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© everlove, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2022
Redaktion: Kerstin von Dobschütz
Sensitivity Reading: Nora Bendzko
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Coverabbildung: FAVORITBUERO, München und Shutterstock.com
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Liebe Leser*innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Um euch das bestmögliche Leseerlebnis zu ermöglichen, findet ihr deshalb am Buchende eine Triggerwarnung.
Carina Schnell und das everlove-Team
Für alle, die auf der Suche sind
»Fuck!« Ich riss das Lenkrad herum und trat auf die Bremse, um nicht in die Leitplanke zu krachen. Holpernd kam der uralte Chevrolet meines Großvaters zum Stehen. Dunkler Rauch drang aus der Motorhaube, der Grund, warum ich so abrupt angehalten hatte. Nun stand ich fluchend am Straßenrand, kurz vor dem mich freundlich begrüßenden Ortsschild: St. Andrews by-the-Sea. Est. 1783.
Hastig schaltete ich den Motor aus, schnallte mich ab und sprang aus dem roten Wagen. Der Rauch war eindeutig kein gutes Zeichen. Wenn mir die alte Karre gleich um die Ohren flog, wollte ich lieber nicht mehr drinsitzen.
Zögernd näherte ich mich der Motorhaube, aus der es munter qualmte, blieb dann aber abrupt stehen. Sollte ich sie öffnen? Oder mich lieber so schnell wie möglich in Sicherheit bringen? Aber wem machte ich schon etwas vor? Selbst wenn ich einen Blick in den Motor warf, würde ich nie erkennen, was da nicht stimmte. Ich hatte keine Ahnung von Autos.
Frustriert trat ich gegen einen Stein am Boden, der in hohem Bogen durch die Luft flog und klirrend auf die Leitplanke traf. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Auf diesem Roadtrip war bisher so ziemlich alles schiefgelaufen, was hätte schiefgehen können.
Ich raufte mir die dunklen Locken und holte dann mein Handy aus der Hosentasche. Grandpa hatte darauf bestanden, dass ich vor meinem Aufbruch die Notfallnummer der Canadian Automobile Association speicherte. »Nur für den Fall«, hatte er gesagt. Tja, dieser Fall war gerade eingetreten. Nachdem ich noch keine zweitausend Kilometer gefahren war.
Auf dem Sperrbildschirm wartete eine Nachricht von Rachel auf mich:
Denk an dich, Süße! Lass es krachen, das kannst du auch ohne mich. Freu mich auf alle versauten Details aus Montreal. Gleich Bewerbungsgespräch. Wünsch mir Glück.
XOXO
Ich musste lächeln, obwohl ich keine versauten Details zu berichten hatte. In Montreal, dem ersten Stopp auf meinem Roadtrip, hatte ich entgegen meinem Plan nur eine Nacht verbracht. Die Großstadt war zu laut, zu hektisch und viel zu überlaufen mit jungen Männern. Wenn ich das wollte, hätte ich auch in Toronto bleiben können. Und nun war ich hier, mitten im Nirgendwo. Ach nein, kurz vor St. Andrews by-the-Sea, einer Kleinstadt in New Brunswick.
Diese Gegend war zwar mein Ziel, und der Grund meiner Reise, aber die Autopanne hatte ich definitiv nicht eingeplant.
Ich seufzte, entsperrte mein Handy, tippte auf die Nummer der Pannenhilfe und bereitete mich innerlich auf das peinliche Gespräch vor, da ich absolut unfähig zu erklären war, wieso es aus dem Motor qualmte.
Eine halbe Stunde später tauchte ein Abschleppwagen auf, der schon bessere Tage gesehen hatte. Nachdem er rumpelnd zum Stehen gekommen war, stieg ein etwa sechzigjähriger Mann aus. Er schob sich die Baseballkappe aus der sonnengebräunten Stirn und bedachte mich mit einem misstrauischen Blick aus blaugrauen Augen. »Hey, ich bin Donald. Hast du den Abschleppdienst gerufen?«
Nein, ich stehe hier nur so zum Spaß neben einem qualmenden Auto, hätte ich fast geantwortet, bekam meine scharfe Zunge aber gerade noch rechtzeitig in den Griff. »Ja, es raucht aus dem Motor«, sagte ich stattdessen.
