SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes wurden nachträglich einige Namen geändert.
ISBN 978-3-7751-7559-3 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-6164-0 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck
© 2022 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: info@scm-haenssler.de
Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006
SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen
Lektorat: Anna Müller
Gesamtgestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.grafikbuero-sonnhueter.de
Titelbild: © Maren Kreiter
Weltkarte: © pockygallery (shutterstock.com)
Autorenfoto: © Nathalie Kailer
Für dich.
Deine dich liebende Enkelin.
Über die Autorin
Prolog
Kanada
Der erste Schritt ins Abenteuer
Alaska
Von der Polizei gesucht
USA, Westküste
Das Prinzip der Menschlichkeit
Die Vereinigten Arabischen Emirate
Land der Extreme
Oman
Ein schmaler Grat
Australien, Südküste
Wenn Abenteuer Geschichten schreiben
Kambodscha und Laos
Wo die Uhren langsamer ticken
Vietnam und Bali
Geordnetes Chaos
Australien, Nordwesten
Das Leben ist schön
Australien, Osten
Der rote Kreis schließt sich
Neuseeland
Gemeinschaft in der Fremde
Papua-Neuguinea
»For her Safety!«
Taiwan
Die Sprache des Lächelns
Südkorea
Liebenswerte Andersartigkeit
Japan
Unter Wasser gesetzt
Russland, Teil 1
In der roten Eisenbahn
Mongolei
Der verborgene Edelstein
Russland, Teil 2
Expressversand mit Einschreiben
Osteuropa
Das Land, das es nicht gibt
Deutschland
Endlich zuhause?
Epilog
Anmerkungen
Bildnachweis
Maren Kreiter Jg. 1991 hat Biologie studiert und ist heute in der Krebstherapie tätig. In ihrer Freizeit ist sie gerne im In- und Ausland mit dem Rucksack unterwegs oder verbringt Zeit mit ihren Freunden. Sie lebt im Großraum Stuttgart und ist Teil einer evangelischen Freikirche.
Skeptisch blicke ich Donald an. Diesen fremden Mann, der mir gerade gesteht, er sei die letzten zwei Stunden dem Lkw gefolgt, der mich bis hierher mitgenommen hatte. Als ich ausstieg, war er hinter uns auf den Seitenstreifen gefahren. Nur um mir jetzt anzubieten, mich ein Stück meines Weges mitzunehmen. Oder noch weiter. Wo immer ich hinwolle. Er habe Zeit.
So skurril der Mann und diese ganze Situation auf mich wirken – ich habe nicht das Gefühl, dass er mir etwas Böses will. Aber es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.
Es ist bereits dunkel, als wir in Mildura, im Bundesstaat Victoria in Australien, ankommen. Donalds Haus ist düster und groß. Es wirkt wie der Schauplatz eines Horrorfilms, bei dem man nur darauf wartet, dass jeden Moment etwas Schreckliches passiert. Aber es bleibt ruhig. Nur eine Hälfte des Hauses wird tatsächlich genutzt. Die andere Hälfte, in der sich ein dunkler, von Staub bedeckter Holztisch und weitere Räume befinden, ist durch ein schwarzes Tuch vom Rest des Hauses abgetrennt. Donald führt mich in seine Küche. Dreckiges, vor sich hin schimmelndes Geschirr stapelt sich auf der Ablage. Das schmierige Spülbecken wird eingenommen von einem großen Kochtopf, dessen Inhalt bereits Fäden zieht. Spinnweben behängen Ecken, Schränke und Schubladen. Im Wohnzimmer steht einsam eine Couch vor einem dunklen Fernsehschrank. Donald bietet mir für die Nacht ein Bett in einem der ungenutzten Räume an. Aber so nett diese Geste auch ist – ich ziehe es vor, im Garten mein Zelt aufzustellen.
Donald fühlt sich alleine. Jede Ecke seines Hauses, der Klang seiner Worte und der Hall seiner Taten schreien mir seine Einsamkeit so stillschweigend entgegen, dass es fast wehtut.
Während meiner Weltreise bin ich vielen Menschen begegnet. Die meisten machten auf Anhieb einen unterhaltsamen und interessanten Eindruck. Mit anderen musste ich erst ein wenig Zeit verbringen, um zu sehen, was in ihnen steckt. Wieder andere schienen einen anderen Weg zu verfolgen als ich und mich auf meinem Weg nur aufzuhalten. Ein Gedanke, den ich mir während der Reise daher selbst immer wieder in Erinnerung rufe und von dem ich heute überzeugt bin, ist der, dass wir Menschen uns nicht ohne Grund über den Weg laufen. Vielleicht begegne ich einer Person, weil sie ein tröstendes Lächeln oder ein offenes Ohr braucht. Ein anderes Mal, weil ich selbst Ermutigung oder Beistand benötige, ohne dass es mir vielleicht bewusst ist. Oder weil ich durch diese Person etwas lernen soll, wie Geduld, Liebe, für meine Meinung einzustehen oder meine Prioritäten zu überdenken. Zum Teil gehe ich nach einer solchen Begegnung meines Weges und weiß ganz genau, welchen Grund sie gehabt hat. Manchmal bleibt mir der Grund verborgen.
Donald fühlt sich alleine. Jede Ecke seines Hauses, der Klang seiner Worte und der Hall seiner Taten schreien mir seine Einsamkeit so stillschweigend entgegen, dass es fast wehtut. Und von all den eben genannten Gründen treffen mindestens die Hälfte auf die Begegnung zwischen Donald und mir zu. Er genießt sichtlich meine Gesellschaft. Und ich genieße seine.
Nachdem ich ihm geholfen habe, seine Wohnung auf Vordermann zu bringen, kann ich am nächsten Morgen guten Gewissens wieder weiterziehen, mit dem zufriedenstellenden Gefühl, dass auch diese seltsame Begegnung zu irgendetwas gut gewesen war.
Dieses Buch soll dich mitnehmen auf meine Reise unter den Menschen. Eine Reise, bei der ich nicht aus eigenem Tun vorwärtskam, sondern durch die Güte und Gastfreundschaft anderer Menschen. Und bei der ich einen neuen Blick bekam – auf Gott, seine Schöpfung und meine Mitmenschen.
