Cover

Conrad Schetter/Katja Mielke

DIE TALIBAN

Geschichte, Politik, Ideologie

C.H.Beck


Zum Buch

Die Taliban geben westlichen Beobachtern Rätsel auf. Sind sie wirklich «Steinzeit-Islam»? Welche Strömungen und Machtzentren gibt es? Conrad Schetter und Katja Mielke beschreiben, wie sich die Bewegung nach dem sowjetischen Rückzug aus Afghanistan formierte und sich zwischen internationalem Islamismus und paschtunischen Stammestraditionen positionierte. Bis 1996 eroberten die Taliban Kabul, boten al-Qaida Unterschlupf, wurden 2001 vom War on Terror weggefegt, um sich rasch politisch, medial und ökonomisch neu zu formieren und 2021 an die Macht zurückzukehren. Doch die Konkurrenz zum «Islamischem Staat», innere Spannungen, Not und Proteste in Afghanistan sowie der Druck des Westens stellen das neue Emirat vor kaum lösbare Aufgaben.

Über die Autoren

Conrad Schetter ist Professor für Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Bonn und wissenschaftlicher Direktor des Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC). Bei C.H.Beck erschien von ihm außerdem «Kleine Geschichte Afghanistans» (5. Auflage 2022).

Katja Mielke, Sozialwissenschaftlerin und Afghanistan-Expertin, arbeitet am Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC). Bei C.H.Beck erschien von ihr und Conrad Schetter «Pakistan. Land der Extreme» (2013).

Inhalt

Einleitung

1. Schlaglichter auf die afghanische Geschichte

Konkurrenz um Ressourcen

Paschtunischer Dominanzanspruch

Politischer Islam

Moderne versus Tradition

2. Die erste Herrschaft der Taliban (1994–​2001)

Die Entstehung und Ausbreitung der Taliban

Das Islamische Emirat

Gastrecht für Osama bin Laden

9/11 und der Kollaps des Islamischen Emirats

3. Das Wiederaufleben der Taliban (2002–​2012)

Quetta-Schura und Guerillakrieg

Die politische Legitimation

Die anderen Taliban

Die Peschawar-Schura

Das Haqqani-Netzwerk

Taliban Franchising: TTP und Swat

Die Maschhad-Schura im Iran

Aufstandsbekämpfung der USA und Schwächung der Taliban

4. Die Rückkehr der Taliban (seit 2012)

Taliban-Kabale (2012–​2016)

Irritationsmoment Islamischer Staat-Khorasan (ISK)