Während der Mann grummelnd die Motorhaube öffnete und sich darüberbeugte, ließ ich den Blick über die Straße schweifen. Es war Mitte Juni, die Büsche und Bäume blühten, ihr süßer Duft hüllte mich ein. Vom nicht weit entfernten Meer wehte eine sanfte Brise heran. Der Himmel war strahlend blau, einige Möwen zogen kreischend dahin. Idylle pur.
Ein dunkelblauer Pick-up-Truck näherte sich uns aus der Ferne. Als er nicht mehr weit weg war, erkannte ich, dass alle Scheiben heruntergelassen waren. Aus dem Beifahrerfenster schaute ein Golden Retriever mit hängender Zunge neugierig heraus. Ich musste unwillkürlich lachen. Es sah einfach zu komisch aus. Da traf mein Blick kurz den des jungen Mannes am Steuer. Seegrüne Augen, helle, sonnengebräunte Haut, ein energisches Kinn, vom Wind zerzauste, honigblonde Haare. Mein Herz machte einen unerwarteten Sprung. Im nächsten Moment war der Truck auch schon an mir vorbeigefahren, und ich starrte ihm verdutzt hinterher. Erst nachdem er um die nächste Kurve gebogen war, wandte ich mich ab.
Meine Reaktion auf den gut aussehenden Fremden versetzte mir einen Stich. Ich sah wieder Dans verletztes Gesicht vor mir. Die Tränen, die er wütend fortzublinzeln versuchte, die aber trotzdem glitzernde Spuren auf seiner goldbraunen Haut hinterließen. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab, als er schwer schluckte. Seine Worte hallten in meinem Kopf nach: »Es war nur eine Frage der Zeit …«
Ich schloss die Augen, atmete tief durch. Spürte Meersalz auf meinen Lippen, den Wind im Haar. Kam wieder im Hier und Jetzt an. »Es ist reine Zeitverschwendung, in der Vergangenheit zu leben«, murmelte ich. Das war ein Spruch, den mir meine Grandma von klein auf eingebläut hatte.
»Wie bitte?«, kam es von hinter der geöffneten Motorhaube.
»Ach, äh, nichts«, antwortete ich und stellte mich neben den Mechaniker – Donald. »Wie sieht’s denn aus?«
»Na ja …« Abermals schob er sich die Baseballkappe aus dem Gesicht. Er kratzte sich an der Schläfe und runzelte die Stirn. Das war eindeutig kein gutes Zeichen. »Wie’s aussieht, bist du schon länger mit defektem Kühler gefahren. Wasser ist ausgetreten, sodass der Motor nicht mehr richtig gekühlt werden konnte und sich überhitzt hat. Das wäre an sich ja noch nicht dramatisch, aber bei diesem alten Auto« – er tätschelte die Motorhaube beinahe zärtlich – »und aufgrund der Tatsache, dass das Problem lange unentdeckt blieb, stehst du kurz vor einem Motorschaden.« Ich starrte ihn fassungslos an. »Hast du kein Licht aufleuchten sehen? Irgendein Warnsignal?«
Ich schüttelte den Kopf. »Das Auto ist wirklich alt.«
»Ich weiß.« Erneut musterte er die Karre mit einem liebevollen Blick. »Ein Chevrolet Chevelle Malibu. Von 1976. Wirklich eine Schande.«
»Was?«
»Es würde sich kaum lohnen, ihn reparieren zu lassen.«
Meine Augen wurden groß. »Aber können Sie es nicht wenigstens versuchen? Ich komme aus Toronto. Irgendwie muss ich ja wieder zurück.« Von meinem nun abrupt beendeten Roadtrip ganz zu schweigen. Er sah mich zweifelnd an. »Der Wagen gehört meinem Grandpa«, fügte ich mit flehendem Blick hinzu.
