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Thomas Hülshoff

Medizinische Grundlagen der Heilpädagogik

4., aktualisierte Auflage

Mit 18 Abbildungen, 2 Tabellen und 34 Übungsfragen

Ernst Reinhardt Verlag München

Prof. i. R. Dr. med. Thomas Hülshoff ist Arzt und war Professor für Medizinische Grundlagen der Heilpädagogik an der Katholischen Fachhochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Münster. Vom Autor außerdem im Ernst Reinhardt Verlag/UTB erhältlich: „Psychosoziale Interventionen und Notfälle“ (2017, UTB-M 978-3-8252-4850-5), „Emotionen. Eine Einführung für beratende, therapeutische, pädagogische und soziale Berufe“ (4., aktual. Aufl. 2012; UTB-M 978-3-8252-3822-3) und „Basiswissen Medizin für die Soziale Arbeit“ (2011; UTB-L 978-3-8252-8471-8).

Hinweis: Soweit in diesem Werk eine Dosierung, Applikation oder Behandlungsweise erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass der Autor große Sorgfalt darauf verwandt hat, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen oder sonstige Behandlungsempfehlungen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. – Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

UTB-Band-Nr.: 2698

ISBN 978-3-8252-5835-1 (Print)

978-3-8385-5835-6 (PDF-E-Book)

978-3-8463-5835-1 (EPUB)

© 2022 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Printed in EU

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: JÖRG KALIES – Satz, Layout, Grafik & Druck, Unterumbach

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches

Vorwort zur 4. Auflage

Aus dem Vorwort zur 1. Auflage

Vorbemerkung zur Inklusionsdebatte

1Neurophysiologische Grundlagen

1.1Aufbau und Funktion des zentralen Nervensystems

1.2Die Entwicklung des kindlichen Gehirns

1.3Biochemische Grundlagen

1.4Übungsfragen und Literaturhinweise

2Sozialmedizinische Grundlagen

2.1Was ist Krankheit?

2.2Stress und Krankheit

2.3Salutogenese und Resilienz

2.4Soziale Dimensionen von Krankheit

2.5Das kranke Kind

2.6Ethische Dimensionen

2.7Übungsfragen und Literaturhinweise

3Basale Wahrnehmungsfunktionen

3.1Grundlagen basaler Wahrnehmungsfunktionen

3.2Die Entwicklung basaler Wahrnehmungsfunktionen

3.3Basale Wahrnehmungsstörungen

3.4Heilpädagogische Herausforderungen

3.5Übungsfragen und Literaturhinweise

4Auditive Wahrnehmung

4.1Grundlagen auditiver Wahrnehmung

4.2Entwicklung des Hörsinns

4.3Hörstörungen

4.4Heilpädagogische Herausforderungen

4.5Übungsfragen und Literaturhinweise

5Visuelle Wahrnehmung

5.1Grundlagen des Sehens und der visuellen Wahrnehmung

5.2Entwicklung des Sehvermögens

5.3Sehschädigung

5.4Heilpädagogische Herausforderungen

5.5Übungsfragen und Literaturhinweise

6Motorik

6.1Grundlagen der Motorik

6.2Motorische Entwicklung

6.3Motorische Störungen

6.4Heilpädagogische Herausforderungen

6.5Übungsfragen und Literaturhinweise

7Sprache

7.1Grundlagen der Sprache

7.2Sprachentwicklung

7.3Sprech- und Sprachstörungen

7.4Übungsfragen und Literaturhinweise

8Kognitive Fähigkeiten

8.1Entwicklung kognitiver Fähigkeiten

8.2Lernschwierigkeiten und geistige Behinderung

8.3Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom und Hyperaktivität

8.4Heilpädagogische Herausforderungen

8.5Übungsfragen und Literaturhinweise

9Emotionen

9.1Grundlagen des emotionalen Erlebens

9.2Die emotionale Entwicklung

9.3Emotionale und psychosoziale Störungen bei Kindern und Jugendlichen

9.4Übungsfragen und Literaturhinweise

Glossar

Literatur

Sachregister

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches

Zur schnelleren Orientierung wurden in den Randspalten Piktogramme benutzt, die folgende Bedeutung haben:

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Forschungen, Studien

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Begriffserklärung, Definition

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Pro und Contra, Kritik

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Beispiel

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Fragen zur Wiederholung am Ende der Kapitel

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Literaturempfehlungen

Vorwort zur 4. Auflage

Neuauflagen eines Lehrbuches bieten dem Autor die Möglichkeit, Anregungen von Leserinnen und Lesern und Rezensentinnen und Rezensenten aufzugreifen.

So wurde bereits die zweite Auflage um einen Abschnitt über Salutogenese und Resilienz sowie ein Teilkapitel zu ethischen Fragestellungen erweitert, und in der dritten Auflage kamen ein Abschnitt über neuere Erkenntnisse der Epigenetik zur Entwicklung des Gehirns, ein Abschnitt zur Gesundheit von Menschen mit und ohne Behinderung und ein Abschnitt zur Inklusionsdebatte hinzu. Die vierte Auflage wurde gründlich durchgesehen, zum Teil aktualisiert und um die Darstellung neuerer Aspekte in den Kapiteln „Motorik“ und „Kognitive Fähigkeiten“ erweitert.

Das Literaturverzeichnis wurde um einige meines Erachtens wichtige, praxisrelevante und neuere Bücher bzw. Artikel ergänzt. Im Übrigen wurden Inhalte und der didaktische Aufbau des Buches wegen der guten Resonanz bei der Leserschaft unverändert beibehalten.

Frau Ulrike Landersdorfer, Lektorin beim Ernst Reinhardt Verlag, möchte ich für ihre wohlwollende Unterstützung und die konstruktiven Ratschläge auch bei der Neuauflage dieses Buches danken.

Ebenso gilt mein Dank den Lehrenden und Lernenden an der Abteilung Münster der Katholischen Hochschule NRW, die mir in zahlreichen, wohlwollend-kritischen Gesprächen wichtige Hinweise und Anregungen gaben.

Dies gilt ganz besonders auch für meine Frau und meinen Sohn: Herzlichen Dank Euch beiden!