Alles, was ich tat, war loszugehen – nicht mit Erwartungen, sondern einfach drauflos. Ohne Ziel – aber mit der Neugier darauf, wohin die Reise mich führen würde. Nicht weil ich etwas gesucht hätte – und dennoch bin ich fündig geworden. Ich gab der Welt eine Chance, mir zu beweisen, dass sie gut ist. Und sie zeigte es mir.
Dieses Buch soll dich ermutigen, die Perspektive zu wechseln. Deine Komfortzone zu verlassen. Den Blick auf die Schönheit in unserer Unterschiedlichkeit zu richten. Anmut zu entdecken in Vielfalt und Komplexität. Im Miteinander. Denn die Art, wie wir die Welt betrachten, liegt in uns.
Und so fing alles an.
Tim, Simon, Ernist, Lilian und Matt
WG Casting in Freiburg. Meine Freundin Lena und ich verabschieden eine gemeinsame Mitbewohnerin und machen uns einen Spaß daraus, aus Hunderten von Interessentinnen die Eine zu finden, die zukünftig in unsere WG passen soll. Aufgrund der vielen Anfragen haben wir den Luxus, Leute wegen Kleinigkeiten auszuschließen – nur die spannendsten Menschen werden persönlich eingeladen. Unter vielen anderen auch ein Mädchen, dessen Namen ich heute nicht mehr weiß. Aber dass ihre Geschichte mich fasziniert hat, daran erinnere ich mich noch. An ihre Anekdoten aus dem Ausland. An den Charme einer Abenteurerin, der in jedem ihrer Worte mitschwingt. An ihre Geschichten vom Leben in der Fremde und der Arbeit auf einer Wasserbüffelfarm. Ich hänge an ihren Lippen, und was ich am Ende des Tages aus diesem Casting mitnehme, ist: Ich will auf eine Wasserbüffelfarm!
Ich will das, wovon sie erzählt hat! Kurz entschlossen mache ich mich auf die Suche und habe nach raschem E-Mail-Wechsel den Platz sicher, auf einer Wasserbüffelfarm auf Vancouver Island, Kanada.
Drei Jahre Biologiestudium liegen hinter mir. Die letzten Monate, in denen ich im Rahmen meiner Bachelorarbeit täglich, bei jedem Wetter, über 20 Ameisenkolonien aufgesucht und näher untersucht habe, haben meinen Entdeckergeist nur noch mehr angekurbelt. Durch viele Arbeitsstunden, die ich nach meinem Studium in einer Pizzeria, einer Klinik und einem Restaurant geleistet habe, komme ich schnell zu den nötigen Finanzen für den ersten Flug. Kurz nach meinem 23. Geburtstag verabschiede ich mich von Freunden und Familie, denn es geht los.
Ich reduziere meinen zukünftigen Besitz auf einen 13-Kilo-Rucksack und lege 6300 Kilometer Luftliniendistanz mit dem Flugzeug zurück. Dann bin ich angekommen. In Kanada.
Es ist einer der kältesten Winter, die Nordamerikas Osten je erlebt haben soll. Einige Staaten der USA erreichen einen Temperaturrekord, in Toronto lassen eisige Böen die Temperatur auf gefühlte -35 Grad sinken. Trotz Thermounterwäsche, mehrerer Textilschichten und winddichter Überkleidung ist die Kälte noch deutlich spürbar. Sie zieht mir direkt in die Knochen. Mein Gesicht brennt und der aufsteigende Dampf des Atems verfängt sich in meinen Wimpern, wo er sofort zu winzigen Eiskristallen gefriert. Es ist so kalt, dass sogar die weltbekannten Niagarafälle teilweise gefroren sind. Eis- und Schneekaskaden von 30 Metern Höhe haben sich gebildet und lassen die Fälle wie ein weißes Kunstwerk erscheinen.
Mit dem Bus reise ich von Toronto im Osten bis nach Vancouver im Westen Kanadas. Innerhalb kürzester Zeit durchziehe ich vier Zeitzonen und mache einen Temperaturanstieg von 45 Grad durch, bis ich vor den Toren der Wasserbüffelfarm stehe. Vor der Farm, die mein Anreiz gewesen war, mich auf etwas Neues ein- und alles andere hinter mir zu lassen. Einfach mal das Gewohnte zurückzulassen. Das Gewöhnliche. Die deutsche Art, überall mit- und vieles schlechtzureden. Ich wollte daraus ausbrechen, um zwischen all den Eindrücken und Meinungen, die täglich auf mich einströmen, meine eigene Sichtweise zu finden. In mein Tagebuch schreibe ich an diesem Tag:
Warum eigentlich Kanada? Kanada, Land der unglaublichen Weite, voll von unberührter Natur, tiefgrünen Wäldern, eisigen Seen und gigantischen Bergen! Ein Land, welches solch eine Reinheit und Stille ausstrahlt, dass es in meiner Vorstellung keine menschliche Seele unberührt lassen könnte. Genau das will ich: Fernab von allem, das ich kenne und das mich ablenkt – einfach nur mit mir selbst allein sein und mich von der Faszination dieser Natur berühren lassen. Deshalb Kanada.
Ich erinnere mich noch, wie ich zum ersten Mal den Hof der Wasserbüffelfarm betrete und mir vorkomme wie in einem Bilderbuch. Noch bevor ich das knorrige Tor passiere, strahlt mir das schnuckelige, weiße Holzhaus mit den weinroten Fensterrahmen entgegen: das Bed and Breakfast, in dem ich die ersten Monate auf der Farm wohnen und mithelfen darf. Lilian und ihr Mann Matt empfangen mich herzlich, während ihre kleinen Söhne im Hof mit dem Hund spielen. Vor zwei Jahren haben die beiden ihre Jobs in der Stadt aufgegeben, um Vollzeit auf der Farm zu arbeiten. Liebevoll haben sie auch das Bed and Breakfast aufgebaut und gepflegt. Ich möchte ihnen dabei helfen, wo ich nur kann. Die ersten Wochen putzen Lilian und ich nach einer langen Winterpause das Bed and Breakfast und befreien es gründlich von Spinnweben und Staub, die sich hier mit Vorliebe absetzen. Immer mal wieder springe ich auch als Babysitter für die zwei Kleinen ein, wobei ich meine Geduld und Durchsetzungsfähigkeit trainieren kann. Zeitgleich bekomme ich Einblicke in die Aufgaben auf dem Hof. Vom Bed and Breakfast aus führt ein festgetretener Pfad an den großen Ställen vorbei bis zu einem riesigen Misthaufen. An vereinzelten Stellen des Pfades zweigen kleinere Wege ab, die zu den Weiden führen, auf denen die Wasserbüffel im Sommer grasen werden. Jetzt sind die Weiden noch feucht. Sie müssen erst trocknen und abgemäht werden, um so Heu als Futter für den nächsten Winter sicherzustellen. Aber bald ist es so weit, dann können die Büffel aus den Ställen. Ich helfe dabei, die neugeborenen Kälber mit der Flasche und den älteren Büffeln Heu zu füttern und jede Menge Mist aus den Ställen hinunter zum Misthaufen zu karren.