Donald hob kapitulierend die ölverschmierten Hände. »Na schön, ich nehme ihn mal mit. Ich und meine Jungs in der Werkstatt sehen, was wir tun können. Aber das wird dauern. Wir steuern mitten auf die Hochsaison zu.« Ich sah ihn verständnislos an. »Hier in St. Andrews verdoppelt sich die Bevölkerung im Sommer«, erklärte er. »Dann kommen Scharen von Touristen und Leute, die hier eine Sommerresidenz haben. Das heißt, wir haben viel mehr zu tun als sonst.«
»Okay. Wie lange wird es ungefähr dauern?« Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst.
»Mindestens zwei Wochen.«
Mein Herz sank. Am liebsten hätte ich gegen das nutzlose Auto getreten, aber dann hätte Donald mich wahrscheinlich gesteinigt. Ich fuhr mir durch die widerspenstigen Locken, verhedderte meine Finger wie immer darin und zog sie fluchend wieder heraus. »Na, dann … werde ich mir hier wohl eine Bleibe suchen müssen.«
Donald rückte seine Kappe zurecht und sah mich mitleidig an. »Ach ja, richtig, Hochsaison«, grummelte ich.
»Ich kenne da aber jemanden, der sicher noch ein Plätzchen für eine nette junge Dame aus Toronto frei hat.« Donald schenkte mir ein freundliches Lächeln, und ich erwiderte es dankbar.
Kurz darauf sah ich dabei zu, wie er den heiß geliebten Chevrolet meines Grandpas auf seinen Abschleppwagen lud. Und damit auch meine Pläne für den Sommer.
»Fuck«, wiederholte ich noch einmal, als ich neben Donald auf den Beifahrersitz kletterte und mich nach St. Andrews, meinem neuen Zuhause für mindestens zwei Wochen, fahren ließ.
Wir kamen an einem Golfplatz, einer Feuerwache, einem Tim Hortons und vereinzelten Häuschen mit gepflegten Vorgärten vorbei, bevor wir das Städtchen erreichten. Hin und wieder erhaschte ich zwischen Gebäuden und Bäumen hindurch einen Blick auf das glitzernde Meer. Ich musterte jedoch vor allem die holzverkleideten Wohnhäuser mit großen Gärten. Hatte sie hier mal irgendwo gewohnt? Befand sie sich vielleicht in diesem Moment hinter einem dieser Fenster? War sie hier einkaufen gegangen? Oder dort am Meer entlanggeschlendert?
Um mich von dem nervösen Kribbeln in meinem Magen abzulenken, kniff ich mir so fest in den Handrücken, dass meine Fingernägel einen Abdruck auf meiner rotbraunen Haut hinterließen. Es reichte schon, dass mein Herz immer schneller schlug, je näher wir dem Ortskern kamen.
Im Zentrum begrüßte uns eine bunte Häuserfront mit vielen Geschäften und Restaurants. Die einladenden roten, blauen und gelben Holzfassaden schienen einem Reisemagazin zu entstammen. Von mehreren Vordächern und Fahnenmasten wehte die kanadische Flagge.
»Willkommen in St. Andrews!« Donald sah so stolz aus, dass ich unwillkürlich grinsen musste. Das hier war wirklich ein schönes Fleckchen Erde. Fröhlich zeigte Donald auf verschiedene Gebäude und erklärte mir, wo es das beste Essen oder die schönsten Souvenirs gab. Natürlich konnte ich mir auf die Schnelle nichts davon merken, also nickte ich nur höflich.
»Da ist der Pier«, verkündete er. »Von dort aus kannst du zum Beispiel Whale-Watching-Touren machen. In ein paar Tagen ist die Saison wieder eröffnet.«
Ich starrte auf die breite Öffnung zwischen der Häuserfront, die einen atemberaubenden Blick auf das Meer und einen weit hinausführenden Holzsteg freigab. Mein Herz flatterte aufgeregt. Schon seit ich klein war, hatte ich eine stetig wachsende Liste mit Dingen, die ich in meinem Leben unbedingt tun wollte. Wale aus nächster Nähe zu beobachten stand darauf ziemlich weit oben.
Als Donald schließlich abbog und die Straße am Meer verließ, fiel mir auf, dass er absichtlich durchs Zentrum gefahren sein musste, um mir den Ortskern zu zeigen. Nun ging es wieder in die entgegengesetzte Richtung. Kurz darauf hielten wir vor einem Haus, das ich mit seinem schneeweißen Anstrich und spitzen Giebeldächern nur als typisches Bed and Breakfast bezeichnen konnte. »Cory Cottage«, verkündete Donald, als wäre er ein Busfahrer und dies die nächste Haltestelle.