Münster, im Dezember 2021 Thomas Hülshoff

Aus dem Vorwort zur 1. Auflage

„Heilpädagogik ist Pädagogik und nichts anderes“ – so lautet einer der meistzitierten Sätze des Nestors der Heilpädagogik, Paul Moor. Insbesondere, so möchte man hinzufügen, ist Heilpädagogik keine therapeutische oder medizinische Unterdisziplin. Warum also, so könnte man fragen, sollte es dann „medizinische Grundlagen“ der Heilpädagogik geben?

Heilpädagoginnen und -pädagogen begegnen in ihrer pädagogischen und fördernden Arbeit an Förderschulen und darüber hinaus im außerschulischen Bereich Menschen mit Behinderungen bzw. körperlichen, sensorischen, kognitiven oder seelischen Entwicklungsverzögerungen und -störungen. Es ist ihre Aufgabe, diese Menschen in ihrer Entwicklung zu fördern, sie zu unterrichten, zu begleiten, eingetretene oder drohende Entwicklungshemmnisse frühzeitig zu erkennen und zu ihrer Überwindung beizutragen. Sie wirken daran mit, Menschen mit Behinderungen ein gelingendes, an der Kultur der Gesellschaft teilhabendes Leben zu ermöglichen. Dabei orientieren sich Heilpädagoginnen und -pädagogen am Normalisierungsprinzip und sind weitgehend den Paradigmen von Assistenz, gesellschaftlicher Partizipation und Inklusion verpflichtet.

Diese hier nur angeschnittenen Aufgaben nehmen sie als Pädagoginnen und Pädagogen mit besonderer Herausforderung, nämlich der Heilpädagogik, wahr. Die Menschen, mit denen sie arbeiten (Schüler, Klienten), haben in der Regel auch Kontakte zu einer Reihe anderer Berufsgruppen (z. B. in der Medizin, Ergotherapie, Psychotherapie etc.), die ebenfalls vielfältige Hilfen anbieten – wenn auch nicht auf pädagogischem Gebiet. Schon deswegen ist die Kenntnis von psychologischen, medizinischen u. a. Ansätzen von Nutzen.

Darüber hinaus versteht sich Heilpädagogik aber auch als „Pädagogik unter erschwerten Bedingungen“. Zum einen sind darunter gesellschaftliche Erschwernisse (z. B. soziale Barrieren) zu verstehen, was soziologische sowie sozialpsychologische Grundkenntnisse voraussetzt. Zum anderen bestehen die Erschwernisse z. T. auch in organischen Behinderungen, Folgen von Erkrankungen oder somatisch-sensorisch-seelischen Veränderungen im Entwicklungsprozess, die zu einem gewissen Teil biologisch-medizinisch abgeklärt und behandelt – wenn auch in der Regel nicht geheilt – werden können.

Und hier kommen nun medizinische Grundkenntnisse ins Spiel. Wollen Heilpädagoginnen und -pädagogen ihrem Auftrag der „pädagogischen Förderung unter erschwerten Bedingungen“ gerecht werden, so ist es hilfreich und notwendig, sich mit allen Aspekten der Entwicklung ihrer Schüler und Klienten zu befassen, auch den medizinischen. Und insofern gibt es meines Erachtens neben beispielsweise psychologischen und soziologischen auch medizinische Grundlagen der Heilpädagogik.

Das vorliegende Buch will Studierenden und Praktikern der Heilpädagogik eine breit gefächerte Übersicht über medizinische und biologische Grundlagen geben. Zwar werden beispielsweise Heilpädagogen, die sich auf die Pädagogik hörgeschädigter Menschen spezialisieren, an gegebener Stelle auf spezielle und vertiefende Literatur verwiesen, weil spezielles Detailwissen den Rahmen des vorliegenden Buches sprengen würde. Analoges gilt für Sehbehinderung u. a. Teilgebiete. Aber es ist meines Erachtens hilfreich, wenn Heilpädagoginnen und -pädagogen (auch wenn sie sich spezialisieren) einen Überblick über die gesamte Breite möglicher medizinischer Aspekte und damit verbundener heilpädagogischer Herausforderungen haben. Nicht selten nämlich sind behinderte Kinder mehrfach behindert, und vor allem wirken sich Störungen (z. B. sensorische) mitunter auf andere Bereiche (z. B. die Motorik oder das emotionale Erleben) aus.

So möchte ich, ausgehend von den Differenzierungen der Ausbildung von Förderschullehrern, auf das Hören, das Sehen, die Motorik, die Sprache, auf kognitive Fähigkeiten sowie die Emotionen eingehen. Dabei wird in jedem Kapitel zunächst auf die neurophysiologischen und biologischen Grundlagen eingegangen, die meines Erachtens für jede Heilpädagogin und jeden Heilpädagogen von Bedeutung sind. Dies gilt auch für die Entwicklungen der jeweiligen Fähigkeit (z. B. der auditiven Wahrnehmung oder der Motorik), die anschließend dargestellt werden. Es folgen typische und in der heilpädagogischen Praxis häufig auftretende Störungen sowie spezielle Herausforderungen an Heilpädagogen in Schule und außerschulischen Arbeitsfeldern.

Das erste Kapitel befasst sich mit allgemeinen neurophysiologischen Grundlagen. Seitdem der damalige amerikanische Präsident, George Bush sen., die 1990er Jahre als „das Jahrzehnt des Gehirns und der Hirnforschung“ apostrophiert hat, haben sich Grundlagenforschung und z. T. auch anwendungs- und praxisorientierte Ansätze stürmisch weiterentwickelt, was, wie noch zu zeigen sein wird, auch an der Heilpädagogik nicht spurlos vorbeigegangen ist.

Ein weiteres Kapitel befasst sich mit sozialmedizinischen Aspekten und versucht, eine Brücke zwischen den international unterschiedlichen Aufgaben der Pädagogik und der Medizin (hier vor allem der Kinderheilkunde, Neuropädiatrie sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie) zu bauen.

