Impressionen des Alltagslebens in Schulzenhof.
Seit seiner Kindheit hatte Erwin Strittmatter sporadisch Tagbuch geführt, ab 1954, als er nach Schulzenhof zog, kontinuierlich. Seitdem unterbrach er diese Gewohnheit nur in Zeiten höchster Arbeitsanspannung. Hier gewähren sie Einblicke in Strittmatters Arbeit als Autor und als Pferdezüchter, bieten sensible Naturbeobachtungen, Reiseerlebnisse und scharfe, pointierte Beobachtungen, die den »Menschensammler« Strittmatter verraten.
Der Titel stammt vom siebenjährigen Sohn Matthes: »Geschichten aller Ard«, auf den orthographischen Einwand des Vaters schrieb er noch ein »(t)« dazu.
Über Erwin Strittmatter
Erwin Strittmatter Erwin Strittmatter wurde 1912 in Spremberg als Sohn eines Bäckers und Kleinbauern geboren. Mit 17 Jahren verließ er das Realgymnasium, begann eine Bäckerlehre und arbeitete danach in verschiedenen Berufen. Von 1941 bis 1945 gehörte er der Ordnungspolizei an. Nach dem Kriegsende arbeitete er als Bäcker, Volkskorrespondent und Amtsvorsteher, später als Zeitungsredakteur in Senftenberg. Seit 1951 lebte er als freier Autor zunächst in Spremberg, später in Berlin, bis er seinen Hauptwohnsitz nach Schulzenhof bei Gransee verlegte. Dort starb er am 31. Januar 1994. Zu seinen bekanntesten Werken zählen sein Debüt »Ochsenkutscher« (1950), der Roman »Tinko« (1954), für den er den Nationalpreis erhielt, sowie die Trilogie »Der Laden« (1983/1987/1992).
Eva Strittmatter wurde 1930 in Neuruppin geboren. Sie studierte 1947 bis 1951 Germanistik in Berlin. 1951 bis 1953 Mitarbeiterin beim Deutschen Schriftstellerverband, seit 1954 freie Schriftstellerin. Sie veröffentlichte Kritiken, Kinderbücher, Gedichte, Prosa. Heinrich-Heine-Preis 1975, Walter-Bauer-Preis 1998. Sie starb am 3. Januar 2011 in Berlin.
Gedichtbände: Ich mach ein Lied aus Stille (1973); Mondschnee liegt auf den Wiesen (1975); Die eine Rose überwältigt alles (1977); Zwiegespräch (1980); Heliotrop (1983); Atem (1988); Unterm wechselnden Licht (1990); Der Schöne (Obsession) (1997); Liebe und Haß. Die geheimen Gedichte. 1970-1990 (2000); Hundert Gedichte (Hg. von Klaus Trende, 2001); Der Winter nach der schlimmen Liebe (2005); Sämtliche Gedichte (2006); Wildbirnenbaum (2009).
Prosa: Briefe aus Schulzenhof (I 1977, II 1990, III 1995); Poesie und andre Nebendinge (1983); Mai in Piešt’any (1986).
Herausgaben: Erwin Strittmatter: Vor der Verwandlung. Aufzeichnungen (1995); Erwin Strittmatter. Eine Biographie in Bildern (zus. mit Günther Drommer, 2003); Erwin Strittmatter: Geschichten ohne Heimat (2002); Erwin Strittmatter: Kalender ohne Anfang und Ende. Notizen aus Piešt’any (2003).
2019 erschien: Eva und Erwin Strittmatter, Du bist mein zweites Ich. Der Briefwechsel.
