Grundrechte-Report 2022
Benjamin Derin | Andreas Engelmann | Vera Fischer | Rolf Gössner | Wiebke Judith | Hans-Jörg Kreowski | John Philipp Thurn | Rosemarie Will | Michèle Winkler
FISCHER E-Books
Der Grundrechte-Report dokumentiert seit 1997 als Teil einer zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit den Umgang mit Bürger- und Menschenrechten in Deutschland. Das Hauptaugenmerk liegt dabei jedes Jahr auf den staatlichen Institutionen, von denen die größten Gefährdungen der Grundrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit ausgehen. In der 26. Ausgabe des Grundrechte-Reports geht es um die Klimakrise und die deutsche Rolle in Afghanistan, aber auch um Datenschutz, Strafrecht, Diskriminierung und Überwachung.
Herausgegeben wird der Grundrechte-Report von zehn Bürgerrechtsorganisationen. Informationen über die Herausgeber*innen, die Autor*innen und die Redaktion finden sich im Anhang des Buches.
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Eigenlizenz
Erschienen bei FISCHER E-Books
Covergestaltung: Farnschläder & Mahlstedt, Hamburg
Coverabbildung: Jochen Tack / picture alliance
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ISBN 978-3-10-491664-4
Das Jahr 2021, über das der vorliegende Grundrechte-Report berichtet, fiel in eine Zeit multipler Krisen und zeichnete sich durch besondere Bedrohungslagen für die Grundrechte aus.
Die Corona-Pandemie war dabei erneut das tagespolitisch beherrschende Thema, das auch unter grundrechtlichen Gesichtspunkten vielfach für Diskussionsbedarf sorgte – wie z.B. die Ende 2021 noch andauernde Debatte über eine mögliche Impfpflicht. Hinzu kam das politische Versagen, auch in einem Wahlkampfjahr mehr als nur kurzfristige Maßnahmen gegen Corona zu ergreifen. Beispielsweise wurden Impfzentren erst geschlossen, dann wieder geöffnet; ähnlich planlos wirkte der Umgang mit den Kosten für Antigenschnelltests. Für vulnerable Gruppen blieb der Schutz vor Corona nach wie vor prekär. Wie eine politische und gesamtgesellschaftliche Aufarbeitung der Pandemie aussehen kann, wird sich in den nächsten Jahren zeigen.
Im Report wird auch die Karlsruher Entscheidung zur Bundesnotbremse analysiert und zum Anlass genommen, das insgesamt zögerliche Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts bei der Überprüfung der pandemiebedingten Grundrechtseinschränkungen kritisch zu resümieren.
Das Jahr 2021 stand wegen einer Vielzahl von Umweltkatastrophen auch im Zeichen des Klimaschutzes. Die Klimagerechtigkeitsbewegung hat mit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz einen juristischen Erfolg errungen. Im Report wird der Beschluss mit seiner Konstruktion des intertemporalen Grundrechtsschutzes zwischen den Generationen analysiert und vorgestellt. Darüber hinaus kritisiert der Report die in Deutschland entgegen der Aarhus-Konvention unzureichenden Verbandsklagerechte zum Klima- und Umweltschutz. Daran hat der Klimabeschluss nichts geändert, der Bundestag muss hier den völkerrechtlichen Verpflichtungen nachkommen. Neben dem individuellen Rechtsschutz braucht es starke Organisationen, die Klima- und Umweltschutz für die Allgemeinheit einklagen können. Zudem ist eine sozial gerechte Finanzierung der Klimaschutzmaßnahmen dringend geboten. Im Report wird gezeigt, wie dies durch die Schuldenbremse verhindert wird.
Es bleibt unerlässlich, auch den Protesten für Klimagerechtigkeit ausreichenden grundrechtlichen Schutz zu garantieren. Die Proteste sind vielerorts sehr aktiv und damit allerdings auch verstärkt Ziel staatlicher Repression. Exemplarisch wird das an der Auseinandersetzung über den Hambacher Wald gezeigt. Hinzu kommen repressive Einschränkungen des Versammlungsrechts. Wir berichten über das neue Versammlungsgesetz für Nordrhein-Westfalen, das viele verfassungsrechtlich unhaltbare Einschränkungen der Demonstrationsfreiheit beinhaltet, die augenscheinlich Proteste eindämmen oder gar verunmöglichen sollen.