In meinem beruflichen Werdegang habe ich in unterschiedlichen Konstellationen Kontakt zur Heilpädagogik gehabt. In meiner assistenzärztlichen Zeit in Kinderklinik und Kinder- und Jugendpsychiatrie lernte ich vor allem die Kooperation mit den dort außerschulisch arbeitenden Heilpädagoginnen und -pädagogen sowie den Krankenhauslehrkräften kennen und schätzen. Dies gilt ebenso für die Zeit meiner Ausbildung zum Familientherapeuten. Zwei Jahre war ich als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sonderpädagogik der Universität Köln tätig und konnte dort einen Einblick in das differenzierte Förderschulwesen und die Ausbildung von Förderschullehrerinnen und -lehrern bekommen. In meiner jetzigen Tätigkeit als Professor für Sozialmedizin und medizinische Grundlagen der Heilpädagogik an der Katholischen Fachhochschule NW in Münster befasse ich mich vor allem mit außerschulischer Heilpädagogik und begleite seit sechs Jahren Praxis- und Entwicklungsprojekte der Rehabilitations- und Heilpädagogik, u. a. auch Weiterbildungsangebote für Menschen mit mehrfachen Behinderungen.

Vor allem diese Projekte und die Begegnung mit behinderten wie nicht behinderten Menschen (Studierenden wie Klienten) haben mich tief beeindruckt und starken Einfluss auf die Inhalte dieses Buches genommen.

Danken möchte ich Frau Landersdorfer vom Ernst Reinhardt Verlag, die mich zu diesem Buch ermutigt und in kritischen Situationen beraten hat.

Und vor allem möchte ich meiner Frau und meinem Sohn danken, deren familiärer Rückhalt mir Kraft und Anregung gibt.

Münster, im Februar 2005Thomas Hülshoff

Vorbemerkung zur Inklusionsdebatte

Mit der Unterzeichnung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung hat sich die Bundesrepublik Deutschland zur Einrichtung eines inklusiven Bildungssystems verpflichtet. Das lateinische Verb „includere“ bedeutet „einschließen, einsperren, beinhalten“, und der Begriff der „Inklusion“ ist als Kontradiktum zur „Exklusion“, also dem Ausschluss bestimmter Gruppen, zu verstehen. Inklusion wendet sich also gegen gesellschaftliche Marginalisierung und sichert allen Menschen das gleiche und volle Recht auf individuelle Entwicklung und soziale Teilhabe, ungeachtet ihrer persönlichen Unterstützungsbedürfnisse (vgl. Hinz 2006). In diesem Zusammenhang ist auch der Begriff der „Heterogenität“ von Bedeutung, der sich beispielsweise in Slogans wie „Es ist normal, verschieden zu sein“ oder der Erläuterung der Aktion Mensch „Inklusion ist, wenn Anderssein normal ist“ widerspiegelt. Unter Teilhabe (engl.: participation) versteht man im Rahmen der Inklusionsdebatte das Recht (und nicht nur die Möglichkeit), an allen sozial, gesellschaftlich und kulturell bedeutsamen Prozessen eigenständig und gleichberechtigt mitwirken zu können und somit die Gesellschaft zu gestalten. Der unveräußerliche, durch die universellen Menschenrechte konstituierte rechtliche Anspruch eines jeden Menschen auf Teilhabe im oben genannten Sinne ist das wesentliche Merkmal des rezent diskutierten Inklusionsbegriffs.

Zur Durchführung von Prozessen zur Verwirklichung einer inklusiven Gesellschaft sind das Normalitätsprinzip, persönliche Assistenz, eine solide und ausreichende Finanzierung, bedarfsgerechte Unterstützung, geeignete strukturelle Veränderungen im Bildungs- und Gesundheitssystem, aber auch die Bereitschaft zu gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen als unabdingbare Voraussetzung zu nennen. Inklusion ist kein statisches Faktum, sondern ein Prozess, bei dem eine Gesellschaft und alle ihre Mitglieder davon ausgehen, dass jede/jeder Einzelne nicht nur an gesellschaftlichen Prozessen partizipieren, sondern essentielle Bestandteile dieser Gesellschaft sind und sie somit mitdefinieren.

Die Forderung nach Inklusion findet sich auf verschiedenen Ebenen. Beispielhaft sei der Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslage von Menschen mit Beeinträchtigungen (Bundesminister für Arbeit und Soziales 2013) genannt, in dem auf die Felder der Familie und des sozialen Netzes, der Bildung und Ausbildung, der Erwerbsarbeit und des Einkommens, der alltäglichen Lebensführung, der Gesundheit, Freizeitkultur und Sport, Sicherheit und Schutz vor Gewalt sowie das Feld von Politik und Öffentlichkeit eingegangen wird. In diesem Bericht, auf den hier inhaltlich nicht detailliert eingegangen werden kann, kommen zahlreiche Barrieren, die einer Inklusion in diesen Teilbereichen entgegenstehen, zur Sprache. Diese Barrieren sind nicht nur physischer (beispielsweise nicht-Akzessibilität von Gebäuden, Einrichtungen oder öffentlichem Verkehr), sondern vor allem auch psychischer Natur (Kommunikationsbarrieren, Vorurteile usw.). Insbesondere wird auch auf strukturelle Barrieren, die es abzubauen gilt, eingegangen.

Einen besonderen Schwerpunkt findet die Inklusionsdebatte zurzeit im Bereich der Bildungspolitik. Alle Menschen, ohne Ausnahme, bestimmen und gestalten – geht es nach dem Inklusionsprinzip – Struktur und Alltag einer Schule mit. Denkt man diesen Gedanken zu Ende, kommt man zum Postulat einer „Schule für alle“, in der prinzipiell auch jede Lehrerin und jeder Lehrer befähigt sein muss, alle Kinder gemäß ihres individuellen Förderbedarfs zu begleiten.

Angesichts dieses gesellschaftlichen Umbruchs stellt sich die Frage, wie ein Buch über die „medizinischen Grundlagen der Heilpädagogik“ genutzt werden kann. Wenn man den Inklusionsgedanken aufgreift, kann es sich nicht ausschließlich an Berufsangehörige der (oft außerschulischen) Heilpädagogik oder Förderschullehrer wenden. Adressaten sind vielmehr alle, die in einem zunehmenden Inklusionsprozess in ihrem Beruf Menschen mit und ohne Behinderung begegnen und sie begleiten. Im schulischen Bereich betrifft das letztlich alle Lehrerinnen und Lehrer, im außerschulischen Bereich neben HeilpädagogInnen und HeilerziehungspflegerInnen auch ErzieherInnen, SozialarbeiterInnen, ÄrztInnen oder Gesundheits- und KrankenpflegerInnen, um nur einige zu nennen. Sie alle brauchen, um Menschen mit und ohne Behinderungen in den jeweiligen, zunehmend inkludierenden Settings zu begleiten und individuell angemessen zu fördern, ein solides Grundwissen über die biologisch-anthropologischen Grundlagen zum Verständnis von Behinderung sowie den sich daraus ergebenden Herausforderungen.