Versuchte Versöhnung: Abzugs- und Friedensverhandlungen

Die Rückeroberung Kabuls 2021

5. Der Schattenstaat

Finanzierung und Ökonomie

Parallelregierung und lokale Herrschaft

Politikfelder der Taliban

Bildungspolitik

Gesundheitspolitik

Medienarbeit: Von handgeschriebenen Drohbriefen zu 24/7 Twitter

6. Innen- und Außenverhältnisse

Ideologie und Weltbilder

Das Emirat und die Scharia

Die Stellung der Frau

Die Politik gegenüber Andersgläubigen

Drogenpolitik

Anwendung von Gewalt

Die Taliban und der transnationale Dschihadismus

Ausländische Kooperation und Unterstützung

Pakistan

Saudi-Arabien und die Golfstaaten

Die Zukunft der Taliban

Zeittafel

Karten

Hinweise zu Umschrift und Aussprache

Abkürzungen

Literatur

Personenregister

Einleitung

Seit dem Vietcong in den 1960er-Jahren beeinflusste wohl kaum eine Guerillabewegung so sehr die Weltpolitik wie jüngst die Taliban: Zu Hochzeiten 2010 befanden sich über 130.000 NATO-Soldaten unter US-Führung in Afghanistan im militärischen Einsatz. Die Guerillakämpfer der Taliban zeigten sich jedoch gegenüber den hochgerüsteten Armeen des Westens als gleich stark, wenn nicht gar überlegen. Das Fiasko des Afghanistaneinsatzes offenbarte sich, als die Taliban am 15. August 2021 Kabul ohne Waffengewalt zurückeroberten, nachdem die internationalen Truppen vorzeitig abgezogen waren. Die Bilder vom Kabuler Flughafen, auf dem Tausende Menschen versuchten, das Land zu verlassen, und sich an Flugzeuge klammerten, verdeutlichen die Panik, die die Rückkehr der Taliban unter Teilen der afghanischen Bevölkerung auslöste. Die kontinuierlichen Territorialgewinne der Taliban und ihre vermutete Verortung in der Szene global agierender terroristischer Gruppen sind mit Befürchtungen verknüpft, dass Afghanistan wieder zum Hort internationaler Dschihadisten werden könnte, die von dort aus ungestört Attentate in der ganzen Welt planen, oder dass gar die pakistanische Atombombe in die Hände der Taliban fallen könnte.

Der Erfolg der Taliban erscheint umso erstaunlicher, als der Kontrast zwischen ihren vorzeitlich anmutenden Kämpfern und den technologisch hochgerüsteten Soldaten der US- und NATO-Truppen kaum größer sein konnte. Allerdings täuscht dieses Bild vom hinterwäldlerischen Mullah, denn die Taliban professionalisierten sich über die letzten fünfundzwanzig Jahre kontinuierlich und entwickelten eine gut geschmierte Kriegsmaschinerie, die mit modernen Waffen, psychologischer Kriegsführung und orchestrierten Kampfeinsätzen Afghanistan zurückeroberte. Dieser Professionalisierung steht jedoch entgegen, dass die Taliban keiner politischen Partei mit Parteibuch, Statuten, strammen Hierarchien, formalisierten Prozessen oder einer konkreten politischen Vision entsprechen. Viel besser lassen sie sich als eine politisch-militärische Bewegung beschreiben, deren Konturen verschwommen bleiben und deren innere Strukturen klandestin, aber auch anpassungs- und lernfähig sind. Damit erscheinen die Taliban eher als ein rationaler und vor allem pragmatischer Akteur als ein ideologiegetriebenes Monster.

Mit diesem Buch versuchen wir über die Betrachtung der Entstehungsgeschichte, Politik und Ideologie der Taliban eine Antwort auf die Frage «Wer sind die Taliban?» zu geben. Dabei sind drei Spannungsfelder zentral für ein Verständnis des Phänomens «Taliban»:

Lokal vs. zentral: Afghanistan ist ein gesellschaftliches Mosaik, in dem lokale Gemeinschaften stets einen hohen Grad an Eigenständigkeit für sich beanspruchen. Daher stehen die Taliban kontinuierlich vor der Herausforderung, wie stark ihre Macht institutionell zentralisiert sein soll – etwa bei der Quetta-Schura – bzw. wie viel Eigenständigkeit lokalen Taliban-Verbänden zugestanden wird: Diverse Auflagen und Erweiterungen der Verhaltensvorschriften (laiha) der Taliban im Krieg weisen etwa auf eine Institutionalisierung der Bewegung hin. Dagegen steht die in Afghanistan verbreitete Abgrenzung zwischen den von außen kommenden, fremden gegenüber den eigenen, lokalen Taliban für die Aufrechterhaltung der lokalen Autonomie. Denn mit den «eigenen» Taliban sind diejenigen gemeint, die die Gemeinde vor Einflussnahme von außen schützen und Schaden von ihr abwenden. Im Gegensatz dazu werden unter «fremden» Taliban externe Kämpfer verstanden, die die Taliban-Führung aus den Medresen in Pakistan in den Krieg nach Afghanistan schickt und die die herrschenden Sitten und Werte nicht beachten.