Langsam beginnt die Saison und erste Gäste besuchen die Farm. Im Bed and Breakfast putze ich die Zimmer vor und nach jeder Belegung. Ich halte den Essbereich sauber und komme dabei mit dem ein oder anderen Gast ins Gespräch. Als sich Langzeitgäste ankündigen, die das komplette Bed and Breakfast gebucht haben, ziehe ich vom Haupthaus in eine Hütte am Rande des Grundstücks. Es gibt kein Internet hier, sodass man leicht das Leben vergessen und gleichzeitig gut darüber nachdenken kann. Es gibt auch keine Heizungen hier, aber es wird nachts noch immer frostig. Jeden Abend mache ich mir daher ein Feuer im Holzofen an. Das ist ziemlich mühsam, da das auch bedeutet, dass ich jeden Abend Holz holen und spalten muss. Und dann noch der Akt des Feuermachens an sich. Oft überlege ich, dass es viel bequemer und zeitsparender wäre, einfach mehr Decken zu besorgen und mich nachts damit einzupacken. Aber letztlich siegt immer mein Ehrgeiz über die Bequemlichkeit, sodass ich mit der Zeit meine eigene Strategie beim Feuermachen entwickle, die mir später noch sehr nützlich werden wird.
Als die Langzeitgäste fort sind und sich für einige Zeit keine Gäste im Bed and Breakfast angekündigt haben, ziehe ich los, um elf Tage lang Vancouver Island zu erkunden.
Mein erstes Ziel ist Newcastle Island, eine kleine, naturbelassene Insel östlich von Vancouver Island, die etwa zehn Minuten mit der Fähre vom Festland entfernt liegt. Die Fähre ist klein und bietet Platz für maximal zehn Leute. Bei der Hinfahrt bin ich die einzige Passagierin, sodass ich Gelegenheit habe, mich mit dem Kapitän zu unterhalten, der mich freundlich daran erinnert, dass die letzte Fähre zurück in nur wenigen Stunden ablegen wird. Ich solle bloß pünktlich sein, da es an diesem Tag sonst keine andere Möglichkeit gäbe, die Insel zu verlassen. Dennoch möchte ich die komplette Insel (knapp 8 Kilometer Wegstrecke) umrunden und dabei nichts ungesehen lassen. Die gesamte Insel ist ein einziger moosüberzogener Regenwald. Außer einem älteren Pärchen treffe ich dort keine anderen Menschen. Immer wieder weiche ich vom Pfad ab, um zu einem der vielen Sümpfe zu gelangen oder tiefer in den Regenwald vorzudringen. Als ich am Strand wilde Waschbären entdecke, bin ich so fasziniert, dass ich alles um mich herum vergesse. Ganz erschreckt springe ich auf, als ich feststelle, dass die letzte Fähre bald ablegen wird. So schnell ich kann, renne ich los. Ich bin viel weiter vom Fährenhafen entfernt, als ich dachte, und sehe mich vor meinem inneren Auge bereits auf der Insel übernachten. Völlig verschwitzt und außer Atem komme ich mit Verspätung am Bootsanleger an, wo der Kapitän schon winkend auf mich wartet. Da wir uns auf der Hinfahrt so nett unterhalten hatten, hatte er sich daran erinnert, dass er mich noch nicht wieder zurück zur Hauptinsel gefahren hatte. Also wartete er auf mich. Was für ein Segen. Danke, Captain!
Die nächste Station auf meinem Kurztrip ist Tofino, ein Surferdorf, in dem viele junge Leute leben. Während meiner Zeit auf der Insel habe ich an einer Reiseform besonders Gefallen gefunden: dem Couchsurfen. Als Couchsurfer bezeichnet man Menschen, die ihre Couch oder ein Gästebett auf Anfrage für Reisende umsonst zur Verfügung stellen, und ebenso diejenigen, die auf den fremden Couches übernachten. Es ist eine Gemeinschaft des Gebens und Nehmens. Über eine Internetseite können sich Gast und Gastgeber miteinander in Verbindung setzen. Jeder besitzt ein persönliches Profil, auf dem man Informationen, wie Hobbys und Interessen über sein Gegenüber einsehen kann. Oft verbindet einen sofortdie gemeinsame Freude am Reisen und das Kennenlernen neuer Kulturen und Menschen. Durch die Anfrage hat man meistens schon vorher Kontakt und kommt sich beim ersten Treffen gar nicht mehr so fremd vor. Couchsurfen ist daher eine ideale Möglichkeit, alleine zu reisen und trotzdem in ständigem Kontakt mit Menschen zu sein.