Es wäre mir ein Anliegen, dass nicht nur HeilpädagogInnen im engeren Sinne, sondern auch andere Berufsgruppen einen Nutzen von dem hier vermittelten medizinischen Basiswissen haben, wenn es um die Gestaltung inklusiver Prozesse geht.

1Neurophysiologische Grundlagen

1.1Aufbau und Funktion des zentralen Nervensystems

Wahrnehmen, Erkennen, Verhalten und emotionales Erleben sind Leistungen unseres hochkomplexen Nervensystems, insbesondere des Gehirns, das eine gewisse Sonderstellung einnimmt: Im Grunde handelt es sich gar nicht um ein einzelnes Organ, sondern um ein vernetztes Geflecht verschiedenster Module und Steuerungseinheiten, die auf unterschiedlichste Weise zusammen agieren können. Ursprünglich hat sich auch das menschliche Gehirn evolutionär entwickelt, um seinen Trägern ein besseres Überleben zu ermöglichen: Wahrnehmung und Reaktion konnten umso besser und adäquater auf die Wirklichkeit abgestimmt werden, je mehr es gelang, eben jene Wirklichkeit in neuronalen Netzen zu rekonstruieren. Diese hochkomplexe Verschaltung ermöglicht es eben diesem Gehirn aber zumindest in Ansätzen auch, sich seiner selbst bewusst zu werden, Probleme zu antizipieren und abstrakt zu lösen (was wir als „Denken“ bezeichnen) oder seelische Empfindungen als solche wahrzunehmen.

Für die angewandte Heilpädagogik ist das Wissen um die Entwicklung des menschlichen, insbesondere des kindlichen Gehirns, mögliche Störungen im Reifungsprozess, die neuronalen Grundlagen der Wahrnehmung, der Motorik, der emotionalen Verarbeitung und der Kognition von großer Wichtigkeit. Nachdem das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zum „Jahrzehnt der Hirnforschung“ apostrophiert wurde, haben die in dieser Dekade gemachten neueren Erkenntnisse nicht nur unser Weltbild, sondern in Ansätzen auch die pädagogischen Grundlagen maßgeblich beeinflusst oder verändert. Insofern scheint es mir sinnvoll, auf die Grundlagen der neuronalen Verarbeitung auch in einem Lehrbuch der Heilpädagogik einzugehen.

Im folgenden Kapitel soll kurz auf die wichtigsten Grundbegriffe eingegangen werden. Vertiefungen – beispielsweise zur Neurophysiologie der visuellen Wahrnehmung oder der Motorik – finden sich jeweils in den entsprechenden Kapiteln dieses Buches.

Aufbau und Funktion der Nervenzellen

Letztlich besteht das zentrale Nervensystem und auch das Gehirn aus einer unvorstellbar großen Zahl von 100 Milliarden Nervenzellen, von denen eine jede bis zu 10.000 Verbindungen zu anderen Nervenzellen aufnehmen kann. Damit ist unser Gehirn wohl die komplexeste Struktur des uns bekannten Universums. Zum Vergleich: Hätten 100 Milliarden Menschen, das etwa 25fache der jetzigen Erdbevölkerung, die Möglichkeit zu jeweils 10.000 anderen Menschen Kontakt aufzunehmen oder dies nicht zu tun, so entspräche dies in etwa den 10.000 synaptischen möglichen Verbindungen einer Nervenzelle. Ein anderer Vergleich: Die 100 Milliarden Bäume des tropischen Regenwaldes und die möglicherweise 10.000 Blätter pro Baum mögen die im Grunde nicht mehr vorstellbare Komplexität unseres Gehirns versinnbildlichen.

Nervenzelle

Eine Nervenzelle besteht zunächst aus den üblichen Zellstrukturen wie Zellmembran, Zellkern, Mitochondrien etc. Darüber hinaus hat sie zahlreiche Ausläufer, die als „Dendriten“ bezeichnet werden und als „Antennen“ fungieren: Über sie gelangen gleich noch zu besprechende bioelektrische Signale zum Zell-inneren und insbesondere zum Axonhügel, wo sie „verrechnet“ werden. Neben den als Dendriten bezeichneten Empfangsstrukturen weisen Nervenzellen aber auch einen meist längeren Ausläufer, das Axon, auf, über den Impulse weitergeleitet werden können. Ein Axon hat also „Sendefunktion“. Zwar gibt es – im Gegensatz zu den Dendriten – nur ein Axon, doch kann dieses sich an seinem Ende ebenfalls verzweigen. Da das Axon eine erhebliche Länge betragen kann (die Nervenzelle ist nur ein 40-Tausendstel Millimeter groß, das Axon, das von der Großhirnrinde zum Rückenmark läuft, kann bis zu 1 m lang sein) muss es am zellfernen Ende mit Nährstoffen versorgt werden.

Gliazellen

Dies übernehmen Gliazellen, fetthaltige Stützzellen, die sich zwiebelschalenartig um das Axon wickeln und mehrere Funktionen haben: Zum einen versorgen sie das Axon mit Nährstoffen und Sauerstoff, zum anderen schützen sie es vor giftigen Substanzen, und zum Dritten tragen sie zu einer schnelleren Erregungsleitung bei (Hülshoff 2008, 14f).

