Die Autorin
Angela L. Forster lebt und arbeitet im Hamburger Süden, deren bezaubernde Landschaft mit der Nähe zum Alten Land und der Lüneburger Heide sie immer wieder zu neuen Geschichten inspiriert.
Das Buch
An einem See in Hamburg wird ein toter Junge gefunden. Sein Bauch ist aufgeschnitten, die Organe fehlen. Anscheinend wurden sie professionell entfernt. Aber niemand scheint den Jungen zu vermissen. Hauptkommissarin Petra Taler, gerade erst von München in den Norden gezogen, hat keine Spur. Doch dann wird in einem Wald eine weitere Leiche entdeckt: Der Tote arbeitete für das »Ferienheim Sonnenschein«, in dem arme Kinder aus Osteuropa ihre Ferien verbringen können. Geleitet wird es vom ehemaligen Starchirurgen Karsten Reckmann. Petra stattet ihm einen Besuch in seiner Einrichtung ab. Es ist gespenstisch ruhig auf dem Anwesen. Nicht ein einziges Kind ist zu sehen …
Midnight. Seite für Seite Nervenkitzel.
Angela L. Forster
Opfergabe
Kriminalroman
Midnight by Ullstein
midnight.ullstein.de
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Originalausgabe bei Midnight.
Midnight ist ein Digitalverlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
April 2016 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016
Umschlaggestaltung:
ZERO Werbeagentur, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
ISBN 978-3-95819-071-9
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Am Teichufer
Ein dunkelgrüner Transporter mit seitlicher Aufschrift Ferienheim Sonnenschein bog von Harburg-Stadt in die Maretstraße ein und rollte auf den Parkplatz Gotthelfsweg am Außenmühlenteich. Um das Platzrondell, am geschlossenen Kiosk und der Buskehre vorbei, stoppte der Fahrer zehn Meter weiter auf linker Seite.
Er kurbelte das Seitenfenster herunter.
Eine drückende Schwüle lag in der Luft. Über dem Teich glomm ein zitternder Schein auf und ließ das Wasser und die Bäume aufleuchten.
Er sah sich um.
Der durch das Rondell geteilte Parkplatz war vollständig von Sträuchern umgeben und somit vor Blicken aus den Einzelhäusern am Kapellenweg und aus den Lauben des Gartenbauvereins Phoenix e. V. geschützt.
Niemand würde auf ihn achten.
Er war sicher.
Der Mann hinter dem Steuer trug einen dunkelblauen Anzug mit feinen Nadelstreifen, ein weißes Hemd und eine elegante gestreifte graue Krawatte. Sein rasierter Kopf ließ ihn nicht aggressiv, sondern unauffällig und seriös wie einen Geschäftsmann auf Reisen wirken.
Am Anfang der Parkplatzeinfahrt stand ein Lkw mit belgischem Kennzeichen. Die zugezogenen Gardinen der Fahrerkabine signalisierten Nachtpause. Drei Plätze weiter parkte ein Golf. Gelber Pollenstaub übersäte die Karosserie. In der Kehre schräg gegenüber, an der Bushaltestelle, wartete ein Busfahrer auf letzte Gäste.
Einen kurzen Augenblick dachte der Mann im Transporter an seine Eltern, die zwei jüngeren Geschwister. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem zu, was hinter den Sitzen, verpackt in blauer Plastikfolie, lag und was er unbedingt loswerden wollte.
Ein Junge.
Das Alter und den Namen kannte er nicht, wurde ihm nicht gesagt. Ein Waldkind aus den rumänischen Waldkarpaten. Seit zwei Tagen hatte er in Deutschland gelebt, jetzt war er tot.
Seit einer Stunde.
Seine Aufgabe war es, ihn zu Wulf Brenner ins Hittfelder Krankenhaus und dortige Krematorium zu bringen. Dafür wurde er bezahlt. Immer bezahlt, übernahm er Fahrten dieser Art.
»Chef, ich brauche zwanzigtausend Euro Vorschuss«, hatte er gesagt und sich ein abfälliges Grinsen eingefangen.
»Wofür brauchst du zwanzigtausend Scheine?«
»Für die Familie. Ich muss meinen Eltern helfen. Mein Vater ist arbeitslos und meine Mutter …« Weiter war er nicht gekommen.
»Was interessiert mich deine Mischpoke. Du kassierst genug. Wenn du den ganzen Schotter in der Muckibude und auf dem Kiez verprasst, hast du selber Schuld.«
»Chef, nur ausnahmsweise, ich werde …«
»Gar nichts wirst du. Entweder machst du deine Arbeit oder du kannst verschwinden. Von deiner Sorte lungern genug Loser auf der Straße herum, die sich nach so einem Job die Finger lecken.«
Es war nicht gut gelaufen. Er hatte ihn nicht ausreden lassen. Nicht einmal ansatzweise.
Der Mann im Transporter sah auf den Bus, hörte das Zischen der Einstiegstür. Der fassbäuchige Fahrer eilte aus dem Bus, drehte den Kopf nach links und rechts, tat drei weitere Schritte auf den Bürgersteig, griff sich in den Schritt und pinkelte ins nahe Gebüsch. Dann schüttelte er die rechte Hand und stopfte alles, was in die Hose gehörte, wieder hinein. Er hob das eine und dann das andere Bein, wischte die Decksohle der Schuhe in Wadenhöhe am Jeansstoff sauber, schlurfte zum leeren Bus und ließ den Motor an.
Der Mann im Anzug duckte sich und wartete, bis der Bus erst um die Kurve und dann an dem Transporter vorbeifuhr. Er schielte zum Armaturenbrett. zweiundzwanzig Uhr vierundvierzig. Auf die Minute.
Ein zweiter Lichtstrahl verwandelte die Nacht zum Tag.
Er begann zu zählen: »Eins, zwei, drei«, dann krachte ein Donnerschlag vom Himmel und verlor sich grollend in der Ferne. Drei Sekunden, ein Kilometer.
Ein kühler Luftstoß fuhr über sein Gesicht. Er startete den Motor und lenkte den Transporter rückwärts den schmalen Sandweg hinter der Haltestelle hinunter zum Holzsteg.
Es war die perfekte Kulisse, um Aufmerksamkeit zu erregen. In ein paar Stunden würde es hell, stürmten die Morgenschwimmer das Hallenbad Midsommerland. Jogger drehten ihre Runden um den See, und Kinder buddelten im Sand oder turnten auf dem Holzschiff auf dem eingezäunten Spielplatz.
Hier würde der Junge am Morgen schnell gefunden, die Polizei alarmiert. Die Presse und das regionale Fernsehen würden über den See herfallen wie fette blauäugige Fleischfliegen über Schlachtabfälle.
Sein Chef käme ins Schwitzen, so wollte er es.
Er war am Zug.
Es begann zu regnen. Wie ein Steinschlag prasselte der Regen auf das Autodach, und unaufhörliche Blitze tauchten den Himmel in ein Feuerwerk. Das Gewitter stand mitten über dem See. Er stieg aus, öffnete die Schiebetür, zerrte das blaue Paket auf die Schwellerleiste, nahm es auf den Arm und trug es die zehn Schritte zum Holzsteg. Wie leicht es war, wie eine Tüte Federn, eine Kopfkissenfüllung, auf der er die Nacht verbrachte.