Pragmatisch vs. ideologisch: In den Augen des Westens erscheinen die Taliban als engstirnige, rückwärtsgewandte Fundamentalisten. Dies macht sich vor allem an der rigorosen gesellschaftlichen Ausgrenzung der Frau unter den Taliban fest. Jedoch sind ihre Antriebskräfte weit vielfältiger. Talib (arab./pers.) heißt (Religions-)Schüler. Damit bringen die Taliban in ihrer Namensgebung ihre enge Verbundenheit mit Religionsschulen, Medresen (madaris, Sg. madrassa), zum Ausdruck, in denen viele ihrer Begründer prägende Jahre ihres Lebens verbracht haben. Wenngleich sich auch die Trägerschaft der Taliban teilweise aus Medresen rekrutiert, die vor allem in der pakistanischen Grenzregion während des Afghanistankriegs entstanden, stellt die religiöse Ausbildung keine Voraussetzung dar, ein Talib oder Mitglied der Bewegung zu sein. Vielmehr avancierten die Taliban zu einem Sammelbecken verschiedener Gruppen, die von Anhängern der bewaffneten Islamistengruppen (den sogenannten Mudschahedin) der 1980er-Jahre über Kriegsfürsten bis hin zu ehemaligen Kommunisten reichen. Denn die Motivation, sich den Taliban anzuschließen, ist ganz unterschiedlich. Auf der einen Seite dominieren die Logiken einer Kriegsgesellschaft: individuelle und kollektive Konkurrenzen um Ressourcen, Sicherheit und Prestige entscheiden pragmatisch darüber, ob man mit den Taliban kämpft oder gegen sie. Auf der anderen Seite treiben ideologische Überlegungen die Taliban an. Sie speisen sich jedoch aus unterschiedlichen Quellen wie etwa ihren eigenwilligen Auslegungen des Islam, paschtunischen Traditionen, afghanischem Nationalismus oder sozialrevolutionären Vorstellungen. Dies steht einer vereinfachten Betrachtung der Bewegung im Wege: Auch wenn das Gros der Taliban der Ethnie der Paschtunen zuzurechnen ist, finden sich auch Vertreter anderer Ethnien in ihren Reihen; obgleich die Taliban Verbindungen zu al-Qaida und anderen islamistischen Gruppen unterhalten, gibt es viele politische Differenzen.

Eigenständig vs. fremdgesteuert: Afghanistan liegt in einer äußerst komplexen geopolitischen Region, die durch divergierende Machtinteressen und anhaltende Konflikte – wie etwa den Kaschmirkonflikt zwischen Pakistan und Indien oder die Konkurrenz zwischen Saudi-Arabien und dem Iran um die Vorherrschaft im Mittleren Osten – geprägt ist. Gleichzeitig sind die Taliban auf externe Unterstützung angewiesen, vor allem finanzieller Art. Konkurrierende Akteure, allen voran der pakistanische Geheimdienst Inter Services Intelligence (ISI) und arabische Mäzene, aber auch al-Qaida, der Iran oder China, nehmen auf die Taliban Einfluss. So befinden sie sich stets in dem Spannungsverhältnis, zum einen die Interessen konkurrierender Förderer zu bedienen, zum anderen sich deren Kontrolle zu entziehen: Immer wieder wurden auf Betreiben ausländischer Mächte wichtige Taliban-Führer ausgeschaltet, da diese eine zu eigenständige Politik verfolgten. Gleichzeitig spielten die Taliban verschiedene externe Förderer gegeneinander aus, um die eigene Abhängigkeit zu reduzieren. Wenngleich sicherlich der pakistanische Geheimdienst ISI den größten Einfluss auf die Taliban ausübt, wäre es zu kurz gegriffen, diese als Marionette Islamabads zu betrachten.

Wie diese drei Spannungsfelder aufzeigen, ist das Wissen über die Taliban von offensichtlichen Widersprüchen und Wissensdefiziten geprägt. Dies ist zum einen auf den gesellschaftlichen Kontext zurückzuführen. So ist die afghanische Gesellschaft – bei einer Analphabetenrate von über 60 Prozent – durch Mündlichkeit geprägt. Zum anderen finden sich nur wenige konkrete politische Visionen oder programmatische Strategien, die substanziell Aufschluss über die Motivlagen oder die künftige politische Ausrichtung der Taliban erlauben, wenngleich die Bewegung in den letzten zwanzig Jahren eine professionelle Medien- und PR-Abteilung aufbaute. Think Tanks, Medien und Politik haben sich in der Vergangenheit oft auf nicht überprüfbare Aussagen, einseitige Berichterstattung und zweifelhafte Quellen verlassen, die das Bild der Taliban in der westlichen Öffentlichkeit prägten. Das vermeintliche Wissen über die Taliban basiert häufig auf ungesicherten Informationen aus Geheimdienstquellen oder stammt aus zweiter und dritter Hand. Längerfristige wissenschaftliche Forschung unter Taliban war kaum möglich, um Eindrücke zu triangulieren und profundes Wissen zu generieren. Daher kursiert eine Vielzahl an widersprüchlichen Geschichten, Gerüchten und Interpretationen von Ereignissen, die ein Verständnis des Phänomens «Taliban» erschweren. In vielen Fragen betritt man nach wie vor das Reich der Spekulation. Die Taten der Taliban scheinen für sich zu sprechen.