Einen zweiten Schwerpunkt des Grundrechte-Reports bildet die bürgerrechtliche Situation, die durch den chaotischen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan entstanden ist. Im Fokus steht dabei einerseits die falsche Lagebewertung der Stabilität des Landes vor dem Truppenabzug Mitte 2021 und die daran geknüpfte deutsche Abschiebepraxis der letzten Jahre. Andererseits wird am Beispiel Afghanistans gezeigt, wie die staatlichen Institutionen der Bundesrepublik ihre Bindung an das Grundgesetz im Ausland ignorieren. Bereits 2020 hatte das Verfassungsgericht für den Afghanistan-Einsatz festgestellt, dass die Bundeswehr auch für ihr Handeln im Ausland staatshaftungsrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann und an die Grundrechte gebunden ist. Aktuell wird dies in dieser Ausgabe für die Verletzung grundrechtlicher Schutzpflichten gegenüber den für Deutschland arbeitenden Ortskräften in Afghanistan aufgezeigt. In beschämender Manier wurde versucht, diese Pflicht auszusitzen und durch bürokratische Hürden die Zahl der Anspruchsberechtigten möglichst gering zu halten.
Auch die Situation Geflüchteter hat sich im Berichtszeitraum nicht verbessert. Der Umgang mit Menschen auf der Flucht und die illegalen Pushbacks seitens der polnischen Behörden an der Grenze zu Belarus wurden von europäischen und deutschen Politiker*innen mit dem Verweis auf die Instrumentalisierung der Flüchtlinge durch den weißrussischen Präsidenten Lukaschenko gerechtfertigt. Im Report wird gezeigt, dass Deutschland und Europa damit nicht nur gegen eigene Werte verstoßen, sondern auch gegen Rechtspflichten.
Auch in diesem Jahr galt unsere besondere Aufmerksamkeit rechten Strukturen innerhalb staatlicher Behörden und Institutionen. Dies betraf zum einen die rechten Netzwerke innerhalb der (hessischen) Polizei, die durch Skandale wie »NSU 2.0« und die Auflösung des Frankfurter SEKs mit einer zweistelligen Zahl rechtsradikaler Mitglieder deutlich zutage traten. Behörden verhindern dazu wissenschaftliche Untersuchungen, behindern so die Erkenntnis struktureller Probleme und beeinträchtigen die Wissenschaftsfreiheit. Im Report wird auch der Fall eines Richters dokumentiert, der in einem Urteil mit rechten Überzeugungen argumentierte. Dass dessen Befangenheit in Asylsachen erst durch das Bundesverfassungsgericht festgestellt werden musste, macht deutlich: Die Selbstkontrolle der Justiz funktioniert nicht zuverlässig.
Erneut thematisiert der Report die Frage nach der sozialen Gestaltung des Wohnungsmarktes, weil Wohnen für die breite gesellschaftliche Masse innerhalb der urbanen Zentren und den dazugehörigen Peripherien immer unbezahlbarer wird. Anhand der Entscheidung zum Mietendeckel und der Kampagne »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« in Berlin wird dargestellt, dass die soziale Verpflichtung, die das Grundgesetz den Privateigentümer*innen auferlegt, nicht eingelöst wird. Die angesichts dieser Situation naheliegende Möglichkeit einer Vergesellschaftung soll aber weiterhin Profitinteressen weichen – Gegenargumente zeigt der Report deutlich auf.
Auch strafprozessual sind im Berichtszeitraum weitere Verschärfungen zu verzeichnen, die Grundrechte empfindlich beeinträchtigen. So wurde in der Strafprozessordnung die Möglichkeit eingeführt, von verdeckten Ermittlungen betroffene Personen im Nachhinein nicht mehr über Beschlagnahmen zu informieren. Damit entfällt jede Möglichkeit der gerichtlichen Kontrolle. Die automatisierte Kennzeichenerfassung, die schon in vielen Polizeigesetzen der Länder enthalten ist, ermöglicht es nun der Polizei, in Ermittlungsverfahren massenweise Daten zu erheben und damit in die Grundrechte auch völlig Unbeteiligter einzugreifen.
