Die Sängerin und Unterhaltungskünstlerin Brunhilde von Sinnen trat aus dem Badezimmer, ein Handtuch um ihren Körper gewickelt und ein zweites wie einen Turban um ihren Kopf. Ihr Blick fiel auf den attraktiven Mann, der sich auf ihrem Bett ausstreckte. Für Anfang vierzig sah er jung aus, obwohl sein kurz geschnittenes dunkles Haar und sein Schnurrbart bereits ergrauten. Seine braunen Augen jedoch waren lebhaft, sein Verstand scharf und sein Körper durchtrainiert.
Sie liebte ihn zwar nicht, denn Liebe war ein antiquiertes Konzept, das nur dazu diente, Frauen zu versklaven und von Männern abhängig zu machen, doch sie hing sehr an ihm. Immerhin ermöglichte er ihr einen extravaganten Lebensstil in einem Berlin, das nach dem Zweiten Weltkrieg immer noch in Trümmern lag. Im Gegensatz zu ihr mangelte es den anderen Einwohnern an allem: Nahrung, einer Unterkunft, Kleidung und Kohle zum Heizen.
Brigadegeneral Dean Harris war der Kommandant des amerikanischen Sektors und damit der mächtigste Mann in Berlin – vielleicht mit Ausnahme des russischen Kommandanten General Sokolow.
Sie erschauderte beim Gedanken an Sokolow, der nicht nur mächtig war, sondern auch einer der unangenehmsten Menschen, denen sie je begegnet war. Er hatte pechschwarzes Haar, eine stämmige Statur und eine ständig gerötete Nase. Doch es war sein Jähzorn, verstärkt durch seine Magengeschwüre, welcher Freund und Feind gleichermaßen erzittern ließ. Sie hatte gewiss nicht vor, mit ihm das Bett zu teilen.
Nein, Dean war ein hervorragender Fang und sie lebte nun schon seit über einem Jahr ein sehr komfortables Leben als seine Geliebte. Beide profitierten von diesem Arrangement: Sie erfüllte seine Bedürfnisse nach sexueller Entspannung, während er ihr einen Luxus bot, den sich nicht viele Deutsche leisten konnten.
„Wie lange kannst du bleiben?“, fragte sie mit ihrer rauchigen Stimme. Dabei legte sie das Badetuch auf den Schminktisch und griff nach dem seidenen rosafarbenen Morgenmantel, den Dean ihr vor einigen Monaten geschenkt hatte. Der glatte Stoff schmiegte sich sanft an ihre nackte Haut.
„Was das angeht ...“, antwortete er ausweichend, erhob sich vom Bett und ging völlig unbekümmert splitternackt in Richtung Badezimmer.
Beunruhigt kam ihm Bruni auf halbem Weg entgegen und streichelte mit einer Hand seine haarige Brust. Sie trat einen Schritt näher, um sich an ihn zu schmiegen und ihn zurück ins Bett zu locken, doch er legte seine Hände auf ihre Schultern und schob sie von sich.
Schmollend blickte sie zu ihm auf. Nach ihrem ausgedehnten Liebesspiel hatte sie ihr sorgfältig aufgetragenes Make-up aufgefrischt sowie ihr platinblondes Haar gebürstet.
Die meisten Menschen, selbst ihre besten Freundinnen, hielten Bruni für eitel – aber was blieb ihr anderes übrig? Ihre Schönheit war ihr Kapital. Nur deswegen hatte sie es geschafft, sowohl Dean zu verführen als auch sich das Engagement als Solosängerin im berühmten Café de Paris zu sichern, dem angesagtesten Nachtklub der Stadt im französischen Sektor.
Dort wollte schließlich niemand eine hässliche Frau singen sehen. Nein, die nach Sex hungernden alliierten Soldaten sehnten sich nach einer Frau mit weiblichen Kurven, deren Schönheit ihr Verlangen schürte, während ihre sinnliche Stimme sie umschmeichelte. Und genau das konnte Bruni bieten.
„Was ist los, Liebster?“ Sie neigte den Kopf zur Seite und versuchte, den ernsten Blick auf Deans Gesicht zu ergründen.