Neben den Schilfrohren ließ er das Bündel ins knietiefe Wasser gleiten. Er zog das Taschenmesser aus der
Hosentasche, durchschnitt die Seilschnüre und entfernte durch vorsichtiges Ziehen die Folie von dem leblosen Körper. Blut tropfte auf den Steg, sickerte als Gemisch mit dem Regen zwischen den Holzbohlen in das Seewasser.
Die Folie und die Schnüre stopfte er in eine Plastiktüte. Irgendwo in Harburg, auf dem Weg nach Hause zur Familie, würde er sie in einem Mülleimer entsorgen.
Tief atmete er durch. Regen lief über sein Gesicht, er war nass bis auf die Haut, doch er stand da und sah auf den Jungen, als wolle er beten.
Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn herumfahren. Erst leise, dann lauter, übertönte es den Donner und den Regen, der durch die Bäume rauschte und auf den See eintrommelte. Eine Gestalt unter einem Schirm, kaum vier Meter entfernt, lief auf der Straße zum Parkplatz.
Klack, klack, klack.
Er musste hier weg.
Sofort.
Einen letzten Blick auf den Jungen werfend, sagte er: »Entschuldige.«
Er stieg in den Transporter, wischte sich mit den Händen den Regen aus dem Gesicht, schnallte sich an und startete den Motor. Vorsichtig gab er Gas und fuhr den Sandweg wieder hoch bis zur Buskehre, raus aus dem Rondell und von dort weiter geradeaus bis auf die Hauptstraße Richtung Harburg-Stadtmitte.
Die Scheibenwischer quietschten über die Scheibe, wuschen allen Dreck in den Rinnstein.
Vorne beim Pizzaservice könnte er anhalten und eine Familienpizza mitnehmen. Thunfisch für Mama, sie gönnte ihn sich viel zu selten. Papa mochte Hawaii, mehr Ananas als Schinken, und für die Geschwister eine Ecke mit Salami.
Hauptkommissarin Petra Taler klappte das Handy zusammen und steckte es zu Schlüssel und Lakritz in die Hosentasche. Salzige Lakritzschiffchen, die sie letztes Jahr im Dezember in einem Münchner Bonbongeschäft gekauft und als Vorrat nach Hamburg ins Alte Land mitgenommen hatte.
An den Küchentürrahmen gelehnt beobachtete sie, wie ein junger Sanitäter Horsts Kopf mit Mullverband versorgte, als fertige er sein Meisterstück. Bis Ende der Woche müsse der Verband bleiben, meinte er, auf Horst weisend, der knurrte wie Boxermädchen Bonny, die mit Petras Perle Elli Finkemann, so nannte man hier im Norden die Haushälterin, durch die Tür des Jorker Bauernhauses stürmte.
»Was passiert hier?«, rief Elli aufgebracht. Ein harmloser Ausdruck ihres dreiundsechzigjährigen, überschäumenden Temperaments.
»Unser Fakir erzählt. Ich muss los, Staatsanwalt Lüdersen wartet. Es gibt Arbeit in Harburg an der Außenmühle«, antwortete Petra, warf noch einen schnellen Blick auf Horst, den sie vor ein paar Tagen obdachlos am Harburger Bahnhof aufgelesen und dem sie im Gegenzug für ein paar Infos über einen Verdächtigen für eine Nacht ein warmes Bett versprochen hatte. Inzwischen war aus der einen Nacht des Obdachlosen ein festes Untermietverhältnis geworden. Ein seliges Arrangement, wie Petra fand, da Horst als ehemaliger Gärtner Glanzleistungen auf ihrer verwilderten Obstplantage vollbrachte.
Sie schlitterte die glitschige Rasenfläche entlang, startete den Käfer und lenkte ihn die Einfahrt hinunter, wo die vor zwei Wochen noch kahlen Kirschbäume erste weiße Knospen zeigten.
Der Stockrosenstrauch an der linken Mauer reckte duftende rosa Blütenköpfe in den Himmel, und unter dem knorrigen alten Baum, der sonst weder Blätter noch Blüten zeigte, hatte sich ein Teppich aus winzigen, buttergelben, sternförmigen Blüten ausgebreitet.
Petra fuhr über die Brücke der Este, eines schmalen Nebenflusses der Elbe, und spürte, wie ihre Arme und Beine zu zittern begannen. Sie lenkte an den Straßenrand, schaltete den Warnblinker ein und den Motor aus. Die Stirn zwischen den Händen aufs Lenkrad gelegt, schloss sie die Augen. Ihr Herzschlag dröhnte in ihrer Brust wie eine Dampframme, und sie fing an zu schluchzen.
Die Festnahme der Mörder der Tierarztgattin Regine Carlsen, der Überfall in ihrem Haus, alles war vor knapp einer Stunde geschehen und setzte ihr mehr zu, als sie sich eingestand. Zudem rutschte das freie Wochenende nach dem Anruf von Staatsanwalt Lüdersen ebenfalls in weite Ferne.
Sie ging über ihre Grenzen.
Wieder einmal.
Im Januar, vor drei Monaten, hatte sie München, ihre Geburtsstadt, verlassen und war in das von ihren Großeltern vererbte Bauernhaus in den Jorker Randbezirk Königreich im Alten Land gezogen.
Ein efeubewachsenes, verwinkeltes und marodes Backsteinhaus, wo sie mit Oma in der Küche am alten Kohleofen gestanden, Marmelade gekocht, Kirschen, Pflaumen und Walnüsse auf der Plantage gepflückt, oder mit Opa im ersten Stock auf dem Klavierschemel gesessen hatte.
In diesen Ferien war Petra von ihren Großeltern immer auf eine Art umsorgt worden, wie sie es von ihren Eltern selten kannte.
Im Handschuhfach wühlte sie nach einer Musikkassette, Meat Loaf, Pink Floyd, Status Quo, dazwischen ruhigere Klänge von Claire Hamilton – My Wild Irish Rose. Ob der von Friedrichsen, ihrem Chef, angebotene Dienstwagen einen CD-Spieler besaß? Sie drückte die Kassette ins Fach, atmete tief durch, startete den Motor und gab Gas.
Durch die Apfelplantagen zog der Frühnebel und wickelte die mannshohen Bäume in einen seidigen Mantel. In zwei, drei Wochen, wenn die Kirschblüte begann, überzog das Alte Land ein weißes Blütenmeer, bevölkerten Touristen und Urlauber mit Rucksäcken und Wanderstöcken die Deiche rund um die Elbregion.
Über die B 73 lenkte Petra den Käfer, den sie den Blauen nannte, Richtung Harburg. Hinter der Phönix-Gummifabrik mit den unansehnlichen, grauen, riesigen Gebäuden und Schornsteinen bog sie rechts in die Hohe Straße und fuhr weiter bis zur Kreuzung Maretstraße. Die Harburger Außenmühle, eine Neunzig-Hektar-Parkanlage mit See, Spielplätzen, Joggerlaufstrecken, Restaurant und Bootshaus mit Tretboot- und Kanuverleih, lag als Naherholungsgebiet mitten in der Stadt.