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Erster Schnee
Schmerzen und Blüten
Kollegenbesuch
Literarische Berge
Einer seiner Tage
Schneenotstand
Die Wildsau im Kartoffelfeld
Brecht
Briefe
»Bienkopp« in Indien
Gegen Sektiererei
»Bienkopp« in Frankreich
Fahrt nach Bohsdorf
Literarische Vergleiche
Vor dem Einschlafen
Und wieder etwas von den Staren
Hirschjagd in der Akademie
Vierzehn Tage
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Dieses Büchlein
In der Kreisstadt
Einsames Schaffen
Barlach
Das erste Mal Galsan
Der alte Holländer
Noah-Stimmung
Galsan Tschinag
Schwalbenrätsel
Das fehlende Verbum
Die Herbstnachtigall
Unruhe
Lesestunde in der Psychiatrie
Was Verdienste wert sind
Ein Ladengespräch
Der hundertflügelige Pegasus
Das Wappen des Freiherrn
Silvester
Der Selbstbetrüger
Das windumspülte Haus
Die Zwergenfrau
Mein Amerika
Der Brischkenbaum
König Lear
Vom Schreiben
Das Schicksal eines Buches
Glaubwürdigkeit
Brecht und die Flieger
Zu Fontanes »Irrungen, Wirrungen«
Weshalb ich kein Angler wurde
Tod eines Freundes
Notizen auf dem Krankenbett
Die Robbe
An einem Tag Ende Juni
Ertrag einer Krankheit
Dürre
Am See
Einen Tag nach dem Geburtstag
Die Halbinsel
Bei Freunden
Snobs
Fischfieber
Regen in Rheinsberg
Neotektonik
Sie tragen das Leder
Bienen
Der tote Sänger
In Weimar
Die Drei Gleichen
Park von Tiefurt
Tagebuch
Nachrichten aus anderen Welten
Hosen probieren
Der Zahn
Ein wenig über Stendhal
November in der Kindheit
Enttäuschung
Bredel und Brecht
Die Warnung
Die holländische Limonade
Ausflug nach Schönhorn
Este und die vierte Dimension
Hilflos
Großmutter und die Sperlinge
Der Doktortitel
Vollwinter
Dichtung und Wissenschaft
Silvester
Nachwort
Impressum
10. April 1967
In allen Zeitaltern mag es den um die wahre Kunst Besorgten so erschienen sein, als ob sie zerfalle. Denn zu allen Zeiten waren künstlerische Dilettanten am Werke, diesen Eindruck zu bestärken. Aber die Dilettanten gehen unter, schwimmen nicht auf dem Strom der Geschichte in künftige Zeiten hinein, und zu uns gelangen nur die Werke der wahren Künstler und machen uns glauben, daß jenes Zeitalter, in dem sie lebten, der Kunst holder gewesen sei.
15. April 1967
Aus Moskau kam ein großer Brief, dreimal so groß wie ein normaler Brief, und als ich ihn in der Hand hielt, trieb ich meinen Scherz und sagte, so wehrt man sich gegen das Verlorengehen von Briefen. Sie müssen groß sein wie Holzklötze, die manche Hotel-Leitungen an Zimmerschlüssel hängen, damit die Gäste sie nicht spazieren schleppen.
Aber der große Brief hatte auch einen großen Inhalt: Der Chefredakteur der sowjetischen Romanzeitung teilte mit, daß »Ole Bienkopp« in einer Auflage von zweieinhalb Millionen Exemplaren herausgegeben wurde. Darüber freute ich mich kindisch, und es machte mich glücklich: Nun werde ich also in der Sprache Tolstois zu so vielen Lesern reden.
18. April 1967
Durch die Wiesen vor meiner Arbeitsstube fließt der Bach. Er fließt und fließt, und das ist seine Arbeit. Auf die Arbeit und die Bestimmung der Fische kann er keine Rücksicht nehmen. Er muß fließen, doch er hat auch nichts dagegen, wenn die Fische ihn für ihre Arbeit benutzen, und er hat auch nichts dagegen, wenn wir Menschen ihn benutzen. Er läßt Gebrauch von sich machen, ohne jedoch dem Gesetz untreu zu werden, das ihm innewohnt: fließen, fließen, fließen.