Parallel zu den Verschärfungen auf Ermittlungsebene gipfelte die Diskussion über die Wiederaufnahme von Strafverfahren bei neuen Beweisen nach Freisprüchen in einer grundlegenden Gesetzesänderung. Sie stellt einen Bruch mit dem verfassungsrechtlichen Verbot der Mehrfachverfolgung dar.
Die Redaktion des Grundrechte-Reports muss in jedem Jahr eine Auswahl grundrechtsrelevanter Themen treffen. Diese Auswahl ist naturgemäß subjektiv. Sie orientiert sich überwiegend am bürgerrechtlichem Engagement der herausgebenden Organisationen. Insofern lassen sich Trends aufzeigen, aber kein komplettes Bild zur Lage der Grundrechte in der Bundesrepublik zeichnen. Eine Auseinandersetzung mit der Flutkatastrophe im Ahrtal fehlt in diesem Report ebenso wie eine gebührende Beachtung der stetig anwachsenden sozialen Spaltung, Armut und Prekarität. Das Thema der Pressefreiheit kommt leider zu kurz, obwohl sich die Arbeitsbedingungen für Journalist*innen in Deutschland in den letzten Jahren merklich verschlechtert haben. Die Unmöglichkeit, alle wesentlichen Grundrechtsverletzungen und -gefährdungen im Berichtszeitraum adäquat aufzunehmen, ist aber nicht nur unseren begrenzten Ressourcen geschuldet. Sie ist auch Ausdruck einer multiplen Grundrechtskrise, der wir mit dem Report entgegentreten wollen.
Artikel 1 (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Britta Rabe
Die Unterbringung von Strafgefangenen
Im Januar 2021 informierte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit einer Pressemitteilung über zwei Beschlüsse gegen die menschenunwürdige Unterbringung von Strafgefangenen, die es auch in die Fernsehnachrichten und in die Printmedien schaffte. Was dort als Erfolg bewertet wurde, hat bei näherer Betrachtung allerdings einen schalen Beigeschmack, denn die an sich positiven Entscheidungen ändern nichts an den bestehenden Defiziten der gesetzlichen Regelung.
Eine Entscheidung betraf die Abweisung einer Amtshaftungsklage gegen den Freistaat Bayern (1 BvR 117/16). Ein Strafgefangener war im Jahr 2012 für 47 Tage mit einer weiteren Person in einer Gemeinschaftszelle von 7,41 m2 in der Bayerischen Justizvollzugsanstalt (JVA) Aichach inhaftiert. Im März 2014 beantragte er Prozesskostenhilfe für eine Klage auf finanzielle Entschädigung wegen menschenunwürdiger Unterbringung. Sein Prozesskostenhilfeantrag wurde zunächst abgelehnt: Da das Landgericht Augsburg die Haftbedingungen für menschenwürdig erachtete, bestünde bei der Klage keine Aussicht auf Erfolg.
Der angenommenen Größe durch das Landgericht Augsburg (8,98 m2) widersprach die vom Kläger angegebene Zellengröße von 7,41 m2. Dem Mann standen demzufolge anteilig weniger als »menschenwürdige« 4 m2 zu. Das BVerfG rügte nun: Das Landgericht habe es sich einfach gemacht und die abweichenden Angaben des Klägers nicht geprüft und sich darüber hinaus für das Urteil nicht mit früheren Entscheidungen zum Thema befasst.
Der zweite Beschluss des BVerfG (1 BvR 149/16) betraf ebenfalls eine versagte Prozesskostenhilfe für eine Amtshaftungsklage. Der klagende Strafgefangene war 2012 für rund zehn Monate in Untersuchungshaft in einer bayerischen JVA nacheinander in baugleichen Gemeinschaftszellen von 7,8 m2 eingesperrt gewesen. 2015 klagte der Betroffene dagegen. Das Landgericht lehnte die Prozesskostenhilfe ab mit dem Verweis auf eine Einverständniserklärung des Gefangenen, in einer Gemeinschaftszelle untergebracht zu werden. Während der Haft habe er zudem keine Einzelzelle beantragt. Das BVerfG rügte die fehlende rechtliche Würdigung der tatsächlichen Unterbringungsverhältnisse, zudem sei rechtlich ungeklärt, was eine Einwilligung in eine menschenunwürdige Unterbringung bedeute.