Bereits als sie das Kopfsteinpflaster hinunterrollte, waren die Menschenansammlung, die sich hinter der rot-weißen Trassierbandsperre drängte, und die Menge an zivilen und Einsatzfahrzeugen, die am Seeufer standen, nicht zu übersehen.
Petra parkte den Wagen neben einem Streifenwagen am Ufer auf der Straße Außenmühlendamm Ecke Gotthelfsweg.
Staatsanwalt Jan Maria Lorenzo Lüdersen lehnte mit dem Rücken am hüfthohen Eisengeländer neben einem Joggerpärchen, das Dehnübungen vollzog. Er hatte die Arme über der Brust gekreuzt und lächelte sein charmantes Lächeln. Zu selbstsicher für Petras Geschmack, aber durchaus offen und warmherzig. Es hieß, seine Gegner im Gerichtssaal zögen den Kopf ein, sobald er den Raum beträte.
»Guten Morgen, Frau Taler. Nochmals herzliche Gratulation zur Beförderung.« Lüdersen löste sich vom Geländer und griff Petras Hände, die, nicht so stark wie zuvor, zu zittern begannen.
»Danke«, sagte sie, schob die Hände zurück in die Taschen der Wildlederjacke. »Wollen wir?« Sie nickte zu Kowalski und seiner Mannschaft, die dreißig Meter weiter an einem Bootsanlegesteg in weißen Anzügen auf Tretbooten hin und her hüpften und geschäftig mit Pinseln und Klebefolien hantierten.
»Bitte.« Lüdersen gab Petra den Weg frei und folgte ihr wie ein Schatten.
Ein unbehagliches Gefühl überfiel sie. Lüdersens Blick auf ihrem Rücken, ihren Haaren, ihrer Figur zu spüren, machte sie nervös. Für einen Moment vergaß sie, weshalb sie hier war.
»Na, da haben wir ja die frischgebackene Hauptkommissarin«, krakeelte ihr Irenäus Kowalski, der Leiter der Spurensicherung, entgegen. Er balancierte auf der Sitzbank eines weißen Kunststoffschwanes, und sein Gesicht überzog das Grinsen, von dem Petra gehofft hatte, es nicht so schnell wiederzusehen. »Was für ein Zufall, dass sich unsere Wege erneut kreuzen, was?«
»Der Zufall stellt bei uns den Wecker aus.« Petra verspürte ein unbändiges Verlangen, gegen den Schwan zu treten. »Wo ist der Tote?«
Mit Sprühdose und Pinsel in der Hand fuchtelte Kowalski in der Luft. »Da hinten irgendwo«, antwortete er.
Wie immer missfiel ihr die Antwort. Warum konnte er nicht einmal präzise Angaben machen?
»Wer fand das Opfer?«, fragte Petra missgelaunt.
Kowalski nickte zu einer Gruppe Jogger neben dem Spielplatz, die mit Wolldecken über den Schultern aussahen, als ständen sie dort seit Längerem. Kurz abwägend, welchen Schritt er als Nächstes auf der handtuchbreiten Sitzbank vornahm, sagte er: »Die da.«
Petra verwarf den Gedanken an Kowalskis Seebad und steuerte vorbei an der Meute Presseschreiberlinge, den surrenden Kameras, Hausbewohnern der nahen Einzelhaussiedlung und einer Gruppe Laubenpiepern, die mit Rechen und Schaufeln bewaffnet über das Absperrband gafften. Was gab es um elf Uhr vormittags auch anderes zu tun, als grässlich zugerichtete Leichen zu betrachten.
Hinzu kam, dass sich das Wetter von Minute zu Minute besserte. Der Nordwestwind verzog sich, und der peitschende Regen, der die Gullydeckel in der letzten Nacht zum Tanzen aufgefordert hatte, beruhigte sich. Alles im allem flaggte über Harburg der Frühling und verwandelte diesen Morgen in einen sonnigen Montagmorgen.
Wäre da nicht die Kinderleiche, der sie sich Schritt für Schritt näherte.
Was einmal ein fröhlich lachendes Kind gewesen war, lag unbekleidet, mit auseinanderklaffender Bauchdecke, aus der eine braunrote Brühe schwappte, zwischen Schilf und Morast am Ufer des Außenmühlenteiches, halb versteckt unter einem Holzsteg.
»Moin, Frau Taler. Moin, Jan. Wie geht’s?«, grüßte Rechtsmediziner Heiner Jensen, der neben Oberkommissar Nils Seefeld in den weißen Schutzanzug eingepackt am Uferrand hockte.
Lüdersen nickte und hob wortlos die Hand. Petras Blick huschte zu Jensen und zu Lüdersen. Bevor sie Zeit hatte, darüber nachzudenken, woher sich die Männer kannten, sagte Jensen: »Schöner Schiet, was? Ihren Einstieg im Norden haben Sie sich wohl ruhiger vorgestellt. Gleich zwei Fälle hintereinander, und das in einer Woche. So viel Bewegung gab’s an unserer schönen, stillen Süderelbe die letzten zehn Jahre nicht.«
»Morgen, Jensen.« Petra überging die Bemerkung. Und dass es an der Süderelbe immer friedlich zuging, davon konnte auch keine Rede sein. Sie hatte sich schlaugemacht. »Wie sieht's aus, was können Sie uns sagen?«
»Er ist tot.« Jensen grinste.
»Was?«
»War ein Witz«, antwortete Jensen.
»Ich liebe saupreußische Witze«, entgegnete Petra ohne jeder Mimik.
»Also«, sagte Jensen. Er wirkte verwirrt. »Das Kind ist zwischen zehn und zwölf Jahre alt, unterernährt und ausgeräumt bis auf Magen und Darm.« Er zog die Oberlippe an die Nase. »Ein Auge fehlt, ist ausgehackt.« Sein Nicken galt einer Schar rauflustiger Möwen, die vier Meter entfernt unruhig auf und ab hüpfend auf Frühstück hofften. »Tot ist er vermutlich seit sieben Stunden. Zudem erkenne ich kaukasische Gesichtszüge. Er ist Russe oder kommt aus einem osteuropäischen Land. Aber um das genau zu bestimmen, werde ich zusätzlich eine Isotopenanalyse anfordern. Und noch was: Er ist aufgeschnippelt worden. Exakte Angaben gibt’s erst morgen früh.«
»Ich denke, das waren die Vögel?« Petra folgte Jensens Zeigefinger, der über den Körper des Kindes streifte, bei jeder ausgefransten Fleischvertiefung innehielt, als markierte er die Strecke einer Wanderkarte.
»Die Löcher, die sich über den Körper verteilen, ja.« Er nickte. »Aber nicht der Bauch. Das gibt’s nur bei Hitchcock. Und außer Magen und Darm«, er griff aus dem Metallkoffer ein spatelähnliches Teil und rührte im wässrigen Bauchraum des Jungen, »fehlen alle Organe.«
»Was heißt fehlen alle Organe?« In ihrem Magen spürte Petra dieses untrügliche Gefühl, das immer dann auftauchte, wenn sich Frühstück, Mittag und Abendbrot vereinten und aufwärts strebten.