In Tofino komme ich bei einer Couchsurferin unter. Als wir nach einem langen Abend im Pub mit dem Ruderboot zu ihrem Hausboot fahren, werden wir von einem neugierigen Seelöwen begleitet. Dort, wo unser Ruder das Wasser aufwirbelt, blitzen Tausende kleiner Lumineszenzpartikel auf und lassen das Wasser ringsherum leuchten. An diesem Abend schlafe ich mit dem Rauschen der Wellen ein und werde am nächsten Morgen von Seeottern und dem Geschrei der Adler geweckt, die über dem Wasser kreisen. Ich bin fasziniert von den Möglichkeiten, die mir durch das Couchsurfen plötzlich offenstehen. Während meiner kurzen Reise über die Insel habe ich viele Begegnungen und Erlebnisse ähnlicher Natur. Immer wieder werde ich spontan von Menschen angesprochen und eingeladen. Oder ich werde ganz unerwartet an Orte geführt, die ich »unbedingt gesehen haben muss«. Ich spüre eine schnelle Verbundenheit mit den Menschen, die ich unterwegs treffe. Und auch bei Lilian und Matt von der Farm merke ich, wie zwischen uns eine enge Verbundenheit entstanden ist. Es ist doch erstaunlich: Egal wie schleichend der Prozess gegenseitiger Vertrautheit manchmal voranschreitet. Ehe man sich versieht, gehören die Personen, die mir gestern noch fremd waren, heute selbstverständlich zu meinem Leben dazu. Lilian, Matt und die Kinder sind heute nicht mehr nur die Leute von der Farm für mich, sondern Menschen mit einer Geschichte, von der ich ein kleiner Teil sein darf. Und in mir keimt der Plan, mehr zu entdecken und diesem süßen Duft des Reisens und des Kennenlernens, weiter nachzugehen.
Schnell sind meine drei Monate auf der Farm vorbei und mein letzter Tag steht bevor, der von gemischten Gefühlen geprägt ist. In mir kribbelt es und es ist schwer zu sagen, ob ich mich mehr darüber freue, die Welt weiter entdecken zu dürfen oder meine Eltern wiedersehen zu können, die die Gelegenheit ergriffen haben, um mich in Kanada zu besuchen.
Meine Mutter ist diejenige, die unsere Familie immer wieder bewusst zusammenführt. Schon zu Schulzeiten hat sie immer großen Wert auf gemeinsame Mahlzeiten gelegt. Mein Vater ist es, der uns vier Kindern seine Weltoffenheit und Abenteuerlust vermacht hat. Alle beide sind liebende Elternteile und haben uns schon immer den respektvollen Umgang vorgelebt, den sie auch von ihren Kindern erwarten. Wir hatten wenige Verbote und viele Freiheiten. Wir durften abends ausgehen (was, dem ländlichen Leben im Dorf geschuldet, nur bedingt möglich war), aber jeden Sonntagmorgen gingen wir gemeinsam in die kleine Baptistengemeinde, in der ich groß geworden bin. Ganz getreu dem Motto »Wer abends lange wegbleiben kann, kann morgens auch früh aufstehen«. Der christliche Glaube und die regelmäßigen Gottesdienstbesuche gehörten zu unserem Familienalltag dazu. Und weil dieser Alltag so normal für mich war, war ich lange Zeit nicht herausgefordert, zu hinterfragen, was Glaube für mich persönlich bedeutet. Erst, als ich während des Studiums von zuhause wegzog und auf eigenen Füßen stand, merkte ich, dass mir manche Traditionen, wie die Gottesdienstbesuche, zwar fehlten, aber nicht mehr so wichtig waren. Ich entdeckte schnell, dass die Welt noch vieles andere zu bieten hat, das ich noch nicht kannte.
Jetzt holen mich meine Eltern bei der Farm ab. Anschließend reisen wir zwei schöne Wochen lang mit dem Wohnmobil durch die Wälder, Berge und Nationalparks des kanadischen Inlands. Ich erinnere mich noch, wie ich die beiden nach unserer gemeinsamen Tour am Flughafen in Calgary, Alberta, absetzte. Und plötzlich, beinahe unerwartet, ging sie los, diese neue Art von Freiheit. Die Suche nach Mitfahrgelegenheiten, Essen und einem Dach über dem Kopf. Gerade noch war ich mit meinen liebsten Menschen zusammen gewesen und plötzlich wird mir bewusst: Jetzt bin ich allein.
Da sitze ich also. An einem großen Flughafen in einem fremden Land. Und mir wird schlagartig klar, auf was ich mich da eingelassen habe. Gerade fühlte ich mich noch glücklich und erfüllt, jetzt plötzlich einsam und ängstlich – alles innerhalb der wenigen Sekunden, die es gedauert hat, um meinen Eltern Tschüss zu sagen. Ich fühle mich so allein, wie in nur wenigen Momenten, an die ich mich heute noch erinnern kann. Hier gibt es keine Farm, auf die ich zurückkehren kann. Ich habe keinen Couchsurfer ausfindig gemacht, der eine Bleibe für mich hat. Habe keine Ahnung, wo ich die nächste Nacht schlafen soll. Alles, was ich weiß, ist: Jetzt bin ich vollkommen auf mich allein gestellt. Und vor mir liegt ein Abenteuer, das es zu bewältigen gilt.
Man könnte vermuten, ich sei voller Motivation und Tatendrang aufgesprungen, um dieses Abenteuer anzugehen. Stattdessen sitze ich da, verfalle in Zweifel und spiele mit dem wahrhaftigen Gedanken, die nächsten Tage am Flughafen zu verbringen. Ich rede mir ein, dass es schwer sein würde, vom Flughafen wegzukommen. Dass es bereits spät sei. Dass es bestimmt sicherer wäre, erst mal hierzubleiben. Was ich mir nicht eingestehen will, ist meine Angst vor dem, was ich nicht kannte.
Tatsächlich ist es nicht das Unbekannte selbst, das wir fürchten, sondern das Gesicht, das wir ihm geben. Die vielen möglichen, neuen Situationen, die mit dem Unbekannten in unser Leben treten können. Es ist die Ungewissheit, die wir fürchten. Nicht das Unbekannte, das sie birgt.
Der schwierigste Teil war zunächst also nicht meine Entscheidung, dieses Abenteuer zu beginnen, sondern meinen Mut zusammenzunehmen und aus dem Flughafengebäude herauszutreten. Das zu verlassen, was mir sicher schien, und dem Ungewissen mutig entgegenzutreten.
Als ich mich für diesen Schritt erst einmal entschieden hatte, öffneten sich mir ganz neue Welten.
