Als die Meeres-Akademie hinter Ana in die Luft fliegt, kann sie es nicht fassen. Welcher unbekannte Feind hat es da auf sie abgesehen? Ana und ihre Freunde fliehen aufs Meer, doch auch hier sind sie nicht sicher. Ein Geheimnis nach dem anderen kommt ans Licht: Ana ist die letzte Erbin von Kapitän Nemo und deshalb die Einzige, die das legendäre U-Boot Nautilus wieder flott machen kann. Als sie das Boot finden, stellt sich heraus, dass Ana über Musik sogar mit der Nautilus kommunizieren kann, denn diese ist von künstlicher Intelligenz beseelt.
Aber ihr Gegner hat sie schon aufgespürt …
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Die schöpferische Kraft der Natur
ist dem Zerstörungsinstinkt des Menschen
unendlich weit überlegen.
JULES VERNE,
20000 Meilen unter dem Meer
Wusstet ihr schon, dass über achtzig Prozent des Ozeans noch unerforscht sind? ACHTZIG, Leute! Es ist absolut möglich, dass in diesem Moment eine Nixe und ein Riesentintenfisch Makroalgen-Makkaroni verzehren und sich fragen, wann wir endlich kapieren, dass Atlantis einfach ein Themenpark war, bei dem wirklich alles schiefgegangen ist. Wer weiß?
Niemand kann das mit Gewissheit sagen, weil so viel vom Ozean unbekannt ist. Und ich habe schreckliche Angst vor dem Unbekannten, also liegt es auf der Hand, dass ich noch viel schrecklichere Angst vor dem Ozean habe. Vielleicht hat das angefangen, als ich mit zwölf Jahren einen Seestern an einem seiner Arme hochhob – und sogleich feststellen musste, dass ich einen einzigen zappelnden Körperteil in der Hand hielt. Damals wusste ich nicht, dass Seesternarme nachwachsen können. Ich hielt mich für eine Mörderin. Ich fiel auf die Knie und brüllte vor Entsetzen. (SEI VERFLUCHT, GEWALTIGE KRAFT! SOLCHE UNSCHULD … VERNICHTET! BEDEUTET DAS, DASS ICH NIE WIEDER ZUM SPORTUNTERRICHT MUSS?)
Aber je mehr Angst mir etwas macht, umso leichter bin ich davon besessen. Und seit jener schicksalhaften Seesternbegegnung ragt der Ozean mit seinen seltsamen Bewohnern – genau, ich meine euch, all ihr Echinodermata und Ophiuroidea – übergroß in meinen Gedanken auf, als Sitz unermesslicher Kraft, unvorstellbarer Schönheit und ungenutzter Möglichkeiten.
Rick Riordans Tochter der Tiefe fängt jede Facette dieser Bewunderung und dieses Entsetzens ein.
Wenn ihr je eine Geschichte lesen wolltet, bei der euer Herz hämmert, eure Lunge nach den zahllosen Wendungen nach Luft schnappt, eure Seele keucht von der Mühe, mit einer Personengalerie mitfühlen zu müssen, zu der auch niedliche kleine, geniale und möglicherweise blutrünstige Zimtschnecken gehören (oh, und ein gigantisches Wesen der Tiefe, das sich, wirklich, nur nach Liebe sehnt), werdet ihr in den Seiten, die hier vor euch liegen, das alles und noch viel mehr finden.
Unsere Geschichte beginnt mit zwei gegeneinander Krieg führenden Schulen und einer Katastrophe. Die neunte Klasse der Eliteschule Harding-Pencroft Academy wird durch diese Katastrophe auf eine tödliche Mission ausgesandt, bei der das Geheimnis einer Technologie gelöst werden muss, die die Welt neu erschaffen kann. Ich saß die ganze Zeit auf der Stuhlkante, während die Crew mit Hightech-Nupsis, Tiefseerätseln und der Sorte von Militärtaktik jonglieren musste, bei der ich mir aus irgendeinem Grund klüger vorkomme, trotz der Tatsache, dass ich fast den ganzen Tag in eine flauschige Decke eingehüllt war.
Ich kann mir bei diesem wässrigen Abenteuer keine bessere Kapitänin vorstellen als die unvergleichliche Ana Dakkar. Ana ist alles, was ich mit fünfzehn gern gewesen wäre. Furchtlos, intelligent, ein Sprachgenie, befreundet mit einem Delfin namens Sokrates, und – besonders wichtig für eine tagträumende, jugendliche Rosh wie mich – beladen mit einem Familienvermächtnis aus dem Stoff, aus dem Sagen entstehen.
Ihr müsst wissen, Ana ist eine der letzten Nachkommen Kapitän Nemos, und an der Stelle wird die Sache kompliziert. Als Letzte der Dakkars steht Ana nicht nur plötzlich vor einer Erbschaft, die das Technologieverständnis der ganzen Welt ändern könnte, sie muss sich auch noch mit tiefgreifenderen Fragen herumschlagen, wie zum Beispiel: Was schulden andere uns, und was schulden wir anderen? Es ist leicht, die richtigen Entscheidungen zu treffen, wenn die ganze Welt zuschaut, aber wenn ihr tief unter Wasser seid, wo die Sonne euch nicht sehen kann, dann seid ihr am Ende vielleicht doch zu etwas fähig, womit ihr nie gerechnet hättet …
Für mich hat diese Geschichte große Ähnlichkeit mit dem Ozean. Sie ist spannend und entsetzlich zugleich, und, egal, wie ihr sie betrachtet, einfach cool. Viel Spaß! Und esst nicht zu viele Zimtschnecken!
Meine Reise unter dem Meer begann fern von der Küste, in Bologna, Italien, im Jahr 2008. Ich war zur Jugendbuchmesse dort, unmittelbar vor Erscheinen von Die Schlacht um das Labyrinth und Die 39 Zeichen: Die Katakomben von Paris. Ich saß im Untergeschoss eines Restaurants beim Essen, zusammen mit vierzehn Leuten aus der Chefetage von Disney Publishing, als der Leiter der Abteilung sich zu mir umdrehte und fragte: »Rick, gibt es irgendetwas, wofür Disney Urheberrechte hat und worüber du gern schreiben würdest?« Ich antwortete wie aus der Pistole geschossen: »20000 Meilen unter dem Meer.« Es dauerte dann noch einmal zwölf Jahre, ehe ich sie schreiben konnte, aber nun haltet ihr meine Version der Geschichte in der Hand.
Wer ist Kapitän Nemo? (Nein, nicht der Fisch aus dem Zeichentrickfilm).
Falls ihr den ursprünglichen Kapitän Nemo nicht kennt: Er ist eine Gestalt des französischen Autors Jules Verne aus dem 19. Jahrhundert. Verne lässt ihn in zwei Romanen auftreten, in 20000 Meilen unter dem Meer (1870) und Die geheimnisvolle Insel (1875). In beiden hat Nemo das Kommando über das technologisch avancierteste Unterseeboot der Welt, die Nautilus.