Die andauernden Klagen gegen eine menschenunwürdige Unterbringung in Haft in deutschen Gefängnissen sind eine Folge einer bis heute unbestimmten Gesetzgebung.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) fordert als Mindestgröße für die Zelle von Strafgefangenen eine anteilige Grundfläche von 4 m2 pro Person (EGMR [GK], Muršić v.Croatia, Urteil vom 20. Oktober 2016, Nr. 7334/13), um den Anforderungen von Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu genügen. Dieser verbietet neben Folter auch generell eine »unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe«. Bei einer Größe von unter 3 m2 je Gefangenem spricht laut EGMR eine »starke Vermutung« für die Verletzung von Artikel 3 EMRK.
Für Deutschland variiert die Rechtsprechung über die menschenwürdige Zellengröße, auch haben nach der Föderalismusreform im Jahr 2006 sämtliche Bundesländer inzwischen eigene Strafvollzugsgesetze erlassen. Bayern beschloss ein solches im Jahr 2007. Eine Konkretisierung der völlig allgemein gehaltenen Formulierung im zuvor geltenden Strafvollzugsgesetz des Bundes wurde dabei – wie in fast allen Bundesländern – unterlassen. So heißt es gleichlautend zur Beschaffenheit von Gefängniszellen in Artikel 170 Absatz 2 Bayerisches Strafvollzugsgesetz (BayStVollzG): »Der Haftraum muss (…) hinreichend Luftinhalt haben sowie (…) mit hinreichend Boden- und Fensterfläche ausgestattet sein.« Einzelzellen sollen inklusive der Toilette eine Bodenfläche von mindestens neun Quadratmetern haben (VV 1 zu Art. 170 BayStVollzG). Artikel 20 regelt die Einzelunterbringung während der Ruhezeit und hält währenddessen eine gemeinschaftliche Unterbringung von mehr als acht Gefangenen für unzulässig.
Diverse Ausnahmen unterlaufen zudem den rechtlichen Anspruch auf Einzelunterbringung, etwa bei Bedarf nach einer weiteren Person in der Zelle aufgrund von »Sicherungsmaßnahmen für kranke oder suizidgefährdete Gefangene« oder – gänzlich interpretationsoffen – wenn »dies im Einzelfall aus zwingenden Gründen der Anstaltsorganisation vorübergehend erforderlich ist« (§ 14 Absatz 1 Nr. 3 Strafvollzugsgesetz NRW).
Manche Bundesländer nehmen Altbauten, die vor 1977 zu Justizvollzugsanstalten umgewidmet bzw. umgebaut wurden, aus der Regelung heraus. In Bayern ist eine Gemeinschaftsunterbringung etwa erlaubt, wenn »die räumlichen Verhältnisse der Anstalt dies erfordern«. Dort werden in Altbauten teilweise »bauliche Vorgaben aus der Vergangenheit« angetroffen, so dass die »idealen Haftraumgrößen unterschritten« werden (Landtagsdrucksache 17/12769).
All diese Ausnahmen führen dazu, dass bundesweit bis heute viele Strafgefangene in (zu kleinen) Mehrfachzellen untergebracht sind. Im Juni 2021 betraf dies etwa ein Fünftel der Gefangenen.
