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© 2022 Gerfrid Arnold
Einbandgestaltung und Layout: Gerfrid Arnold
Umschlagmotiv
Die „Kinderzeche“ in Dinkelsbühl: Obrist Klaus Sperreuth verkündet der Stadt den „Pardon“. Stahlstich, nach dem Leben gezeichnet von Fritz Bergen, 1899, vom Autor koloriert.

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9783756261925

Inhalt

D´ Dinglschbiller Kinderzech

Dees is sellasmol in d´ schregglia Kriach gwesst, der schier kaa End nidd gnumma hodd. Dreiß´g Joar häbbes in d´r ganz Gechend g´raibert, und bei d´ Baura is kaa Seila und kaa Moggala im Staal din gwesst und aa kaa Henna und kaa Gäggerli af´m Miescht.

Amol sin d´Schweda kumma, dr Obrischt Schberreit hodd si mit seine Landsknecht af d´ Schwedawies naagleecht. Dia häbba sis gmiadli gmacht und häbba ihr Kanona und Zeldla hiegschtellt, a Feierla gschiert und si ebbes recht Guats broota und si mit Bier volllaafa glässt.

Nochd hodd der Schberreit an Boota zun Rood gschickt, der grod beieinander ghockt is. Er hodd saache glässt, dass er nei will in des Reichsschtäddla, und dees schnell dazua.

Wia dees d´Bircher ghärt häbba, sens nidd schlecht verschrocka, und d´Weiber häbba a Gschraa gmacht und d´Kinderla häbba gfust, wall da Schwed duss vorn Dor gwesst is. A jeds hodd Angscht ghäd, wall kanna gwisst hodd, was werra soll.

D´ Hära vum Rood sin glei in dia Roodsstubba nei und häbba hie und her ieberleecht, was ma do macha kennt.

Aner vo denna Hära hodd gsaachd „neilässa!“, dr anner hodd gmaant „dauslässa!“, un aso is des Taach für Taach ganga, wall dr Kaiser kaan aanziger Soldada schicka gwellt hodd.

Drwall häbba dia Schweda z´schiassa aagfangt aaf dia Dürm und Dora vum Schtäddla.

Wia dr Schberreit ball zwaa Wucha af dr Schwedawies gleecha is, is er ganz narrat worra und hodd´n Birchermaschter saacha glässt, dass er jezz es Schtäddla plindern will und aazindt wenn er amol din is, wall er gar so lang warta mäassa hodd.

Im Schtäddla häbbas z´hungera aagfangt, es hodd kann Weck mehr und erscht recht kaa Schdickla Fleisch geeba, un dr Schtaddhauptmaa hodd ieberall verzählt, dass er sei Pulver ball verschossa hodd und dass dia Dürm und Maura ball hie sin. Do is im Roodhaus dr guate Rood deier gwesst, und in derer Stubba is haaß herganga.

Abbr nochd is d´Lore kumma. Des is dia Dochter vun Dorwächter Hürtin gwesst, der bein Roathaburcher Dor aafbasst hodd, was dia Schweda so macha, und soball si wos griert hodd, hod d`Lore in d´ Roodsstubba nieberlaafa mäassa.

Des Mädli is um dia fuchzeah Johr alt gwesst, hodd zwaa langa Zepf ghät und is a rechta guata Kindsmaad gwesst. Wos ganga is, sin era dia Klaana Kinderla am Kiddl ghängt, walls allawall a neis Gschichtla oder Dänzla gwisst hodd. Jezz is in dera Schtubba din gschtanda un d´Kinderla häbba si aa neigieri neidrickt, walls aa ebbas seha und hera gwellt häbba.

Grod hodd dr Birchermaschter gsacht: „Meine Hära, des hilft alles nix, aus is und gaar is – morcha mäassa mas neilässa!“

Und wia d´ hoha Hära den Haufa Kinderla gseha häbba un ganz still worra sin, do is dr Lore z´mol ebbes in Sinn kumma. Sie hod gsacht, dia Kinderla sin wia d´ Engala, mr ganga hi zu denne Schweda, wenns kumma.

Zerscht häbba die Roodhära nidd gmecht. Abr wos wellas annersch dua?

Am annera Daach hodd dia Wach tatsächli des Werntzdor afmacha mäassa, un dia schwedischa Landsgnechd sin in des Schtäddla nei mit Drummla und Drombeda, mit denne Geil, denne Kanona und Fahna.