Reizentstehung

Hauptaufgabe einer Nervenzelle ist es, bioelektrische Informationen zu empfangen, zu verarbeiten und weiterzuleiten. Insofern ist der Vergleich mit einem Mikroprozessor statthaft. Trotzdem muss man sich klar machen, dass im Gegensatz zur Computertechnik im Gehirn auch chemische Vorgänge eine wesentliche Rolle bei der Informationsverarbeitung spielen. Wie aber entsteht die bereits genannte bioelektrische Aktivität? Unabdingbare Voraussetzung dafür sind elektrisch geladene Atome oder Moleküle, so genannte Ionen. Diese können, je nach Elektronenzustand, positiv (Na+) oder negativ (CL-) geladen sein. Befinden sich in einer Körperstruktur, beispielsweise einem Axon, negativ geladene Ionen im Überschuss, so ist diese Struktur gegenüber der Umgebung negativ geladen. Dies gilt insbesondere für Nervenzelle und Axon im Ruhezustand, wenn innerhalb des Axons durch negativ geladene Eiweißpartikel und Chlorionen eine negative Spannung von 70 Megavolt (MV) vorherrscht. Außerhalb der Zelle, im extrazellulären Raum, überwiegen positiv geladene Natronionen, so dass der extrazelluläre Raum positiv geladen ist.

Membran

Axoninnenraum und Extrazellularraum werden durch eine Axonmembran voneinander getrennt. Diese Membran ist unter bestimmten Umständen durchlässig, also semipermeabel. Normalerweise bleiben positiv und negativ geladene Ionen vonein-ander getrennt, was zu den oben beschriebenen Spannungsverhältnissen führt. Kommt es aber zu einer bioelektrischen Erregung am Axonhügel, also an dem Teil der Nervenzelle, an dem das Axon entspringt, so verändern sich die Membraneigenschaften des Axons an dieser Stelle. Die Membran besteht nämlich aus Eiweißbestandteilen, die ihrerseits bestimmte Oberflächenspannungen aufweisen.

Der bioelektrische Impuls vom Axonhügel führt nun dazu, dass sich kurzfristig „Ionenkanäle“ öffnen, die Axonmembran also für Natronionen durchlässig wird. Da sich unterschiedlich geladene Teilchen anziehen und die kleinen Ionenkanäle nur von Natrium, nicht aber vom Chlor passiert werden können, strömt Natrium im Überschuss ins Axon. Infolgedessen ändern sich die Spannungsverhältnisse, im Inneren des Axons wird ein Erregungspotenzial von 30 MV aufgebaut. Dies wiederum hat zur Folge, dass an benachbarter Stelle ebenfalls Membraneigenschaften verändert werden und sich Ionenkanäle öffnen. Somit kann auch an dieser Stelle Natrium einströmen. Dieser Prozess wiederholt sich, so dass die Erregung vom Nervenzellende in Richtung Peripherie weitergeleitet wird.

Um erneut einsatzbereit zu sein, muss die Nervenzelle anschließend aktiv die alten Konzentrationsverhältnisse wiederherstellen. Das gelingt mit Hilfe der so genannten Ionenpumpe, chemischen Prozessen also, bei denen das Natrium unter erheblichem Energieaufwand wieder aus dem Zellinneren herausgepumpt wird. Nun ist die Zelle erneut erregbar.

Erregung am Axonhügel

Wir wissen jetzt in groben Zügen, wie die Erregung vom Axonhügel bis zum Ende des Axons weitergeleitet wird. Es bleibt noch zu erwähnen, wie sie beim Axonhügel entsteht: Die einlaufenden Dendriten leiten ihrerseits mit analogen Mechanismen bioelektrische Erregung in Richtung Axonhügel. Laufen nach-einander eine Reihe bioelektrischer Erregungen ein oder kommt es es zu einer zeitlichen Summation solcher Erregungen, so entsteht ein Schwellenpotenzial am Axonhügel, das den o. g. Weiterleitungsprozess via Axon einleitet. Man kann also die Nervenzelle als Mikroprozessor sehen, die in der Lage ist, einlaufende Informationen miteinander zu verrechnen und im Sinne einer Ja-Nein-Entscheidung (ein Axon feuert oder feuert eben nicht) eine Erregung auszusenden oder im Ruhepotenzial zu bleiben.

Synapse

Am Ende des Axons wird die bioelektrische Erregung zunächst nicht weitergeleitet. Das Axonende ist durch einen so genannten synaptischen Spalt vom dendritischen Ende der zweiten Nervenzelle getrennt. Diese Strukturen – Axonende der ersten Nervenzelle, dendritisches Ende der zweiten Nervenzelle und der Spalt, der beide voneinander trennt – werden als „Synapse“, Verbindungsstelle zweier Nervenzellen, bezeichnet. Die Weiterleitung der Informationen zwischen erster und zweiter Nervenzelle geschieht auf biochemischem Wege.

Neurotransmitter

Die am Axonende einlaufende bioelektrische Erregung führt zu Membranveränderungen, in deren Gefolge Vesikel, kleine Bläschen, kurzfristig mit der Membranwand verschmelzen. Diese Bläschen enthalten Botenstoffe, so genannte Neurotransmitter, die nun in den synaptischen Spalt diffundieren. Sie gelangen so an Empfängerstrukturen in der dendritischen Membran der zweiten Nervenzelle. Hinsichtlich ihrer Oberflächenstruktur passen Neurotransmitter und Empfänger (Rezeptor) wie ein „Schlüssel ins Schloss“ oder eine Hand in einen Handschuh: Docken Neurotransmitter an den für sie vorgesehenen Rezeptoren an, so verändern sie wiederum kurzfristig die Membranstruktur der Dendriten in der zweiten Nervenzelle. Das wiederum hat zur Folge, dass Ionen einströmen können. Es baut sich nun in der zweiten Nervenzelle ein bioelektrischer Strom auf und kann zum Axonhügel weitergeleitet werden. Nach „getaner Arbeit“ werden die Neurotransmitter abgebaut oder wieder von der aussendenden Zelle aufgenommen und „recycled“. Jedenfalls verlieren sie ihre Wirksamkeit, so dass die Zellstrukturen wieder zur Ruhe kommen können.

Verstärkung

Die Kopplung von bioelektrischer und biochemischer Erregung hat den Vorteil, dass Erregungen massiv verstärkt werden können. Es hängt nämlich nicht primär von der Erregungsstärke der ersten, abgebenden Zelle ab, sondern vor allem vom Aufbau und den Membraneigenschaften der zweiten Zelle, wie stark die nun weitervermittelte Erregung im zweiten Neuron ist. Auch kann eine erregende erste Zelle durch eine raffinierte Verschaltung dazu führen, dass eine ihr angeschlossene zweite Zelle nicht erregt, sondern gehemmt bzw. gedämpft wird: Öffnen sich nämlich Ionenkanäle für negative Ionen, (z. B. Cl-), so führt die Erregung dieser Rezeptoren dazu, dass negativ geladene Ionen ins Zellinnere einströmen. Damit wird das Milieu noch negativer und die Zelle noch weniger erregbar. So paradox es sich anhört: Die Erregung der ersten Nervenzelle hemmt aktiv die Erregungsbereitschaft der zweiten Nervenzelle.