25. April 1967
Sie saßen auf dem Dachfirst, das Weib zwanzig Zentimeter von ihm entfernt. Er stellte die Kehlfedern auf, spreizte die Flügel, pfiff, knarrte und machte seine Knickse. Er machte seine Knickse nicht zu ihr hin, er machte seine Knickse in die Welt hinaus, er machte sie zu den anblühenden Kirschbäumen hin, er verschleuderte seine Kräfte.
Dieses Getu zur Welt hin langweilte das Starenweib, dieses Seht, wie ich liebe, seht, seht, seht, wie ich liebe! Die Starin war für Taten und trippelte seitlich auf dem First entlang und stieß den Starenmann, wie Menschen einander auffordern, mit der Schulter stoßen. Das Starenmännchen pfiff noch zwei Töne und sprang dann aufs hingehockte Weibchen, besorgte sein Liebesgeschäft, den Blick immer auf die anblühenden Kirschbäume gerichtet, und es sprang ab, und es pfiff schon wieder: Seht, seht, wie ich liebe, seht, seht, wie ich liebe!
Wie sachlich das Weibchen! Es flog zum Kasten, schlüpfte hinein, und man hörte es im Kasten rumoren, und man sah an den Halmen, die beim Schlupfloch herausstanden, daß es an der Wohnungseinrichtung arbeitete.
26. April 1967
Wir läuteten. Wir stellten fest, daß die Klingelleitung nicht funktionierte. Wir klopften, wir klopften wieder. Hinter der verglasten Tür wurde ein Vorhang weggezogen, die Tür wurde geöffnet, eine junge Frau, in dem: Bitte, was wünschen Sie? leise Empörung, Ablehnung, Verteidigung von Alleinseinwollen, von Ruhehabenwollen. Endlich erkannte uns die Frau im schummerigen Flur. Die Abweisung in ihrem Gesicht formte sich zu konventioneller Freundlichkeit um.
Wir versuchten zu ergründen, was die Frau getan hatte, als wir nachdrücklich klopften: Gelesen? Geschlafen? Hatte sie sich erst das blaue Sack-Kleid überziehen müssen?
Die Frau wird jetzt eifrig, sie versucht, die Zeit zu kürzen, in der wir uns in der Diele umsehen könnten. Wir werden halb und halb in die Wohnung geschoben. Zwei große Zimmer, die ineinander übergehen, eine Wiese aus Teppichen zwischen nüchternen Wänden.
Meine Frage, wie immer: Könntest du hier arbeiten? Flächen, Flächen, keine Ecke mit Schummer-Humus, auf dem Gedanken wachsen könnten.
Also könntest du hier nicht arbeiten. Hier ist eine Parade des Neueingerichtetseins. Bücher mehr als Draperie, eine Wand schreit: Wir haben auch ein Original in Öl.
Unsere Frage: Nun, wie fühlen Sie sich hier?
Die Antwort wird gegeben, es wird rückgefragt, hin und her, und zu anderem schwingt sich das Gespräch nicht auf. Es schwelt dahin, als ob ein Teppich glömme. Ein wenig Gesprächsstoff geben die Kinder noch her. Wissen Sie, der Junge ist immer so, und das Mädchen ist immer so.
Ach nein, aber weshalb denn?
Ja, wissen Sie, der Bub wog bei der Geburt zu wenig.
Ach nein!
Der Kaffee wird gebracht. Das Töchterchen will die Kognakbohnen, die dem Besuch vorgesetzt wurden. Es wird abgewehrt: Nein, nein! Klaps auf den Rock.
Das Töchterchen: Und manche Tage hatte ich drei davon.
He, he!
Blick auf die Uhr: Ja, wir müssen!
Ach schon?
Ja, die Kinder sind allein daheim.
Ach ja, die Kinder! Kein Widerspruch mehr. Danke für den Besuch.
Ach bitte, wir wollten nur sehen, wie Sie sich hier fühlen.
Oh, danke.