D´ Rootsleid häbba des schwaarz Sunndigwand mit dia Spitzakrächali aaghät, sin vur d´ Roodhausdir gschdanna und häbba d´ Hiat raa- und d´ Kepf eizocha. Und dr Birchermaschter hodd´n Obrischt Schberreit d´Schlissel vu dr Reichsschtadd af an rouda Samtkissa hieghalta.

Abbr der is in sein weißa Mandl und sein weißa Huat af sein weißa Gaul dob ghockt wiar a Gschbenscht, hodd beas gschaut und si nidd vu dr Stell griert.

Abbr wos wor jezz des?

A Haufa klaana Buaba und Mädli sin mit dr Lore daherkumma, gsunga häbbas a scheans Kirchaliadla, zerscht leis und allawall lauda. Un nochd sins alle afs Pflaschta nakniad und häbba beddeld, dass dr Schberreit den Schtäddla nix aaduat.

Z´mol hodd d´ Schberreit a blondloggis Bibla gsehn, was an da Hand vu dr Lore gschlorbt is. Do hodd er an sei eigns Bibla dengt, was erscht gschdorba is und was grad so ald so alt gwesst is. Er hodd drauf deit, und d´ Lore hod des Bibla zun Gaul naufglangd.

Er hodds aagschaugt, un wia des blonde Bibla zuadrauli an sein Bart zupft hodd, do is sei Herz weich worra.

Un iebern ganza Blotz hodd er gschria: „Weecha eire Kinderla werd des Schtäddla verschont. Dengds immr dra! D´ Kinda sin dia Retter vu Dinglschbill.“

Un seit derer Zeit mecht dia Schtadd a jeds Johr an Jubltaach und a scheas Fescht: d´ Kinderzech.

(Moggala = Kälbchen, gfust = geweint, Kindsmaad = Kindermagd.)

Die Kinder-Bittlegende entstand bald nach dem Dreißigjährigen Krieg und variierte im Laufe der Jahrhunderte. Die Sage von der Lore und ihrer Kinderschar gibt es erst seit den letzten Jahrzehnten vor 1900. Durch das dramatische Volksschauspiel Die Kinderzeche in Dinkelsbühl fand sie dann ab 1897 als Kinderzechsage allgemeine Verbreitung in Presse und Schulbüchern.

Vorweg

Was heißt „Kinderzeche“?

Die Dinkelsbühler Kinderzeche hat nichts mit einer Kohlenzeche des Ruhrgebiets zu tun, wie mancher Tourist vermutet. Vielmehr kommt die Bezeichnung vom Essen und Trinken der Schulkinder, deren Zeche Kirche und Stadt bezahlten.

Ursprünglich aber hieß sie Schulzeche, da sie in einem bezahlten Kirchenbrauch der Chorknaben der Lateinschule wurzelt. Den liturgischen Brauch führte die Reichsstadt Dinkelsbühl mit Einverständnis des Stadtpfarrers vor rund 550 Jahren ein. So durften die katholischen Latein- und Chorschüler nachweisbar ab 1629 einen Schulausflug mit Zeche machen.

Nach dem Dreißigjährigen Krieg erlaubte man auch den Evangelischen 1654 eine eigene Lateinschule. Sie führten den Zechausflug in ein Dorfwirtshaus ein, aber bei ihnen durften nicht nur die Knaben der Lateinschule zechen, sondern auch die Buben und Mädchen der Deutschen Schulen. Deshalb schrieb man in den Abrechnungsbüchern bei den Ausgaben wegen der Kinder Schulzeche, was sich zu Kinderzeche abschliff.

Allerlei Vermutungen

Im 19. Jahrhundert begannen die Lokalgeschichtsschreiber, den geschichtlichen Hintergrund des Schulfests zu ergründen und über die Herkunft des Bürger- und Heimatfests zu spekulieren. In der evangelisch-katholischen bayerischen Landstadt beschäftigte die Gemüter nicht zuletzt die Frage, ob die Kinderzeche ursprünglich evangelisch oder katholisch gewesen sei. Beim jährlich aufgeführten Festspiel Die Kinderzeche in Dinkelsbühl nahmen die Verantwortlichen dann bewusst eine historische Irreführung vor. Doch alle diese Fabeleien können als untaugliche Erklärungsversuche abgetan werden.