Direkt vor den Flughafentoren treffe ich eine Backpackerin, die mit dem Auto Richtung Westen unterwegs ist. Ich fahre mit ihr bis zu einem kleinen Dorf am Fuß der Rocky Mountains. Dort trennen sich unsere Wege. Es ist kühl und es dämmert bereits. In meinem Rucksack befindet sich ein Schlafsack, doch ich besitze weder ein Zelt noch eine Matte. Ich fühle mich unsicher und schüchtern, aber ich habe einen Plan. Immer wieder laufe ich die Straße auf und ab, an der sich idyllische, kleine Häuser aneinanderreihen. Die meisten sind noch nicht beleuchtet. Bei einigen Häusern bin ich mir nicht sicher, ob sie überhaupt bewohnt sind. An einem Haus, dessen Fenster mit Kindermalereien geschmückt sind, nehme ich all meinen Mut zusammen und klingle. Keiner öffnet. Ich bin gerade dabei, mir neue Entschlossenheit zuzusprechen und erneut auf die Klingel zu drücken, als sich die dunkle Holztür öffnet. Ein kleines Mädchen erscheint und schaut mich mit großen Augen an. Ich bin verwundert und stocke. Die angenehme Wärme des Hauses dringt zu mir nach außen. Noch bevor ich weiß, was ich sagen soll, springt eine erschrockene Mutter aus dem Inneren hervor und zerrt ihr Kind von der Fremden weg. Ob ich auf der Veranda schlafen darf, frage ich. Stille. Die Frau verschwindet. Ich höre gedämpfte Gespräche aus dem Nebenzimmer und kurze Zeit später erscheint ihr Mann, der Herr des Hauses, in der Tür.
»Du kannst hier schlafen«, meint er, »aber nur draußen.«
Überglücklich, erleichtert und dankbar nehme ich das Angebot an und lege meinen Schlafsack auf den harten Steinboden in einer überdachten Ecke, die der Mann mir mit einem Fingerzeig zugewiesen hatte.
Mein erster Schritt ins Abenteuer ist getan. Meine allererste Nacht in dieser neuen Freiheit verbringe ich auf der Veranda von Unbekannten am Fuß der Rocky Mountains.
Der Norden Kanadas ist mein nächstes Ziel. Ein kanadischer Ureinwohner, der mich mit ausgestrecktem Daumen an der Straße stehen sieht, hält sein Auto an, rollt das Fenster einen Spalt hinunter und fragt mich auf Englisch: »Bist du eine Mörderin?«
»Nein, du etwa?«, frage ich zurück. Mit zahnlosem Lachen öffnet er mir von innen die Beifahrertür und ich springe hinein. Bei seinem rasanten Fahrstil die kurvigen Klippen entlang habe ich plötzlich mehr Besorgnis, dass mein Leben hier an diesen Felskanten enden könnte als durch die aktive Hand eines Mörders.
Stück für Stück arbeite ich meinen Weg mit dem Ureinwohner und vielen weiteren Fahrern hinauf Richtung Norden, wo die Abstände zwischen den Dörfern größer und die Strecken dazwischen menschenleerer werden. Diese einsame Gegend wird viel stärker von Bären und anderen wilden Tieren dominiert und die Straßen sind weniger stark befahren. Das erschwert nicht nur das Trampen, es ist auch nicht gerade das sicherste Pflaster, hat man mir gesagt.
Nachdem die letzte Mitfahrgelegenheit mich an der Straße abgesetzt hat, geht es für mich erst mal zu Fuß weiter. In der prallen Mittagssonne laufe ich bereits seit mehreren Stunden den schwarzen, stillen Highway entlang, der rechts und links von hohen, dunklen Tannen gesäumt ist. Meine Wasserflasche habe ich im letzten Auto versehentlich zurückgelassen und bin inzwischen durstig und erschöpft. Seit Langem habe ich kein Auto und keine Menschenseele mehr gesehen, als wie aus dem Nichts eine Frau meinen Weg kreuzt. Sie kann nicht glauben, dass ich alleine in den Norden trampen will. Und das auf dem sogenannten Highway of Tears, der Straße der Tränen. Seit Jahrzehnten verschwinden hier alleinreisende Frauen auf unerklärliche Weise. Die Straße ist übersät von riesigen Plakaten mit der Aufschrift: Girls, don’t hitchhike! Killers on the loose (Mädchen, bitte nicht trampen! Mörder auf freiem Fuß).
Ich kann nicht behaupten, dass mich das nicht berührt hätte. Im Gegenteil. Ich hatte noch kaum Erfahrung im Alleinreisen und nur wenig Erfahrung mit dem Trampen. Und ich bin kein Mensch, der sich im Voraus viele Informationen einholt und seine Entscheidungen daraufhin vorsichtig abwägt. Ich gehe einfach den Weg, der sich vor mir aufzutun scheint. Doch plötzlich war ich herausgefordert, mir darüber Gedanken zu machen, was ich hier eigentlich tat. Denn zu diesem Zeitpunkt war mir noch nicht bewusst, warum ich mich eigentlich für das Trampen entschieden hatte. Vielleicht war es einfach nur naive Bedenkenlosigkeit gewesen. Vielleicht war es unterbewusst die Schwäbin in mir gewesen, die eine gute Gelegenheit entdeckt hatte, um mit weniger Geld länger unterwegs zu sein (denn den Schwaben sagt man ja bekanntlich nach, besonders sparsam zu sein). Vielleicht war es der Drang in mir gewesen, mir selbst etwas beweisen zu müssen. Oder das Bedürfnis, anderen etwas beweisen zu wollen. Vielleicht war es aber auch die unterschwellige Vorahnung, dass Trampen so viele ungeahnte Möglichkeiten in sich birgt. Damals war mir noch nicht klar, warum ich mich zu dieser gewagten Form des Reisens hingezogen fühlte. Aber wie bei meiner Entscheidung am Flughafen wusste ich eines ganz gewiss: dass die Angst vor etwas mich nicht davon abhalten sollte, das zu tun, was ich tun wollte. Und in diesem Fall, warum auch immer, war es das Trampen.
Ich plaudere eine Weile mit der Frau und sie bittet mich, zu warten, bis sie wieder zurück ist. Dann verschwindet sie zwischen den Bäumen. Folgsam werfe ich meinen schweren Rucksack auf den schmalen Grasstreifen neben der Straße und setze mich mit verschränkten Beinen daneben. Vor mir schlängelt sich der Highway einsam durch den dunklen Wald. Ich weiß nicht, woher die Frau gekommen ist, und warte ab, bis sie wiederkommt.