29. April 1967
Die Sonne versprach gleich am Morgen, was sie aus dem Tag machen würde. Alle Zugvögel, die bis nun hier sind und ihre Liebeszeit feiern, dankten der Sonne. Der Sonne war es gleich, sie tat nichts als ihr Tagwerk, und sie tuts jeden Tag, wenn auch wir, die auf der Erdrinde umherkrabbelnden Menschlein, es zuweilen, von Erdausdünstungen behindert, nicht sehen.
Die Blüten der unedlen Pflaumen, hierzulande Kräkeln genannt, wagten sich weiter aus den Knospenhüllen. Am Spätnachmittag saßen schon einige der künftigen murmelgroßen Kräkeln als weiße Blumen auf den Baumzweigen. Diese Verwandlung der kleinen Höcker an den Zweigen – Knospen genannt – zu weißen Blumen, die Verwandlung der Blumen zu grünen Klümpchen – unreife Früchte genannt – und schließlich deren Verwandlung zu blauen, saftvollen, süßen Klümpchen, aus denen je wieder ein Kräkel-Baum entstehen kann, nehmen wir als etwas Selbstverständliches hin, und wir versehen den Vorgang mit der Bezeichnung Wachsen und Reifen und stoßen ihn nach dieser Beschilderung in die Menge alltäglicher Vorgänge, über die sich ein »normaler« Mensch nicht mehr wundert.
Aber ein Hauch von diesem Wunder, von dieser Verwandlung vor unseren Augen, wird wieder sichtbar, sobald wir den Vorgang mit einer Zeitraffer-Kamera auf Farbfilm aufnehmen.
Verführt das nicht zu dem Schluß, daß der Mensch, der der alltäglichen Wunder teilhaft werden will, außerhalb der Zeit Aufstellung nehmen muß?
30. April 1967
Was ich fühlen soll, wird mir täglich beigebracht. Ich lese es, wenn ich in Zeitungen und Zeitschriften sehe. Ich höre es, wenn ich den Rundfunkempfänger einschalte. Ich sehe es, wenn ich den Televisor benutze.
Was ich wirklich fühle, weiß ich mal deutlich, mal undeutlich, aber was ich wirklich fühle, macht meine Eigenart aus. Wie kann ich von ihr künden, wenn ich nicht deutlich weiß, was ich fühle?
Also ists nötig, unbedingt und jederzeit klar zu wissen, was ich fühle, wenn meine Aufzeichnungen einmalig und eindringlich werden sollen.
1. Mai 1967
Bis jetzt kann ichs nicht fassen, daß ich einst nicht mehr sein soll, und dann werde ichs nicht fassen, daß ich sein soll.
Dieser Umstand läßt mich vermuten, daß ich stets bin und daß das Sein und das Nichtsein Illusionen sind, die mir meine Sinne vermitteln.
4. Mai 1967
Himmelfahrtsverkehr, und an der Abfahrt nach Potsdam schießt ein sogenannter Krawallfahrer, sich die Vorfahrt erzwingend, auf die Landstraße Sechsundneunzig. Ein Trabantfahrer verlor durch diesen Überfall die Nerven und lenkt, statt zu bremsen, sein Wägelchen gegen die hohen Prellsteine. Der Wagen überschlägt sich seitlich. Aus fünfzig Meter Entfernung sieht alles aus wie eine Filmszene. Bis ich heran bin, sind schon alle Insassen, ein Mann, zwei Frauen und zwei Kinder, aus dem Wagen geklettert. Der Wagen liegt auf dem Dach, alle Scheiben sind zertrümmert, der Inhalt von Handtaschen und anderes Reisegepäck liegen auf der Straße. Der Mann hat schon wieder den Hut auf dem Kopf. Er trägt einen Ballon-Mantel, zupft an seiner Krawatte und zittert. Die Kinder heulen. Ich taste sie ab.
Tut euch was weh, habt ihr euch geschlagen? Schluchzen und immer wieder Schluchzen.
Tut euch was weh? frage ich weiter. Wo tut euch was weh?