Die zeitgeschichtlich am weitesten zurückreichende Deutung sucht die Wurzel der Kinderzeche in einem germanischen Frühlings- und Maifest oder gar in einem Jugendfest zur Mittsommerwende, welches dem Sonnengott geweiht war.

Die Kinderzeche sei als katholisches, achttägiges Kirchweihfest des St. Georgsmünsters entstanden oder aber ein evangelisches Fest der Reformationszeit.

Der Schülerausflug gehe auf ein schulisches Rutenfest zurück, nämlich auf das Schneiden der Haselruten zur Züchtigung der Schüler_innen.

Sie habe ihren Ursprung im Auszug der städtischen Hauptmannsschützen zum Schießwasen oder in einem Schützenfest. Die evangelische Kinderzeche habe sich im Dreißigjährigen Krieg von einem gemeinsamen Fest abgespalten, weil die protestantischen Kinder im Schwedenlager auf dem Schießwasen getanzt hätten, was sich die katholischen Kinder beim protestantischen Feind nicht trauten.

Und nicht zuletzt, was das Historische Festspiel 1897 aufgreift und variiert, das evangelische Schwedenheer habe 1632 die katholisch regierte Reichsstadt Dinkelsbühl hart belagert, bis sich schließlich die Stadt auf Gnade und Ungnade habe ergeben müssen. Hierauf seien die evangelischen Schulkinder dem Obristen Sperreuth, in anderer Version dem Schwedenkönig Gustav Adolf, entgegengezogen, um die Vaterstadt durch ihr Flehen zu retten.

In mancher dieser Erklärungen steckt ein Körnchen Wahrheit, denn das heutige Kinderfest hat sich in rund fünfhundertfünfzig Jahren stark verändert. Hingegen gilt seit der Erstaufführung des Festspiels 1897 die heutige Sage von der Stadtrettung durch den Zug der Kinderlore mit Vorschulkindern bei den Bürgern als die ganze Wahrheit. Obgleich der Autor, Dramaturg Ludwig Stark, darlegte, die Figur der Kinderlore sei als Zugeständnis an den Publikumsgeschmack nötig.

Die Wahrheit kam spät ans Licht

Die wahre Geschichte der Kinderzeche wurde spät aufgedeckt, was mit den besonderen Dinkelsbühler Religionsverhältnissen zusammenhängt. Zweifellos ist die verwickelte Geschichte der Kinderzeche vom Ausflug katholischer Lateinschüler über den Ausflug evangelischer Schulkinder und das Nebeneinander zweier konfessioneller Schulfeste bis in das 19. Jahrhundert eng mit dem Bürgerzwist um den rechten Glauben verknüpft.

Im täglichen Leben der städtischen Bürgerschaft und der Landuntertanen war der Glaube Dreh- und Angelpunkt, und der Glaube beherrschte die Innenpolitik des Reichsstadtstaates Dinkelsbühl. Die Reformation wie die gegenreformatorischen Maßnahmen und insbesondere der Dreißigjährige Krieg mit dem paritätischen Dinkelsbühler Friedensschluss beeinflussten das Geschehen wie keinen anderen im Deutschen Reich.

Die erste ausführliche Darstellung veröffentlichte Stadtarchivar Joseph Greiner unter dem Titel Die Kinderzeche in Dinkelsbühl in der Zeitungsbeilage Alt-Dinkelsbühl 1927. Er ging von einem gemeinsamen Schulfest aus und unterschied die getrennte Entwicklung zweier konfessioneller Zechen nicht. Irrigerweise galt ein Rechnungsbeleg vom Jahr 1635 als erster für einen Auszug von Schülern, was die Entstehung der Kinderzeche anlässlich der schwedischen Stadteinnahme durch Obrist Claus Dietrich von Sperreuth 1632 glaubhaft machte. Diese Hypothese war Mitte des 19. Jahrhunderts zur Wahrheit erklärt worden.

Dagegen veröffentlichte der Autor in seiner Buchpublikation Wegen der Kinder Schulzech 1994 Quellenmaterial des Stadtarchivs und wies getrennt gefeierte katholische und evangelische Schulzechen nach. Außerdem belegten zwei Zechzahlungen von 1629, dass die Stadtübergabe an den schwedischen Obristen Sperreuth 1632 nichts mit der Entstehung des Schulfestes zu tun haben kann.