Kapitän Nemo war klug, gebildet, höflich und unermesslich reich. Er war außerdem wütend, verbittert und gefährlich. Stellt euch eine Mischung aus Bruce Wayne, Tony Stark und Lex Luthor vor. Als ehemaliger Fürst von Dakkar kämpfte Nemo in Indien gegen die britische Kolonialherrschaft. Zur Strafe töteten die Briten seine Frau und seine Kinder. Das war die ursprüngliche Geschichte über Dakkar als Superschurke/Superheld. Er nannte sich danach Nemo, das ist Latein und bedeutet Niemand. (Für Fans der griechischen Mythen: Das war eine Verbeugung vor Odysseus, der dem Zyklopen Polyphem einredete, er heiße Niemand). Nemo widmete den Rest seines Lebens der Aufgabe, auf hoher See die europäischen Kolonialmächte das Fürchten zu lehren, er plünderte und versenkte ihre Schiffe und jagte ihnen Angst vor einem unbezwinglichen »Meeresungeheuer« ein, nämlich der Nautilus.
Wer hätte nicht gern so viel Macht? Als Kind stellte ich mir immer, wenn ich in einen See oder sogar in ein Schwimmbecken sprang, vor, ich sei Kapitän Nemo. Dann könnte ich ungestraft feindliche Schiffe versenken, unentdeckt die ganze Welt bereisen, Tiefen erforschen, in denen noch nie zuvor jemand gewesen war, und prachtvolle Ruinen und unschätzbare Reichtümer entdecken. Ich könnte mich in mein eigenes geheimes Königreich zurückziehen und nie, nie an die Oberfläche zurückkehren (die ohnehin ziemlich unerträglich war). Als ich später über Percy Jackson schrieb, den Sohn des Poseidon, könnt ihr euch also vorstellen, dass meine alten Tagträume von Kapitän Nemo und der Nautilus einer der Hauptgründe dafür waren, dass ich Percy Jackson zu einem Halbgott des Meeres gemacht habe.
Ich gebe ehrlich zu – als Kind fand ich Vernes Romane eher langweilig. Aber was mir gut gefiel, waren die alten Ausgaben von Illustrierte Klassiker, die mein Onkel hatte, und ich sah schrecklich gern Disneys Filmversion von 20000 Meilen unter dem Meer – sogar die peinlichen Szenen wie die, wo Kirk Douglas tanzt und singt und wo der riesige Gummitintenfisch das Schiff angreift. Erst als ich älter war, ging mir auf, wie reichhaltig und komplex Jules Vernes Geschichten sind. Nemo war sogar noch interessanter als angenommen. Und ich fing an, Stellen in der Erzählung zu finden, wo Verne die Möglichkeit einer Fortsetzung offen ließ …
Warum ist Kapitän Nemo immer noch wichtig?
Jules Verne war einer der ersten Science-Fiction-Autoren überhaupt. Im Rückblick aus dem 21. Jahrhundert fällt es wohl schwer, einzuschätzen, wie revolutionär seine Ideen wirklich waren, aber Verne dachte sich Technologien aus, die auch über hundert Jahre später noch nicht existieren würden. Ein U-Boot mit Selbstantrieb, das den Erdball umrunden konnte und nie irgendwo Station machen musste, um Vorräte aufzustocken? Unmöglich! 1870 waren Unterseeboote eine ganz neue Erfindung – gefährliche Blechbüchsen, die eher in die Luft flogen und alle an Bord umbrachten, als einmal um die Welt zu fahren. Auch In achtzig Tagen um die Welt schrieb Jules Verne zu einer Zeit, als eine so schnelle Reise noch unvorstellbar war, und eine Reise zum Mittelpunkt der Erde eine Leistung, die noch immer weit jenseits der Möglichkeiten menschlicher Technologie liegt – aber eines Tages, wer weiß?
Gute Science-Fiction-Literatur kann den Blick auf unsere eigene Zukunft beeinflussen. Jules Verne ist das besser gelungen als allen anderen. Schon im 19. Jahrhundert zeigte er, was möglich sein könnte, und es gab Menschen, die diese Herausforderung annahmen. Wenn davon die Rede ist, wie schnell ein Flugzeug oder ein Schiff die Welt umrunden kann, wird immer noch In achtzig Tagen um die Welt als Maßstab herangezogen. Damals waren achtzig Tage eine unvorstellbar kurze Zeit für eine Reise um die Erde. Heute können wir diese Reise mit dem Flugzeug in weniger als achtzig Stunden und mit dem Schiff in weniger als vierzig Tagen hinter uns bringen.
Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde hat Generationen von Höhlenforschern dazu ermutigt, sich die Höhlensysteme der Erde genauer anzusehen, und hat Geologen die Funktionen der verschiedenen Erdschichten untersuchen lassen.
Kapitän Nemo seinerseits hat das Bewusstsein für die Frage geschärft, welche Bedeutung die Ozeane für die Zukunft des Planeten haben. Wir wissen, dass der Großteil der Erdoberfläche von Wasser bedeckt ist, und dass achtzig Prozent der Ozeane noch immer unerforscht sind. Die Erkenntnis, wie wir uns die Kraft des Meeres zunutze machen können und wie wir in Zeiten des Klimawandels mit ihr leben sollen, könnte der Schlüssel zum Überleben der Menschheit sein. Jules Verne hat das alles in seinen Büchern vorausgesehen.
Nemo und seine Mannschaft können selbstversorgt leben, ohne jemals an Land gehen zu müssen. Das Meer befriedigt alle ihre Bedürfnisse. In 20000 Meilen erfährt Aronnax von Nemo, dass die Nautilus ganz und gar elektrisch betrieben wird und dass sie ihre gesamte Antriebskraft aus dem Ozean bezieht. In Die geheimnisvolle Insel überlegt Cyrus Harding, dass, wenn die Kohlevorräte erschöpft sind, die Menschen lernen müssen, aus den unendlichen Wasserstoffmengen des Ozeans Energie zu gewinnen. Das ist ein Ziel, das wir noch heute anstreben, und einer der Gründe, aus denen ich entschieden habe, dass Nemo das Geheimnis der kalten Fusion entschlüsselt haben muss.
In 20000 Meilen benutzt Nemos Mannschaft elektrische Leydener Gewehre, die effektiver und eleganter sind als die üblichen Schusswaffen. Die Leute auf der Nautilus verfügen über fast grenzenlose Reichtümer, weil sie so viele Wracks geplündert haben. Sie haben die Geheimnisse der subaquatischen Landwirtschaft ergründet, weshalb es an Nahrungsmittel niemals mangelt. Vor allem aber besitzen sie Freiheit. Für sie gelten die Gesetze keines Landes, und sie können nach Belieben kommen und gehen. Sie sind niemandem außer Nemo verpflichtet. Ob das gut ist oder schlecht … ich nehme an, das hängt davon ab, was ihr von Nemo haltet!