Das in diesem Buch zusammengefasste Wissen ist nur ein Ausgangspunkt, an den angeknüpft werden muss, um die zahlreichen Widersprüche und blinden Flecken zu erhellen. Unserem Versuch einer Annäherung an die Taliban kann sicherlich mit der Kritik begegnet werden, dass wir «Taliban-Versteher» seien. Im besten wissenschaftlichen Sinne ist dies richtig, da es uns darum geht, die Logiken, Vorstellungswelten und Organisationsstrukturen der Bewegung zu verstehen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Taliban islamische Fundamentalisten sind und sich grausamer Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben, dass sie eine Politik der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit betrieben, unter der vor allem Frauen, religiöse Minderheiten und Andersdenkende litten. Allerdings führen das Barbarennarrativ und die Dämonisierung der Taliban zu einer Unterschätzung der Lern- und Anpassungsfähigkeit, Professionalisierung und Zielstrebigkeit der Bewegung. Wir möchten daher neue Einblicke in das Phänomen Taliban bieten, die den Leser möglicherweise überraschen.

1. Schlaglichter auf die afghanische Geschichte

Auch wenn die Taliban erst 1994 entstanden, formten gesellschaftliche Strukturen diese Bewegung, die tief in der afghanischen Geschichte verankert sind. Dabei erscheint diese als geradezu tückisch, denn auf den ersten Blick erweckt sie den Eindruck linearer Kontinuität und stellt sich wie folgt dar:

Afghanistan ist ein koloniales Produkt, das als Pufferstaat aus dem Great Game zwischen Britisch Indien und Russland Ende des 19. Jahrhunderts hervorging. 1879 bestimmten die Briten die Grenzen eines halbautonomen Königreichs Afghanistan und setzten Abdur Rahman (reg. 1880–​1901) als Herrscher ein. Bis 1973 konnte sich die Monarchie in Afghanistan mit einer kurzen Unterbrechung im Jahr 1929 behaupten. Auf Abdur Rahman folgten die Könige Habibullah I. (reg. 1901–​1919), Amanullah (reg. 1919–​1929), Nadir Schah (reg. 1929–​1933) und schließlich Zahir Schah (reg. 1933–​1973). Nach diesen knapp einhundert Jahren Monarchie gerieten die so kontinuierlich wirkenden Herrschaftsstrukturen aus den Fugen. Erst putschte sich 1973 Mohammed Daud (1909–​1978), der Cousin des Königs Zahir Schah, mithilfe der marxistischen Partei an die Macht; König Zahir Schah ging ins Exil. Dann ermordeten 1978 die Marxisten ihrerseits Daud und bauten ein repressives Regime auf, gegen das bald das ganze Land rebellierte. Das kommunistische Regime in Kabul stand am Rande des Zusammenbruchs. Mit dem Einmarsch der Sowjetunion in den Weihnachtstagen 1979 internationalisierte sich der Konflikt, der sich bis 2021 gewaltsam fortsetzte. Im Stellvertreterkrieg zwischen Sowjets und Amerikanern standen sich von 1979 bis 1988 über 120.000 sowjetische Soldaten und vom Westen bewaffnete Oppositionsgruppen – Islamisten, die sich selbst als muslimische Widerstandskämpfer, sogenannte Mudschahedin, bezeichneten – gegenüber. Letztere operierten vor allem aus Pakistan heraus. Nach dem sowjetischen Truppenabzug im Februar 1989, dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 und der Moskauer Einstellung der Finanzhilfe an Kabul im Folgejahr übernahmen miteinander verfeindete Mudschahedin-Gruppen im April 1992 die Herrschaft und lieferten sich einen zerstörerischen «Bruderkrieg», der das Aufkommen der Taliban bedingte.