Schließlich können Nervenzellen durch Botenstoffe u. a. Chemikalien massiv beeinflusst werden. Eine Reihe von chemischen Substanzen, beispielsweise Drogen und Psychopharmaka, aber auch körpereigene Substanzen können die Sensibilität neuronaler Empfangsstrukturen erhöhen. Zurzeit sind etwa 200 Neurotransmitter erforscht worden, 50 davon haben eine maßgebliche Bedeutung. Insbesondere Noradrenalin, Dopamin, Serotonin, Acetylcholin, Glutamat und Gamma-Aminobuttersäure werden weiter unten noch näher beschrieben, weil sie maßgeblich an Regelprozessen beteiligt sind.

Hormone

Neben Neurotransmittern, hauptsächlich im Dienste gezielter Nervenbahnen und neuronaler Regelkreise, können auch Hormone an Synapsen wirken: Sie werden durch den Blutkreislauf an unterschiedlichste Stellen in der Körperperipherie eingeschwemmt und können, etwa wie das Stresshormon Adrenalin, fast gleichzeitig unterschiedliche Körperfunktionen (Blutdruck, Atmung, Pupillenreaktion etc.) beeinflussen. Vereinfacht gesagt kann man die Signalübertragung von Neurotransmittern mit einem Telefon vergleichen, während Hormonen „Rundfunkcharakter“ zugeordnet werden kann.

Drogen

Neurotransmitter können blockiert, abgebaut, verzögert oder imitiert werden, oder ihre Wirkung kann verlängert werden: Praktisch alle Rausch- und Suchtstoffe sowie Psychopharmaka verändern die Wirkweise von Neurotransmittern. Sie können beispielsweise die Oberflächenstruktur von Rezeptoren verändern und entweder die Wirkung von körpereigenen Neurotransmittern verhindern, oder aber gerade diese Neurotransmitter so gut imitieren, dass sie an deren statt eine Erregung hervorrufen.

monosynaptischer Reflex

Nachdem wir den grundlegenden Aufbau der kleinsten Einheit unseres Nervensystems, des Neurons/der Nervenzelle kennen gelernt haben, wollen wir uns nun mit deren prinzipiellen Verschaltungen beschäftigen. Die einfachste Verschaltung zweier Neuronen ist die eines monosynaptischen Reflexbogens.

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Wenn Sie bei übereinander geschlagenen Beinen mit der Handkante 1 cm unterhalb der Kniescheibe einen plötzlichen Druck auslösen, wird der Unterschenkel reflexartig nach vorne schnellen. Dehnungsrezeptoren an Bändern und Gelenken haben einen Dehnungsreiz wahrgenommen, der in ein bioelektrisches Signal umgewandelt und über das erste Neuron zur Umschaltstelle im Rückenmark weitergeleitet wurde. An dieser synaptischen Umschaltstelle tritt nun ein zweites Neuron in Aktion, das Signale zur Peripherie und damit zur Muskulatur des Unterschenkels weiterleitet und eine motorische Reaktion auslöst.

Im einfachsten Falle also besteht eine neuronale Verschaltung aus einem monosynaptischen Reflexbogen, an dem zwei Neuronen beteiligt sind.

komplexe Reflexe

Bereits beim Bauchdeckenschutzreflex sieht die Sache komplexer aus: Wenn nur der linke untere Quadrant der Bauchhaut berührt wird, zieht sich reflektorisch die gesamte Bauchdecke zusammen. Dies macht auch Sinn, da es lebenswichtige und im Übrigen sonst ungeschützte innere Organe zu schützen gilt. Die Verschaltung kann folglich keine monosynaptische mehr sein: Auf mehreren Ebenen des Rückenmarks werden Neuronen zusammengeschaltet und führen schließlich dazu, dass die gesamte Bauchdecke involviert wird.

Interneurone

Schließlich können Nervenzellen „dazwischen geschaltet sein“, um hemmende, erregende, in jedem Fall aber modulierende Funktion zu übernehmen und wesentlich zur Feinabstimmung beizutragen. Solche Zellen werden als „Interneurone“ bezeichnet. Aber auch die Verarbeitung und Repräsentation des Außenweltreizes, also des Sinnesreizes, kann bei komplex verschalteten Verarbeitungsstufen wesentlich differenzierter und aussagekräftiger werden. Letztlich sorgen also Millionen dazwischen geschaltete Interneurone für eine immer differenziertere Sinnesreizanalyse und eine ebenso differenzierte feinmotorische und zielgerichtete Aktion des Individuums. Am Ende der motorischen Leitungsbahnen finden wir die Muskeln, mit deren Hilfe Gliedmaßen und Gelenke bewegt werden können. Andererseits haben wir in der Peripherie Sinnesorgane mit Sinnesrezeptoren, die unterschiedliche Reize unserer Außenwelt in die bioelektrische Einheitssprache unseres Nervensystems übersetzen und zum Gehirn weiterleiten. Neben den „fünf aristotelischen Sinnen“ (Riechen, Schmecken, Hören, Sehen und Fühlen), kann man insgesamt etwa 20 Sinne unterscheiden: z. B. die Tiefensensibilität, das Schmerzempfinden, den Vibrationssinn, den Gleichgewichtssinn, Wärmerezeptoren etc.

Sinnesrezeptoren

Sinnesrezeptoren sind zum Ersten in der Lage, Modalitäten wahrzunehmen: Normalerweise unterscheiden wir zwischen Gehörtem, Gesehenem oder Gerochenem. Zum Zweiten können sie qualitativ differenzieren: Unterschiedliche Lichtfrequenzen werden als Farben, unterschiedliche Hörfrequenzen als Tonhöhen differenziert. Zum Dritten kann die Stärke des Reizes interpretiert werden: Eine Speise schmeckt uns mehr oder weniger süß, ein Ton ist mehr oder weniger laut, eine visuelle Wahrnehmung ist mehr oder weniger hell. Viertens können Reize zeitlich und periodisch strukturiert werden, und fünftens gelingt es uns oft, sie zu lokalisieren: Der Aufbau unseres Außenohres sorgt ebenso wie die Verschaltung der Hörbahnen dafür, dass wir stereophon hören können. Analoges gilt für das stereoskope Sehen oder die Ortung von Gerüchen.

