden, ob jemand auf Männer oder Frauen stand? Einfach fragen war selten eine Option. Oder? Max flitzte von der einen Seite der Bar zur anderen, nahm eine Bestellung entgegen und zapfte dann wieder ein Bier. »Fuck, der könnte glatt ein Hemsworth-Bruder sein. Nur in jünger und vielleicht ein wenig hübscher.«

»Ist er aber nicht, soweit ich weiß. Außer er hat einen anderen Nachnamen angenommen. Er war vorher Kunde hier und arbeitet jetzt seit einiger Zeit bei uns. Er ist nicht sehr gesprächig, dafür macht er aber einen verdammt guten Job hinter der Bar. Der Chef hat einen Narren an ihm gefressen und ihm sogar schon den Schlüssel anvertraut«, meinte nun Bedienungs-Jenny neben uns, die trotz der vielen Bestellungen, die sie gerade eintippte, wohl schnell verstanden hatte, über wen wir sprachen.

Ein ehemaliger Kunde also. Kam er mir deshalb so bekannt vor? Vielleicht waren wir uns ja mal am Tresen oder auf dem Klo über den Weg gelaufen?

»Dann bleibt er uns ja hoffentlich noch erhalten. An den Anblick könnte ich mich nämlich gewöhnen.«

»Ich auch«, raunte Jenny, zwinkerte mir zu und ging dann, um die Leute einen Tisch hinter uns zu bedienen. Am Quiz-Dienstag war immer viel los, und einige der Teilnehmenden waren jede Woche da. So wie wir. Unsere größten Konkurrenten hielten sich an einem Tisch im hinteren Bereich auf. Sie nannten sich die Gummibierbande. Wahrscheinlich sollte der Name lustig sein. Die meisten Mannschaften hatten solche komischen Namen. Da waren die Agatha Quizies, die Quizzly Beers, die Quizzards of OZ und die Pubser … aber die waren alle nicht wirklich gut.

»Ich bestell mir mal ein paar Chips direkt am Tresen«, sagte ich zu Zoya.

»Warte doch, bis Jenny die Getränke bringt. Sie ist eh gleich wieder da.«

»Schon, so kann ich mir aber den Barkeeper etwas genauer ansehen, bevor das Quiz beginnt.«

»Dann bring mir wenigstens ein paar Salt-and-Vinegar-Chips mit«, meinte Zoya lachend. Ich hatte da schon eine Ahnung, warum sie sich so amüsierte. Sie kannte mich zu gut. Ich würde mich eh nicht trauen, irgendeinen Vorstoß zu wagen. Erst recht nicht bei so einem Typen. Ganz abschreiben wollte ich mich allerdings auch nicht. Ich war schüchtern, ja. Aber ich war kein hoffnungsloser Fall. Ich konnte auch anders. Gelegentlich.

Ich setzte mich auf einen freien Barhocker und nahm die Cocktailkarte in die Hand. Die war schön groß, sodass ich mein Gesicht dahinter verstecken konnte. Unauffällig beobachtete ich darüber hinweg das Treiben hinter der Bar. Max war heute nicht allein. Anton, der Barkeeper, der hier schon etwas länger arbeitete, huschte ständig zwischen Kaffeemaschine und Cocktailshaker hin und her. Als er mich erblickte, nickte er mir zu.

»Kann ich dir was bringen?«, fragte er gehetzt.

»Nein danke.« Schnell verkroch ich mich wieder hinter der Karte. Verdammt! Ich wollte doch bei Max bestellen, um wenigstens ein paar Worte mit ihm gewechselt zu haben und vielleicht sogar ein Lächeln von ihm zu erhaschen. Ich schmachtete ihm nun schon seit einigen Wochen aus der Ferne hinterher. Da genoss ich die wenigen Sekunden, in denen ich ihn auch mal von Nahem sah.

»Herzlich willkommen zum heutigen Pup-Quiz«, drang es durch die Lautsprecher. Harry, der grauhaarige Chef des Irish Pubs, saß weiter hinten an einem kleinen Tisch. Vor ihm verstreut lagen die Quizfragen. Das Mikrofon hielt er locker in der Hand. Kurz sah ich mich um, aber meine Freunde saßen alle hoch konzentriert am Tisch und schienen mich gerade noch nicht zu vermissen.

»Die Spielregeln dürften, denke ich, mittlerweile bekannt sein. Zu gewinnen gibt es wie immer einen 25-Euro-Getränkegutschein. Braucht noch jemand einen Stift und einen Zettel für die Antworten?«, schallte es durch das Pub. Niemand meldete sich. »Dann scheinen ja alle versorgt zu sein, und wir starten mit der ersten Frage: Was haben die Entdeckung Amerikas, Viagra, Penizillin und LSD gemeinsam?«

Ich drehte mich um und sah, dass Zoya bereits etwas auf den Zettel schrieb. Also hatte irgendjemand an unserem Tisch wohl die Antwort gewusst. Ich grübelte noch. Was hatten Amerika, Viagra, Penizillin und LSD gemeinsam?

»Zufall«, murmelte der hübsche Barkeeper im Vorbeigehen.

»Was?«, fragte ich, da er gerade vor mir stand und eine Fuhre dampfender Gläser aus der Spülmaschine holte. Er sah mich perplex an, als würde er mich das erste Mal richtig wahrnehmen. Und vielleicht war das tatsächlich so.

