Gegenwart
Jonna drehte nachdenklich die Kaffeetasse zwischen ihren Händen und schaute zum Fenster hinaus. Schon seit einer Woche bedrängte Markus sie, endlich einen Termin mit dem Makler zu vereinbaren, um das Haus zu besichtigen. Sie hatte sich gesträubt, um Aufschub gebeten und gehofft, dass das Haus bis dahin schon verkauft worden wäre. Aber das Universum hatte sie nicht erhört.
„Jonna, möchtest du dich nicht langsam fertig machen?“
Markus lehnte am Türrahmen und musterte sie fragend.
„Einen Moment noch, ich will nur in Ruhe meinen Kaffee trinken.“
„Okay“, erwiderte er knapp, drehte sich um und verschwand wieder im Arbeitszimmer.
Ihre Beziehung hatte sich auf eine gewisse Weise festgefahren und Markus steuerte mit aller Macht dagegen an. Er war felsenfest davon überzeugt, dass ein Ortswechsel ihnen den Weg in die richtige Richtung weisen würde. Frische Landluft, Gartenarbeit und Spaziergänge im Grünen sollten dazu dienen, ihrem Liebesleben wieder neuen Schwung zu verleihen.
Doch Jonna hatte nie aus Stockholm weggewollt. Sie liebte die Altbauwohnung mit den stuckverzierten Decken und den antiken Kachelöfen, die von der einstigen Pracht dieser Wohngegend erzählten. Außerdem fühlte sie sich vom pulsierenden Leben der Stadt mitgerissen und inspiriert. Nur ihrer Liebe zu Markus war es geschuldet, dass sie schließlich klein beigegeben hatte.
Mit einem Seufzen stellte sie die Kaffeetasse in die Spüle und setzte sich vor den Schminkspiegel, um ihre Blässe mit ein wenig Make-up zu überdecken. Schon seit über einem Jahr versuchten sie, ein Kind zu zeugen, und scheiterten kläglich. Der Druck war enorm und weder Markus noch sie konnten sich erklären, warum es einfach nicht klappen wollte. Sämtliche Untersuchungen hatten grünes Licht gegeben, doch der lang ersehnte Nachwuchs war ausgeblieben.
Jonna streifte sich ein geblümtes Sommerkleid und Sandalen über und griff nach ihrer Tasche, die sie sich locker über die Schulter hängte.
„Schatz, ich bin dann so weit.“
Markus kam mit einem Strahlen aus dem Arbeitszimmer.
„Toll siehst du aus“, sagte er anerkennend. „Du wirst sehen, diesmal haben wir den richtigen Fisch am Haken“, schwärmte er.
Jonna konnte seinen Enthusiasmus nicht teilen und schwieg, um seine Vorfreude nicht zu dämpfen. Mit gemischten Gefühlen folgte sie ihm zum Wagen.
„Das Wetter ist perfekt und wenn der strahlend blaue Himmel kein gutes Omen ist, was dann?“
„Mhm.“
Sie konnte sich zu einem Lächeln durchringen, obwohl sich ihre Begeisterung in Grenzen hielt. Markus legte seine warme Hand auf ihr Knie, eine Geste, die er schon seit Urzeiten nicht mehr gemacht hatte.
„Es fühlt sich wie eine Befreiung an, nicht mehr der Hektik der Stadt ausgesetzt zu sein. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ausgepowert ich mich fühle.“
„Wir werden ganz sicher das passende Haus finden“, sagte sie. „Wenn nicht heute, dann an einem anderen Tag.“
Markus warf ihr einen irritierten Seitenblick zu.
„Warum sollte es nicht klappen, wo doch alle Zeichen auf Go stehen?“
„Du musst nicht gleich jedes Wort auf die Goldwaage legen“, antwortete sie. „Trotzdem bin ich der Meinung, dass wir uns nicht auf dieses Haus versteifen sollten.“
„Aber es wäre perfekt. Ich könnte sofort einen neuen Job antreten, bei dem ich ein Drittel mehr verdiene. Du müsstest nicht mehr arbeiten und könntest dich voll und ganz auf die Familienplanung konzentrieren.“
Ob das wohl erstrebenswert wäre?, dachte sie skeptisch und schwieg.
Natürlich wäre dieses Objekt für eine Familie mit Kind geradezu optimal. Aber sie waren nun einmal ungewollt kinderlos und der Druck könnte sich mit einem Umzug sogar noch verstärken. Nur noch selten herrschte eitel Sonnenschein zwischen Markus und ihr. Immer öfter kam eine Seite in ihnen zum Vorschein, die auf das Ende ihrer Ehe hindeutete.