In der Stille vernehme ich leise Motorengeräusche. Das darf doch nicht wahr sein. Ein Auto nähert sich. Das erste, das ich seit Stunden zu Gesicht bekommen habe. Ungläubig über die Verzwicktheit der Situation, schüttle ich den Kopf, kneife die Augen zusammen und beiße mir auf die Unterlippe. Mit gezwungener Miene versuche ich auf dieser weiten Straße nicht allzu verloren auszusehen und schaue krampfhaft in die entgegengesetzte Richtung. Das Auto fährt langsam heran. Und stoppt. Natürlich. Ein Vater und seine Tochter fragen, ob sie mich mitnehmen können. Mit zusammengepressten Lippen atme ich tief durch meine Nase ein, bis mein Brustkorb zu platzen scheint. Seufzend denke ich an die Frau von vorhin und schüttle matt lächelnd den Kopf. Das Auto setzt sich wieder in Bewegung. Lange schaue ich ihm nach, bis es zwischen den Bäumen verschwindet.
Ich bin erstaunt, als die Frau nach einiger Zeit mit einer großen Tüte in der Hand zurückkommt. Die Tüte ist bis oben hin gefüllt mit selbst gemachten Keksen, Obst, Nüssen und einer Flasche süßem Saft. Ich bin außer mir vor Freude, das Warten hat sich gelohnt! Doch die Frau will keinen Dank hören. Meine freudige Reaktion ist für sie Dank genug. Nach einem kurzen Wortwechsel mache ich mich ermutigt und gestärkt wieder auf den Weg, mit der Einstellung im Herzen, das Gute einfach auf mich zukommen zu lassen.
Und das Gute kommt. Mitten auf der Strecke werde ich von Ernist, einem Indianer aus Mackenzie, mitgenommen. Er fragt, wohin ich unterwegs sei. »Ich möchte nach Chetwynd«, sage ich. »Nach Chetwynd?«, wiederholt er fragend. »Da gibt es nichts Besonderes. Aber Mackenzie, die Stadt musst du gesehen haben!«, sagt er. Ernist erzählt so begeistert von seiner Heimat, dass ich spontan mit ihm dorthin fahre. Bei Mackenzie hält Ernist an. Er führt mich an eine Stelle, an der vor wenigen Tagen ein Mann beim Campen von einem Bären überfallen und getötet worden ist. Gemeinsam gehen wir weiter in den Wald hinein, immer den Spuren folgend, die noch deutlich zeigen, wo der Bär den Mann tief in den Wald gezerrt hat. Immer wieder stoppt Ernist, dreht ein mit Blut verschmiertes Blatt um oder deutet auf einen Baum, an dessen Rinde Spuren von Haaren und Fell hängen. Ich bin erschrocken und auf seltsame Weise fasziniert. Schließlich zeigt Ernist mir die platt gelegene Stelle, die dem Bären und in der besagten Unglücksnacht offensichtlich auch jenem Camper als Schlafplatz gedient hatte. Dabei erklärt er mir, woran man erkennen kann, ob man sich im Territorium eines Bären aufhält. »Denn das sollte man lieber vermeiden«, sagt er. Ernist bringt mir bei, wie man anhand der Abdrücke der Tatzen die Unterschiede zwischen Schwarz- und Braunbären feststellen kann. Und zeigt mir zu guter Letzt noch jene Heilpflanzen, die eine medizinische Wirkung haben und wogegen ich sie anwenden kann. Besonders ein Kraut gegen Mückenstiche wird mir später noch öfter zugutekommen … Ich bin unendlich dankbar, dass sich Ernist Zeit für mich genommen hat, um mich in Sachen Überlebenstraining zu schulen. Und das für eine völlig fremde Person.
Die Menschen, die ich auf meiner Reise durch Kanada treffe, sind denkbar unterschiedlich. Als Nächstes begegne ich Tim, einem verrückten Kroaten, der bereits seit 16 Stunden ohne Pause unterwegs ist, als ich in sein Auto einsteige. Und er hat vor, auch die nächsten 16 Stunden durch die Nacht zu fahren. In der Dunkelheit lerne ich eine komplett neue Seite dieses Landes kennen. Wir sehen Bären, Luchse, Dachse, ein paar Elche und Hirsche, eine Eule und vor allem eins: die berühmten Nordlichter in ihrer ganzen Pracht, mit einem Farbspektrum von Grün, Gelb und Orange bis hin zu Rot. Unfassbar schön! So grell und farbenfroh begeistern uns die Nordlichter, wie sie da am Himmel tanzen, für mehrere Stunden. Nachts um 2 Uhr beginnt das Fahrzeug plötzlich zu knattern. Dann wird es ganz still.
»Ich hab vergessen zu tanken und ich hab keinen Notfallkanister Benzin dabei«, lacht der verrückte Tim schief. Gerade so rollen wir noch von der Straße herunter an den Waldrand und kommen dort zum Stehen. Augenblicklich merke ich, wie mit dem Ausfall der Heizung die nordische Kälte ins Auto zieht und dessen Inneres einnimmt. Todmüde behelfe ich mir mit Jacken und Decken, um die Kälte möglichst zu vergessen, während ein aufgescheuchter Tim so langsam erst zu realisieren beginnt, dass wir uns mitten in der Wildnis befinden. In blanker Panik entsichert er sein Bärenspray, mit dem er uns später versehentlich einer scharfen, beißenden Wolke von hochkonzentriertem Pfefferspray ausliefern wird, die uns erneut zu einem ungeplanten Stopp zwingt – um das Auto und sämtliche Atemwege auszulüften.
Irgendwie bringen wir auch die restlichen Stunden dieser Nacht hinter uns. Mit einem netten Farmer, dessen Motorengeräusche Tim und mich am Morgen wecken, trampe ich zur nächsten Tankstelle, um mit einem gefüllten Benzinkanister bestückt wieder zurück zu Tim zu fahren.
Der Schreck dieser Nacht scheint ihm noch lange nachzugehen. »Maren, merke dir eins«, sagt er mir, als wir uns wenig später an diesem Tag verabschieden, »aus Fehlern anderer Menschen zu lernen, ist günstig. Aus eigenen Fehlern zu lernen, ist immer teuer!« Ich nehme seine Warnung mit Lockerheit. Zu dem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, dass ich später noch auf meine eigenen Kosten kommen werde.