Die große Bedeutung des Meeres und der Tatsache, dass wir uns immer wieder neue technologische Fortschritte ausdenken – das sind überzeugende Gründe, um noch immer Jules Verne zu lesen. Aber es gibt einen weiteren wichtigen Grund. Jules Verne macht seinen Kapitän Nemo zu einem indischen Fürsten, dessen Volk unter dem britischen Kolonialismus leidet. Die Gestalt des Nemo geht Fragen auf den Grund, die heute noch genauso wichtig sind wie im Viktorianischen Zeitalter. Wie sollen Menschen ihre Stimme finden und zu Einfluss gelangen, wenn die Gesellschaft ihnen diese Privilegien verwehrt? Wie kann man Ungerechtigkeit bekämpfen? Wer darf die Geschichtsbücher schreiben und entscheiden, wer die »Guten« und wer die »Bösen« sind? Nemo ist ein Outlaw, ein Rebell, ein Genie, ein Wissenschaftler, ein Entdecker, ein Pirat, ein Mann von Welt, ein »Erzengel der Rache«. Er ist ein komplizierter Mann, und deshalb macht es großen Spaß, über ihn zu lesen. Ich fand die Vorstellung faszinierend, sein Erbe ins 21. Jahrhundert zu tragen und mir anzusehen, womit seine Nachkommen so viele Jahre später zu kämpfen haben würden.
Was würdet ihr tun, wenn ihr über ein so mächtiges Schiff wie die Nautilus befehlen könntet? Ich hoffe, Tochter der Tiefe wird euch dazu inspirieren, über eure eigenen Abenteuer nachzudenken, so, wie Jules Verne mich inspiriert hat. Macht euch zum Tauchen bereit. Es geht tief nach unten!
Das ist übrigens typisch für Tage, die dein ganzes Leben zerstören:
Sie fangen an wie alle anderen auch. Ihr begreift nicht, dass eure Welt gleich in eine Million rauchende Stückchen Entsetzlichkeit explodieren wird. Bis es zu spät ist.
Am letzten Tag des neunten Schuljahrs wache ich wie immer um fünf Uhr in meinem Zimmer im Wohnheim auf. Ich stehe leise auf, um meine Zimmergenossinnen nicht zu stören, ziehe einen Bikini an und mache mich auf den Weg zum Ozean.
Ich liebe den Campus am frühen Morgen. Die weißen Betonfassaden der Gebäude färben sich im Sonnenaufgang rosa und türkis. Die Rasenfläche vor den Schulgebäuden ist leer, abgesehen von Möwen und Eichhörnchen, die ihren ewigen Krieg um die von uns Schülerinnen und Schülern hinterlassenen Essensreste führen. Die Luft riecht nach Meersalz, Eukalyptus und frischen Zimtschnecken, die in der Mensa gebacken werden. Der kühle Wind von Südkalifornien haucht mir eine Gänsehaut auf Arme und Beine. In solchen Augenblicken kann ich nicht fassen, dass ich das Glück habe, die Harding-Pencroft Academy besuchen zu dürfen.
Vorausgesetzt, ich überlebe die Prüfungen an diesem Wochenende, natürlich. Ich könnte schändlich versagen oder mich im Netz eines Unterwasser-Hindernisparcours verfangen und sterben … aber he, das ist immer noch besser, als am Ende des Schuljahrs bei irgendeinem staatlichen Standard-Test fünf Zillionen Multiple-Choice-Fragen zu lösen.
Ich folge dem Kiesweg, der zum Ozean führt.
Hundert Meter hinter dem Seekriegs-Gebäude fallen die Klippen in den Pazifik ab. Tief unten ziehen sich weiße Streifen aus Brandungsschaum über das stahlblaue Wasser. Wellen dröhnen und grummeln am Ufer der Bucht, es klingt wie ein schnarchender Riese.
Mein Bruder Dev wartet am Rand der Klippen auf mich. »Du bist spät dran, Ana Banana.«
Er weiß, ich hasse es, von ihm so genannt zu werden.
»Ich schubs dich gleich runter«, warne ich ihn.
»Na, versuch es doch mal.« Wenn Dev grinst, kneift er die Augen zusammen, als ob er den Druck in einem Ohr nicht ausgleichen könnte. Die anderen Mädchen finden das hinreißend, habe ich gehört. Ich bin da nicht so sicher. Seine dunklen Haare stehen vorne hoch wie Stacheln bei einem Seeigel. Er nennt das seinen »Style«. Ich glaube, es liegt einfach daran, dass er sich im Schlaf ein Kissen auf das Gesicht drückt.
Wie immer trägt er seinen Neoprenanzug mit dem silbernen Hai-Logo auf der Brust, das sein Haus anzeigt. Dev findet mich verrückt, weil ich im Bikini tauche. In vielerlei Hinsicht ist er ein harter Hund. Aber wenn es um kältere Temperaturen geht, ist er ein Baby.
Wir machen unsere Dehnübungen vor dem Tauchen. Das hier ist eine der wenigen Stellen an der Küste von Kalifornien, wo man tauchen kann, ohne an den Felsen unten zerschmettert zu werden. Die Klippen sind glatt und fallen geradewegs ab in die Tiefen der Bucht.
Um diese Tageszeit ist alles ruhig und friedlich. Obwohl Dev als Hauskapitän große Verantwortung trägt, ist er nie zu beschäftigt für unser morgendliches Ritual. Das liebe ich an ihm.
»Was hast du heute für Sokrates mitgebracht?«, frage ich.
Dev zeigt zur Seite. Zwei tote Tintenfische liegen glitzernd im Gras. Als Zwölftklässler hat Dev Zugang zu den Futtervorräten des Aquariums. Das bedeutet, er kann kleine Leckerbissen für unseren Freund in der Bucht herausschmuggeln. Die Tintenfische sind von Schwanz bis Tentakelspitze etwa dreißig Zentimeter lang – schleimig, silbern und braun wie oxidiertes Aluminium. Loligo opalescens. Kalifornischer Tintenfisch. Lebenserwartung sechs bis neun Monate.
Ich kann diesen Wissensfluss nicht abschalten. Unsere Professorin in Meeresbiologie, Dr. Farez, hat uns zu gut trainiert. Wir lernen, uns die Details einzuprägen, weil alles, wirklich alles bei ihren Klausuren wieder auftaucht.
Sokrates hat einen anderen Namen für Loligo opalescens. Er nennt diese Tiere »Frühstück«.