In Joseph Greiners Abhandlung nimmt die Kinderzechgeschichte des 19. Jahrhunderts und die Neue Kinderzeche nach Einführung des Festspiels und des Festzugs 1897 breiten Raum ein. Man blieb im Festspiel bei der Fama, dass Sperreuth die Stadt durch eine regelrechte Belagerung zur Übergabe gezwungen habe. Dies, obwohl Johann Friedrich Schad zwei Jahrzehnte davor in seiner Arbeit Schicksale der Stadt Dinkelsbühl während des 30jährigen Krieges den wirklichen Verlauf der Stadtübergabe dargestellt hatte. Walter Bogenberger veröffentlichte dann in der Festschrift zum Dinkelsbühler Schwedenjahr 1982 in seinem Beitrag Die Einnahme Dinkelsbühls durch die Schweden 1632 detailliert die Eintragungen der sogenannten Evangelischen Religionsakten: Stadtabgeordnete verhandelten mit Sperreuth in dessen Standquartier Weißenburg, der dann ohne einen Kanonenschuss abzugeben, die Stadtherrschaft übernahm.

Die heutige, konfessionell gemeinsam begangene Historische Kinderzeche, wurde vor 125 Jahren federführend von Ludwig Stark erschaffen. Sie wurde im Jahr 1897 mit seinem Festspiel, in dem er Wahrheit und Dichtung mit dem „Mythos“ Kinderlore geglückt zusammenfügt, und einem Historischen Umzug aus der Taufe gehoben. Die jüngere Entwicklung wurde in der Festschrift 1997 des Historischen Vereins Alt-Dinkelsbühl mit verschiedenen Beiträgen festgehalten.

Zur älteren Kinderzeche veröffentlichte der Autor nach seiner Buchveröffentlichung 1994 als Stadtarchivar weiteres Quellenmaterial im Periodikum Alt-Dinkelsbühl, das zusätzliche Erkenntnisse über die Zechen lieferte und sie neu bewerten ließ.

Die Stadt stiftet einen Umzug

Die Latein- und Chorschüler ziehen vor 550 Jahren um

Das älteste, seit 1629 nachweisbare Dinkelsbühler Zechfest war ein Ausflug der Lateinschüler, die zugleich auch Chorschüler in der Pfarrkirche St. Georg waren. Man zog in ein nah gelegenes Dorfwirtshaus nach Segringen und Seidelsdorf, um dort auf Kosten von Stadt und Kirche zu zechen.

Es spricht viel dafür, dass die Wurzeln in einem liturgischen Brauch liegen. Der reichsstädtische Rat führte ihn vor 1475 auf Anregung auswärtiger frommer Leute ein. Er holte dazu nicht die Erlaubnis der Kirche ein, tat es aber einvernehmlich mit dem Stadtpfarrer. Die Stadtkasse zahlte vier Chorschülern der Lateinschule für einen besonderen Kirchendienst vierteljährlich zwei Pfund hiesiger Währung, was umgerechnet im Jahr vier Gulden ausmachte. Dies war genau der Betrag, der später von der Stadt vor Ferienbeginn an den Schulfesten ausgezahlt wurde.

Der neue Brauch war eine kirchliche Prozession der Lateinschüler und andächtiger Bürger_innen: Wenn der Priester das heilige Sakrament zu einem Kranken brachte, sollte er dies im Chorrock und Ornat tun. Ihm voran sollten vier Schüler im Chorrock mit Lobgesang gehen und Fähnlein und Laternen tragen. Dabei sollte ein Glöcklein läuten, um weitere Schüler und auch fromme Leute, die einen Sündenablass haben wollten, zum Mitziehen zu ermuntern.

Den Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen dem liturgischen Zug der Latein- und Chorschüler und der späteren katholischen Lateinschulzeche gibt ein mysteriöser Vermerk. Nur wenige Jahre nach der ersten Bezahlung des Zechausflugs der Lateinschüler heißt es nämlich bei den Rechnungsbelegen altem Herkommen gemäß. Der Schreiber begründete offensichtlich die neuen Ausgaben mit einer älteren Stiftung. Das kann nur der liturgische Umzug gewesen sein.