»O verdammt, hab ich das laut gesagt?« Er lächelte und fuhr sich mit seiner Hand verlegen durch sein Haar.

»Ja klar. Und das ist genial. Du hast recht. All das wurde nur durch Zufall entdeckt.«

»Verrate mich bloß nicht. Wenn rauskommt, dass ich Gästen Tipps gebe, komme ich in Teufels Küche.«

»Das bleibt unter uns«, sagte ich hinter vorgehaltener Hand, woraufhin er mir zuzwinkerte und wieder zum Zapfhahn lief. Wenn ich es richtig sah, zapfte er ein Guinness. Gott, dieses Zwinkern hatte mein Herz gerade so was von zum Rasen gebracht. Zum Glück war es im Pub immer recht düster. So fiel es hoffentlich niemandem auf, dass meine Wangen glühten.

Schnell ging ich wieder zurück zu unserem Tisch und setzte mich auf meinen Hocker. Ich trank einen Schluck von meiner Coke und bemerkte erst dann, dass Zoya mich missmutig musterte.

»Du hast meine Chips vergessen.« Sie machte einen astreinen Schmollmund.

»Ein Blick von diesem Kerl reicht aus und ich vergesse meinen eigenen Namen.«

»Und meine Chips«, wiederholte sie das Offensichtliche noch einmal. Ich rollte mit den Augen und winkte dann Jenny zu uns, die gerade die Bestellung zum Nebentisch gebracht hatte.

»Kannst du uns bitte zweimal Essigchips bringen?«

»Klaro.«


Wir waren wie immer quasi unschlagbar. Fatih, der Schweigsame in unserer Runde, kam wieder genau im richtigen Moment aus sich heraus. Erst wusste er, dass sich das teuerste Restaurant der Welt in Tokio befand, und dann auch noch, dass Jacques Villeneuve 1997 Formel-1-Weltmeister gewesen war. Er war ein echter Sportfreak und Japan-Fan. Zoya erkannte ein Lied von der Band Worlds Apart, das ich in meinem ganzen Leben noch nie gehört hatte, und Mike wusste, dass Laverna in der römischen Mythologie die Göttin der Diebe und Betrüger war.

Bei der finalen Frage ging es um die Verfilmung von Der Hobbit. Das war mein Moment! Ich fing an, laut zu jubeln, da das einfach genau mein Themengebiet war. Dabei fiel mir auf, dass beide Barkeeper zu mir sahen und grinsten. Wahrscheinlich, weil sie sich mitfreuten und gute Laune hatten. Vielleicht lachten sie auch weniger mit mir als vielmehr über mich, weil ich gerade das gesamte Pub mit meinem Jubelschrei übertönt hatte. Trotzdem wünschte sich ein kleiner, aber sehr lauter Teil in mir, dass zumindest einer der beiden auch aus anderen Gründen zu mir sah.

Wir gewannen mit knapp zwanzig Punkten Vorsprung und lösten den gewonnenen Gutschein wie fast jede Woche direkt wieder ein. Das Pub hatte sich nach der Verkündung der ersten drei Plätze schnell geleert, und einzig die zahllosen leeren Gläser, die überall auf den Tischen standen, waren Beweis dafür, dass hier vor wenigen Minuten eine Mordsstimmung geherrscht hatte. Ich half Zoya in ihren Mantel und zog mir dann selbst meine Lederjacke an. Mike war noch mal aufs Klo verschwunden, also warteten wir auf ihn, bevor auch wir uns auf den Heimweg machen würden. Mir war es recht. Denn ich nutzte die Zeit und beobachtete den hübschen Barkeeper bei der Arbeit. Natürlich so unauffällig wie es nur ging. Er hatte gerade damit angefangen, die Kaffeemaschine zu reinigen, und Anton, sein Kollege, besprach anscheinend mit ihm, was noch alles zu tun war. Kurz trafen sich wieder unsere Blicke. Zumindest glaubte ich das. Sicher konnte ich mir nicht sein, da ich direkt wegsah und Zoya in irgendeinen unwichtigen Small Talk verwickelte. Verdammt. Mein Herz schlug wild in meiner Brust und meine Ohren fühlten sich heiß an. So wollte ich nicht sein. Wenn ich es nicht mal schaffte, jemandem länger als ein paar Sekunden in die Augen zu sehen, wie sollte ich dann ein ganzes Gespräch führen oder am Ende sogar flirten?

Vielleicht musste ich mir einfach einen Ruck geben. Ins kalte Wasser springen. Ohne etwas zu riskieren, würde ich wahrscheinlich nie jemanden kennenlernen. Es war ja nicht so, als hätte ich Torschlusspanik. Ich war immerhin gerade mal einundzwanzig Jahre alt. Aber in diesen einundzwanzig Jahren war eben auch nicht wirklich viel passiert. Zumindest nicht in Sachen Liebesbeziehung.

Los, Henry, tu es, redete ich mir selbst gut zu und ging dann kurzerhand zu Jenny, die gerade einen Tisch im hinteren Bereich des Pubs abwischte.

»Hauen wir gleich ab?«, fragte Mike und ich winkte ab.