Ich sah ihn skeptisch an. »Da soll ich wohnen?« Das würde ich mir selbst mit dem besten Nebenjob der Welt nicht leisten können.
Donald schob sich die Kappe aus der Stirn und kratzte sich hinter dem Ohr. Dabei hinterließ er einen schwarzen Schmierstreifen an seinem Hals. »Glaub mir, sie werden sich freuen, dich zu sehen.«
Zweifelnd blickte ich zu dem großen, weißen Haus, dann wieder zu Donald.
»Geh nur.« Er nickte mit dem Kopf in Richtung der dunkelgrün gestrichenen Tür. »Sag einfach, dass Donald Loiterman dich geschickt hat. Ich rufe später die Rezeption an, wenn ich dir mehr über dein Auto sagen kann.«
Ich nickte, schnappte mir meine Reisetasche vom Rücksitz und öffnete die Beifahrertür des Abschleppwagens. Bevor ich ausstieg, drehte ich mich noch einmal zu ihm um. »Danke, Donald. Sie haben mir echt das Leben gerettet.«
»Na, so würde ich es nicht nennen.« Er grinste breit. »Aber wir unterhalten uns noch mal, wenn du dein Zimmer gesehen hast.«
Ich fragte erst gar nicht nach, was seine Anspielung zu bedeuten hatte. Wenn wirklich bald so viele Touristen die Stadt fluteten, konnte ich froh sein, überhaupt eine Bleibe zu finden.
Donald schrieb sich meinen Namen auf, dann tippte er sich zum Abschied an die Mütze, und ich stieg aus. Zögernd trat ich durch die schneeweiße Gartentür und folgte dem gefliesten Steinweg durch einen ordentlich angelegten Vorgarten. Die Hausfassade war makellos weiß, die Fensterläden in demselben Dunkelgrün gehalten wie die Haustür. Rechts und links neben dem Eingang hingen zwei Laternen, die abends sicher einladendes Licht verströmten. Noch nie in meinem Leben hatte ich ein so elegantes Gebäude betreten.
Ich war eher löchrige Dächer, klapprige Türen und Stromausfälle gewohnt.
Es gab keine Klingel, und die Tür öffnete sich von selbst, als ich dagegendrückte. Dahinter wartete eine Farbexplosion auf mich. Die holzvertäfelten Wände des Eingangsbereichs waren in einem warmen Orangeton gehalten. Eine einladende Sitzecke mit blau gemusterter Couch und passenden Sesseln lud vor einem Kamin, auf dessen Sims eine Vase mit frischen Sommerblumen stand, zum Verweilen ein. Eine Treppe führte in die obere Etage.
»Willkommen im Cory Cottage«, flötete eine Stimme. »Ich bin Janet, wie kann ich Ihnen helfen?«
Ich war so erschlagen von all der ländlichen Eleganz und dem frischen Lavendelduft, dass ich einen Augenblick brauchte, um die Sprecherin ausfindig zu machen. Sie winkte mir fröhlich von ihrem Platz hinter der Rezeptionstheke rechts von mir zu.
Die Frau war wie das Cottage: elegant, wenn auch vielleicht eine Spur too much. Ich schätzte sie auf Mitte fünfzig. Ihre Nägel waren in Koralle lackiert, derselbe Farbton wie ihr Lippenstift. Sie trug eine geblümte Bluse und hatte sonnengebräunte Haut, wie anscheinend alle in dieser Stadt.
Ich schob mir eine vorwitzige schwarze Locke aus dem Gesicht und ging auf sie zu. Es war klar, dass Donald mich nur auf den Arm genommen hatte. Nicht in einer Million Jahren hätten sie in einem derart exklusiven Bed and Breakfast so kurz vor der Hauptsaison noch ein Zimmer für mich frei.