Das Mädchen schüttelt den Kopf, aber der Junge schreits heraus: Es tut mir nischt weh, Onkel, aber unser scheenes neies Auto, drei Wochen fährts der Vater erscht.
Ein Verkehrspolizist kommt auf dem Motorrad. Ich halte ihn an, er übernimmt den FALL.
14. Mai 1967
Als schon zwei Dutzend geistreiche Aperçus gemacht waren, und als wir festgestellt hatten, daß wir dies oder das besser machen würden, als es gemacht wird, wenn wir regieren würden (wir wollen aber nicht regieren, weil es zuzeiten einträglicher für bissige Aperçus ist, wenn wir nicht regieren), und als es noch zu früh für den Kaffee war, der uns aufs neue geistreich hätte machen können, spazierten wir an den See.
Unterwegs bewies der Mann der Gastfamilie, wie alle Männer, die mit Frauen und Kindern durch den Wald gehen, wieviel Bescheidwissen aus der Schuljungenzeit in ihm steckte, und daß man Kienäpfel zum Werfen benutzen kann, und daß man einst ein mittelmäßiger Erkletterer von Bäumen war, und daß man Harlekinsprünge für die Kinder (mit Blick auf den Beifall der Frauen) noch nicht verlernt hat.
Bei solchen Gelegenheiten befällt die Männer Lust, miteinander in jungenhaften Bewegungsdisziplinen zu wetteifern, ein bißchen Junge im Wald zu spielen. Selbst mich kostete es von Zeit zu Zeit einen Gedankenruck, dieser Anwandlung zu widerstehen.
Auf diese Weise gelangten wir, uns unterwegs immer wieder zu Varianten von Spaziergängergruppen paarend, an den See. Der städtische Besuch blähte dort konventionsgemäß die Nasenflügel, ohne indes allzu tief (der Mücken wegen) einzuatmen und etwas von herrlich oder so zu murmeln.
Es waren Dorfangler am See, und die hatten sogar ihre Frauen und Kinder mitgebracht, und das war neu, und die Frauen und Kinder trugen Sonntagskleider, hatten sich aber die Beine entblößt, und die Männer standen in Badehosen, und alles das war neu für dörfliche Verhältnisse.
Ich sprach mit den Männern über Ersatzteile für eine Elektrozaunweide, und sie zeigten mir ihre gefangenen Hechte, und einer der Männer klagte über den Pfingstsonntagsdienst, den er gehabt hatte, weil Waggons auf der Bahnstation angekommen waren, die Waggons hätten entleert werden müssen, um der Genossenschaft Standgelder zu ersparen.
Der städtische Besuch stand während dieser Zeit ein wenig abseits, ein bißchen mit der Haltung, als bespräche ich mit den Männern etwas auf chinesisch, und daß dieses Gespräch ja mal zu Ende gehen müsse, schon aus Höflichkeit gegen die Besucher zu Ende gehen müßte.
Und es ging zu Ende, und wir gingen auf die gleiche Weise, wie wir an den See gegangen waren, heimwärts, wir tranken Kaffee und waren wieder geistreich, bis es zu dunkeln begann und die Gäste in die Stadt zurückfuhren.
1. Juni 1967
Er hat ein bißchen was von einem Bären an sich:
Mitte Dreißig, zwei Zentner schwer, frisches Bauernjungen-Gesicht, die dicken Schenkel in lederbesetzte Reithosen gepreßt, die strammen Waden in Langschäfter gezwängt, tappender Gang. Arme und Hände verraten, auch in baumelnder Ruhestellung, daß ihre Funktion hauptsächlich das Zupacken ist. In den kleinen, schräggestellten Augen lacht es gern, doch sieht man ihnen an, daß hinter der Stirn auch Zorn und Wut wohnen. Er ist ein vorzüglicher Landwirt. Sein Betrieb führt jedes Jahr einen Millionengewinst ab. Ein großartiger Funktionär.