Sinneseindrücke gelangen entweder über sensorische Leitungsbahnen aus der Peripherie, über das Rückenmark und das Stammhirn in das Gehirn. Oder sie werden über jeweils einen der zwölf Hirnnerven (z. B. den Riechnerv, den Sehnerv, den Gehörnerv) direkt in das Gehirn eingespeist. Das, was das Gehirn letztlich erreicht, ist nicht mehr Licht oder ein Ton, sondern die in die bioelektrische Einheitssprache des Gehirns umgewandelte Information.

Aufbau des Gehirns

Stammhirn

Wenn wir uns den strukturellen Aufbau unseres Gehirns ansehen, so bildet die Basis das so genannte Stammhirn. In dieses münden nicht nur die sensorischen Leitungsbahnen des Rückenmarks ein, sondern auch die Endigungen unserer Hirnnerven. Es handelt sich um den entwicklungsgeschichtlich ältesten Teil unseres Gehirns, der die lebenswichtigen Steuerzentralen beinhaltet. Ob wir beispielsweise atmen oder nicht, entzieht sich bereits nach kurzfristiger Atempause unserem freien Willen: Reflektorisch sorgt das Stammhirn dafür, dass wir nach Luft schnappen. In ähnlicher Weise werden Körpertemperatur, Blutzuckerspiegel, Hungergefühl u. v. a. überlebenswichtige Parameter vom Stammhirn gesteuert. Vor allem der Grad unserer Erregung, unserer Wachheit oder unserer Schläfrigkeit wird – wie auch der Schlaf-Wach-Rhythmus – von einer so genannten Area retikularis des Stammhirns gesteuert. Ob wir ängstlich, wütend oder verliebt sind, entscheidet sich an anderen, gleich zu besprechenden Stellen unseres Gehirns. Der Grad der Erregung allerdings, mit dem diese Emotionen verspürt werden, wird im Stammhirn generiert. Das gilt auch für den Wachheits- und damit Bewusstseinszustand. Stammhirnläsionen können in der Regel nicht überlebt werden, weil dieser fundamentale und archaische Teil unseres Gehirns essenziell für die lebensnotwendigen Steuerungsfunktionen ist.

Zwischenhirn

Über das Stammhirn stülpt sich das Zwischenhirn, das sensorische Reize weiterverarbeitet und z. T. mit fest verankerten basalen Programmen beantwortet wird. Eine wichtige Struktur des Zwischenhirns ist der Thalamus, manchmal als „Vorzimmer des Bewusstseins“ apostrophiert. In seinen seitlichen Arealen werden beispielsweise Informationen der Sehnerven ein erstes Mal miteinander verglichen und ausgewertet. So veranlasst uns der Thalamus unbewusst, unseren Blick möglichen Gefahrenquellen zuzuwenden. Auch wenn wir erst später erkennen, dass die vermeintliche Schlange am Boden ein Gartenschlauch war, springen wir möglicherweise doch vor Schreck an die Seite. Wir entwickeln eine Stressreaktion, deren Ursprung vom Thalamus gesteuert wird. Abgebaut wird diese Reaktion erst, wenn das gleich noch zu besprechende Großhirn die Führung in der sensorischen Interpretation übernimmt. In seinen medialen Anteilen verarbeitet der Thalamus insbesondere Hörinformationen, die nach ganz ähnlichen Prinzipien wie die eben beschriebenen visuellen Verarbeitungsmodi ausgewertet werden. Der Thalamus ist also eine wichtige Schaltzentrale, die mit darüber entscheidet, welchen Ereignissen unser Bewusstsein Beachtung schenkt. Er hat mächtige Verbindungsbahnen zu den übergeordneten, von ihm mit Informationen verbundenen Hirnarealen.

Limbisches System

An der Grenze von Zwischen- und Großhirn befindet sich eine saumförmige Region, die als „Limbisches System“ (lat.: limbus – der Saum) bezeichnet wird. Das Limbische System besteht aus einer Reihe von untergeordneten Regionen, von denen der Mandelkern (Amygdala) und der Hippokampus (Seepferdchen) die wichtigsten sind.

Mandelkern

Der Mandelkern – der seinen Namen ebenso wie das See-pferdchen einer beschreibenden Anatomie vergangener Zeiten verdankt – wird auch als „Mischpult der Gefühle“ apostrophiert und färbt alle wahrgenommenen Ereignisse emotional ein. In seiner unteren Region differenziert er im Wesentlichen nach den Kategorien „Lust-Unlust“ und leitet uns damit auf noch vorbewusster Ebene an, bestimmte Situationen zu meiden, andere hingegen anzustreben. Hier generieren auch Primäraffekte wie „eine dumpfe Wut im Bauch“ oder eine noch namenlose, fast panische Angst. Analoges gilt auch für andere Emotionen wie z. B. Interesse, Erotik oder Trauer. Gleichzeitig sorgen die basalen und unteren Teile der Amygdala dafür, dass unser vegetatives Nervensystem reagiert: Angst beispielsweise geht mit einem Erregungszustand, der Ausschüttung von Adrenalin und vielen Parametern der so genannten „flight and fight reaction“ einher: Puls und Atemfrequenz beschleunigen sich, der Blutdruck steigt, die Pupillen werden schreckensweit, die Hände schwitzen (was über die damit verbundene Verdunstung zur Abkühlung führt) und dergleichen mehr. Die Emotion Angst ist also ein durchaus körperliches, vegetativ gesteuertes Ereignis. Analoges gilt für die Wut, die Freude, die Trauer oder erotische Gefühle: Sie alle äußern sich auch vegetativ, mimisch, motorisch, mitunter auch hormonell. Hierauf wird in Kap. 9 noch detaillierter eingegangen.