»Na, hier.« Jensen schob den Spatel in eine transparente Beweistüte, in der inzwischen Instrumente lagen, die in einer Küchenschublade zu vermuten wären. Mit erneut gezieltem Griff zog er ein Zangenbesteck aus dem Koffer und raffte eine Hälfte der klaffenden Bauchdecke wie eine Gardine seitwärts. »Sehen Sie, ist kaum was drin.«
Dunkelrote Fleischstücke schwammen im Bauchraum wie Fische im Aquarium. »Und weiter.« Petra verdrängte den Gedanken an ihren rebellierenden Magen. Tote Erwachsene waren das eine, tote Kinder gingen ihr mehr als ans Gemüt.
»Hier werkelte ein krankes Schwein, das wusste, wo das Skalpell anzusetzen ist.« Jensen ließ die Bauchdecke zurückschnappen wie ein Kofferschloss.
»Und das sich beeilte, den Jungen loszuwerden«, setzte Petra nach und wandte den Blick zum See. Ein Schwanenpaar näherte sich gemächlich dem Schilfufer, um hungrig ein paar Brotkrumen zu erwischen, die trotz Fütterverbot immer einige Seebesucher verteilten. »Ich frage mich nur, warum hier? Jogger, Laubenpieper, Spaziergänger, Radfahrer, Schwimmhallenbesucher. Die Gegend ist bekannt für ihren regen Publikumsverkehr. Der See ist ein Ausflugsziel.«
Jensen zuckte die Achseln. »Das herauszufinden, Kollegin, überlasse ich Ihnen. Den Rest, wie gesagt, morgen früh, vorausgesetzt, ich kann den kleinen Mann mitnehmen.«
Petra machte eine Handbewegung, und Doktor Heiner Jensen winkte drei Männern in schwarzen Anzügen, die geduldig abseits der Schaulustigen mit einem Metallsarg bereitgestanden und auf das Zeichen zum Abtransport gewartet hatten.
Als sie mit Lüdersen und Seefeld über den Sandweg auf die Joggerrunde zusteuerte, kam ihnen Oberkommissar Axel Berger entgegen.
»Morgen, Frau Taler. Glückwunsch«, rief er, bevor er die Zähne in ein Frikadellenbrötchen grub. Er kaute, schnell und gründlich. »Sind die Reste von Richards Abschiedsbüfett aus der Kantine, muss ja nicht alles umkommen«, fügte er hinzu, streckte Lüdersen die linke Hand entgegen, die dieser zögernd nahm.
»Danke«, sagte Petra kurz. Ihr Blick lag auf dem Brötchen, aus dem die Frikadelle herausquoll, wie … Genug, weiter wollte sie nicht denken.
Mit den Männern im Rücken schritt sie zehn Meter rechts das Seeufer entlang bis zur Joggerrunde. Zwei Läufer saßen auf einer Bank aus gezimmerten Baumstammhälften, drei weitere Läufer standen seitlich daneben.
»Guten Morgen. Mein Name ist Petra Taler, Kripo Harburg, meine Kollegen Seefeld und Berger, Herr Staatsanwalt Lüdersen«, stellte Petra sich und die Männer vor. Ihr Blick glitt über die Gesichter der fünf Jogger vor ihr. »Wie ich hörte, fand einer von Ihnen den toten Jungen und verständigte die Polizei.« Den Rücken zum Kinderspielplatz gedreht, wartete sie auf eine Antwort der Läufer.
»Das war ich«, erwiderte einer der Männer mit flatterndem Blick. Als trüge er eine schwere Last auf dem Rücken, erhob er sich von der Bank, nahm die Wolldecke von den Schultern und legte diese über die Holzlehne.
»Wie heißen Sie?«
»Holger, Holger Schramm.«
»Erzählen Sie, Herr Schramm, wie kam es dazu, dass Sie den Jungen fanden?«
»Ich jogge. Jeden Morgen laufe ich zwei- oder auch dreimal, wenn ich es schaffe, um den Teich. Ich trainiere für den Hamburg Marathon. Heute Morgen war ich nicht richtig in Form. Ich wollte mich kurz ausruhen und setzte mich auf die zweite Bank … da, da vorne am Steg beim Schilf.« Holger Schramm hob den Arm und wies in die Richtung, wo Heiner Jensen in ein munteres Gespräch mit den Spusi-Kollegen vertieft war. »Da hab ich ihn gesehen. Erst dachte ich, dass Müll im See liegt. Manchmal wird hier ja unmögliches Zeug reingeschmissen«, sagte er kopfschüttelnd, »aber als ich dichter ran bin, sah ich den Kopf, und dann … schrecklich.«
Petra nickte. »Und weiter?«, forderte sie den Läufer auf, der trotz seines Fundes mit gefasster Stimme sprach.
»Na ja, ich bat ihn, anzuhalten.« Schramm nickte einem gegenüber stehenden Jogger zu. »Wir hielten einen weiteren Jogger an und …«
»Und so weiter und so weiter, bis Sie zu fünft waren, dann sind Sie am Tatort rumgelatscht und haben die Leiche betrachtet, ich verstehe«, wandte Petra grimmig ein. »Kam keiner von Ihnen auf die Idee, die Polizei anzurufen?«
Kopfschütteln.
»Nun gut«, sagte Petra. Wenn Spuren am Tatort gewesen waren, die der Regen der letzten Nacht nicht zunichtegemacht hatte, dann hatten das die fünf Sportbegeisterten erledigt. Doch im Grunde konnte sie ihnen ihre Unachtsamkeit nicht verübeln. Der Schock musste ihnen beim Anblick des toten Kindes in die Glieder gefahren sein. Und wer denkt bei so einem grausamen Fund rational? »Hat jemand von Ihnen sonst irgendetwas beobachtet? Oder sahen Sie eine weitere Person am Tatort?«
Wieder Kopfschütteln.
»Mein Kollege wird Ihre Personalien aufnehmen, meine Herren. Fürs Erste war es das von meiner Seite. Ich danke Ihnen.«
Petra nickte und zog Berger beiseite. »Hören Sie, Berger, kümmern Sie sich um die Personalien und um den … Sie wissen schon, ich meine, falls die Runde psychologische Betreuung braucht. Und schnappen Sie sich Seefeld und zwei Kollegen, und machen Sie da hinten bei den Neugierigen weiter, und lassen Sie mir keinen aus«, sagte Petra und meinte die Menschenmenge, die hinter dem Kinderspielplatz wie ein Bienenschwarm an der Wabe am Absperrband klebte und jede Kleinigkeit auffing.
Handys klickten und wurden über Köpfe und Schultern hinweg in die Luft gehalten, weiße LEDs blitzten auf, um Bilder und Videos zu schießen, um damit drei Minuten später Instagram, Facebook oder YouTube zu füttern. Die Menge wuchs stetig an, und Lehmann und Weber, zwei Kollegen von der Wache, hatten Mühe, die aufgeregte und laute Menge zurückzuhalten.
Das »Hallo«, das hinter ihrem Rücken sirenenhaft aufheulte, gehörte Kowalski, der mit ausgebreiteten Armen wie eine Primaballerina von der Schwanenbank turnte. »Hab was für die frischgebackene Hauptkommissarin.« Schnaufend, einen transparenten Beutel in der Luft schwenkend, als gäbe er einer Fahne den nötigen Aufschwung, eilte er Petra mit kurzen Trippelschritten entgegen.