Der Zugang zum Recht wird nicht allen Menschen gleich gewährt, das müssen insbesondere Strafgefangene regelmäßig erfahren. Anträge auf Prozesskostenhilfe etwa werden oft mit dem Hinweis auf fehlende Erfolgsaussichten abgelehnt. Die eigentliche gerichtliche Entscheidung wird damit faktisch bereits im Vorfeld getroffen. Häufig betrifft dieses Vorgehen Klagen von Gefangenen gegen ihre menschenunwürdige Unterbringung in Haft, oft aufgrund zu kleiner Zellen. Obwohl – oder vielmehr weil – es bis heute keine einheitliche Definition einer »menschenwürdigen« Größe von Gefängniszellen gibt, wird mit der Ablehnung von Prozesskostenhilfe zugleich eine mögliche finanzielle Entschädigung verhindert. Dem Gefangenen bleibt dann als letztes Mittel eine Verfassungsbeschwerde. Das BVerfG beanstandete in den vergangenen Jahrzehnten regelmäßig das Vorgehen anderer Gerichte (1 BvR 3359/14; 2 BvR 566/15; 1 BVR 1403/09; 1 BvR 1807/07; 2 BvR 626/06), eine höchstinstanzliche Klärung in der Sache ist bisher ausgeblieben. Die vergleichsweise häufig erfolgreichen Verfassungsbeschwerden sind insofern bemerkenswert, als dass der Ratgeber für Gefangene »Wege durch den Knast« die Erfolgsaussichten von Verfassungsbeschwerden in Vollzugssachen im Allgemeinen überhaupt nur auf höchstens ein Prozent schätzt. Für Strafgefangene ist die Anwendung dieses Rechtsbehelfs in der Realität aufgrund diverser formaler Vorgaben (Monatsfrist, Abfassung in deutscher Sprache) leider zusätzlich massiv beschränkt.
Klagen sind eine der wenigen Möglichkeiten für Gefangene, für die Zeit der Haft eine wenigstens minimale finanzielle Entschädigung zu erhalten. Denn nicht nur die Unterbringung in kleinen Zellen ist menschenunwürdig, menschenunwürdig ist letztlich der gesamte heutige Strafvollzug: Strafgefangene sind – anders als es der gesetzliche Angleichungsgrundsatz formuliert – überwiegend weit davon entfernt, in Haft ein Leben mit Arbeit, Freizeit und Ausbildung angeglichen an die Außenwelt ähnlich den Menschen in Freiheit zu führen. Strafgefangene sind beispielsweise zur Arbeit verpflichtet, ihr Entgelt liegt aber weit unter dem Mindestlohn, sie erhalten keine adäquate medizinische Versorgung. In unseren Gefängnissen wird überproportional die Armutsbevölkerung aufbewahrt, verwaltet – und bestraft.
Kinzig, Jörg: Vom Recht und seiner Realität. Strafvollzug in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 42–43/2021, S. 18ff.
Friehe, Matthias: Füchse, Legehennen, Strafgefangene, JuWissBlog Nr. 100/2018 v. 18.12.2018.
Statistisches Bundesamt: Bestand der Gefangenen und Verwahrten in den deutschen Justizvollzugsanstalten – Januar bis Juni 2021.
Barskanmaz, Cengiz: Menschenwürde im Gefängnis: Haftbedingungen, Verfahrensgrundrechte und das Bundesverfassungsgericht, Verfassungsblog v. 3.2.2021.
Wacquant, Loïc: Bestrafen der Armen. Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit, Opladen & Farmington Hills, MI, 2009.
Sarah Lincoln
Der fehlende Zugang zu Gesundheit von Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus
Schätzungen zufolge leben mehrere hunderttausend Menschen ohne Aufenthaltstitel oder Duldung in Deutschland, viele von ihnen schon seit Jahren oder Jahrzehnten. Diese Menschen arbeiten z.B. in der Pflege, der Reinigung, der Gastronomie und dem Baugewerbe und schicken ihre Kinder zur Schule. Sie haben jedoch keinen Zugang zur regulären Gesundheitsversorgung. Auf dem Papier besteht zwar auch für Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus ein Anspruch auf eine gesundheitliche Mindestversorgung (§ 1 Absatz 1 Nr. 5 i.V.m. §§ 4, 6 AsylbLG). Doch wenn sie sich an das Sozialamt wenden, um den dafür erforderlichen Behandlungsschein zu erhalten, droht ihnen die Abschiebung. Das Sozialamt ist, wie andere staatliche Stellen auch, nach § 87 Absatz 2 Satz 1 Nr. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) dazu verpflichtet, Menschen ohne Papiere an die zuständige Ausländerbehörde zu melden. Die Ausländerbehörde leitet dann in Zusammenarbeit mit der Polizei die Abschiebung in die Wege. Aus Angst um ihre Existenz meiden die Betroffenen den Gang zu Ärzt*innen, auch bei lebensbedrohlichen Erkrankungen. Auch hier aufwachsende Kinder von Menschen ohne Aufenthaltstitel sind von der medizinischen Versorgung ausgeschlossen.