Sein Redestil ist ein merkwürdiges Gemisch von landwirtschaftlicher Fachsprache und Soldaten-Jargon, obwohl er einer Generation angehört, die mit dem Krieg kaum zu tun hatte, und obwohl er nie Soldat war: Es muß klappen, klappen muß es, zack, zack! Im Kuhstall alles piko-bello. Die Milch marschiert. Futter große Klasse. Sollteste sehn, wie die Kühe das verkasematuckeln. Wenn die Koryphäen komm, haben se nischt zu meckern. Alles in Butter! Zack, zack, sind se wieder raus.
Wir besichtigen die Shetländer in der Waldkoppel. Er bestaunt die Fohlen. Große Klasse! Geschäft marschiert!
Ich erkläre ihm, das Verkaufen der Fohlen sei kein Geschäft für mich. Ich muß den Pfleger bezahlen, und was an Gewinst übrigbleibt, bekommt entweder die Genossenschaft für den Kulturfonds, oder ich stifte es für die Volkssolidarität. Vielleicht kommt meine Einnahme aus dem Buch, das ich eines Tages über die Shetländer schreiben werde.
Er horcht auf: Wenn du das geschrieben hast, is Schluß!
Ein richtiger Schriftsteller kann sich nicht zufriedengeben und zur Ruhe setzen.
Hast genug geschrieben und ne Masse Scherereien gehabt, das geht über die Nerven! Deine Bücher sind bald so, bald so ausgelegt worden, zack, zack, ist so ein Ding futsch. Aber ein Pferdebuch hat Bestand, pikobello geschrieben, das lesen auch die Koryphäen. Wenn das Pony-Buch fertig ist, machst du Schluß, damit du noch was hast vom Leben!
Ich widerspreche nicht mehr. Er ist zufrieden, daß mich sein guter Rat nachdenklich gestimmt hat.
26. Juni 1967
Wo und wie ihr euch auch verstecken möget, dem Leben entgeht ihr nicht.
27. Juni 1967
Wer ihnen das Programm machte, wissen wir nicht. Wieso wir eine Sehenswürdigkeit in diesem Programm zu sein hatten, wissen wir auch nicht. Sie besuchten uns jedenfalls, die Wurmsers aus Paris. Wurmser ist so alt, wie Brecht es jetzt gewesen wäre. Ich habe nichts von ihm gelesen, er gewiß nichts von mir. Wir waren nicht durch Geschriebenes gegeneinander voreingenommen, voreingenommen nicht im guten und nicht im schlechten Sinne. Wurmser ist mit seinen achtundsechzig Jahren noch recht temperamentvoll. Beide Wurmsers (sie, die Schwester des französischen Schriftstellers Jean Cassou) gingen wie suchende Hühnerhunde im Wohnzimmer und in den anderen Räumen der Kate umher, und sie betrachteten die Bilder und waren beglückt, als sie Utrillo und Rousseau und Picasso und van Gogh neben unserem Naiven Paul Schultz-Liebisch fanden. Was sagen Ihre sowjetischen Schriftstellerfreunde zu den Bildern, wenn sie Sie besuchen? Wir hätten es den Wurmsers, die mit der sowjetischen Malerei arg verstritten zu sein schienen, sagen können. Ein Moskauer Kollege, der uns kurz zuvor besuchte, nannte die Bilder Kindergartenmalerei. Aber wir sagten es den Wurmsers nicht.
Bereits als Frau Wurmser-Cassou aus dem Auto stieg, war ich am Überlegen, wo ich sie gesehen hatte. Es stellte sich heraus: In Moskau auf dem Schriftstellerkongreß. Sie ist angetan von der Einrichtung unserer Kate, diese Einrichtung ist schlicht, aber mag sein, wenn man so mit den Augen des fremden, des zufälligen Besuchers hineinsieht, gewahrt man, was Eva da in Jahren mit Bilddrucken und Bildern, mit Gläsern, Büchern, Blumen und Gardinen gemacht hat. Dazu kommt die Großartigkeit, mit der Wiesenlandschaft und Baumgruppen das Häuschen umspielen und, durch die Fenster, bis in es hineinspielen.