Als ich an die Rezeptionstheke trat, reichte Janet nur ein kurzer Blick in mein Gesicht, bevor sie fragte: »Schlechter Tag, Liebes?«
Ich nickte. Dann erinnerte ich mich an so etwas wie Manieren und setzte ein Lächeln auf. »Ich bin Marly Macpherson. Mein Auto ist kurz vor dem Ortseingang liegen geblieben, und Donald Loiterman hat gesagt, dass ich hier nach einem Zimmer fragen soll.«
»Ach, du liebe Güte!« Janet schürzte die Korallenlippen und hob die makellos gezupften Augenbrauen, sodass ihr blondierter Pony ihre Wimpern kitzelte. »Wie lange möchtest du denn bleiben, Liebes?«
Ich traute mich fast nicht, es laut auszusprechen. »Äh, mindestens zwei Wochen?« Es klang wie eine Frage.
»Oh, das ist ja fabelhaft, einfach wunderbar.«
»Ist es das?«
Sie nickte so heftig, dass ihre goldenen Ohrringe leise klirrten. »Dieses Cottage gehört meinem Mann Joseph und mir. Jeden Sommer kommt unsere Tochter zu Besuch, deshalb ist immer ein Zimmer für sie reserviert.« Ihr Gesicht fiel in sich zusammen. »Leider kann Liza dieses Jahr nicht kommen, weil sie eine Kreuzfahrt in den Bahamas macht.« Es war offensichtlich, wie nahe es Janet ging, dass ihre Tochter eine Liege am Pool, eisgekühlte Piña coladas und eine Außenkabine mit Blick aufs Meer dem Besuch bei ihren Eltern vorzog. Sie räusperte sich. »Du kannst gerne ihr Zimmer haben, Liebes, es steht sechs Wochen leer.«
»Sechs Wochen?« Ich hatte jetzt schon Mitleid mit der armen Liza, die jedes Jahr fast zwei Monate hier versauerte. St. Andrews war hübsch, keine Frage, aber was gab es in so einer Kleinstadt schon zu tun?
»Oder auch nur zwei«, fügte Janet eilig hinzu. »Ganz, wie du möchtest.«
»Und wie viel kostet das pro Nacht?«
Sie schenkte mir ein verschwörerisches Lächeln und beugte sich über die Theke zu mir vor, sodass ich einen unfreiwilligen Einblick in ihr faltiges Dekolleté bekam. »Da Donald dich geschickt hat und du armes Ding so einen schlechten Tag hattest, biete ich dir einen Sonderpreis an. Fünfundzwanzig Dollar pro Nacht.«
Fünfundzwanzig Dollar? Das war wirklich ein Spottpreis, wenn die Zimmer auch nur annähernd so schön eingerichtet waren wie der Empfangsbereich des Cottage. Aber da Janet und Joseph normalerweise gar kein Geld mit diesem Zimmer verdienten, war es wohl in Ordnung.
Ich rechnete schnell im Kopf durch. Bei vierzehn Nächten wären das dreihundertfünfzig Dollar. So viel gab mein Budget geradeso her. Ich hatte ursprünglich geplant, nur kurz in St. Andrews zu halten, auf meiner Reise stets in billigen Hostels unterzukommen und nur das Nötigste zu shoppen. Diesen Plan konnte ich nun zwangsläufig über den Haufen werfen. Nach den zwei Wochen hier würde mein Geld knapp werden, da ich ja noch zurück nach Toronto fahren musste und – nur, wenn ich Glück hatte – zuvor meinen Roadtrip fortsetzen wollte. Außerdem musste ich Benzin, Essen und Trinken sowie die Werkstattkosten bedenken, die ich noch überhaupt nicht abschätzen konnte.
Doch ich musste zugeben, dass ich mit Sicherheit kein besseres Angebot als dieses bekommen würde. Das Städtchen machte nicht den Eindruck, als würde es hier spottbillige Hostels für junge Leute geben. Es stand also fest: Ich würde mir für die nächsten zwei Wochen einen Job suchen müssen.