Für einen langen Augenblick betrachtete er sie, bevor er einen Schritt zurücktrat. Doch statt seinen Weg ins Badezimmer fortzusetzen, umrundete er das Bett und zog erst seine Unterhose und dann die Uniformhose an. Als er nach seinem Unterhemd griff, wurde Bruni klar, dass er nicht vorhatte, sich Zeit für eine Zugabe zu nehmen.
„Du gehst schon?“
„Ja, meine Familie kommt heute Nachmittag in Berlin an.“
„Deine Frau? Und deine Söhne auch? Was wollen die hier?“ Bruni war plötzlich schwindlig. Natürlich wusste sie, dass Dean verheiratet war, aber seine Familie wohnte weit weg in Amerika.
„Sie sind hergekommen, um hier bei mir zu leben.“
Es war offensichtlich, dass ihm die Situation unangenehm war. Sie hütete sich davor, ihm Beleidigungen an den Kopf zu werfen, obwohl er sie verdient hätte, weil er sie auf diese schändliche Weise abservierte. Auch wenn ihre Affäre rein geschäftlich war, hatte sie ihn doch lieb gewonnen.
Bruni atmete tief durch und sagte so nonchalant wie möglich: „Ich nehme an, das heißt, wir werden uns ab sofort nicht mehr sehen.“
„Ja, das tut es. Du und ich ...“ Seine Stimme geriet ins Stocken. „Das ist nichts Persönliches, denn ich mag dich wirklich, aber es wäre mir lieber, wenn wir uns auch in der Öffentlichkeit nicht mehr treffen. Ich liebe meine Frau.“
Ich bin mir sicher, dass du das tust. Bruni machte einen Schmollmund, aber aus jahrelanger Erfahrung wusste sie, dass die Sache zwischen ihnen vorbei war. Dean war schließlich nicht der erste Mann, den sie zu ihrem Vorteil benutzt hatte. Gleichzeitig war ihr jedoch bewusst, dass man sich den mächtigsten Mann Berlins besser nicht zum Feind machte. „Wenn du es wünschst, dann vergesse ich, dass es jemals etwas zwischen uns gab.“
„Ich habe nichts anderes von dir erwartet.“ Er sah erleichtert aus und sagte nach einem kurzen Blick durch die kleine Wohnung: „Du kannst natürlich weiterhin hier wohnen und alles behalten.“
Die Wut kroch ihr den Rücken hinauf. Wie konnte er es wagen, auch nur anzudeuten, dass er sie aus ihrer Wohnung rausschmeißen könnte? Sollte sie etwa in einem dieser abscheulichen Löcher leben, mit denen sich der Rest der Bevölkerung zufriedengeben musste?
Sie war immerhin Brunhilde von Sinnen und kein beliebiges deutsches Fräulein, das er einfach abservieren konnte. Trotzdem gelang es ihr, ihre Stimme kehlig und sinnlich zu halten, als sie antwortete: „Es war schön, solange es gedauert hat. Ich wünsche dir eine glückliche Zeit mit deiner Familie.“
Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und verschwand im Badezimmer. Sie war sich sicher, wenn sie wieder herauskäme, wäre er bereits weg.
Dieser egoistische Trottel hat mich einfach abserviert! Männern kann man wahrhaftig nicht trauen!
Sorgfältig ordnete sie ihre Locken, die sie schon lange im Stil von Ginger Rogers trug. Während sie ihrem Äußeren den letzten Schliff verpasste, schwelgte Bruni in Selbstmitleid.
Diese Trennung war so viel schlimmer als das, was ihr sowjetischer Liebhaber Fjodor Orlowski ihr angetan hatte. Nach den gescheiterten Wahlen im Oktober 1946 war er sang- und klanglos verschwunden und niemand hatte je wieder etwas von ihm gehört oder gesehen.