In seinem oberen Teil leitet der Mandelkern emotional relevante Informationen über breit angelegte Nervenfasern zur periobikulären (augennahen) Region des Frontalhirns. Diese Bahnen und ihre Endstrecken ermöglichen eine differenziertere Analyse, auch in emotionaler Hinsicht. Aus der dumpfen Wut wird nun Eifersucht, Rachegefühl oder ein „heiliger Zorn“. Auch emotional-kognitive Phänomene wie Scham oder Schuldgefühl können nun differenziert erlebt werden.

Schließlich ist das frontale Großhirn auch in der Lage, Emotionen in gewissen Grenzen zu steuern und den sozialen Gegebenheiten anzupassen. Dass wir wütend werden, können wir nicht verhindern – dies liegt in unserer Natur und ist im Wesentlichen im Limbischen System verankert. Wie wir mit unserer Wut umgehen, ist hingegen auch von unseren Großhirnfunktionen abhängig, nicht zuletzt auch von unserem Gedächtnis, das in unserem bisherigen Leben einiges über den Umgang mit Wut gelernt hat.

Hippokampus

Um aber im Gedächtnis abgespeichert zu werden, muss eine emotional relevante Information zunächst den Hippokampus (Seepferdchen) passieren. Diese Struktur wird auch als „Pforte des Gedächtnisses“ bezeichnet und sorgt dafür, dass emotional relevante Informationen, vom Hippokampus bearbeitet, in den Gedächtnisstrukturen insbesondere des Temporallappens abgespeichert wird. Ist der Hippokampus zerstört, kann dies nicht mehr geschehen. Alte Lebensereignisse sind zwar nach wie vor im Gedächtnis abrufbar, neue Ereignisse können hingegen nicht aufgenommen werden. Amygdala und Hippokampus liegen anatomisch dicht nebeneinander und sind auch funktionell sehr stark miteinander vernetzt.

Basalganglien

An den unteren Regionen des Großhirns befinden sich Zentren im Dienste der Motorik. Dies sind zum einen im archaischen Teil der Hirnrinde die Basalganglien, zum anderen das Kleinhirn (Zerebellum). Beide Strukturen können in gewisser Hinsicht als „Unterausschüsse“ der nichtwillkürlichen Begleitmotorik angesehen werden. Zwar sind gleich noch zu besprechende Großhirnareale für die Willkürmotorik zuständig und sorgen dafür, dass wir uns gemäß unseres Willens bewegen oder nach Objekten greifen. Aber die „Unterausschüsse“ der nichtwillkürlichen, extrapyramidalen Begleitmotorik sorgen dafür, dass dies in ad-äquater Weise geschieht: Dosierung der Muskelaktivität, Kraft, Neigungswinkel und die Abfolge diverser motorischer Unterprogramme werden aufeinander abgestimmt, ohne dass wir uns bewusst damit befassen müssen. Die Basalganglien sind bei diesem Geschehen vor allen Dingen für schnelle, so genannte ballistische Bewegungen zuständig: Wenn Sie einen Golfschläger bewegen und während dieser Bewegung merken, dass sie den Ball wohl nicht treffen werden, ist es für eine Kurskorrektur bereits zu spät. Die damit befassten Basalganglien haben das Bewegungsprogramm bereits gestartet.

Kleinhirn

Auch das Kleinhirn ist als ein den Basalganglien ebenbürtiger motorischer Unterausschuss zu verstehen, wenngleich es hier um die Koordination von Außenreizen aus der Umwelt mit Innenreizen aus Gleichgewichtsorgan und Tiefensensibilität im Sinne einer motorischen Koordination geht. Manchmal wird das Kleinhirn auch als „Autopilot“ des motorischen Systems bezeichnet. In einem mitunter nicht ganz einfachen Prozess lernen wir z. B. zu tanzen, Auto zu fahren oder mit einem Fahrrad umzugehen. Einmal gelernt, stehen uns diese „Programme“, die im Kleinhirn abgespeichert sind, automatisch zur Verfügung. Wir müssen beim Schalten des Getriebes oder dem Treten des Pedals unser Bewusstsein nicht dieser motorischen Aktion zuwenden – dies läuft quasi automatisch ab. Auch beim Tanzen können wir, haben wir die Schritte einmal gelernt und im motorischen Gedächtnis unseres Kleinhirns gespeichert, uns wichtigeren Angelegenheiten, beispielsweise der Unterhaltung mit dem Tanzpartner zuwenden.

Großhirnrinde

Über die bisher genannten basalen Strukturen unseres Großhirns wölbt sich die Großhirnrinde, deren tiefe Faltung und Windungen vor allem beim Menschen eine außerordentliche Oberflächenvergrößerung ermöglichen. Diese „grauen Zellen“ sind Sitz unseres bewussten Erlebens, unserer Handlungsplanungen, aber auch differenzierter Repräsentationen und Sinnesverarbeitung sowie gezielter Willkürmotorik. Das Gehirn kann in zwei Hemisphären (Halbkugeln) sowie vier unterschiedliche Lappen aufgeteilt werden: Hier sind Stirn- oder Frontallappen, Schläfen- oder Parietallappen, Scheitel- bzw. Temporallappen sowie Hinterhaupts- oder Okzipitallappen zu nennen.

sensomotorische Hirnrinde

Wir wissen heute, dass das Großhirn eine Reihe von Arealen aufweist, die für bestimmte kognitive Funktionen unverzichtbar sind, ohne sie zugleich vollständig erklären zu können. Es gibt beispielsweise eine sensomotorische Hirnrinde, in der verschiedene Aspekte der von uns ertasteten Welt parallel verarbeitet werden. So kann in eng benachbarten Arealen dieser sensorischen Hirnrinde z. B. die Kälte, aber auch die Härte, die Vibrationseigenschaften o. a. taktile Qualitäten eines von uns getasteten Metallstuhls analysiert und zu einem ganzheitlichen sensorischen Erleben integriert werden. Vor der sensorischen Hirnrinde findet sich das primäre motorische Hirnrindenareal, in dem die Willkürmotorik generiert wird. Wie in Kap. 6 noch zu zeigen ist, findet die Planung einer motorischen Aktion bereits in der präfrontalen Kortexregion statt: Sie wird aktiviert, wenn ich den Plan fasse, eine Banane zu schälen. Die motorische Hirnrinde hingegen tritt in Aktion, wenn der konkrete Plan ausgeführt wird, die Finger also in entsprechender Weise stimuliert werden.