»Einen Moment, muss gerade noch etwas erledigen«, sagte ich an ihn gewandt und sprach dann Jenny an. »Könntest du mir vielleicht einen Kugelschreiber und ein Stück Papier geben?«

»Klar.« Sie fischte einen kleinen Block und einen Stift aus ihrem Bedienungsgürtel und überreichte mir beides.

Schnell schrieb ich meinen Namen und meine Handynummer auf. Mit einem kräftigen Ruck riss ich das Blatt aus dem Block und gab Jenny den Rest zurück. Ich bedankte mich und lief, ohne weiter darüber nachzudenken, an die Theke. Nachdenken wäre jetzt der größte Fehler, denn dann könnte sich mein Hirn in allen Farben, Details und Facetten ausmalen, was schiefgehen konnte. Einfach zur Tat zu schreiten hatte den Vorteil, dass das blöde und unangenehme Gefühl im Bauch ausblieb. Zumindest für wenige Sekunden. Denn viel länger konnte man seine Gedanken ja nicht kontrollieren.

»Hey, du«, rief ich Max, dem Barkeeper, zu. Er drehte sich um, trocknete sich die Hände an einem Tuch ab und kam zum Tresen gelaufen. Zu mir.

»Ja?«

Und da war das Hirn auch wieder voll da und analysierte alles. Die weißen Zähne, den Dreitagebart, das Lächeln, das ein wenig misstrauisch, aber auch unendlich attraktiv war und …

Henry, reiß dich zusammen!

»D-d-d-das w-w-wollte ich dir geben«, stotterte ich mich um Kopf und Kragen und reichte ihm mit zittriger Hand den Zettel. Als er mir nicht schnell genug entgegenkam, beugte ich mich noch weiter über den Tresen und drückte ihm die Notiz einfach zwischen die Finger.

»Was ist da…?« Er kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu sprechen.

»Also, bis dann«, sagte ich schnell, zog den Kopf ein und verschwand fluchtartig aus dem Irish Pub. Mike, Fatih und Zoya rannten mir hinterher.

»Was war das?«, fragten meine Freunde im Chor.

»Ich weiß nicht«, nuschelte ich in mich hinein.

»Hast du ihm deine Nummer gegeben?« Zoya holte auf und erschien rechts von mir. Sie grinste über beide Ohren. »Wenn ja, bist du der mutigste Mensch, den ich kenne. Vielleicht sogar der mutigste Kerl der Welt.«

»Oder einfach komplett übergeschnappt. Du weißt, dass das unser Stammpub ist. Wehe, du meidest es nun, weil du dich schämst oder so«, drohte Mike links von mir.

»Quatsch ich … na ja, also …« Ich atmete tief durch und bereute jetzt schon den kurzen, übermütigen Moment, den ich gerade gehabt hatte.

O Mann, was hatte ich mir nur dabei gedacht?

Kapitel 2

Mein Handy weckte mich mit aufdringlich lautem Vibrieren. Ich tastete blind nach dem Gerät, das irgendwo auf meinem Nachttisch liegen musste. Erst nachdem ein paar andere Gegenstände auf den Boden gefallen waren, ertastete ich es und sah, dass mehrere Nachrichten von Zoya eingegangen waren. Außerdem erkannten meine müden Augen, dass es bereits acht Uhr war und ich mich echt beeilen musste, um noch pünktlich zu meiner Vorlesung zu kommen.

Ich klickte auf Zoyas Namen.


Und? Hat er sich bei dir gemeldet?


Sag schon!


Ignorierst du mich?


Henry? AUFSTEHEN! Ich warte auf Antworten, und außerdem verpennst du mal wieder die Uni!


Ich stöhnte und richtete mich ruckartig auf. Sie hatte recht. Ich musste mich dringend fertig machen, sonst würde ich wieder einmal zu spät kommen.

Trotzdem nahm ich mir die drei Sekunden und antwortete Zoya. Ansonsten würde sie einen Suchtrupp vorbeischicken oder am Ende gleich persönlich vor der Tür stehen.

Guten Morgen. Ich bin eben erst aufgewacht.

Und NEIN, er hat sich nicht gemeldet.


Direkt stellte sich wieder das schreckliche Gefühl in meiner Magengegend ein. Was hatte mich nur dazu getrieben, ihm meine Nummer zu geben? Der nächste Gang ins Green Leaf Pub würde so was von peinlich werden. Wenn ich allerdings genauer darüber nachdachte, würde es wahrscheinlich nur dann peinlich werden, wenn ich es zuließ. Wenn ich hingegen selbstsicher genug war und darüberstehen würde, wäre es vielleicht okay. Ein lässiges Schwamm drüber, und wir würden über diese Sache hinwegsehen und lachen können. Fake it, till you make it. Tue so, als wärst du der selbstbewussteste Kerl aller Zeiten, bis du es in einigen Jahrzehnten eventuell wirklich bist.