Die Wurmsers schauen über das Wiesental und empfinden die Landschaft (wie auch wir oft) wie eine Bühnendekoration, nur für einen Akt, nur für eine Szene gedacht.
Dann kommt Eva mit einem thüringischen Holzkuchenschieber, bringt ein farbiges Frühstück. Große Tomaten, Eiersalat, Fisch, Käse, Bohnen. André Wurmser steht auf und singt die Marseillaise. Ob das nun geschmackvoll ist oder nicht, begeistert scheinen die Wurmsers zu sein.
Der restliche Tag vergeht damit, diesen »Einbruch« aus einer anderen Welt einzuordnen. Ich reite noch ein Stück hinaus vor das Dorf. Es wird Abend, und die staubige Sonne versinkt in den Wäldern, sinkt in ein grünes Bad. Zwei Burschen ernten im Abenddämmer Sauerkirschen am Dorfausgang. Auf dem Hochsitz hocken die Jäger, hocken hoch überm schnittreifen Roggen. Aus dem Lautsprecher des Ferienlagers grölt es über die Felder, dort hocken Städter im Sommerurlaub und fühlen sich einsam, langweilen sich und holen sich den vertrauten Radau in die Einsamkeit.
6. Juli 1967
Mit Herbert und Ilja zwei Fuhren Heu eingefahren und den Heurest der beiden großen Wiesen eingesetzt, das wird noch ein Fuder ergeben.
Ich bin matt und lustlos, habe wahrscheinlich zu niedrigen Blutdruck und nehme Medikamente.
Später sehe ich die Erzählungen durch, die ich in den letzten Monaten schrieb. Einige beginnen mir zu gefallen.
Die Korrekturfahnen für die Erzählung »Damals auf der Farm« durchgesehen. Mit Iljas Hilfe das Bohnenstangengestell für den Knöterich an den Kaninchenställen verstärkt.
Ein Züchter aus Oranienburg kommt mit seiner Stute zum Hengst.
Am Abend sitze ich im Pferdestall und spiele Mundharmonika, um meine Mattheit und Apathie mit mechanischen Mitteln zu besiegen.
13. Juli 1967
Und wieder, wie fast jedes Jahr, sind wir in Weimar. Wir bummeln durch die Stadt, kaufen Kirschen, gehen ein Stück in den Park, so daß wir Goethes Gartenhaus aus den Bäumen schimmern sehen. Das Wasser der Ilm stinkt faulig und treibt zwischen Inseln von Wasserpflanzen dahin. Aber das Wasserrauschen und die Baumschatten söhnen uns aus.
In Weimar singen sogar die Amseln: Hier wohnten Schiller und Goethe.
Im untersten Stockwerk des Schlosses ist im Parkett der Schwamm ausgebrochen, so daß wir die Cranach-Gemälde nicht sehen können. Am Abend lese ich vor Teilnehmern am Germanisten-Hochschul-Ferienkurs, die aus vielen, vielen Ländern kommen, meine Erzählungen »Hasen über den Zaun«, »Die Cholera«, »Die Grotte«, »Im Taubenschlag«, »Schildläuse« und »Der Tod meiner Fliege«. Den stärksten Eindruck scheint die Erzählung »Die Grotte« zu hinterlassen.
Am nächsten Abend geht ein Gewitter nieder. Es regnet lange, und unten in einem der Säle des ELEFANT schrummt die Musik zum Bergfest der Kursisten. Die zufällig zusammengekommenen Dozenten aus verschiedenen Ländern geben kleine Gesangs- und Vortragsnummern, was jeder gerade so kann. Nachdem man vierundzwanzig Stunden hohe ästhetische Ansprüche an die Literatur stellte, gibt man sich nun mit Hausbackenem (im Hochzeitszeitungsstil) zufrieden: Nous dormirons ensemble, singt der kleine Chor der Franzosen (recht selbstgezimmert), und er erntet viel Beifall.