„Worüber denkst du so angestrengt nach?“, fragte er.
Jonna biss auf ihre Unterlippe. Wäre es gut, ihm ihre Bedenken und Zweifel mitzuteilen?
„Das Haus wird unweigerlich den Druck auf unsere Ehe erhöhen. Es ist noch zu früh, um sich in dieses Abenteuer zu stürzen.“
Markus stieß wütend die Luft aus.
„Ich habe wirklich gedacht, dass wir diese endlosen Diskussionen bereits hinter uns hätten. Die Bank würde einen möglichen Kredit bewilligen. Warum also willst du unser Vorhaben unbedingt ausbremsen?“
„Das will ich doch gar nicht. Aber es fühlt sich falsch an.“
„Jonna, jedes dieser Häuser hat sich deiner Meinung nach falsch angefühlt. Wir können nicht ewig so weitermachen.“
Markus war aufgebracht und konzentrierte sich verbissen auf die Straße. Jonna hatte ihn nicht verärgern und ihm seine gute Laune verderben wollen, aber sie konnte die Worte nun einmal nicht zurücknehmen.
„Wahrscheinlich bin ich für diesen Schritt noch nicht bereit, aber ich lasse mich gern vom Gegenteil überzeugen. Wenn uns das Haus gefällt, dann schlagen wir zu“, lenkte sie ein.
Markus stieß nur einen tiefen Seufzer aus. Er kannte sie nur zu gut und wusste, dass es nur halbherzige Zugeständnisse waren, denen auch noch die Überzeugungskraft fehlte.
„Du weißt doch, dass ich mit einigen Dingen überfordert bin. Der Kaufpreis des Hauses hat nicht nur bei mir Schnappatmung verursacht, und dann willst du auch noch, dass ich meinen Job kündige.“
„Das macht man nun einmal, wenn man ein Kind aufziehen möchte. Man bleibt zu Hause.“
„Aber wir haben kein Kind, Markus.“
„Du musst den Stachel immer noch tiefer ins Fleisch jagen, nicht wahr?“
„Der Kauf des Hauses wird schwer auf uns lasten. Warum willst du das nicht einsehen?“
Markus trat abrupt auf das Bremspedal, wendete und fuhr in die entgegengesetzte Richtung.
„Bist du verrückt geworden?“, rief Jonna aufgebracht.
„Du hast mir gerade deutlich zu verstehen gegeben, dass du dieses Haus nicht kaufen willst. Also fahren wir unverrichteter Dinge nach Stockholm zurück, Ende der Diskussion.“
„Bitte, es tut mir leid, kehr wieder um“, sagte sie entschuldigend.
Markus setzte den Blinker und hielt auf dem Seitenstreifen.
„Wir werden sowieso zu spät kommen.“
Sie sah ihm an, wie enttäuscht er war. Er wollte dieses Haus so sehr und sie ahnte, dass ihre Gegenwehr das Ende ihrer Ehe bedeuten könnte.
„Ich bin bereit“, behauptete sie, obwohl sie wusste, dass es eine Lüge war.
„Bist du dir sicher?“
Sie nickte. „Ganz sicher.“
Markus zögerte nicht lange und sie setzten ihre Fahrt fort. Nach einer Stunde hatten sie ihr Ziel erreicht und er stellte den Wagen vor dem Grundstück ab.
„Wow“, entfuhr es Jonna. „Das Haus sieht größer aus als auf dem Prospekt.“
„Stimmt, auch ich bin positiv überrascht.“
Der Makler, ein junger Mann, eilte auf sie zu, um sie zu begrüßen.
„Ich habe schon befürchtet, dass Sie an diesem Objekt kein Interesse mehr hätten“, sagte er.
„Entschuldigen Sie die Verspätung, aber wir haben uns verfahren“, log Markus.
„Schön. Dann können wir jetzt mit der Besichtigung beginnen.“
Bevor sie eintraten, ratterte der Makler noch einmal sämtliche Eckdaten herunter. Jonna hörte nur mit einem halben Ohr zu und bestaunte das Haus. Die weiße Holzfassade mit geschnitzten Verzierungen, zwei Etagen und der Hauch von Exklusivität vergangener Zeiten. Die Fenster waren aus Holz und der Zahn der Zeit hatte an ihnen genagt. Sie würden mit Sicherheit ausgetauscht werden müssen, zum Glück hatte Markus die Renovierungsarbeiten großzügig kalkuliert. Der Vorgarten war verwildert, weil das Haus einige Jahre leer gestanden hatte. Dennoch konnte Jonna Stauden und Sträucher erkennen, die bei guter Pflege wieder ihre ganze Pracht entfalten würden.