Mit Schwung stand ich auf, schnappte mir ein paar der Klamotten, die auf meinem Schreibtischstuhl lagen, und machte mich im Badezimmer schnell fertig. Als ich frisch geduscht, mit geputzten Zähnen und angezogen in die Küche trat, fiel mir auf, dass das ganze Haus ruhig war. Lissy war schon im Kindergarten und meine Eltern beide arbeiten. Und ich sollte eigentlich auch längst unterwegs sein. In Eile goss ich mir etwas Kaffee in meinen Game-of-Thrones-to-go-Becher und stopfte mir einen Apfel und zwei Müsliriegel in meine Uni-Tasche. Mit Jacke und der obligatorischen Beanie auf dem Kopf lief ich auch schon los zur Straßenbahnhaltestelle. Ich hatte das Glück, dass ich einen Studienplatz an der Uni ergattert hatte, die nur wenige Minuten von meinem Zuhause entfernt war. Damit hatte ich im Gegensatz zu anderen den Vorteil, dass ich nicht ellenlange Wege einplanen musste und sogar noch bei meinen Eltern wohnen bleiben konnte. Zwar entgingen mir so die Wohnheim- und WG-Erfahrungen, die würde ich dann aber einfach später nachholen. Oder eben nicht. Momentan genoss ich es, hier zu sein. Bei meinen Eltern und meiner kleinen Schwester.

An der Uni angekommen, war mein Kaffee leer getrunken und ich verstaute den Becher in meiner Tasche. Zwischen zahlreichen Studentinnen und Studenten lief ich zum großen Vorlesungssaal am anderen Ende des Campus. Der Tag begann mit Kulturwissenschaft. Ein Kurs, den wohl fast jeder, der eine Geisteswissenschaft studierte, belegen musste. Die meisten Kurse, die ich sonst so besuchte, fanden in kleinen Räumen statt, die maximal für zehn oder fünfzehn Leute ausgelegt waren. Viel mehr Studierende interessierten sich wohl nicht für Kleist oder Eichendorff. Solche riesigen Dimensionen gab es im Fach Germanistik selten. Zumindest an meiner Uni, an der die meisten Menschen Jura oder BWL studierten.

Als ich den Vorlesungssaal betrat, war er schon gut gefüllt. Ich suchte mir einen freien Platz, relativ weit hinten am Rand. So konnte ich schnell und unbemerkt wieder verschwinden. Angeborener Fluchtreflex oder so. Ich hasste es, mich an zahllosen Kommilitoninnen und Kommilitonen vorbeiquetschen zu müssen, wenn ich pünktlich gehen oder einfach mal aufs Klo wollte.

Aufmerksam beobachtete ich die Leute in den Reihen vor mir. Ein Kerl aß gerade genüsslich ein Leberwurstbrot, das ich bis hierher riechen konnte. Der war heute Morgen wahrscheinlich genauso spät dran gewesen wie ich. Ein Mädchen in derselben Reihe weiter links hatte nicht einen, sondern gleich zwei Laptops vor sich aufgeklappt. Was sollte das denn? Ergab eigentlich nur mit vier Armen Sinn. Laute Stimmen hinter mir zogen meine Aufmerksamkeit auf sich. An der Eingangstür des Vorlesungssaales kabbelten sich zwei Kerle darum, wer als Erster den Raum betreten durfte. Das Ganze war eindeutig ein Spiel und keine echte Schlägerei. Am lautesten an ihnen war nämlich ihr Lachen. Dabei übersahen sie eine junge Frau hinter sich, die auch in den Saal wollte. Sie saß in einem Rollstuhl und schien zu glauben, dass einer der beiden Jungs ihr die Tür aufhalten würde. Die waren allerdings so mit sich selbst und mit ihrer lustigen Streiterei beschäftigt, dass ihnen die Frau gar nicht auffiel. Da ich am Rand saß, stand ich auf, um die Tür für sie zu öffnen.

»Danke dir«, sagte sie und lächelte mich an. Sie hatte blondes, langes Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Ihre Augen waren strahlend blau und ihre Wangen leicht gerötet. Vielleicht ja vor Aufregung.

»Kein Problem. Es war Glück, dass ich gerade in deine Richtung gesehen habe.« Ich wandte mich wieder meinem Platz zu und wollte zurücklaufen, doch etwas hielt mich auf. Vielleicht war es ihr hilfloser Blick. »Sag mal«, ich sah wieder zu ihr, »bist du im ersten Semester? Ich hab dich bislang in keinem Kurs gesehen.«

»Sieht man mir an, wie unglaublich überfordert ich bin?« Sie lachte.

»Nein, so meinte ich das nicht.« Na ja, ein wenig vielleicht. Ich glaubte, dass ich an meinem ersten Tag an der Uni genauso verloren ausgesehen hatte. Aber das große Gelände, die vielen Lehrveranstaltungen, Pflichtfächer, die Kurse, die nur jährlich angeboten wurden … Vieles war am Anfang wirklich unnötig kompliziert. Und die ewig lange Prüfungsordnung und Studienführer machten es selten einfacher. Das war zumindest meine Erfahrung gewesen. Am meisten hatte mir geholfen, mich an erfahrene Kommilitonen zu halten und von ihnen zu lernen.

»Wo magst du denn hin?«, fragte ich, da ich keine Ahnung hatte, wie sie das mit dem Rollstuhl bewerkstelligen wollte und es vielleicht einen speziellen Platz für sie gab.

Sie sah sich im Saal um. »Ich werde mich einfach an den Rand einer Bank setzen. Da ich eine Unterlage für den Laptop habe, brauche ich keinen Tisch für mich.« Sie kramte eine gepolsterte Unterlage aus ihrer Tasche und trommelte mit den Fingern eine Melodie darauf.