»Wie nett.« Ich hebe die noch tiefkühlfachkalten Tintenfische auf und reiche Dev einen. »Fertig?«
»He, ehe wir tauchen …« Plötzlich macht er ein ernstes Gesicht. »Ich möchte dir etwas geben …«
Ich weiß nicht, ob er die Wahrheit sagt oder nicht, aber auf seine Ablenkungsmanöver falle ich immer herein. Sowie meine Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet ist, dreht er sich um und springt von den Klippen.
Ich fluche. »Oh, du kleiner …«
Wer zuerst springt, hat bessere Aussichten, Sokrates zu finden.
Ich hole tief Luft und springe hinterher.
Klippentauchen ist der perfekte Kick. Ich bin zehn Stockwerke lang im freien Fall, Wind und Adrenalin kreischen in meinen Ohren, dann durchbreche ich den eisigen Wasserspiegel.
Ich genieße diesen Schock für meinen Körper, die plötzliche Kälte und das Brennen von Meersalz in meinen Wunden und Schrammen (wenn ihr an der HP seid und keine Wunden und Schrammen habt, dann macht ihr beim Kampftraining etwas falsch).
Ich stürze geradewegs durch einen Schwarm von Rotbarschen – Dutzende von stacheligen, orange-weißen Kerlen, die aussehen wie Punkrock-Kois. Aber ihr taffes Aussehen ist nur Show, denn sie fahren mit einem gewaltigen UÄH jäh auseinander. Zehn Meter unter mir entdecke ich den schimmernden Wirbel von Devs Blasenspur. Ich folge ihm nach unten.
Mein Rekord im Luftanhalten unter Wasser liegt bei fünf Minuten. Natürlich schaffe ich das nicht, wenn ich mich dabei sehr anstrenge, aber trotzdem, das hier ist mein Element. An der Oberfläche ist Dev durch seine Kraft und Schnelligkeit im Vorteil. Unter Wasser mache ich das durch Ausdauer und Wendigkeit wett. Das sage ich mir jedenfalls.
Mein Bruder treibt über dem sandigen Meeresboden und hat die Beine gekreuzt, als ob er schon seit Stunden meditierte. Er hat den Tintenfisch hinter seinem Rücken versteckt, weil Sokrates aufgetaucht ist und mit der Schnauze Devs Brust anstupst, wie um zu sagen: Komm schon, ich weiß, was du für mich hast.
Sokrates ist ein wunderbares Tier. Und das sage ich nicht nur, weil ich zum Haus Delfin gehöre. Er ist ein junger männlicher Tümmler, zwei Meter siebzig lang, mit blaugrauer Haut und einem deutlichen schwarzen Streifen auf der Rückenflosse. Ich weiß, dass er eigentlich nicht lächelt. Sein langschnäbliges Maul ist einfach so geformt. Aber ich finde dieses Lächeln unbeschreiblich süß.
Dev zieht den Tintenfisch hervor. Sokrates schnappt ihn sich und verschluckt ihn mit einem Happs. Dev grinst mich an, eine Blase entwischt zwischen seinen Lippen. Seine Miene scheint zu sagen: Haha, der Delfin hat mich lieber.
Ich biete Sokrates meinen Tintenfisch an. Er nimmt nur zu gern eine zweite Portion. Ich darf seinen Kopf kratzen, der glatt und straff ist wie ein Wasserballon, danach reibe ich seine Brustflossen. (Delfine stehen total auf Brustflossenreiben.)
Dann tut er etwas Unerwartetes. Er bäumt sich auf, stößt meine Hand mit seinem Schnabel weg, in einer Geste, die ich als Los jetzt! oder Beeil dich! zu deuten gelernt habe. Er dreht sich um, schwimmt davon und das aufgewirbelte Wasser hinter seinem Schwanz schlägt gegen mein Gesicht.
Ich schaue ihm hinterher, bis er im Dunkeln verschwindet, und warte darauf, dass er zurückkommt. Er kommt nicht zurück.
Ich verstehe das nicht.
Sonst verschwindet er nicht gleich nach dem Essen. Er hängt gern noch ein bisschen mit uns herum. Delfine sind von Natur aus gesellig. Meistens begleitet er uns an die Wasseroberfläche und springt über unsere Köpfe, spielt mit uns Verstecken oder feuert Quietsch- und Klicklaute auf uns ab, die wie Fragen klingen. Deshalb nennen wir ihn Sokrates. Er gibt nie Antworten – er stellt nur Fragen.
Aber gerade kam er mir aufgeregt vor, fast besorgt.
Am Rand meines Blickfeldes ziehen sich die blauen Lichter des Sicherheitsgitters durch die Mündung der Bucht – ein leuchtendes Rautenmuster, an das ich mich in den letzten beiden Jahren gewöhnt habe. Während ich hinschaue, gehen die Lichter aus, dann flackern sie wieder auf. Das habe ich noch nie gesehen.
Ich schaue zu Dev hinüber. Er scheint die Veränderungen am Gitter nicht bemerkt zu haben. Er hebt die Hand. Wer zuerst oben ist.
Dann stößt er sich vom Meeresboden ab und hüllt mich in eine Sandwolke.
Ich möchte noch länger unter Wasser bleiben. Ich würde gern sehen, ob die Lichter noch einmal ausgehen oder ob Sokrates zurückkommt. Aber meine Lunge brennt. Widerstrebend folge ich Dev.
Als ich ihn an der Oberfläche eingeholt habe und wieder zu Atem gekommen bin, frage ich ihn, ob er das Flackern des Gitters bemerkt hat.
Er schaut mich aus zusammengekniffenen Augen an. »Bist du sicher, dass du nicht einfach kurz ohnmächtig warst?«
Ich spritze ihm Wasser ins Gesicht. »Das ist mein Ernst. Wir sollten es irgendwem sagen.«
Dev wischt sich das Wasser aus den Augen. Er sieht immer noch skeptisch aus.
Um ehrlich zu sein, ich habe nie begriffen, warum wir eine hochtechnologische elektronische Unterwasserbarriere an der Mündung der Bucht haben. Ich weiß, sie soll die Lebewesen im Wasser beschützen, indem sie alles andere fernhält: Wilderer, Sporttaucher und Scherzkekse von unserer Konkurrenzschule, dem Land Institute. Aber selbst für eine Schule, aus der die besten Meeresforscherinnen und Seekadetten hervorgehen, kommt mir das etwas übertrieben vor. Ich weiß nicht genau, wie das Gitter funktioniert. Aber ich weiß, dass es nicht zu flackern hat.