Die Eingangstür schwang leise knarrend auf und gab den Blick in den länglichen Flur frei. Die Luft roch abgestanden und der Staub tanzte im einfallenden Sonnenlicht. Markus und Jonna durchschritten nacheinander die Räume.
„Die Zimmer sind sehr klein, wie das früher eben so üblich war“, erklärte der Makler. „Aber wenn Sie die nichttragenden Wände entfernen, können Sie die Räume vergrößern.“
„Genau das hatten wir geplant“, kommentierte Markus.
„Eine gute Entscheidung, das Haus hat unglaublich viel Potenzial“, schwärmte der Makler, der das Geschäft witterte.
Jonna schwieg und ließ die Innenräume auf sich wirken. Ähnlich wie in ihrer Stockholmer Altbauwohnung gab es auch hier Stuck an den Decken und Öfen, die mit ihren weißen Kacheln einen Hauch von Eleganz verströmten. Insgeheim musste sie Markus zustimmen, dass dieses Haus perfekt für sie war. Und dennoch …
„Na, Schatz, wie findest du es?“
Sie sah in sein strahlendes Gesicht und spürte seine Begeisterung. Der Kauf war entschieden und im Grunde zählte nicht mehr, was sie empfand.
„Es ist wunderschön“, sagte sie.
„Siehst du, ich hatte recht.“
Markus schien in Gedanken bereits die Räume einzurichten. Er diskutierte mit dem Makler, schaute aus jedem Fenster und wandelte über den Flur.
„Hast du schon einen Blick in den Garten geworfen?“
„Nein.“
„Keine Sorge“, sagte der Makler. „Die Gartenbegehung folgt zum Schluss.“
Sie stiegen die knarzende Treppe in die obere Etage. Das Haus war um die Jahrhundertwende erbaut worden und dementsprechend winkelig und unübersichtlich. Markus hatte bereits über den Grundrissplänen vom Exposé gehockt, um die Räume offener und freundlicher zu gestalten.
Die obere Etage war im Großen und Ganzen mit der unteren identisch und der riesige Dachboden bot ebenfalls viel Platz für einen möglichen Ausbau. Die zwei Badezimmer waren winzig und es bestand dringender Renovierungsbedarf. Insgesamt war es ein schönes Anwesen, das nur noch aus seinem Dornröschenschlaf geweckt werden musste.
„Und? Was sagst du?“ Markus drehte sich mit einem fragenden Blick zu ihr um.
„Ein tolles Haus“, raunte sie ihm zu, aber der Makler hatte bereits bemerkt, wie angetan Markus war. Das könnte den Verhandlungsspielraum eingrenzen. „Bitte halte dich mit deinem Enthusiasmus zurück.“
Markus begriff sofort.
„Tut mir leid, ich habe mich hinreißen lassen. Schließlich wollen wir den Preis ordentlich nach unten drücken.“
Sie nickte ihm lächelnd zu.
Nachdem sie die obere Etage besichtigt hatten, stiegen sie in den Keller hinunter. Die Steinwände schienen Jonna zu erdrücken und sie spürte plötzlich eine Art von Beklemmung, die ihr das Atmen erschwerte. Sie fasste sich an die Brust und rang nach Luft.
„Alles in Ordnung?“, fragte Markus besorgt.
„Ja, es liegt nur an der schlechten Luft hier unten“, beschwichtigte sie ihn.
„Bei der Besichtigung des Kellers musst du ja nicht dabei sein, du kannst draußen auf uns warten.“
Jonna nickte ihm dankbar zu, lief nach draußen und setzte sich auf die sonnengewärmten Stufen im Eingangsbereich. Schwalben schossen pfeilschnell über sie hinweg und ein frei laufender Hund hob sein Bein an der Gartenpforte. Fahrzeuge fuhren so gut wie keine vorbei und es herrschte eine friedliche Stille.
Alles in allem war es ein sehr schönes Haus in einer sehr schönen Gegend, aber irgendetwas in ihr sträubte sich noch immer. Den Grund dafür konnte sie nicht nennen, es war nur so ein diffuses Gefühl.
Der Makler und Markus erschienen hinter ihr in der Tür.