»Das ist praktisch. Magst du dich vielleicht zu mir setzen? Ich konnte mir diesen wunderbaren Platz hier sichern.« Daraufhin zeigte ich mit gespieltem Stolz auf die Bank, auf der bereits meine Jacke lag.

»Sehr gern. Danke schön.« Sie lenkte den Rollstuhl neben mich und begann, ihre Utensilien auszupacken.

»Wow, ist das ein Mac?«

»Ja. Richtig tolles Teil. Habe ich vor ein paar Wochen geschenkt bekommen. Ein kleines Geschenk zum Studienbeginn«, sagte sie überglücklich.

»Ach, übrigens.« Ich reichte ihr die Hand. »Ich bin Henry.«

Sie schüttelte sie und lächelte noch immer von einem Ohr bis zum anderen. Dieses Lächeln war ansteckend.

»Ich bin Mathilda, und, um ehrlich zu sein, ziemlich froh, dass du mich angesprochen hast. Ich kenne hier nämlich noch niemanden. Das ist eine meiner ersten Vorlesungen.«

Und dann gleich eine so große, semesterübergreifende Vorlesung. Da konnte ich durchaus versehen, dass man erst einmal überfordert war.

»Dann kannst du ja von Glück reden, dass du mich getroffen hast. Ich bin im dritten Semester und quasi schon ein alter Hase. Wenn du Fragen hast, kannst du dich vertrauensvoll an mich wenden.«

»Ich bin echt ein Glückspilz.« Wir kicherten beide los.

In dem Moment betrat die Dozentin den Saal und das Gemurmel verstummte. Auch wir stellten das Reden ein. Zumindest für ein paar Anstandsminuten. Ziemlich schnell fingen wir wieder an, über dies und das zu tuscheln. Als dann die Unterschriftenliste herumgereicht wurde, konnten wir unser Lachen kaum unterdrücken. Irgendwelche Scherzkekse vor uns hatten die Liste mit wunderbar lustigen Namen komplettiert. Es gab angeblich einen Earl of Pearl, einen Mr Bombastik und eine Sailor Moon hier in diesem Kurs. Auf die Idee musste man erst mal kommen. Schnell unterschrieben wir, natürlich mit unseren richtigen Namen. Doch bevor ich die Liste nach links weitergeben konnte, griff Mathilda nochmals nach dem Blatt und schrieb Justin Bieber dazu. Erst dann durfte ich den Zettel weiterreichen.

»Nicht dein Ernst?« Ich sah sie mit großen Augen an und konnte es nicht glauben. Sie schien um einiges mutiger zu sein als ich. Das gefiel mir.

Danach fiel es uns beiden schwer, der Dozentin konzentriert zu folgen. Bei jeder Kleinigkeit drohten wir in Gelächter auszubrechen. Wenn der Lachmuskel mal angespannt war, war es für mich schier unmöglich, ernst zu bleiben. Mathilda schien es ähnlich zu gehen. Zumindest erwischte ich sie während der Vorlesung mehrmals dabei, wie sie sich die Faust vor den Mund hielt, um ihr Lachen zu verbergen. Ein Anblick, der mich mehr als einmal dazu brachte, schnell wegzusehen und einen imaginären Gegenstand in meiner Tasche unter der Bank zu suchen. Einfach weil ich ansonsten laut losgeprustet hätte.

Für meine Noten würde meine Bekanntschaft mit Mathilda kein gutes Ende nehmen. Und trotzdem hatte ich das Gefühl, eine Verbündete gefunden zu haben. Und vielleicht ja sogar eine richtig gute Freundin.


Nach der Vorlesung verließen wir beide den Hörsaal.

»Hast du noch ein Seminar heute?«, fragte ich sie.

»Ja, aber erst in drei Stunden. Und du?«

»Ich hab jetzt auch erst mal Zeit. Soll ich dir vielleicht irgendetwas zeigen? Hast du Fragen?« Ich konnte mich noch an meine Anfangszeit an der Uni erinnern. Ich hatte ewig gebraucht, um alles zu finden und zu verstehen.

»Ja. Wie läuft das hier mit der Bibliothek? Ich weiß, dass sie in dem Gebäude da vorn ist.« Sie zeigte auf die Bibliothek auf der anderen Straßenseite. Ein riesiges Bauwerk mit einer großen Glasfront, durch die man die endlos langen Reihen der Bücherregale schon von hier erkennen konnte. »Brauche ich einen Ausweis? Muss ich irgendetwas beantragen?«

»Alles hier an der Uni funktioniert mit deinem Studentenausweis. Den hast du ja schon, oder?«

Sie nickte und kramte in ihrer Jackentasche, bis sie mir die Karte entgegenstreckte. Das Bild darauf war fürchterlich. Sie war kaum wiederzuerkennen.