Als die Wohnungstür ins Schloss fiel, kam sie aus dem Badezimmer und wechselte sofort die Bettwäsche, denn sie wollte nicht durch Deans Geruch an ihn erinnert werden. Auch wenn sie sich bestimmt nicht mit gebrochenem Herzen nach ihm verzehrte, würde sie sein Geld und die Annehmlichkeiten schmerzlich vermissen. Es brachte Vorteile, die Geliebte eines amerikanischen Generals zu sein.
„Du verdammter Mistkerl!“, schrie sie die Wand an.
Seine Unverfrorenheit, ihr einfach den Laufpass zu geben, empörte sie zutiefst und sie fluchte und schimpfte über Dean, bis sie urplötzlich damit aufhörte. Das Gezeter würde nur Falten in ihr ansonsten makelloses Gesicht ziehen. Um ihren verletzten Stolz zu besänftigen und ihren extravaganten Lebensstil zu sichern, musste sie schleunigst einen anderen alliierten Offizier bezirzen, vorzugsweise einen Amerikaner. Aber dieses Vorhaben musste bis zum späten Nachmittag warten, wenn sie im Café de Paris zur Arbeit ging.
In der Zwischenzeit wollte sie ihrer Freundin Marlene, die sie noch aus der Schulzeit kannte, einen Besuch abstatten. Vielleicht bekäme sie dort etwas Mitleid, wenn Dean schon so kaltherzig war.
Sie erwischte Marlene in der Mittagspause an der Universität, als diese inmitten einer Gruppe von Jurastudenten aus dem Gebäude trat.
„Hallo, Marlene“, rief Bruni.
Marlene, eine große, schlanke Brünette mit sanft gewelltem Haar und großen blauen Augen, lächelte, als sie Bruni sah. Sie kam herüber und umarmte sie herzlich. „Was für eine Überraschung, Bruni. Was führt dich hierher? Hast du dich etwa dazu entschlossen, dich zu immatrikulieren?“
„Ich soll mich an der Uni einschreiben? Nie im Leben.“ Trotz ihrer schlechten Laune musste Bruni lachen. Allein beim Gedanken, ihre Nase in langweilige Lehrbücher zu stecken, bekam sie eine Gänsehaut. „Hast du Lust, mit mir essen zu gehen?“
Zum Mittagessen auszugehen war ein Luxus, den sich Marlene normalerweise nicht leisten konnte, also ergriff sie die Gelegenheit sofort. „Immer. Wohin gehen wir?“
„Irgendwo in der Nähe.“ Aus Gewohnheit steuerte Bruni auf ein kleines Restaurant zu, wo hauptsächlich amerikanische Offiziere verkehrten. Doch dann änderte sie ihre Meinung und ging stattdessen zu einem viel bescheideneren Lokal.
Beim Anblick des schäbigen Gasthauses warf Marlene ihr einen kritischen Blick zu und fragte: „Ist etwas nicht in Ordnung?“
„Das erzähle ich dir drinnen.“ Nachdem beide ein Gericht von der Speisekarte bestellt hatten, das mit Devisen bezahlt werden musste, kam Bruni ohne Umschweife zur Sache. „Dean hat mich abserviert.“
„Er hat was?“
„Er hat mich eiskalt abserviert. Seine Familie ist hier.“
„Wie? Hier in Berlin?“
Bruni nickte. „Heute Nachmittag kommen sie an.“
„Oh! Das ist ja ziemlich überraschend. Aber du wusstest, dass das irgendwann passieren würde, oder?“
„Wie kann dich das nur so kalt lassen? Er hat mir das Herz gebrochen!“
„Na ja, es ist ja nicht so, als ob du ihn geliebt hättest.“
Bruni öffnete den Mund, um zu widersprechen, entschied dann aber, dass es der Mühe nicht wert war. Marlene kannte sie einfach zu gut. „Also gut, ich habe ihn nicht geliebt.“
Marlene schmunzelte. „Was du in Wahrheit geliebt hast, waren Deans Geschenke und die anderen Annehmlichkeiten, die diese Liaison mit sich gebracht hat.“
„Ich behaupte ja gar nicht, dass ich schöne Dinge nicht mag.“ Bruni schüttelte ihre blonden Locken. In der Hinsicht war sie einer Meinung mit Lorelei Lee im Roman Blondinen bevorzugt: Brillanten waren die besten Freunde einer Frau.