Dev sieht offenbar, dass ich mir wirklich Sorgen mache. »Schön«, sagt er. »Ich sage Bescheid.«
»Und Sokrates hat sich seltsam verhalten.«
»Ein Delfin, der sich seltsam verhält. Na gut, auch da sage ich Bescheid.«
»Ich könnte das auch machen, aber wie du immer sagst, ich bin nur eine schnöde Neuntklässlerin. Du bist der große, mächtige Hauskapitän der Haie, also …«
Jetzt bespritzt er mich. »Wenn du mit deinen Wahnvorstellungen fertig bist, dann hab ich was für dich.« Er zieht eine funkelnde Kette aus der Tasche an seinem Tauchergürtel. »Vorträglich alles Gute zum Geburtstag, Ana.«
Er reicht mir den Halsschmuck mit einer einzelnen schwarzen, in Gold gefassten Perle. Ich brauche eine Sekunde, um zu begreifen, was er mir da gegeben hat. Meine Brust krampft sich zusammen.
»Moms?« Ich kann das Wort kaum über die Lippen bringen.
Die Perle war das Mittelstück von Moms Mangalsutra, ihrer Brautkette. Und sie ist das Einzige, was wir noch von ihr haben.
Dev lächelt, obwohl seine Augen diesen melancholischen Ausdruck haben, den ich so gut kenne. »Ich habe die Perle neu fassen lassen. Du wirst nächste Woche fünfzehn. Mom würde wollen, dass du sie trägst.«
Das ist das Netteste, was er je für mich getan hat. »Aber … aber warum willst du nicht bis nächste Woche warten?«
»Du fährst heute zu deiner Jahrgangsprüfung los. Ich wollte dir die Perle als Glücksbringer mitgeben – sicherheitshalber, verstehst du, für den Fall, dass du katastrophal versagst oder so.«
Er weiß wirklich, wie man einen Augenblick ruiniert.
»Ach, halt die Klappe«, sage ich.
Er lacht. »War natürlich nur ein Witz. Du wirst das großartig machen. Du machst immer alles großartig, Ana. Aber sei einfach vorsichtig, okay?«
Ich merke, dass ich rot werde. Ich bin nicht sicher, wie ich mit so viel Wärme und Zuneigung umgehen soll. »Na ja … die Halskette ist wunderschön. Danke.«
»Keine Ursache.« Er starrt den Horizont an und in seinen dunkelblauen Augen sehe ich einen Hauch von Besorgnis. Vielleicht denkt er an das Sicherheitsgitter, oder er denkt wirklich an meine Prüfungen an diesem Wochenende. Oder daran, was vor zwei Jahren geschehen ist, als meine Eltern zum letzten Mal über diesen Horizont geflogen sind.
»Na los.« Er bringt ein weiteres ermutigendes Lächeln zustande, wie er es schon so oft mir zuliebe getan hat. »Sonst kommen wir zu spät zum Frühstück.«
Immer hungrig, mein Bruder, und immer in Bewegung – der perfekte Haikapitän.
Er schwimmt auf das Ufer zu.
Ich sehe die schwarze Perle meiner Mutter an – ihren Talisman, der ihr ein langes Leben bescheren und sie vor allem Bösen beschützen sollte. Leider, für sie und für meinen Vater, hat sie beides nicht getan. Ich lasse meinen Blick über den Horizont wandern und frage mich, wohin Sokrates verschwunden ist und was er mir zu sagen versucht hat. Dann schwimme ich hinter meinem Bruder her, denn plötzlich will ich nicht allein im Wasser sein.
In der Mensa verschlinge ich einen Teller gebratenes Tofu-Nori – köstlich wie immer. Dann stürze ich ins Wohnheim, um meine Reisetasche zu holen.
Wir Neuntklässler sind im zweiten Stock von Shackleton Hall untergebracht, gleich über denen aus der Achten. Unsere Zimmer sind nicht so groß wie die Quartiere der Jahrgänge zehn und elf in Cousteau Hall, und nicht annähernd so schön wie die Zwölftklässler-Suiten in Zheng He. Aber um Lichtjahre besser als die vollgestopften Kasernen, die wir uns in unserem »Laichjahr« an der HP teilen mussten.
Ich sollte das hier wohl gleich hinter mich bringen: Harding-Pencroft ist eine Highschool mit fünf Jahrgängen. Wir werden nach einem Eignungstest auf vier Häuser verteilt. Wir nennen die Academy der Kürze halber HP. Und ja, wir kennen alle Harry-Potter-Witze. Trotzdem vielen Dank.
Als ich das Zimmer betrete, drehen meine Mitbewohnerinnen gerade durch.
Nelinha stopft Werkzeug, zusätzliche Kleidung und Kosmetika in ihren Duffle Bag. Ester sortiert hektisch ihre Karteikarten. Sie hat so etwa zwölf Stapel, alle farblich codiert, mit Aufklebern versehen und markiert. Ihr Hund, Top, bellt und springt auf und ab wie ein pelziger Pogo-Stick.
Es ist das übliche Irrenhaus, aber ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. Ich liebe meine Leute. Zum Glück sind die Zimmer nicht nach Häusern aufgeteilt, sonst hätte ich nie das Gefühl, außer Dienst zu sein und mich mit meinen besten Freundinnen entspannen zu können.
»Babe, pack nicht zu viel ein«, sagt Nelinha zu Ester, während sie immer mehr Steckschlüssel und Mascara in ihren Rucksack stopft. (Nelinha nennt alle Babe. Sie ist nun mal so.)
»Ich brauche meine Karteikarten aber«, sagt Ester. »Und Leckerlis für Top.«
Yap! Top bellt zustimmend und gibt sich alle Mühe, mit der Nase die Decke zu berühren.
Nelinha sieht mich an und zuckt mit den Schultern. Was willst du machen?
Heute trägt sie eine Art Rosie-die-Nieterin-Look. Ihre üppigen braunen Haare sind mit einem grünen Tuch zurückgebunden. Die Zipfel ihres kurzärmligen Jeanshemdes sind über ihrer dunklen Taille verknotet. Ihre wadenlange Kakihose ist permanent mit Maschinenöl beschmiert, aber ihr Make-up ist wie immer perfekt. Ich schwöre, Nelinha könnte durch das Pumpensystem des Aquariums kriechen oder einen Schiffsmotor reparieren und würde immer noch top gestylt aussehen.
Sie macht große Augen, als sie die schwarze Perle in meiner Halsgrube entdeckt. »Hübsch! Wo hast du die denn her?«
»Verfrühtes Geburtstagsgeschenk von Dev«, sage ich. »Sie, äh … hat unserer Mutter gehört.«
Ihre Lippen formen ein O. Meine Mitbewohnerinnen kennen die tragischen Geschichten über unsere Familie. Wenn Nelinha, Ester und ich uns zusammentun, ist unser Zimmer der weltweit größte Produktionsort von tragischen Geschichten.