»Schrecklich, oder?« Sie lachte und steckte die Karte schnell wieder weg. »Ich habe keine Ahnung, warum der Fotograf einfach ohne Vorwarnung auf den Auslöser gedrückt hat. Ich hatte nicht mal mehr Zeit, direkt in die Kamera zu sehen. Eigentlich hatte ich sogar noch Glück, dass ich nicht gerade meinen Finger in der Nase hatte.«

»Mach dir nichts draus. Sieh mal, wie mein Foto aussieht.« Ich griff in meine hintere Jeanstasche, holte den Geldbeutel heraus und zeigte ihr auch meinen Studentenausweis. Das Bild darauf war stark überlichtet. Ich hatte quasi keine Kontur im Gesicht. Den dicken Pickel am Kinn konnte man trotzdem leuchtend gut sehen. Mathilda prustete los.

»Jaja … mach dich ruhig über mich lustig«, meinte ich gespielt eingeschnappt.

»Sorry, aber wie kann man bei dem Bild nicht lachen? Ich muss dir recht geben. Dein Bild toppt alles. Warum stellen die nicht einfach einen richtigen Fotografen ein, oder kaufen besseres Equipment? Was soll das?«

Ich blieb stehen und rieb mir nachdenklich über mein stoppliges Kinn. Ja, für Rasieren war heute Morgen wirklich keine Zeit gewesen.

»Vielleicht gehört das schon zum Studentsein dazu. Dinge, die man als Student erlebt haben muss. Auf einer Wohnheimparty versacken, verkatert durch eine Prüfung fallen, ein schreckliches Bild auf dem Studentenausweis haben«, begann ich aufzuzählen.

»Lustige Namen auf die Anwesenheitsliste schreiben«, ergänzte Mathilda und brachte mich damit schon wieder zum Lachen.

Da hatte ich plötzlich eine Idee. »Wie wär’s? Soll ich dich auf einen Kaffee einladen? Da vorn ist ein super Laden, da bin ich recht häufig. Irgendwie habe ich das Gefühl, wir sollten an unserer studentischen Bucket List weiterarbeiten. Zwanzig Dinge, die man während des Studiums erlebt haben muss, oder so.«

»Gute Idee, auch wenn mir der Sinn eher nach heißer Schokolade steht und uns garantiert auch fünfundzwanzig Dinge einfallen werden.«

»Das klingt nach einem Plan.«


Nach einigen Heißgetränken und fünfzehn weiteren Punkten auf der Liste von Dingen, die du während deines Studiums unbedingt erlebt haben musst, verabschiedeten wir uns. Natürlich nicht, ohne vorher Handynummern zu tauschen und uns gegenseitig auf Instagram zu folgen. Danach mussten wir beide zurück zur Uni, nur in unterschiedliche Kurse.

Doch vorher versprachen wir uns, unsere Freistunden nun öfter miteinander zu verbringen, und ich freute mich schon sehr darauf.

Gegen Abend schrieb ich ihr direkt, dass ich Freitag ziemlich viel Freizeit zwischen zwei Vorlesungen haben würde, und sie antwortete mir erfreulicherweise, dass auch sie dann Zeit hätte. Also stand unserem nächsten Treffen schon mal nichts im Wege. Zufrieden lehnte ich mich auf dem Schreibtischstuhl zurück. Ich hatte bereits meinen Pyjama an, also eine Boxershorts und ein verwaschenes Bandshirt von Linkin Park, und ordnete gerade den ganzen Uni-Kram, der sich diese Woche angesammelt hatte. Arbeitsblätter, Mitschriften, Grafiken und so Zeug. Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass es mehr Sinn ergab, sich regelmäßig darum zu kümmern und nicht erst kurz vor einer Prüfung. Auch so eine Sache für die studentische Bucket List: Du hast nie richtig studiert, wenn du nicht mit großer Panik in der Nacht vor einer Prüfung diese eine wichtige Notiz gesucht hast.

Ich notierte den Punkt und schickte ihn an Mathilda. Genau in diesem Moment vibrierte mein Handy in der Hand und es ging eine Nachricht von einer unbekannten Nummer ein.


Hi, Henry! Schön, dass ich nun auch deinen Namen kenne. Meiner ist Max, falls du es noch nicht wusstest.


Und einige Sekunden später.


Ich bin’s übrigens. Der Barkeeper aus dem Green Leaf.


Ich starrte total perplex auf die beiden eingegangenen Nachrichten. Mein Hirn brauchte ein paar Sekunden, um zu verstehen, was da gerade passiert war.

Er schrieb mir! Er hatte den Zettel nicht weggeworfen. Vielmehr hatte er ihn aufbewahrt, sich die Mühe gemacht, die Nummer einzutippen, einzuspeichern und im Anschluss eine Nachricht an mich zu senden. Sogar zwei. An mich!

Geschah das gerade wirklich?

In diesem Moment wurde mir erst so richtig klar, dass ich tatsächlich nicht damit gerechnet hatte, dass er mir schreiben würde.

Aber er hatte es getan! Yes!

Kapitel 3

»Boah, Henry, ich wusste, dass das ab jetzt seltsam wird. Ich hab’s echt gewusst!« Mike sah mich vorwurfsvoll an und hatte beide Hände in die Hüfte gestemmt.

»Warte doch mal. Ich brauch nur noch ’ne Minute.«

Wir standen bereits seit geraumer Zeit vorm Eingang des Irish Pubs und warteten auf … na ja … darauf, dass ich endlich den Mumm hatte, die Tür zu öffnen. Allerdings war ich so aufgeregt, und mein Herz schlug so schnell in meiner Brust, dass ich nicht wusste, wie ich das schaffen sollte.