Hinter der Fassade dieser politischen Herrschaftsgeschichte steht jedoch eine afghanische Gesellschaftsgeschichte, die weitaus komplexer ist. So lassen sich historische Schlaglichter erkennen, die für ein Verständnis der Taliban zentral sind. Dies sind die Konkurrenz um natürliche Ressourcen, der Dominanzanspruch der Paschtunen, die Rolle des Islam und schließlich das Spannungsverhältnis zwischen Moderne und Tradition.

Konkurrenz um Ressourcen

Ein Labyrinth aus Hochgebirgen sowie Wüsten- und Steppenlandschaften bestimmt den Naturraum Afghanistans. Bis heute nutzen Nomaden und Hirten weite Landstriche für die Viehwirtschaft. Allein Oasen und Flusstäler, die das gesamte Land wie Fäden durchziehen, stellen Gunsträume für eine intensive landwirtschaftliche Nutzung dar. Hier lebt das Gros der Bevölkerung und finden sich die großen urbanen Zentren wie Herat, Kandahar oder Kabul.

Aufgrund der Bedeutung, die die Landwirtschaft für das Überleben in dieser lebensabweisenden Region darstellt, drehen sich bis heute die meisten Konflikte um den Zugang zu und den Besitz von Wasser, Land und Weiden. Trotz des anscheinend dominierenden Konflikts zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in den Jahren 2001 bis 2021 lösten Streitigkeiten um die lokale Ressourcenkontrolle und -verteilung die meisten gewaltsamen Konflikte aus. Gerade entlang der Kanalsysteme im südafghanischen Helmand oder im nordafghanischen Kunduz, wo die Wüsten bis an die Kanäle heranrücken, liegen oftmals intensiv bewirtschaftete Felder in der Hand des einen Bauern direkt neben den nur sporadisch bewässerten und versalzenen Feldern des anderen. In vielen Oasenregionen geht zudem der Zugang zu Ressourcen mit ethnischen und Stammesidentitäten einher, was die lokalen Konflikte anheizt. Oftmals kontrolliert eine ethnische Gruppe oder ein Stamm den intensiven Ackerbau in den Kernzonen der Oase, während andere sich erst später ansiedelten und in den Randzonen ums Überleben kämpfen.

Viele dieser Ressourcenkonflikte wurden von Generation zu Generation weitervererbt und bedingten bereits vor Ausbruch des Krieges 1979 lokale Auseinandersetzungen. Im Zuge des Afghanistankrieges wechselten häufig Land- und Wasserrechte mehrfach die Besitzer, was die Konflikte zwischen einzelnen Familien und Gemeinden intensivierte. Diese sozioökonomischen Konflikte machten sich die Taliban – wie auch alle vorangegangenen Kriegsparteien – zunutze. In Helmand etwa gewannen die Taliban ihre Anhänger zunächst unter den Bauern, die ihre Felder an den benachteiligten Unterläufen der Kanäle und in den Randzonen hatten. Die lokale Konkurrenz um Ressourcen bestimmt daher sehr häufig die politische Parteinahme für die eine oder andere Seite.

Paschtunischer Dominanzanspruch

Wie aus den Ressourcenkonflikten bereits herauszulesen ist, sind ethnische und tribale Identitäten von eminenter Bedeutung. Afghanistan ist ein ethnisch und tribal äußerst vielfältiges Land. Neben den Paschtunen, die als größte Ethnie 35–​45 Prozent der Bevölkerung ausmachen, sind die Tadschiken, Usbeken und Hazara die wichtigsten ethnischen Gruppen. An dieser Stelle lohnt vor allem eine genauere Betrachtung der Paschtunen, da die Taliban-Bewegung im südafghanischen Siedlungsraum der Paschtunen ihren Ursprung nahm und sich bis heute das Gros der Taliban aus Paschtunen rekrutiert.