„Bereit für den Garten?“
Sie erhob sich und folgte den Männern zum hinteren Teil des Anwesens. Der Garten lag verwunschen vor ihr und trotz des Unkrauts konnte sie noch die Aufteilung der Beete erkennen. Dahinter erstreckte sich eine Wiese mit Obstbäumen.
„Perfekt, um Kinder großzuziehen. Nicht wahr?“, sagte der Makler.
„Da haben Sie recht“, pflichtete Markus ihm bei.
„Haben Sie sich bereits entschieden?“
Jonna tauschte mit Markus einen Blick und schüttelte unauffällig ihren Kopf.
„Wir möchten noch eine Nacht darüber schlafen“, antwortete er.
„Das kann ich gut verstehen, aber warten Sie nicht zu lange“, riet der Makler.
„Wir werden uns in Kürze bei Ihnen melden“, versprach Markus.
„Gibt es Informationen über die Vorbesitzer? Warum verkaufen sie das Haus?“, fragte Jonna und erntete von Markus einen verärgerten Blick.
„Nach dem Tod des Eigentümers ist dessen Frau in eine Pflegeeinrichtung gewechselt, und der Sohn hatte kein Interesse an diesem Objekt.“
„Vielen Dank für die Auskunft. Immerhin erklärt das den Zustand des Hauses“, sagte sie.
„Ja, es muss eine Menge daran gemacht werden“, stimmte der Makler ihr zu. „Aber das Haus ist ein Juwel, das aus dem Schlaf geweckt werden will“, erwiderte er. „Haben Sie noch weitere Fragen?“
Sie verneinten.
„Dann würde ich jetzt einen weiteren Termin wahrnehmen und mich von Ihnen verabschieden“, sagte den Makler.
Jonna und Markus warteten, bis er davongefahren war.
„Komm“, sagte Markus, umfasste ihr Handgelenk und zog sie mit sich.
„Wir können doch nicht so einfach …“, protestierte sie.
„Und ob wir das können“, erwiderte Markus lachend. „Das ist unser zukünftiges Heim, das lasse ich mir von niemandem streitig machen.“
Sie umrundeten das Haus und liefen den schmalen Pfad entlang, der zur Obstwiese führte. Margeriten und Lupinen blühten hier und das kniehohe Gras streifte ihre Beine.
„Ich glaube, ich habe dort hinten einen Erdkeller gesehen“, sagte Markus und lief voraus. Er war nicht zu bremsen, der Hauskauf schien für ihn beschlossene Sache und ein riesengroßes Abenteuer zu sein.
Die Tür zum Erdkeller war nicht gesichert und Markus öffnete sie.
„Schön groß, hier könnte man Partys feiern“, sagte er und Jonna musste lachen.
„Weil du der Partylöwe schlechthin bist.“
Markus liebte es, nach dem Feierabend gemütlich in seiner Jogginghose auf der Couch zu liegen. Die wilden Zeiten waren definitiv vorbei.
„Was nicht ist, kann ja noch werden“, antwortete er.
„Dann streng dich mal an.“
Jonna warf einen Blick zum Haus, das mit seinen dunklen Fensterhöhlen ein wenig unheimlich wirkte. Ob sie sich hier tatsächlich wohlfühlen könnte?
„Wie stehst du wirklich zu diesem Haus?“, fragte Markus unvermittelt.
„Ich bin irgendwie zwiegespalten. Haus und Grundstück sind toll, gar keine Frage, aber ich bin mir nicht sicher, ob wir die richtigen Besitzer sind“, antwortete sie.
„Ich kann deine Zweifel leider nicht nachvollziehen“, antwortete er.
„Wir sollten, wie abgesprochen, eine Nacht darüber schlafen. Und morgen legen wir die Karten auf den Tisch.“
„Wie du meinst“, erwiderte Markus enttäuscht, der mit einer positiven Antwort gerechnet hatte.
„Gib mir bitte die Zeit, um alles zu überdenken. Ich werde dich sicher nicht enttäuschen“, sagte sie.
„In Ordnung“, erwiderte er knapp und kehrte mit hängenden Schultern zum Wagen zurück.
Jonna ahnte, dass Markus ein Nein nicht akzeptieren würde. Dieses Haus hatte etwas an sich, das es ihr schwer machte, sich wohlzufühlen. Ob es am langen Leerstand lag oder weil es noch nicht renoviert worden war, konnte sie nicht sagen. Allein die Erinnerung an die Beklemmungen im Keller jagten ihr einen Schauer über den Rücken.
Sie warf einen letzten Blick zurück und folgte Markus, der bereits den Motor angelassen hatte.