»Tja«, sagt sie. »Ich hab den perfekten Rock und die beste Bluse dazu.«
Nelinha und ich können super Klamotten und Make-up teilen. Wir haben mehr oder weniger die gleiche Größe und den gleichen Teint – sie ist Parda-Brasilianierin und meine Vorfahren waren Inder aus Bundelkhand – darum kann sie mich für einen Schulball oder einen Samstagsausflug in die Stadt meistens perfekt ausstatten. Aber heute ist nicht so ein Tag.
»Nelinha, wir werden das Wochenende auf dem Boot verbringen«, erinnere ich sie.
»Ich weiß, ich weiß«, sagt das Mädchen, das sich nur für die Busfahrt zum Boot geschminkt hat. »Aber wenn wir zurückkommen. Vielleicht für die Party am Ende des Schuljahrs.«
Ester stopft eine letzte Tüte Hundekekse in ihren Seesack.
»OKAY«, verkündet sie. Sie dreht sich mitten im Zimmer um sich selbst, um zu schauen, ob sie etwas vergessen hat. Sie trägt ihr blaues Haus-Orca-T-Shirt und Blümchenshorts über einem Badeanzug. Ihr Gesicht ist gerötet und ihr krisseliges blondes Haar steht in drei verschiedene Richtungen ab. Ich habe Fotos von ihr als Baby gesehen: Pausbäckchen zum Reinkneifen, große blaue Augen, ein erschrockener Gesichtsausdruck nach dem Motto: Was mache ich eigentlich in diesem Universum? Sie hat sich nicht wirklich groß verändert.
»ICH BIN BEREIT!«, beschließt sie.
»Nicht so laut, Babe«, sagt Nelinha.
»Tschuldigung«, sagt Ester. »Dann los! Sonst verpassen wir den Bus!«
Ester findet es schrecklich, zu spät zu kommen. Das ist eine der Ängste, bei denen Top ihr helfen soll. Wie Top irgendwen weniger ängstlich machen sollte, habe ich nie begriffen, aber er ist das niedlichste Tier zur emotionalen Unterstützung, das ich mir überhaupt nur vorstellen kann. Ein Teil Jack Russell, ein Teil Yorkie, ein Teil Tornado.
Er schnüffelt an meiner Hand, als er hinter Ester aus dem Zimmer läuft. Ich habe nicht allen Tintenfischsaft unter meinen Fingernägeln weggeschrubbt.
Ich schnappe mir die Tasche, die ich gestern Abend gepackt habe. Ich nehme nicht viel mit: Kleider zum Wechseln. Neoprenanzug. Tauchermesser. Taucheruhr. Wir wissen alle nicht, wie die Wochenendprüfungen aussehen werden. Sie werden vor allem unter Wasser stattfinden (wer hätte das gedacht!), aber die Leute aus der Oberstufe wollen uns nichts Genaueres verraten. Sie nehmen ihr Schweigegelübde sehr ernst. Es ist echt nervig.
Ich renne los, um meine Freundinnen einzuholen.
Um auf den Schulhof zu gelangen, müssen wir die Treppe hinuntergehen und den Trakt der achten Klasse durchqueren. Lange Zeit habe ich das für einen ärgerlichen Konstruktionsfehler gehalten. Dann ging mir auf, dass die Zimmer wohl absichtlich so angelegt wurden. Es bedeutet, dass der Laich mehrmals am Tag Platz machen muss und uns Neuntklässler voller Angst und Ehrfurcht anstarrt. Wir dagegen können, immer, wenn wir dort hindurchgehen, denken: So gering wir auch sein mögen, wir sind wenigstens nicht diese armen Wichte. Sie kommen mir alle so klein, jung und ängstlich vor. Ich frage mich, ob wir im vorigen Jahr auch so ausgesehen haben. Vielleicht sehen wir für die aus der Oberstufe immer noch so aus. Ich stelle mir vor, wie Dev lacht.
Draußen wird der schöne Tag immer wärmer. Als wir über den Campus laufen, denke ich an die vielen Unterrichtsstunden, die ich wegen unseres Ausflugs verpasse.
Die Sportanlagen: sechs Kletterwände, zwei Seilgärten, heiße und kalte Yogaräume, Plätze für Basketball, Racquetball, Volleyball und Bungeeball (mag ich am liebsten). Aber Freitage sind für Kampfsport reserviert. Ich würde meinen Vormittag damit verbringen, bei Malla-Yuddha-Kämpfen gegen die Wand geschleudert zu werden. Ich kann nicht behaupten, dass ich das vermissen werde.
Das Aquarium: die größte private Forschungseinrichtung der Welt, wie mir gesagt wurde, mit einer größeren Vielfalt an Seelebewesen als Monterey Bay, Chimelong oder Atlanta. Wir betreiben Rettungs- und Rehastationen für Lederschildkröten, Otter und Seelöwen (die alle meine geliebten Babys sind), aber heute würde ich die Aalbehälter schrubben müssen, also, bis dann!
Die Schwimmhalle: drei Schwimmbecken, darunter das Blaue Loch, das groß und tief genug für U-Boot-Simulationen ist. Ein größeres Schwimmbecken hat auf der ganzen Welt nur die NASA. So sehr ich den Tauchunterricht in der Halle auch liebe, ich würde mich jederzeit für das offene Meer entscheiden.
Schließlich kommen wir an der Verne Hall vorbei, dem »Goldstatus«- Forschungstrakt. Was darin vor sich geht, ahne ich nicht einmal. Der Zutritt ist uns erst in der Elften erlaubt. Vernes vergoldete Metallfassade hebt sich von den weißen Gebäuden auf dem Campus ab wie ein Goldzahn. Die dunklen Glastüren scheinen mich immer zu verspotten. Wenn du so cool wärst wie dein Bruder, dürftest du vielleicht hier rein. HA-HA-HA-HA.
Man sollte meinen, dass bei vierzig Leuten in der Oberstufe irgendwer willens ist, ein bisschen saftigen Klatsch über die Goldstatus-Kurse zu verbreiten, aber nix. Wie ich schon sagte, ihre Verschwiegenheit ist unerschütterlich und nervig. Ehrlich, ich weiß nicht, ob ich das so durchhalte, wenn ich erst mal in der Oberstufe bin, aber das ist ein Problem für irgendwann später.
Auf dem Haupthof lungern die aus der Zwölften auf dem Rasen herum. Sie haben alles hinter sich, bis auf die Abschlussprüfungen und die Examensfeier, diese Glücksschweine. Dann geht es weiter zu Eliteuniversitäten und verheißungsvollen Karrieren. Ich sehe Dev nicht, wohl aber seine Freundin Amelia Leahy, meine Hauskapitänin, die mir über den Rasen hinweg zuwinkt. Sie gebärdet: Viel Glück.
Ich gebärde zurück: Danke.
Ich sage mir, das werde ich brauchen.