Die Paschtunen sind in Stämmen organisiert, die im südlichen und östlichen Afghanistan sowie im nordwestlichen Pakistan leben. Sie sind überwiegend Sunniten und sprechen Paschto, eine ostiranische Sprache, die jedoch vom Dari (Persisch), der Lingua franca Afghanistans, erheblich abweicht. Die Paschtunen verästeln sich in unzählige Stämme und Unterstämme. Mit den Durrani und den Ghilzai entstanden im 18. Jahrhundert zwei miteinander konkurrierende Stammeskonföderationen, die einen Großteil der paschtunischen Stämme vereinen. Die Durrani, die vor allem in den fruchtbaren Oasen entlang des Helmand-Flusses siedeln, stellten von 1747 bis 1973 das afghanische Königshaus. Die Ghilzai finden sich dagegen eher im Südosten des Landes, und ihr Zugang zu Ressourcen (insbesondere Land und Wasser) ist schlechter als der der Durrani. So war es unter den Ghilzai eine bewährte Überlebenspraxis, die Zweitgeborenen zu einer Mullah-Ausbildung in eine Medrese zu schicken. Daher finden sich in der Taliban-Bewegung überproportional viele Ghilzai.

Der Glaube an die Abstammung von dem gemeinsamen Stammesvater Qais Abdur Raschid, eigene gesellschaftliche Organisationsformen (z.B. jirga) wie auch ein geteilter Ehren- und Stammeskodex (paschtunwali) bilden eine einigende Klammer, wenngleich je nach Lokalität die Stammestraditionen erheblich abweichen. Im Zentrum des paschtunischen Stammesdenkens steht ein Männlichkeitskult, der – zumindest im Idealbild – von der Gleichheit und der individuellen Souveränität aller männlichen Mitglieder bestimmt wird. Diese Vorstellung männlicher Autonomie ist vor allem unter den Stämmen in Südost- und Ostafghanistan allgegenwärtig, während sie in Südafghanistan von Feudalstrukturen überlagert wird. Der Ausbruch des Afghanistankriegs bedingte zudem einen tief greifenden Wandel der Stammesgesellschaft: So fand ein Massenexodus aus den paschtunischen Stammesgebieten nach Pakistan statt, und Mudschahedin-Kommandeure, die aus sozial einfachen Verhältnissen kamen, lösten vielerorts die traditionellen Stammesführer ab. Auch übernahmen zunehmend Mullahs Führungsrollen auf Gemeindeebene – sowohl in Afghanistan als auch in den Flüchtlingslagern in Pakistan.

In dreifacher Weise sind die Paschtunen für die Taliban von Bedeutung. Erstens sind sie die politisch dominierende Ethnie in Afghanistan. In ihrem Selbstverständnis sehen sie sich als die eigentlichen Afghanen. Im afghanischen Sprachgebrauch steht der Begriff «Afghane» als Synonym für Paschtune. Mit der Herrschaft von Mir Wais (1673–​1715), einem Stammesführer der Hotak Ghilzai, betrat 1709 erstmals ein paschtunisches Reich die Weltbühne, das sich schnell von Kandahar ausdehnte und das persische Safawiden-Reich zu Fall brachte. Von 1747 bis 1973 herrschte die Mohammadzai-Dynastie aus der Durrani-Konföderation zunächst zwischen dem Amu Darya im Norden und dem Indus im Süden, seit 1879 dann über das zusammengeschrumpfte Territorium Afghanistans. Einzige Unterbrechung war die achtmonatige Herrschaft des Tadschiken Habibullah II. über Kabul während des kurzen Bürgerkrieges 1929. Der Anspruch, dass ein Paschtune – ob als König oder Präsident – über Afghanistan herrschen muss, gilt bis heute vielen Paschtunen als ungeschriebenes Gesetz. So sind auch die letzten Präsidenten Hamid Karzai (geb. 1957; vom Stamm der Durrani Popalzai) und Aschraf Ghani (geb. 1949; vom Stamm der Ghilzai Ahmadzai) Paschtunen. Diese paschtunische Ethnizität ist wichtig, um etwa zu verstehen, weshalb die Taliban Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in Afghanistan mit einer Fülle von Anschlägen und gezielten Tötungen überzogen, aber in ethnisch heterogenen Wahldistrikten Ausnahmen machten und die Stimmabgabe für paschtunische Kandidaten unterstützten.