„Du bist einfach furchtbar verwöhnt und Dean hat dir im Gegenzug für deine Gesellschaft alles gekauft, was dein Herz begehrt. Im Prinzip wart ihr Partner in einem gleichberechtigten Handelsabkommen.”
„Lass mich raten: Du studierst dieses Semester Wirtschaftsrecht?“, erwiderte Bruni mit kaum verhohlenem Sarkasmus in der Stimme.
„Spiel jetzt nicht die beleidigte Leberwurst. Du bist doch nur aus verletzter Eitelkeit eingeschnappt. Normalerweise bist du diejenige, die erst richtig abräumt und dann den Abgang macht. Diesmal ist dir dein Liebhaber eben zuvorgekommen.“
Bruni stieß den Atem aus. So viel zum Thema Mitgefühl. Offenbar hatte Marlene beschlossen, stattdessen Salz in Brunis Wunden zu streuen. „Warts nur ab, Dean wird es noch leidtun, dass er seine Familie hergeholt hat.“
Marlene lachte über die Drohung. „Wieso, was denkst du denn, was passieren wird? Erwartest du etwa, dass Sokolow ihn zum Duell herausfordert für das Leid, das Dean dir zugefügt hat?“
Brunis Versuche, ihr Gesicht unter Kontrolle zu halten, scheiterten, und sie begann herzhaft zu lachen. „Also, ich fände es gut. Aber nicht, dass du denkst, ich fühle mich zu Sokolow hingezogen.“
„Ihh ... Wer tut das schon? Er sieht ja nicht nur aus wie eine Bestie, seine beleidigenden Schimpftiraden und seine gehässige Propaganda sind unerträglich. Es ist schwer vorstellbar, dass er diese ganzen Lügen selbst glaubt, die er uns tagtäglich auftischt.“
In Gedanken vertieft aßen sie einige Minuten schweigend. Das Essen entsprach nicht der Qualität, die Bruni gewohnt war, aber ihre Freundin schien es nicht zu stören.
„Das war köstlich, danke für die Einladung“, sagte Marlene, nachdem sie alles ratzeputz aufgegessen hatte. Da dämmerte es Bruni, dass sie baldmöglichst einen neuen Gönner finden musste, wenn sie nicht den Gürtel enger schnallen und im selben Elend wie der Rest der Berliner Bevölkerung versinken wollte.
Die Aussicht war ernüchternd.
Sie brauchte dringend einen neuen Liebhaber; einen Offizier, denn darunter machte sie es nicht. Einfache Soldaten hatten weder den Sold noch die nötigen Verbindungen, um ihr den Lebensstil zu ermöglichen, den sie gewohnt war.
„Versinkst du immer noch in Selbstmitleid?“, unterbrach Marlene Brunis Gedanken.
„Im Gegenteil.“ Bruni grinste. „Ich plane schon meinen nächsten Zug.“
„Ach? Und wer ist der Glückspilz?“
„Ich habe mich noch nicht endgültig entschieden. Es gibt da einige Voraussetzungen, die er erfüllen muss.“ An ihren Fingern zählte sie ab: „Es muss ein Alliierter sein, vorzugsweise ein Amerikaner. Ein Offizier, mindestens im Rang eines Hauptmanns. Er muss länger als nur ein paar Wochen in Berlin stationiert sein. Bevorzugt ohne Frau, die zuhause auf ihn wartet. Und er darf nicht hässlich wie die Nacht sein.“
„Na, dann viel Glück.“
„Meine Liebe, Glück brauche ich dazu nicht. Ich verlasse mich lieber auf meine Reize.“ Sie schenkte Marlene ein anmutiges Lächeln und warf ihr eine Kusshand zu. „Bei diesem Augenaufschlag kann keiner widerstehen.“
Marlene brach in einen Kicheranfall aus. „Da bin ich mir ganz sicher. Mir tut dein nächstes Opfer jetzt schon leid. Der arme Mann wird gar nicht wissen, wie ihm geschieht.“