Irenäus Kowalski, als »Irma« auf dem Revier bekannt, übte den Job bei der Spurensicherung seit zwanzig Jahren aus. Er galt als zuverlässig und gründlich, gar penibel. Petra schloss sich der Meinung schwerlich an.
»Hier«, sagte er mit dem üblichen spöttischen Grinsen. Er hielt den Beutel, in dem ein lindgrünes eiförmiges Teil schwamm, vor Petras Nase. »Hab ich zwischen den Schilfrohren rausgefischt.«
»Und was soll das sein?« Petra sah auf Kowalski hinab, ohne sich den Ekel, der erneut in ihr hochstieg, anmerken zu lassen.
»Eine Vesica fellea, kurz Galle genannt, wobei dieses Teil«, schaltete sich Jensen ein und nickte zum Beutel, »nur die Gallenblase ist, worin die Galle gebildet und durch Wasserentzug eingedickt wird.« Komplizenhaft blinzelte er zu Petra. »Nehme ich gleich mit, Irma, kriegt der Junge wieder, wenn ich ihn zugenäht habe.« Jensen schnappte sich die Plastiktüte, gönnte Kowalski ein schmunzelndes »Petri Heil«, duckte sich unter dem Absperrband hindurch und ging federnden Schrittes den Sandweg entlang zum Uferweg.
Petra warf Jensen einen Blick hinterher, als der auf einen BMW-SUV zusteuerte. Schwarz, nagelneu.
»Ich könnte ein Frühstück vertragen.«
»Wie bitte?«, hörte sie sich sagen, als die Lampen des Fahrzeuges aufblinkten, begleitet vom Plock, plock der elektronischen Türverriegelung.
»Was halten Sie von Frühstück, Frau Taler?«, wiederholte Lüdersen, dem nicht entgangen war, wohin Petras Blicke schweiften. »Ich kenne da einen …«
»Einen vorzüglichen Koch mit Namen André an der Hamburger Außenalster oder einen teuflischen Italiener unten in Harburg?«, fuhr ihm Petra, nicht ohne eine Spur Ironie in ihrer Stimme, ins Wort. Warum konnte sie bloß ihre Sticheleien nicht lassen? Er gefiel ihr doch. Jan Maria Lorenzo Lüdersen, ein Mann mit italienischen und norwegischen Wurzeln, der sie um gut einen Kopf überragte und aus dunklen Augen ansah, dass sie weiche Knie bekam. Sie erinnerte sich noch an ihr erstes gemeinsames Abendessen, in ihrem Büro, als er einfach aufgetaucht war und wie selbstverständlich bei Emilio, einem italienischen Restaurant in Harburg, Essen für sie beide bestellt hatte. Sie hatte zu viel Frizzantino getrunken, und er hatte ihr zu tief in die Augen gesehen. Doch was war mit der blonden Schönheit, die ihr vor einer Woche auf dem Gerichtsgang begegnet war und die Lüdersen um den Hals fiel? Vielleicht war er ja verheiratet und hatte ein Dutzend Kinder. Als Italiener, selbst als Halbitaliener, war alles möglich.
»Nein, heute Morgen dachte ich an ein nettes Waldcafé am Neugrabener Naturschutzgebiet.« Lüdersen holte Petra an den See zurück und schenkte ihr ein elektrisierendes Lächeln.
»Tja, Herr Staatsanwalt, das heben wir uns auf, bis der Fall abgeschlossen ist.«
»So weit waren wir schon.«
»Beim Frühstück?«
»Beim Verschieben, bis der …«
Vorschnell nahm sie Lüdersen erneut das Wort aus dem Mund. »Na, dann kennen Sie ja meine Antwort.« Sie reichte Lüdersen die Hand, nickte kurz und eilte Richtung Uferweg Außenmühlendamm zu ihrem Wagen.
Eine Pressemeute hechtete mit Kameras und Mikrofonen hinter ihr her und fragte sie unbeirrt nach dem toten Jungen. Wer war er? Woher kam er? Wer hatte das getan? Die üblichen ›Wsʻ der Journalisten. »Wenn ich das wüsste, Leute, hört ihr es als Erste«, sagte Petra, während sie sich hinter das Lenkrad des Blauen klemmte. Woher die Schreiberlinge bloß wussten, dass es ein Junge war, war ihr ein Rätsel.
Den ganzen Vormittag über hatte sie versucht, mit dem Einbruch in ihrem Haus und dem Fall der toten Tierarztgattin Regine Carlsen klarzukommen. Zu gern hätte sie Lüdersen erzählt, was sie bedrückte. Nur, was würde er von ihr denken, wenn sie ihm erzählte, wie sie sich gerade fühlte? Eine neunundzwanzigjährige Münchnerin, die in den Norden umgesiedelt war und ihm gestand, sie würde gerne jemandem um den Hals fallen, um sich trösten zu lassen. Der alles viel zu viel wurde und die ich einsam fühlte und die weder eine Heldin noch ein Übermensch war.
Das Knistern, das zwischen ihnen immer wieder aufflammte, sobald sie sich begegneten, war ihr nicht entgangen. Und manchmal verstand sie sich selbst nicht. Warum schickte sie Lüdersen nur immer wieder in die Wüste, obwohl sie doch seine Nähe genoss?
Sie sollte sich in den Hintern treten.
In letzter Zeit erlebte sie häufig dieses Wechselbad der Gefühle. Auf der Arbeit die knallharte Polizistin, vor der sich alle duckten und die keinerlei Gefühle zeigte und zu Hause in ihren vier Wänden einen Sturzbach an Tränen losließ. Warum war sie nur emotional so aufgewühlt?
Die Sonne verzog sich hinter einer wogenden Wolkendecke. Leichter Nieselregen setzte ein. Die zusammengeklebten Menschentrauben lösten sich, und die Pressemeute schulterte Kameraaufbauten und lud diese eiligst in Kofferräume, bevor sie der nächste Wolkenbruch überraschte. Jogger drehten altbekannte Runden, Nordic-Walking-Begeisterte klapperten mit Stöcken. Jeder verfiel in alltäglichen Trott, verdrängte das Geschehene mit dem Pol der Alltäglichkeit.
Axel Berger saß bei Kollege Schneider im Streifenwagen und versorgte sich mit essbarem Nachschub. Petra überlegte, ob sie sich der Futterquelle anschließen sollte, und entschied sich für das Handschuhfach. Meist lagen hier eine Tafel Schokolade, Kekse oder Müsliriegel, heute lag hier nichts. Zumindest nichts, was an Essbares erinnerte.
Sie startete den Motor, nickte den Kollegen zu und lenkte den Käfer aus der Parklücke.
Es war Mittagszeit an diesem Märzmontag in Harburg, der sich nicht für Herbstgewitter oder Frühlingserwachen entschied. Die Sonne blickte ab und zu auf, als müsse sie überlegen, schlafen- oder aufzugehen. Ein Krähenpärchen hüpfte über das Pflaster des Polizeihofs, pickte hier und dort und flog weiter auf das Dach eines Nebengebäudes.