Zweitens spielt nicht nur die paschtunische Kontrolle über Kabul, sondern über das gesamte Land eine wichtige Rolle. Vor allem seit den 1920er-Jahren betrieb das Königshaus einen internen Kolonialismus, indem es Paschtunen aus Süd- und Ostafghanistan in die Oasen Nordafghanistans wie etwa Kunduz, Baghlan oder Balkh umsiedelte und die Weiden Zentralafghanistans auf Kosten der schiitischen Hazara für paschtunische Nomaden öffnete. Damit entstand im ganzen Land ein Flickenteppich paschtunischer Siedlungsgebiete; diese sollten für die flächendeckende Ausbreitung der Taliban entscheidend sein.

Drittens lebt fast die Hälfte aller Paschtunen in den heutigen pakistanischen Provinzen Khyber-Pakhtunkhwa (KPK) und Belutschistan, die bis zum Indus reichen. Die Durand-Line, die 1893 als Grenze zwischen Afghanistan und Britisch Indien gezogen wurde, erkannte Kabul nach der Gründung Pakistans 1947 nicht an. Afghanische Präsidenten erhoben immer wieder den Anspruch, dass Afghanistan das Land aller Paschtunen sei und daher die Außengrenze Afghanistans am Indus verlaufen müsse. Es ist ein Primat pakistanischer Politik, diese Paschtunistan-Frage aus der Welt zu schaffen. Dies erklärt das Interesse Pakistans an den Taliban: Denn obgleich die Trägerschaft der Taliban überwiegend paschtunisch ist, unterdrückt ihre religiöse Ausrichtung nationalistische Ambitionen.

Die Situation in den afghanisch-pakistanischen Grenzgebieten gewann zudem dadurch an Komplexität, dass Pakistan die koloniale Frontier-Politik der Briten übernahm. So entstanden auf pakistanischer Seite der Grenze die Federally Administered Tribal Areas (FATA) – bestehend aus sieben paschtunischen Stammesterritorien (tribal agencies) und sechs Frontier Regions. Die Frontier Crimes Regulation, die die pakistanische Regierung von der Kolonialverwaltung Britisch Indiens adaptierte, bildete das rechtlich-politische Rahmenwerk für die indirekte Verwaltung der Stammesgebiete. So galt in den FATA das Stammesrecht, und der Bevölkerung blieben nationale Bürgerrechte und Entwicklungsleistungen vorenthalten. Aufgrund dieses Sonderstatus am Rande des Staates avancierten die FATA zum Rückzugsraum der afghanischen Mudschahedin wie der Taliban. Erst 2018 wurden die FATA in die Provinz Khyber-Pakhtunkhwa integriert und deren Sonderstatus aufgehoben.

Politischer Islam

Neben den ethnischen und tribalen Bezügen stellt der Islam in Afghanistan den zentralen Referenzrahmen für alle gesellschaftlichen Angelegenheiten dar. In einer funktionalen Betrachtung dienen islamische Wert- und Rechtsvorstellungen dazu, die tribale Fragmentierung und die vorherrschenden Praktiken (z.B. Blutrache, Inzest) zu überwinden. Neben den 15–​25 Prozent Schiiten (vor allem Hazara) dominiert in Afghanistan die als moderat geltende sunnitisch-hanafitische Rechtsschule. Diese erlaubt eine gewisse Flexibilität und zeitgenössische Anpassung in der Rechtsprechung durch Argumentation und Ableitung aus einem Kompendium von Rechtsurteilen, das unter der Leitung Abu Hanifas, des Begründers der gleichnamigen Rechtsschule, erstellt wurde. Die hanafitische Rechtstradition verhielt sich daher komplementär zu vorislamischen und Stammestraditionen und war in Afghanistan über Jahrhunderte kaum externen Einflüssen unterworfen.