Ich sollte mir keine zu großen Sorgen machen. Unsere Klasse ist schon auf zwanzig Personen geschrumpft – die Höchstanzahl, die weiterkommen darf. Wir haben im Laichjahr zehn von uns eingebüßt. Und in diesem Jahr sind es bisher vier weitere. Theoretisch könnten wir anderen also alle die Auslese überstehen. Außerdem geht meine Familie seit Generationen auf die HP. Und ich bin die Jahrgangspräfektin von Haus Delfin. Ich würde wirklich gewaltigen Mist bauen müssen, um rauszufliegen.
Ester, Nelinha und ich sind fast die Ersten beim Bus. Aber natürlich ist Gemini Twain schon vor uns da. Er steht mit seinem Klemmbrett in der Tür, um Namen zu notieren und alles zu treten, was einen Tritt braucht.
Der Hai-Präfekt ist groß, dunkel und schlaksig. Hinter seinem Rücken wird er von allen Spiderman genannt, weil er aussieht wie Miles Morales aus Spider-Man: A New Universe. Allerdings ist er längst nicht so cool. Wir haben seit letztem Jahr eine Art Waffenstillstand geschlossen, aber ich kann ihn immer noch nicht leiden.
»Nelinha da Silva.« Er hakt ihren Namen ab, weicht ihrem Blick aber aus. »Ester Harding. Präfektin Ana Dakkar. Willkommen an Bord.«
Bei ihm klingt unser Zubringerbus wie ein Schlachtschiff.
Ich deute eine kleine Verbeugung an. »Danke, Präfekt.«
Sein Auge zuckt. Alles, was ich tue, scheint ihm auf die Nerven zu gehen. Mir ist das nur recht. In unserem Laichjahr hat der Kerl Nelinha zum Weinen gebracht. Das werde ich ihm nie verzeihen.
Heute ist Bernie unser Fahrer. Er ist ein netter alter Typ, ehemaliger Marinesoldat. Er hat ein kaffeefleckiges Lächeln und knorrige Hände wie Baumwurzeln.
Dr. Hewett sitzt neben ihm und geht den Tagesplan durch. Wie immer ist Hewett bleich, verschwitzt und unordentlich gekleidet. Er riecht nach Mottenkugeln. Er unterrichtet das Fach, das ich am wenigsten mag, Theoretische Meereskunde, TMK. Die meisten von uns nennen es Totes-Meer-Kram. Manchmal benutzen wir statt Kram auch ein anderes Wort, das mit K anfängt.
Hewett ist ungeheuer streng, was nichts Gutes für die Prüfungen verheißt. Meine Freundinnen und ich setzen uns im Bus ganz nach hinten, so weit weg von ihm wie möglich.
Sowie alle zwanzig Schüler und Schülerinnen des neunten Jahrgangs an Bord sind, fährt der Bus los.
Am Haupttor winken und lächeln die schwer bewaffneten paramilitärischen Heinis, als wir durchfahren, so nach dem Motto: Schönen Tag noch, Kids. Nicht sterben! Ich vermute, die meisten Highschools haben nicht solche strengen Sicherheitsvorkehrungen und auch keine Flotte aus winzigen Überwachungsdrohnen, die ununterbrochen über dem Campus kreisen. Es ist schon komisch, wie schnell man sich daran gewöhnt.
Als wir auf den Highway 1 abbiegen, schaue ich mich zum Campus um – eine verwirrende Ansammlung von Würfelzuckerhäusern, die oben auf den Klippen über der Bucht thronen.
Mich überkommt ein vertrautes Gefühl: Ich kann es nicht fassen, dass ich hier zur Schule gehe. Dann fällt mir ein, dass mir gar nichts anderes übrig bleibt, als hier zur Schule zu gehen. Nach dem, was unseren Eltern passiert ist, haben Dev und ich auf der ganzen Welt kein anderes Zuhause.
Ich möchte wissen, warum ich Dev beim Frühstück nicht gesehen habe. Was haben die Sicherheitsleute wohl gesagt, als er von dem Flackern der Lichter am Sicherheitsgitter erzählt hat? Vermutlich hatte er recht, und es war nichts weiter.
Dennoch schließe ich die Hand um die schwarze Perle in meiner Halsgrube.
Ich denke an die letzten Worte, die meine Mutter jemals zu mir gesagt hat: Ehe du dichs versiehst, sind wir wieder da. Und danach verschwanden sie und mein Vater für immer.
»Neuntklässler.« Bei Dr. Hewett klingt dieses Wort wie eine Beleidigung.
Er steht im Mittelgang, stützt sich mit einer Hand auf eine Rückenlehne und atmet schwer in die Sprechanlage des Busses. »Die Prüfungen an diesem Wochenende werden ganz anders sein, als ihr vielleicht erwartet.«
Sofort hat er unsere Aufmerksamkeit. Aller Augen richten sich auf Hewett.
Der Professor hat die Figur einer Taucherglocke – schmale Schultern, dann wird er zur Taille hin immer breiter, wo sein zerknittertes Hemd halb aus seiner Hose hängt. Seine struppigen grauen Haare und die traurigen, wässrigen Augen lassen ihn aussehen wie Albert Einstein nach einer Nacht voller fehlgeschlagener Berechnungen.
Neben mir sieht Ester ihre Karteikarten durch. Top hat den Kopf auf ihren Schoß gelegt. Sein Schwanz schlägt sanft gegen meinen Oberschenkel.
»In dreißig Minuten«, sagt nun Hewett, »werden wir San Alejandro erreichen.«
Er wartet, bis unser Getuschel verstummt. Wir verbinden San Alejandro mit Shopping, Kino und Karaoke am Samstagabend, nicht mit Prüfungen am Ende des Schuljahrs. Aber ich nehme an, es hat seinen Sinn, dass wir dort starten. Das schuleigene Schiff liegt normalerweise im Hafen vertäut.
»Wir werden uns sofort zum Anleger begeben«, fährt Hewett fort. »Keine Umwege, keine Abstecher, um was zu trinken zu kaufen. Und eure Handys bleiben aus.«
Einige von uns murren. Harding-Pencroft kontrolliert streng die gesamte Kommunikation im Schul-Intranet. Der Campus ist ein einziges Funkloch. Ihr möchtet wissen, wie Quallen sich vermehren? Kein Problem. Ihr wollt YouTube-Videos gucken? Viel Glück.
Die Lehrer behaupten, diese Maßnahmen sollen dafür sorgen, dass wir uns auf unsere Arbeit konzentrieren. Ich halte es jedoch für eine weitere Sicherheitsvorkehrung wie das Unterwassergitter, die bewaffneten Security-Leute oder die Drohnenüberwachung. Ich verstehe es nicht, aber es ist eben einfach so.