Mike und Fatih hatten bereits vor einigen Tagen den Vorschlag gemacht, heute Abend noch auf einen kleinen Drink ins Pub zu gehen. Unter anderem, weil irgendein Champions-League-Spiel lief und die beiden große Fußballfans waren. Ich würde mich nicht gerade als Fan bezeichnen, aber ich kam eigentlich immer gern mit. Ich liebte die Atmosphäre des Pubs und verstand mich mit den meisten Bedienungen echt gut. Es fühlte sich ein wenig wie mein zweites Wohnzimmer an. Deshalb war es mir egal, ob Fußball auf einer Leinwand lief, eine Irish-Folk-Band auftrat, Karaoke-Night war oder eben Pub-Quiz. Ich war einfach gern hier. Nur hatte sich an meiner Situation seit gestern Abend einiges geändert.

Max hatte mir geschrieben, und ich hatte nach einigen Anläufen und einem verzweifelten Telefonat mit Zoya geantwortet. Die Nachrichten mit ihm waren nicht besonders intim gewesen. Wir hatten nur locker hin- und hergeschrieben. Uns über unseren Tag ausgetauscht. Ich würde es ungezwungenen Small Talk nennen. Und am Ende meinte ich, dass ich morgen eventuell im Pub vorbeischauen wolle. Daraufhin hatte er geantwortet, dass er sich freuen würde, mich zu sehen.

Und nun stand ich hier und wischte zum wiederholten Male meine verschwitzten Hände an meiner schwarzen Jeans ab.

»Vor was hast du denn Angst?«, fragte Fatih, der seit seinem Hallo vorhin, als er in Mikes Auto gestiegen war, glaube ich, noch kein Wort gesagt hatte. Seine schweigsame Art machte ihn aus, und ich wusste sie zu schätzen.

»Ich hab gar keine Angst. Höchstens davor, dass mein Körper vollkommen rebelliert, wenn ich ihn sehe, und ich ihn nur anstottere, ein nervöses Zucken am Auge bekomme, ohnmächtig werde oder mich vor Aufregung übergebe. Oder was ist, wenn er mich ignoriert? Wenn das alles nur ein doofer Scherz von ihm war? Und wie sehr können Hände eigentlich schwitzen? Wir haben verdammt noch mal Oktober.« Wieder wischte ich mir meine Handflächen trocken.

»Ach, komm schon.« Mike legte einen Arm um meine Schulter und dirigierte mich zur Eingangstür. »Es war doch so unglaublich mutig von dir, ihm deine Nummer zu geben.«

»Ja, schon …«

»Und du hast echt nichts zu befürchten. Glaub mir. Wir gehen da jetzt rein und du wirst megacool und gelassen sein. Zumindest könntest du versuchen, so zu tun als ob. Und außerdem ist gleich Anpfiff, also …« Er öffnete die Tür und gab mir einen kräftigen Stoß. »Rein mit dir.«

Und schon stand ich im holzvertäfelten und nach Bier riechenden Pub. Wie immer war das Licht gedimmt und fast jeder Tisch war bereits voll besetzt.

Schnell und mit wild klopfendem Herz lief ich zu unserem Stammtisch, den Mike in weiser Voraussicht auch heute reserviert hatte. Ich rutschte direkt auf die Bank, von der aus ich zur Bar sehen konnte, und schnappte mir eine Getränkekarte als Sichtschutz. Fatih gesellte sich neben mich auf die Bank, Mike setzte sich gegenüber auf einen der Hocker.

»Hat er uns gesehen?«, fragte ich flüsternd in die Runde.

»Wenn nicht, kann ich ihn gern rufen und laut auf uns aufmerksam machen«, antwortete Mike nur lachend und winkte der Bedienung. Heute war es nicht Jenny, sondern Jule. Sie arbeitete mindestens schon so lange hier, wie wir Stammkunden waren.

»Hey, schön, dass ihr da seid«, begrüßte sie uns und zündete das Teelicht auf unserem Tisch an. »Was kann ich euch bringen?«

»Ein Kilkenny bitte«, bestellte ich.

»Wir trinken beide Cola, oder?«, fragte Mike in Fatihs Richtung, und der nickte. »Zweimal Cola für uns. Danke.« Mike lächelte Jule an und machte keinen Hehl daraus, dass er schon seit Monaten auf sie stand. Sie schien das nicht zu bemerken. Oder ignorierte es absichtlich. Zumindest tippte sie schweigend alles in ihr Gerät ein und ging dann einen Tisch weiter, an dem zwei Kerle verzweifelt versuchten, auf sich aufmerksam zu machen. Die mussten kurz vorm Verdursten sein, oder nur unglaublich unverschämt. Vorsichtig spitzelte ich über den Rand der Karte hinweg zum Tresen. Max war auch heute wieder mit Anton hinter der Bar. Er lief gerade zu den Shotgläsern und goss irgendeinen Schnaps ein, schnappte sich dann die kleinen Gläser und stellte sie auf ein Tablett. Danach zapfte er wieder Bier. Er schien total in seinem Element zu sein. Jede seiner Bewegungen war fließend. Als würde er hier schon Ewigkeiten arbeiten oder wäre in dem Laden aufgewachsen. Aber soweit ich wusste, hatte er erst vor ein paar Monaten hier begonnen.