Petra saß an ihrem Schreibtisch, starrte auf den Bildschirm und tippte im Blindflug den Bericht über den toten Jungen an der Außenmühle. Ab und an huschte ihr Blick auf den leeren Schreibtisch gegenüber. Hauptkommissar Richard Winter war vor drei Tagen in den Vorruhestand getreten.
Er fehlte ihr.
Keine maritime Kaffeetasse mit dem Aufdruck Grüße aus Sylt. Kein Schokocroissant, das er morgens um fünf vom Bäcker mitbrachte und bei ihr auf den Schreibtisch legte. Kein amüsiertes Augenbrauenzusammenkneifen, schoss sie fremdartige Theorien in den Raum, bei denen er als erfahrener Polizist sich die Haare raufte. Nur ein leerer Schreibtisch, um den sich Seefeld und Berger stritten, da er neben dem Fenster stand.
Petra griff zur Wasserflasche, trank einen kräftigen Schluck, doch das Bild des aufgeschlitzten Jungen ließ sich nicht hinunterspülen. Jetzt, nach dem toten Kind im Schilf, bekam der See ein anderes Bild, bröckelte die Idylle der Schönheit und Ruhe.
Was hatte Jensen gesagt? Der Junge stammte aus einem osteuropäischen Land. Ihre Geografiekenntnisse waren nie berauschend gewesen. Und je mehr sie ihren Geist in ferne Länder lenkte, umso weiter entfernte er sich. Sie dachte an Lüdersens sanfte Hände, die dunklen, fast schwarzen Augen, das dichte Haar. Wieder hatte sie eine Einladung abgelehnt.
Als Berger ins Büro stürmte und sich mit Befriedigung auf Richards Stuhl niederließ, stand fest, wer den Run um den begehrten Arbeitsplatz am Fenster gewonnen hatte.
Die spärliche, mitgebrachte Ausbeute an Hinweisen, die ihre Kollegen am Seeufer von Spaziergängern, Joggern und Gaffern zusammengetragen hatten, reichte lange nicht aus, um eine vernünftige Grundlage für beginnende Ermittlungsarbeit zu schaffen. Wie auch, laut Auskunft des Rechtsmediziners Heiner Jensen war der Junge in der Nacht ins Schilf geschmissen oder gespült worden. Und da nachts weder Jogger noch Spaziergänger in der Parkanlage und am See unterwegs waren, verwunderte es nicht, dass niemandem etwas Ungewöhnliches aufgefallen war.
Es blieb ihnen nichts anderes übrig als Routineaufgaben, wie Vermisstenmeldungen zu überprüfen, Anwohner zu befragen, die Suche nach der Kleidung wie dem restlichen Innenleben des Jungen auszuweiten.
Um fünfzehn Uhr beorderte Kriminaldirektor Uwe Friedrichsen die Belegschaft zur ersten Sitzungsbesprechung des Falles. Hanne Grundmann, Friedrichsens Sekretärin, meldete, der Chef werde in einer halben Stunde anwesend sein. Petra möge einstweilen beginnen und Sören Ewers, einen neuen Kollegen und Kommissaranwärter, ins Geschehen reinschnuppern lassen. Eine typische Art Friedrichsens, jegliche Form der Arbeit, die er als nieder oder lästig empfand, anderen zuzuschieben.
Petra spürte Ärger über ihren Chef aufkeimen.
In den drei Monaten, die sie im Revier Dienst tat, war sie Direktor Friedrichsen einmal bei ihrer Einführung in die Abteilung begegnet, das zweite Mal war er ihr auf dem Flur in die Arme gerannt und das dritte Mal war er auf dem Weg in die Kantine an ihr vorbei gehetzt. Und hätte sie nicht gewusst, dass es sich um Direktor Friedrichsen gehandelt hatte, hätte sie den hochgewachsenen, schlaksigen Endfünfziger mit dem Fensterputzer verwechselt.
Sören Ewers, ein fröhlicher einundzwanzigjähriger Mann in knallenger, schwarzer Jeans und hellblauem, über der Hose getragenem Hemd, stürmte vor Friedrichsen ins Büro. Die Begeisterung, an einem echten Fall mitarbeiten zu dürfen, hielt er kaum unter Kontrolle, als er meinte: »Das könnten Rechte gewesen sein.«
Ein Ausspruch, der tiefe Runzeln in Friedrichsens Stirn grub und den hohen Haaransatz, samt lichtem Haupthaar, ein paar Zentimeter höher schob. »Na, das wollen wir nicht hoffen.« Sein Stöhnen zeugte von einer Menge Arbeit, die mit so einer Behauptung, wäre sie zutreffend, auf ihn zukäme.
»So abwegig finde ich das nicht«, meldete sich Seefeld zu Wort. »Erinnert euch nur an das Containerdorf der Asylanten in Francop. Der Überfall vor acht Jahren auf die Gruppe Russlanddeutsche. Glatzen prügelten die Eltern eines Jungen halb tot, weil der nicht wusste, was deutsche Grützwurst ist. Ein andermal rissen sie Wäsche von der Leine und wälzten sie im Dreck. Nachts schossen diese Faschisten mit Katapulten Steine gegen Fensterscheiben. Kindern auf dem Siedlungsweg zerstörten sie das Spielzeug, und den Alten klauten sie ihr spärliches Geld. Die Liste der Eingänge ist ellenlang.«
»Sag ich doch«, mischte sich Ewers ein. »Die schlagen zu wegen nichts und wieder nichts.«
»Die Schuldigen erhielten ihre Strafe«, wischte Friedrichsen entgegen aller Aufregung, die mittlerweile im Büro herrschte, Seefelds Worte vom Tisch.
»Nein, Chef. Das ist wie Sand in ein Rattenloch schaufeln, das hört nie auf«, griff Seefeld erneut ein. »Und möglich, diese deutschnationalen Gröler hauten wieder drauf, wussten nicht wohin mit der Leiche und ab damit in den Teich.«
Friedrichsen hob mahnend die Hand. »Ach was, Seefeld, Sie und Ihre Schwarzmalerei. Braune machen sich nicht die Mühe und schlitzen einen Jungen auf. Brandbomben, Prügeleien, Angriffe auf Kneipen, meinetwegen Schutzgeld, alles vorstellbar in Hamburg auf dem Kiez, aber nicht bei uns am Randgebiet der Süderelbe. Nein, Seefeld, lassen Sie mich mit dieser rechtsradikalen Brühe in Ruhe. Ich will und kann da nicht zustimmen.«
Friedrichsen sprach aus, was keiner in diesem Raum hoffte. Denn töteten Neonazis ein Migrantenkind, war das Desaster vorprogrammiert. Und für die Presse und die Öffentlichkeit wäre das ein gefundenes Fressen, um den Hass, der auf beiden Seiten herrschte und auch in den Stadtvierteln der Hamburger Süderelbe aufflammte, erneut in Gang zu bringen.
Friedrichsen warf einen Blick auf die Uhr über der Tür. Der Mann war ständig in Bewegung, wo er sich aufhielt, wusste niemand. Mit seiner bekannt fahrigen Stimme legte er los: »Maretstraße, Baerstraße, Kalischerstraße hinter der Phönix- Gummifabrik ist die Nähe unseres Fundortes, dort beginnen wir mit der Befragung. Irgendwer muss ja einen siebzehnjährigen Ausländer vermissen.«
»Migrantenjungen, Chef, und sieben- bis zehnjährig, laut Jensen«, berichtigte Petra.