Wir gehen durch die von tausend Regentropfen durchlöcherte und erfrischte Abendluft im oberen Teil des Parks spazieren und sehen den vielen Wildkaninchen zu, die respektlos in den Blumen vor dem Liszt-Denkmal herumhoppeln, und der arme Liszt (von seinem Steinmeißler gezwungen) muß das alles ignorieren und nach Melodien Ausschau halten und in die Ferne starren.
Und der Goethe, wie nahe er doch die ganze Zeit der Frau von Stein wohnte! Man stellt sich da beim Lesen der entsprechenden Verlautbarungen stets lange Wegstrecken vor, die er zurücklegen mußte, wenn er sie besuchte. Aber eine Zeitlang, als Goethe in der Seifengasse wohnte, standen die Häuser der platonisch Liebenden Rücken an Rücken. Und auch später, als der Geheime Rat am Frauenplan wohnte, wars aus dem hinteren Pförtchen des Goethegärtchens nur ein Sprung zum Hause der von Stein.
13. Juli 1967
Das Seminar war ein hoher, grauer Bau, und es wurden Musikschüler darin unterrichtet, und jemand strich eine Violine: Klare Töne, etwas romantisch.
Über der Straße war ein kleiner Blumenladen. Es konnten nur vier Kunden drin stehen, und seine Decke war so niedrig, daß man sie hätte bei ausgestrecktem Arm mit der Hand berühren können. Eine alte Frau verkaufte dort Blumen. Sie hatte verkrümmte Beine, und ihre Füße wirkten wie die Wiegegestelle kleiner Holzpferde für Kinder.
Die Violine im Seminar wurde ohne Begleitung gespielt, und es mußte ein Schüler des Konservatoriums sein, der dort übte.
Die alte Blumenfrau hangelte sich vom Ladentisch zu den Blumenständern, und sie benutzte ihre Unterarme, um sich zu stützen, weil sie in den Händen immerfort Blumen hielt, die sie für die Kunden zu Sträußen ordnete.
Die Violine im Seminar schluchzte, drückte Schmerzen aus, die einen gefühlvollen Menschen zu Boden zwingen konnten.
Die alte Blumenfrau verzog den Mund, wenn sie sich vom Ladentisch weg zu den Blumenbündeln im Hintergrund schob. Aber wenn sie sich der Kundschaft wieder zuwandte, lächelte ihre Kaufmannsfreundlichkeit von einem Gesicht herunter, an dem nur noch die Lippen saftig und jung geblieben waren.
Den Violintönen, die aus dem Seminar herüberdrangen, war jetzt zu entnehmen, daß es sich um eine Sonate von Beethoven handelte. Ihre Töne vermischten sich mit dem Blütenduft der Winterlinden, der sich, bevor er von dannen geweht wurde, eine Weile unter den Kronen der Bäume aufhielt.
Die alte Frau paßte rote Nelken und Edelweißmargeriten zusammen und komponierte ihre Farben zu einem Strauß, und man wußte nicht, ob sie die Sonate hörte, und man konnte nicht erkennen, ob die Sonatentöne die Schmerzen der alten Frau vermehrten oder verminderten.
23. Juli 1967
Am Nachmittag ist es drückend heiß, und Eva und ich bringen die Stuten auf die Weide. Wir sitzen eine Weile am Waldrand, sehen den Stuten beim Grasen zu und genießen die Stille. Aber bald schon kommt ein Auto mit Pony-Besichtigern und dann noch eines. Es handelt sich um neureiche Berliner, sie wollen ein Ponyfohlen für die Tochter kaufen, die noch auf dem Arm getragen wird. Ponys sehen so niedlich aus. Sie wollen ein Ponyfohlen im Vorgarten halten, wahrscheinlich als Beistück zum Gartenzwerg, Ideal aus westdeutschen Familienmagazinen.
4. August 1967