Plötzlich hob er seinen Blick und sah direkt zu unserem Tisch herüber. Verstecken brachte nichts und wäre mehr als kindisch gewesen, auch wenn das mein erster Impuls war. Wir saßen immer an diesem Tisch, und außerdem hatten wir ja ein wenig hin- und hergeschrieben. Ich sollte mich also jetzt auch so verhalten. Also so, wie man sich eben als erwachsene Person verhielt, wenn man mit dem Schwarm Telefonnummern getauscht hatte. Ich straffte meine Schultern und erwiderte seinen Blick. Als ich sah, dass er lächelte und mir zunickte, erhob ich zögerlich meine Hand und senkte sie dann schnell wieder.

»Weißt du, wie du gerade aussiehst?« Mike musterte mich mitleidig. »Als wäre dir das alles verdammt unangenehm und als würdest du am liebsten weglaufen.« Ganz unrecht hatte er nicht.

»Ich weiß einfach nicht, wie ich mich verhalten soll«, raunte ich ihm zu.

»Du musst doch nichts tun.«

»Aber ist es denn nicht megadoof und unhöflich, jetzt hier sitzen zu bleiben? Wie verhält man sich denn in meiner Situation normal? Hätte ich direkt zu ihm gehen sollen, um ihn zu begrüßen? Oder ist das dann aufdringlich? Ich bin gerade total überfordert. Bestimmt denkt er, ich bin voll der Depp.«

»Oder er denkt momentan einfach nur daran, wie er schnellstmöglich fünfzig Bier für die ganzen irren Fußballfans hier zapfen kann. Mach dir doch nicht immer so einen Kopf.«

Ich raufte mir die Haare. »Das sagst du so einfach.«

»Du hast doch schon den ersten Schritt getan«, meldete sich plötzlich Fatih neben mir zu Wort. »Vielleicht ist jetzt auch einfach er dran mit der nächsten großen Geste.«

Mike zeigte mit dem Finger auf Fatih.

»Verdammt richtig. Wenn du mal was sagst, dann zum Glück immer was Sinnvolles.«

Ich musste lachen. »Also soll ich mich jetzt zurücklehnen und ihn machen lassen?«, fragte ich meine beiden Freunde.

»Wäre doch mal einen Versuch wert«, meinte Mike. Er konnte das so seelenruhig sagen. Ich befürchtete allerdings, dass ich bei diesem Kerl nur einen Versuch hatte. Und wenn ich nun rüberkam wie ein eingeschüchterter Freak, dann würde er mich höchstwahrscheinlich einfach ghosten und sich dem oder der Nächsten zuwenden.

Trotzdem hörte ich auf Fatihs Rat und blieb sitzen. Nicht weil ich auf die große Geste wartete. Ich wusste nur nicht, was ich sonst hätte tun sollen.

Das Fußballspiel war bis zur letzten Minute recht ereignislos. Was dazu führte, dass ich sehr oft Gelegenheit dazu hatte, Max heimlich bei der Arbeit zu beobachten.

In der Verlängerung überschlugen sich plötzlich die Ereignisse. Es fielen zwei Tore, und es kam zu einem Elfmeter. Im kompletten Pub ging es drunter und drüber. Alle riefen durcheinander, und Mike und Fatih hielt es nicht mehr auf ihren Plätzen. Beide standen vor der Leinwand und fieberten mit. Ich hingegen stopfte mir gerade das letzte Stück meiner Pizza rein. Seit einiger Zeit gab es hier im Pub auch Pizzen und Flammkuchen, da der Chef in einen Pizzaofen investiert hatte. Beste Idee ever. Seitdem hatte sich meine Ernährung nicht wirklich verbessert. Zum Glück sah man es mir noch nicht an.

Ich versuchte mir die fettigen Finger mit der Serviette zu säubern, was mir mehr schlecht als recht gelang. Da gerade eh alle abgelenkt waren und dem Treiben auf der Leinwand zusahen, waren die Toiletten garantiert leer. Also lief ich zum Männerklo ganz hinten im Pub und wusch mir dort die Hände. Der Blick in den Spiegel zeigte mir, dass meine Haare eine Katastrophe waren. Ich trug ja eigentlich fast immer eine Beanie auf dem Kopf. Da es im Laufe der letzten anderthalb Stunden im Pub richtig heiß geworden war, hatte ich sie vorhin abgesetzt. Jetzt klebten mir die Haare am Kopf und ich sah total doof aus. Mit meinen nassen Fingern versuchte ich, sie zu richten, gab aber schnell auf. Ich würde einfach direkt wieder die Mütze aufziehen, sobald ich am Tisch saß.

Als ich aus dem Männerklo heraustrat, hatte sich das Pub erstaunlich flott geleert. Jule kassierte die letzten Anwesenden ab, und überall standen leere Gläser auf den Tischen und auf dem Tresen herum. Fatih und Mike saßen wieder auf ihren Plätzen und wirkten bedrückt. Anscheinend war das Spiel nicht so ausgegangen, wie es sich die beiden gewünscht hatten.

»Hey, du.«

The-Green-Leaf

O. Mein. Gott.

Ich hatte ein Date mit diesem Kerl!