Um diese eklatante Versorgungslücke zu schließen, schlossen sich im Mai 2021 über 80 Organisationen, darunter Wohlfahrtsverbände, Menschenrechtsorganisationen und Migrant*innen-Selbstorganisationen in der Kampagne »GleichBeHandeln« zusammen und forderten die Abschaffung der Meldepflicht im Gesundheitswesen (Gleichbehandeln.de). Einen ersten Erfolg erzielte die Kampagne bereits: Im Koalitionsvertrag der neuen Ampelregierung ist vereinbart, dass die Meldepflichten von Menschen ohne Papiere überarbeitet werden sollen, »damit Kranke nicht davon abgehalten werden, sich behandeln zu lassen« (S. 139). Dies ist auch aus rechtlicher Perspektive dringend erforderlich, denn die Meldepflicht im Gesundheitswesen verletzt das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum und ist ein unverhältnismäßiger Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung.
Seit ihrer Einführung ist die Meldepflicht scharfer Kritik ausgesetzt. Denn anders als beabsichtigt führt die Meldepflicht nicht zur Entdeckung und Abschiebung von Menschen ohne Aufenthaltsrecht, sondern entfaltet in erster Linie eine abschreckende Wirkung. Menschen ohne Papiere meiden jeglichen Behördenkontakt. Aus Angst um ihre Existenz verzichten sie darauf, ihren Arbeitslohn einzuklagen, Körperverletzungen bei der Polizei anzuzeigen und eben auch darauf, die ihnen zustehende medizinische Basisversorgung in Anspruch zu nehmen. Das Bundesinnenministerium kam nach einer Umfrage in den Ländern 2007 zu dem Ergebnis, dass es in der Praxis kaum zu Datenübermittlungen an die Ausländerbehörde durch öffentliche Stellen kommt. Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen bestätigen, dass Menschen ohne Papiere wegen der Meldepflicht keine Gesundheitsleistungen bei der Sozialbehörde beantragen.
2009 einigte sich die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung darauf, das Aufenthaltsgesetz dahingehend zu ändern, dass zumindest Schulen und Kindergärten von der Übermittlungspflicht ausgenommen sind. Seitdem können Eltern ohne geregelten Aufenthaltsstatus ihre Kinder zur Schule schicken. Weitergehende Reformvorschläge der Oppositionsfraktionen, die Ausnahmen für Sozialbehörden, Arbeitsgerichte und Jugendämter vorsahen, scheiterten bislang. Um Menschen in Not zu helfen, haben zivilgesellschaftliche Organisationen in vielen Städten lokale medizinische Anlaufstellen für Personen ohne Krankenversicherung aufgebaut. In einigen Bundesländern und Kommunen, etwa in Thüringen, Berlin, Hamburg und München, gibt es auch staatlich organisierte und finanzierte Hilfsangebote, die eine anonyme medizinische Versorgung für Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus ermöglichen. Gegenüber den gesetzlich vorgesehenen Gesundheitsleistungen nach dem AsylbLG haben diese humanitären Hilfsprojekte jedoch deutliche Nachteile, da sie nicht flächendeckend existieren, ihre Finanzierung befristet und der Umfang der Leistungen begrenzt ist.
Im Grundgesetz ist das Recht auf Gesundheitsversorgung nicht ausdrücklich normiert. Es existiert dennoch, und zwar als Bestandteil des Rechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Dieses Grundrecht leitete das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 2010 aus der Menschenwürde in Artikel 1 Absatz 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip in Artikel 20 Absatz 1 GG ab. Mehrfach hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass das Existenzminimum auch die Gesundheit umfasst. 2019