Wenn wir sonst in die Stadt kommen, sind wir immer wie dehydriertes Vieh an einem Wasserloch. Wir stürzen in den ersten Laden mit Gratis-WLAN und lassen uns damit volllaufen.
»Ich werde euch weitere Anweisungen geben, sobald wir auf See sind«, sagt Hewett. »Fürs Erste reicht die Information, dass ihr heute herausfinden werdet, worum es an der Academy wirklich geht. Und die Academy wird feststellen, ob ihr den Anforderungen gewachsen seid und überlebt.«
Ich würde gern denken, dass Hewett uns einfach nur Angst einjagen will. Das Problem ist, dass er nie leere Drohungen macht. Wenn er sagt, dass er übers Wochenende zusätzliche Hausaufgaben aufgibt, dann ist das so. Wenn er voraussagt, dass neunzig Prozent von uns bei der nächsten Prüfung durchrasseln werden, dann tun sie das.
Theoretische Meereskunde könnte eigentlich ein spannendes Fach sein. Wir beschäftigen uns vor allem mit Überlegungen, wie Ozeantechnologie in hundert oder zweihundert Jahren aussehen könnte. Oder was passiert wäre, wenn die Wissenschaft einen anderen Verlauf genommen hätte. Was, wenn Leonardo da Vinci sich größere Mühe gegeben hätte, ein Sonar zu entwickeln, nachdem er 1490 die Grundlagen entdeckt hatte? Was, wenn die Pläne für Drebbels »Tauchboot« im 17. Jahrhundert nicht verloren gegangen wären, oder wenn Monturiols anaerobes, dampfbetriebenes Unterseeboot 1876 nicht aufgrund von Geldmangel verschrottet worden wäre? Wäre unsere Technologie heute weiter fortgeschritten?
Es macht schon Spaß, sich darüber Gedanken zu machen, aber … praktischen Sinn hat das irgendwie nicht. Hewett verhält sich, als ob es auf diese Fragen korrekte Antworten gäbe. Aber ich meine, das ist doch theoretisch! Wie kann er Leuten für ihren Aufsatz ein B minus geben, nur weil sie etwas anderes vermuten als er?
Jedenfalls wünschte ich, Colonel Apesh, unser Professor für Militärtaktik, hätte die Leitung dieser Tour übernommen. Oder Dr. Kind, unser Sportlehrer. Hewett kann kaum ein paar Schritte schlurfen, bevor ihm die Luft ausgeht. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie er anstrengende Unterwasserübungen beurteilen will.
Er reicht das Mikrofon an Gemini Twain weiter. Gem hat unsere Gruppen für dieses Wochenende zusammengestellt. Wir werden in fünf Viererteams eingeteilt, aus jedem Haus eine Person. Aber zuerst muss er uns noch ein paar Regeln erklären.
Natürlich muss er das. Er ist ein typischer Hai! Er könnte die Leitung über eine Fußballmannschaft aus Zweijährigen haben und würde in Größenwahn verfallen. Innerhalb einer Woche würden die Kleinen perfekt im Gleichschritt marschieren. Und dann würde Gem einer Kleinkindermannschaft aus der Nachbarschaft den Krieg erklären.
Er rattert eine Liste seiner Lieblingsregeln herunter. Meine Aufmerksamkeit geht ihre eigenen Wege. Ich schaue aus dem Fenster.
Der Highway schlängelt sich in Haarnadelkurven um die Klippen herum. In der einen Minute sehe ich nur Bäume und in der nächsten kann ich die gesamte Küstenlinie bis zur HP zurückverfolgen. Als ich die Schule voll im Blick habe, entdecke ich etwas Seltsames in der Bucht. Eine dünne Kielwasserlinie, die sich dem Fuß der Klippen nähert, genau dort, wo Dev und ich heute Morgen getaucht sind. Ich kann nicht sehen, was sie verursacht. Es ist kein Boot. Und es bewegt sich zu schnell und zu gerade, um von einem Meerestier zu stammen. Irgendetwas ist da unter Wasser, etwas mit Düsenantrieb.
Mein Magen schlingert, als befände ich mich wieder im freien Fall.
Das Kielwasser teilt sich in drei Strahlen. Es sieht aus wie ein Dreizack, dessen Zinken auf die Küstenlinie unterhalb der Schule zustoßen.
»He!«, sage ich zu meinen Freundinnen. »He, schaut mal!«
Als Ester und Nelinha das Fenster erreichen, ist die Bucht schon hinter Bäumen und Felsen verschwunden.
»Was war denn?«, fragt Nelinha.
Dann trifft uns die Druckwelle. Der Bus bebt. Steinquader stürzen auf die Straße.
»Erdbeben!« Gem lässt das Mikro fallen und packt den nächstbesten Sitz, um auf den Beinen zu bleiben. Dr. Hewett wird gegen das Fenster geschleudert.
Risse durchziehen den Asphalt, während wir auf die Leitplanke zuschlittern. Alle zwanzig – gut ausgebildete Neuntklässler – kreischen wie Kindergartenkinder.
Irgendwie bringt Bernie den Bus wieder unter Kontrolle.
Er wird langsamer und hält Ausschau nach einer Stelle, wo er anhalten kann. Wir biegen um eine weitere Kurve und die HP kommt in Sicht, nur jetzt …
Ester schreit auf, woraufhin Top auf ihrem Schoß zu wimmern beginnt. Nelinha presst die Hände gegen die Fensterscheibe. »Nein. Nein. Das kann nicht sein.«
Ich schreie: »Bernie, anhalten! Sofort anhalten!«
Bernie fährt in eine Haltebucht – an einen dieser pittoresken Aussichtspunkte, wo Touristen Bilder vom Pazifik machen können. Wir haben jetzt freien Blick auf die HP, aber pittoresk ist daran gar nichts.
Viele von uns weinen. Wir drücken die Gesichter gegen die Fenster. Meine Eingeweide krampfen sich zusammen vor Fassungslosigkeit.
Eine zweite Druckwelle trifft uns. Wir sehen voller Entsetzen zu, wie ein weiteres massives Stück Küste in die Bucht stürzt und das letzte wunderschöne Stück Würfelzucker mitreißt.
Ich dränge mich durch den Mittelgang. Ich hämmere gegen die Türen, bis Bernie sie aufmacht. Ich renne zum Rand der Klippe und packe das kalte Stahlgeländer.
Ich merke, dass ich verzweifelte Gebete murmele. »Dreiäugiger, Herr Shiva, der alle Wesen nährt, möge Er uns vom Tode befreien …«
Aber es gibt keine Befreiung.
Mein Bruder war auf dem Campus. Zusammen mit einhundertfünfzig anderen Menschen und einem Aquarium voller Meerestiere. Mehr als anderthalb Quadratkilometer der kalifornischen Küste sind in den Ozean gestürzt.
Die Harding-Pencroft Academy ist verschwunden.