»Ja, sag ich doch. Und Sören, du passt gut auf, verstanden?«
»Jawohl, Onkel Uwe.«
Friedrichsen warf zum zweiten Mal einen Blick auf die Uhr. »Ich bin jetzt weg. Sie schaffen das.« Er nickte in die Runde der fünfzehn Kollegen, die am Tisch saßen und ihn erstaunt ansahen. »Ach, Frau Taler, Sie kümmern sich ein bisschen um meinen Spross, ja?« Kriminaldirektor Friedrichsen legte väterlich den Arm auf die Schulter des jungen Mannes, dem diese Geste die Röte der Peinlichkeit ins Gesicht trieb.
Über den Elbstrom in Bullenhausen legte sich der Schleier der Dunkelheit. Nur vereinzelt tönten Nebelhörner von Schiffen, leuchtete ein Signallicht im Fernen, drang Möwengeschrei durch die Stille.
Leora Reckmann hielt eine blondlockige Puppe in einem rosa Kleidchen an ihre Brust gedrückt und starrte aus dem Wintergarten hinaus auf den Strom. Ihre schwarzen Haare, schulterlang, lagen zu einem dichten, glänzenden Knoten gebunden auf dem Oberkopf, und ihre dunklen Augen wirkten ebenso melancholisch wie unbeugsam. Der sandfarbene, taillierte Hosenanzug und die schwarze Satinbluse betonten ihre weiblichen Rundungen, ihr Schmuck fand sich bei Tiffany in New York in der Fifth Avenue.
»Sie kommen in zwei Tagen früh um vier an«, sagte sie. Die letzten Lichtstrahlen des Tages reflektierten ihr Spiegelbild in der Scheibe. »Das Mädchen ist auch dabei.« Sie setzte die Puppe auf das Sofa.
»Sind alle Papiere fertig?« Karsten Reckmann musterte den wohlgeformten Körper seiner Frau. Mit ihren zweiundvierzig Jahren war sie eine äußerst attraktive Frau. Nicht selten schätzte ihr Umfeld sie zehn Jahre jünger.
»Was glaubst du?«, antwortete sie in vorwurfsvollem Tonfall. »Im Gegensatz zu dir kann ich mich auf meine Leute verlassen.«
»Jetzt hör auf, Leora. Es ist doch nicht meine Schuld, dass Flavius plötzlich anfängt, uns mit seiner idiotischen Aktion zu erpressen.« Reckmann schaltete die Hamburger Achtzehn-Uhr-Nachrichten im Fernsehen aus, die vom Kinderfund an der Außenmühle berichteten.
»Du hättest ihm die paar Scheine geben sollen, bevor er den Jungen in den Teich geschmissen hat, wo ihn jeder sofort finden musste.« Leora drehte sich zum Raum hin. »Wir brauchen einen zufriedenen Schieber. Das ist allemal besser, als wenn uns die Bullen am Hals hängen, weil überall tote Kinder rumliegen.«
»Die paar Scheine? Pah! Dass ich nicht lache! Flavius wollte für die Lieferung zwanzigtausend Mäuse. Faselte von Problemen in der Familie.«
»Und? Ausnahmsweise als Bonus wäre es drin gewesen.«
»Spinnst du, Leora? Was meinst du, wie schnell uns Oleg, Igor, Sascha, Constantin und Nicolae mit ihren mitleiderregenden Familiengeschichten ebenso auf die Pelle rücken und auch die Hand aufhalten würden. Nein, kommt nicht infrage. Die kriegen ihren Anteil wie abgemacht, und damit Schluss.«
Leora verschränkte die Arme und legte ihre Hände auf die Oberarme. »Brenner will trotzdem sein Geld«, sagte sie. Ihre rechte Hand rieb über den Arm, als würde sie frieren.
»Wieso? Der Kessel blieb doch kalt.« Reckmanns Augen verengten sich.
»Das ist ihm scheißegal. Er sagt, es war abgemacht, er kriegt eine Lieferung ins Krema. Wir sollen zahlen. Alles andere ist unser Problem.«
»Spinnen jetzt alle auf einmal?« Kopfschüttelnd schritt er zum Bücherregal. Eine Reihe Nestuke-Figuren, angestrahlt von einer Bilderleuchte, standen nebeneinander wie Trophäen auf einem Sideboard aus Jasminholz. Er warf einen schnellen und abfälligen Blick auf Leoras japanische Schnitzereien, die, wie er fand, weder geschmackvoll noch ihr Geld wert waren.
Er tat ihr den Gefallen und erwarb diese Stücke. Es erregte ihn, sie zu verwöhnen. In jeder Hinsicht. Selbst mit diesen abscheulichen, überteuerten Figuren, die sie auf gemeinsamen Asienreisen erstanden. Ein Kontinent, dreckig, ekelhaft heiß und unkultiviert, das ihn abstieß wie die landestypischen Essgewohnheiten. Wer aß Hunde, Katzen und Affenhirn? Wer brauchte den Gallensaft von Bären?
Er gab seinem Rennboot, das am Anlegesteg des Heimgeländes unten im Bootshaus lag, den Vorzug. Reiste in kühle und kultivierte Länder wie Schweden, Norwegen, Finnland, in die Schweiz an den Genfer See oder zum Skifahren nach Kitzbühl, geschäftlich nach Dubai. Letzteres kurz und ungern zur Hitzeperiode.
Reckmann schob die Buchattrappe aus zehn Bänden Goethe zur Seite, tippte eine siebenstellige Zahl auf der Tastatur des Safes und öffnete die Stahltür. Aus dem obersten Safefach griff er ein Bündel Scheine, zog vier aus der Banderole und pfefferte sie auf den Tisch neben das Whiskeyglas. »Zweitausend, mehr kriegt er nicht.« Mit dem Blick streifte er eine Elfenbeinfigur, die neben dem Telefon auf einer ovalen, hühnereigroßen Form thronte und nicht erkennen ließ, ob es sich um einen Fisch oder einen Hund handelte. Er ging zum Telefon, sein fester, herrischer Gang verriet Zorn. Er nahm den Hörer, wählte die Neun und legte wortlos auf.
Zwei Minuten später betrat ein breitschultriger, glatzköpfiger Mann in mitternachtsblauem Anzug das Zimmer. In der Mitte des Raumes blieb er, die Hände vor dem Bauch gekreuzt, stehen.
»Bring den Zaster ins Krema zu Wulf. Sage ihm, und zimmere dir das auch in dein Hirn, lieber Flavius: Übermut tut selten gut. Und wer mich erpressen will, muss früher aufstehen.« Mit einer flüchtigen Handbewegung wies Reckmann dem Mann, der nicht ein Wort gesagt, sondern nur genickt hatte, die Tür. Eine vier Zentimeter lange Tätowierung, eine achtstellige Zíffernreihe, verschwand in der Welle einer Nackenfalte, als der Mann sich umdrehte und Reckmann einen finsteren Blick zuwarf.