Ausgestattet mit einem pinken Klappmesser, das mir ein besorgter Bauer unterwegs zugesteckt hat, überfahre ich mit einem Lkw-Fahrer den 60. Breitengrad auf der nördlichen Hemisphäre. Eine Dame, die dort in ihrem Informationshäuschen sitzt, stellt mir ein Zertifikat aus, das mir den »entschlossenen, redlichen und kühnen Geist eines wahren Arktis-Entdeckers« bescheinigt und mich daher »als ein ehrbares Mitglied der exklusiven Abteilung für Arktische Abenteurer nördlich des 60. Breitengrades« anerkennt. Tief in meiner Identität bestätigt, ziehe ich voller Tatendrang gen Norden nach Yellowknife, in die Nordwest-Territorien Kanadas.
In einer Kleinstadt, die weit entfernt von anderen Städten liegt und im Winter wetterbedingt oft über Monate hinweg von der Außenwelt abgeschnitten ist, ist es wichtig, dass man intern zusammenhält und sich aushilft, wo es nötig ist. Diese Mentalität wird auch mir entgegengebracht: Man schmuggelt mich in die Dorfsporthalle, damit ich dort in Ruhe duschen und meine Kleider wechseln kann. In einem Büro kann ich meinen Rucksack unterstellen, während ich mit einem der kostenlosen Stadtfahrräder zum Strand fahre. Dort lerne ich einen Anwalt und seine Tochter kennen, die heute Nacht hier zelten. Wir verstehen uns so gut, dass ich spontan in ihrem Zweitzelt schlafen darf. Das hatten sie zufällig dabei.
Auch in den kommenden Nächten wird mir ausnahmslos geholfen, einen Schlafplatz zu finden. Ich nächtige in freien Zimmern, bei Freunden von Freunden und werde von hilfsbereiten Bewohnern zum Essen eingeladen. Als ich eines Tages keine bessere Übernachtungsmöglichkeit finde als den Vorgarten einer Hausbesitzerin, kaufe ich mir im Supermarkt das günstigste Zelt, das ich finden kann (ein Kinderzelt), und nehme ihr Angebot an.
Menschen sind interessiert, offen, führen mich auf Märkte, zeigen mir die vielen kleinen, verträumten Kunsthandwerksläden, Flüsse und versteckte Wasserfälle. Durch Kontakte des Anwalts lande ich auf einer Inselparty und schlage Golfbälle von Hausbootdächern. Wenn ich Internet benötige, suche ich mir das kostenfreie Stadt-WLAN oder gehe ganz konventionell zur ortsansässigen Bibliothek. Genauso wie Simon, den ich eines Tages dort treffe. Er wird auf meinen großen Rucksack aufmerksam und spricht mich an. Simon arbeitet in der Filmindustrie. Dort ist er jedoch nur in den Wintermonaten beschäftigt und nutzt jedes Jahr den Sommer, um seinem Hobby, dem Kanufahren, nachzugehen. Gerade ist er von einem vierwöchigen Trip zurückgekehrt und hat noch zwei Wochen Zeit, die er gerne auskosten möchte. Einen Partner habe er dafür noch nicht, sagt er, aber ich wirke auf ihn, als hätte ich für einen Kanu-Trip die nötige Zeit. Und die habe ich in der Tat! Ohne viel Zeit zu verlieren, setzen wir uns in der Bibliothek zusammen und legen folgendes Ziel fest: Von Yellowknife aus wollen wir 160 Kilometer über den Nordarm des Great Slave Lake bis zu der indianischen Gemeinde Behchokò paddeln. Dort wollen wir an einem Freitagabend pünktlich zum wöchentlichen Bingospiel ankommen und idealerweise den Jackpot abräumen. Simon hat bereits alles für den Trip vorbereitet. Bevor wir abfahren, verabschiede ich mich von meinen neu gewonnenen Freunden im kleinen Yellowknife. Zusammen machen wir noch ein paar letzte Besorgungen und nur ein paar Tage später sitze ich zum ersten Mal in meinem Leben in einem Kanu und wir legen ab.
Es ist höchst erstaunlich: Schon nach ein paar Stunden in einem schmalen, kniehohen Boot auf hoher See kommt in mir eine Stimmung auf, die mich wie eine Schiffbrüchige fühlen lässt. Wie man es aus Filmen kennt, habe ich daher klischeegerecht jeden Tag Notizen in meinem Feldtagebuch festgehalten:
TAG 1: Wir paddeln im Schnitt 7 Stunden am Tag. Das bedeutet viel Ruhe und Zeit, um ausgiebig über mein Leben nachzudenken. Tausend Fragen überkommen mich. Ich bin mir nicht sicher, ob mir diese Grübelei guttut.
TAG 2: Arme, Schultern, unterer Rücken – alles tut weh. Wir campen und machen Rast auf Inseln, suchen Steine, um uns eine Feuerstelle zu bauen, und Holz, um das Feuer darin zu entfachen. Fürs Abendessen haben wir einen Fisch gefangen. Getrocknetes Gemüse nimmt im kochenden Wasser seinen nahezu ursprünglichen Zustand an und wird mit Reis oder Pasta zu einer wirklich guten Energiequelle. Ich wusste gar nicht, dass es möglich ist, es sich auf einem Kanutrip so gut gehen zu lassen.
TAG 3: Gestrandet auf einer Insel – ich komme mir vor wie Robinson Crusoe. Wir sind gut vorangekommen, der Wind kam aus der richtigen Richtung. Aber plötzlich wurde der Wind stärker, die Wellen größer und das Wasser ist in unser Kanu geschwappt. Wir mussten auf einer Insel Schutz suchen, die nicht größer ist als eine Verkehrsinsel. Hier sitzen wir jetzt. Essen, schlafen, lesen und warten bis sich der See beruhigt.
TAG 4: Blitze durchzucken den Himmel, Donner grollt aus jeder Himmelsrichtung. Es tobt ein schrecklicher Sturm. Regen fällt und bringt erbsengroße Hagelkörner mit sich. Gerade noch rechtzeitig haben wir auf einer kleinen Insel Zuflucht gefunden, bevor wie aus dem Nichts dieser Sturm losbrach und die nächsten vier Stunden toben sollte. Vollkommen durchnässt verkriechen wir uns in unsere Zelte. Das Feuermachen an diesem Tag ist herausfordernd, aber nicht unmöglich.