Karsten Reckmann schlang die Arme um Leoras Taille und küsste sie auf den Haaransatz. »Und du beruhigst dich wieder. Die Polizei ahnt seit Jahren nichts und erfährt auch in den nächsten Jahren nichts, dafür sorge ich. Denke an unsere Zukunft, wir …« Es klopfte an der Tür, und Reckmann wandte den Blick. »Ja.«
»Dem Jungen geht es nicht gut, und die Eltern fragen …«
»Ich komme gleich«, würgte er mit mahlenden Kieferknochen den Satz der pferdeschwanzblonden Frau im weißen Kittel ab. Er lächelte kurz und verkrampft. Die zwei Reihen perfekter Zähne, zu gerade, als dass alle in seinem Mund gewachsen wären, versteckten nicht, was er dachte.
»Wird die Kleine überleben?« Eine leichte Röte wischte die Strenge aus Leoras Gesicht, und der Anflug eines Lächelns trat auf ihre Lippen.
»Leora!« Karsten Reckmann stöhnte indigniert auf, schob seine Frau unsanft zur Seite und griff zum Glas.
»Ich meine …«
Er unterbrach sie barsch: »Mach du in der Kanzlei deinen Kram und ich im Heim den meinen, und alles klappt wie am Schnürchen. Außerdem, was willst du, du hast gesagt, die Papiere sind vorbereitet.«
Leora Reckmann nickte wortlos und rutschte auf das Ledersofa, neben die Puppe. »Ich dachte nur … bei dem Jungen vorgestern und dem letzte Woche und … und das Mädchen …«
»Was, Leora? Zurück in den Wald kann? Jahre des Hungers, des Wartens auf eine bessere, rosige Zukunft?«
»Verdammt«, setzte Leora wütend an, »meinst du, ich habe vergessen, wie es ist, in solchen Dreckslöchern zu leben? Im Wald, zugedeckt mit Blättern und Laub, die Angst, im Schlaf von wilden Tieren gefressen zu werden. Wunden, die nicht heilen, und nur Pilze und Beeren zwischen den Zähnen.«
Leora griff zur Puppe, als wollte sie sich an ihr festhalten. Erinnerungen gruben sich in ihre Gedanken. Wie ihre Eltern sie mit knapp sechs Jahren und ihren drei Jahre älteren Bruder Juri nahe Schäßburg, im rumänischen Karpatengebirge, in den Wald gebracht und ihrem Schicksal überlassen hatten. »Ich könnte versuchen, Pflegeeltern für sie zu finden. Fünfzigtausend sind drin. Sie ist ein hübsches Mädchen«, sagte Leora und schleuderte sich in die Gegenwart. »Außerdem war abgemacht, dass nie ein Mädchen …«
Wieder fiel ihr Karsten ins Wort: »Abgemacht, abgemacht! Es ist so, wie es ist. Oder glaubst du, wir finden so mir nichts, dir nichts einen neuen Spender, der zu dem da unten passt? Oder hast du vergessen, dass im Souterrain ein siebenjähriger Junge mit Gallengangsatresie liegt, dessen Eltern uns vor drei Tagen einen sechsstelligen Betrag auf den Tisch legten? Seit Monaten steht er auf der offiziellen Warteliste, und bekommt er nicht bald eine neue Leber, überlebt er den achten Geburtstag nicht, und der ist in drei Wochen. Also, was soll die plötzliche Gefühlsduselei? Seit wann bist du so zimperlich?«
Es ging auf zweiundzwanzig Uhr zu. Ein Platzregen erreichte Petra, als sie in den Schotterweg ihres Hauses einbog. Sie bremste so heftig, dass die Steinchen an ihren Blauen spritzten. Mit einem rot blühenden Azaleentopf und einem Geldumschlag, den sie zwischen die Blüten gesteckt hatte, rannte sie ins Haus.
»Hallo, jemand zu Hause?«, rief sie in die Diele. Sie schüttelte den Kopf wie ein nasser Hund und rutschte aus der Jacke.
Elli und Horst saßen im Wohnzimmer auf dem Sofa. Kater Fritzi lag eingekuschelt am Bauch der Boxerhündin Bonny. Auf dem Tisch standen eine Kanne Kräutertee und eine Schale Schokoladenkekse. Sie hatten sich zusammengerauft, alle vier. »Wie geht es Ihnen, Horst?«, fragte Petra und rutschte in den Ohrenbackensessel vor dem Kamin.
»Elli ist eine gute Krankenschwester«, sagte er verlegen lächelnd.
»Und Sie, Frau Finkemann? Wie ich sehe, haben Sie ordentlich geschuftet.«
Das runde Rosenholztischchen stand am altbewährten Platz zwischen den beiden Ohrensesseln. Großmutters und Großvaters Hochzeitsbild zierte wieder den Kaminsims. Die Schubladen des Sideboards und des Vitrinenschranks waren geschlossen und die Scherben des Porzellans verschwunden. Einzig Horsts Mullturban, den er trug wie ein indischer Maharadscha auf Tigerjagd, erinnerte an den morgendlichen Einbruch in ihrem Haus.
»Ich bekam fleißige Hilfe«, erwiderte Elli. Begeistert von den Blüten und aufgehenden blutroten Knospen drehte sie den Blumentopf, den ihr Petra mit süßestem Lächeln und der Hoffnung in die Hand drückte, Elli ließe sich für anfallenden Handwerkerdreck bestechen.
Sie brauchte ihre Perle. Dringender als je zuvor.
Ohne sie versank sie im heillosen Chaos.
Petra schmunzelte, stand auf und verschwand in der Küche. »Will jemand was futtern?«, fragte sie, hörte »Nein« und stürzte sich auf den Kühlschrank. Mit zwei gebutterten Scheiben Schwarzbrot, einem Stück Camembert, einer Tomate und einem Bier rutschte sie in den Sessel. Nach diesem Tag brauchte sie Bettschwere. »Was Ihnen passiert ist, tut mir leid, Horst«, sagte sie, biss ins Brot und murmelte weiter: »Normalerweise erfahren die Täter nicht, wo ich wohne.«
»Ist schon gut, Fräuleinschen. Aber schräg ist es, das müssen Sie zugeben, da haus ich drei Jahre unter der Brücke und krieg nie eins auf die Birne, kaum leb ich vier Tage grundsolide, werde ich überfallen. Gibt’s einen neuen Fall für uns, Fräuleinschen?«
»Die Glotze angemacht?«
Nicken. »Was ist dem Jungen passiert?«
»Aufgeschlitzt«, antwortete Petra, ließ den letzten Brotrest auf dem Teller und stellte diesen vor sich auf das runde Tischchen. Sie beugte sich vor, legte zwei Holzscheite ins Feuer, rutschte mit den Füßen auf den Sessel und schlang die Arme um die angezogenen Beine.
»Und weiter?«, bohrte Horst.
»Ist ungewiss«, sagte Petra, dann läutete es an der Haustür. »Ich geh schon.« Sie sprang auf.
Ein Bote vom Blumendienst mit einem Strauß Rosen stand vor der Tür. Man hätte meinen können, die Blumen brächten den Boten, so opulent füllte sich der Türrahmen. Sie drückte dem Teenager einen Fünfeuroschein in die Hand und gab der Tür mit dem Hintern einen Schubs.