TAG 5: Immer noch ist es windig. Wir haben versucht, unsere Reise fortzusetzen. Aber der Wind hat gedreht und steht uns entgegen. Wir kommen nicht gegen ihn an und sind wieder gezwungen, auf einer Insel auszuharren, bis das Wetter eine Weiterreise zulässt.
TAG 6: Die Wolken hängen tief. Wir kämpfen uns durch den Wind von Insel zu Insel, immer wieder nach Schutz und neuer Kraft suchend. Die erste Hürde ist geschafft. Rae Point, ein Inselvorsprung, den es als schwierig zu umfahren gilt, konnten wir fast problemlos umschiffen. Jetzt fühlen wir uns unbesiegbar. Nichts kann uns mehr davon abhalten, rechtzeitig zum Bingo in Behchokò anzukommen.
TAG 7: Es ist wieder ruhig, fast windstill. Am vorletzten Tag fange ich an, das Paddeln zu genießen. Seit einer Woche haben wir keine Menschenseele mehr gesehen. Es scheint niemanden auf der Welt zu geben, außer ein paar vorbeifliegende Entenschwärme und vereinzelte Adler. Wir sind umgeben von Wasser. Die Stille gibt einem das Gefühl, in vollkommener Einheit mit der Natur zu sein.
TAG 8: Der Wind hat sich gedreht. Nach einem dreistündigen Endspurt ist es geschafft! Ein Schwall von Glücksgefühlen über die Ankunft in Behchokò überkommt mich. Dann folgt die große Ernüchterung: Aufgrund mehrerer Todesfälle in der Kommune fällt das wöchentliche Bingospiel aus!
Wir sind trotzdem stolz auf unsere Leistung und feiern das mit dem Großeinkauf von Fast Food und einer heiß ersehnten Dusche.
Dawson City wirkt auf mich wie eine Stadt aus einer anderen Zeit. Als 1897 im Zuge des Klondike-Goldrauschs die ersten erfolgreichen Goldsucher nach Seattle und San Francisco heimkehrten, sorgten sie mit ihren Taschen voll Geld für große Aufregung. Über 100000 Menschen reisten daraufhin in der Hoffnung auf schnellen Reichtum in den Norden. Im Zuge dieses Goldrausches wurde wie aus dem Nichts Dawson City gegründet und war ein bis zwei Jahre nach dem großen Aufschwung schon wieder wie leer gefegt. In den 1960er-Jahren kam es jedoch zu einer Wiederbelebung. Historische Gebäude im Stadtkern wurden restauriert oder originalgetreu nachgebaut. Die Straßen bestehen noch heute aus trockenem Staub und die Gehwege aus knarzigen Holzplanken. In schnörkeliger Schrift stehen auf der Glasscheibe des Supermarktes die heutigen Angebote. Aus verrauchten Saloons mit dunklen Schwingtüren dringt Live-Musik nach außen. Im Spielcasino besingt und umgarnt die vollbusige Diamond Tooth Gertie die Männer und hält den Geist der Goldgräberstadt am Leben.
In der Sourtoe-Bar lasse ich mich durch ein Ritual, das an eine Mutprobe erinnert, zu einem Nordmenschen küren. Einer Legende nach gerieten in den 1920er-Jahren die Rum-Schmuggler Louie Linken und sein Bruder Otto während einer ihrer Schmuggelfahrten in einen schrecklichen Schneesturm. Um das Hunderudel, das den Schlitten zog, besser unterweisen zu können, stieg Louie vom Schlitten herunter und trat dabei in eine Pfütze aus Eiswasser. Weil die Brüder Angst hatten, dass die Polizei ihnen auf den Fersen sei, setzten sie ihre Fahrt schnellstens fort. Das führte dazu, dass Louies großer Zeh abfror. Um Wundbrand vorzubeugen, hieb Otto seinem Bruder mit einer Axt den großen Zeh ab und legte diesen in Alkohol ein.
Jahre später fand Captain Dick Stevenson beim Ausräumen einer verlassenen Hütte einen eingelegten Zeh. Aus Jux entstand die Mutprobe, den Rum, in dem der Zeh lag, zu trinken. Geboren war der Sourtoe-Cocktail-Club und das damit verbundene Ritual: Erst wer den Sourtoe Cocktail getrunken hat, kann sich als echten Nordmenschen bezeichnen.
Heute noch kann man den legendären Trunk probieren. Er besteht aus einem Glas Rum, in den der schwarze, mumifizierte Zeh gegeben wird. Immer wieder verschlucken Wagemutige den Zeh, weshalb inzwischen eine 500 Kanadische Dollar hohe Strafe ansteht für den, der den Zeh verschluckt. Glücklicherweise wird es aber immer Menschen geben, die beim Rasenmähen nicht vorsichtig genug sind und ihre Zehen von überall in Nordamerika der Sourtoe-Bar in Dawson City vermachen. Dort, wo auch ich mich zu einem Nordmenschen küren lasse, indem ich die einzige Regel beachte, die lautet:
You can drink it fast, you can drink it slow,
but your lips have got to touch the dirty old toe.
(Du kannst kippen oder nippen,
Hauptsache der Zeh berührt deine Lippen.)
Die meisten derer, die damals ihre Heimat verlassen haben, um in Dawson City Gold zu suchen, wurden niemals reich. Dennoch beschrieben sie ihre Erfahrungen während des Marschs in den Norden als lebensverändernd. Am Ende erwies sich die Reise selbst als weitaus wertvoller als Gold. Auch ich merke, dass ich dabei bin, eine bisher ungeschätzte Art von Reichtümern und neuen Werten zu sammeln. Und ich beginne zu realisieren, dass reich sein so viel mehr bedeutet, als nur viel Geld zu besitzen. Ein Bekannter aus der Heimat schreibt mir: »Das Backpacken ist ja nicht jedermanns Sache, auch meine nicht; aber wenn man bereit ist, auch unter vielen Mühen die Welt kennenzulernen, lohnt sich das sicher für das ganze Leben. Es ist schon so, dass der wahre Reichtum nicht im Gold liegt, sondern in der Bereitschaft, sich auf die Anforderungen des Lebens einzulassen.«
Darrell Jacob Liam