Widerwillig zückte ich meinen Geldbeutel. »Kann ich mit Kreditkarte zahlen?«
»Nur keine Eile, Liebes. Komm erst einmal richtig an. Es reicht, wenn du jetzt die ersten beiden Nächte bezahlst. Dann sehen wir weiter.«
Plötzlich war ich gerührt von der Freundlichkeit der Leute hier. Ich hatte erst zwei Einheimische getroffen, und beide hatten mir buchstäblich den Tag gerettet. In Toronto hätte ich nie so kurzfristig eine so billige Bleibe gefunden, die nicht kurz vor dem Abriss stand.
Ich nickte und schob fünfzig Dollar und meinen Führerschein über den Tresen, damit Janet meine Daten aufnehmen konnte.
»Setz dich doch einen Moment auf das Sofa, Liebes. Joseph wird gleich dein Gepäck hochtragen.«
Joseph stellte sich als ebenso braun gebrannter, netter älterer Herr heraus, der mich die Treppe hoch- und einen geschmackvoll dekorierten Flur entlangführte.
»Du bist wohl aus der Großstadt, was, junge Dame?«, fragte er mit einem vielsagenden Blick auf meine Nike Air Jordans.
»Ja, Toronto.«
»Und du möchtest hier ein bisschen Ruhe und Frieden genießen?« Seine Neugier verwandelte sich augenblicklich in Mitleid. Wahrscheinlich glaubten diese Kleinstadtmenschen, dass es in Metropolen keinerlei Rückzugsmöglichkeiten, dafür aber Lärm rund um die Uhr und hohe Kriminalitätsraten gab. Wo sie recht hatten …
»Ich wollte eigentlich einen Roadtrip mit meiner besten Freundin machen«, erklärte ich, um nicht schon wieder die Geschichte mit dem liegen gebliebenen Auto erzählen zu müssen. »Aber sie hatte spontan geschäftlich zu tun, also bin ich allein losgezogen.«
Nun hob Joseph die Augenbrauen, als wollte er sagen, dass ich als junge Frau lieber nicht ganz allein unterwegs sein sollte. Dabei erinnerte er mich sehr an meinen Grandpa, der mir genau dasselbe gesagt hatte.
»Da wären wir.« Joseph öffnete die Tür am Ende des Gangs und machte eine einladende Handbewegung. Er stellte meine Tasche auf dem Boden ab und verabschiedete sich höflich. »Einen schönen Aufenthalt in unserem Haus.«
»Danke, den werde ich sicher haben.«
Als ich die Tür hinter mir schloss, atmete ich hörbar aus. Ich brauchte dringend ein bisschen Zeit für mich, um alles zu verarbeiten. Doch als ich den Blick durch mein neues Zuhause für zwei Wochen schweifen ließ, blieb mir vor Staunen der Mund offen stehen.
Das Zimmer war zwar sehr klein – wahrscheinlich das kleinste, das sie hatten –, doch das tat seiner Schönheit keinen Abbruch. Es trug sogar noch zur Gemütlichkeit bei.
Das Bett aus dunklem Holz stand unter einer steilen Dachschräge, daneben ein kleiner Nachttisch mit einer alten Messinglampe. Die Tagesdecke war weiß und mit blauen Stickereien verziert. Es roch nach frischen Blumen, die in einer Vase neben dem Fernseher auf einer Kommode standen. Es gab einen Kleiderschrank aus demselben Holz wie Bett und Kommode und sogar einen kleinen Kühlschrank. Eine Tür führte ins angrenzende Badezimmer. Ich stieß sie auf und sah mich neugierig um. Meine grauen Augen blickten mir aus dem Spiegel über dem Waschbecken entgegen. Wie angewurzelt blieb ich stehen, als mein Blick auf die große, frei stehende Badewanne im Retrostil fiel, die den kleinen Raum dominierte. Beinahe wäre ich vor Freude auf und ab gehüpft. Im Haus meiner Großeltern gab es nur eine Dusche, die nach zwei Minuten kalt wurde. In den nächsten zwei Wochen würde ich baden, was das Zeug hielt.
Voller Tatendrang packte ich meine Tasche aus, hängte meine Klamotten in den Kleiderschrank und stellte meine beachtliche Sneaker-Sammlung ordentlich daneben auf. Zum Glück gab es in Grandpas Auto mehr als genug Platz für meine heiß geliebten Schuhe, denn davon konnte ich mich selbst auf Reisen nicht trennen.
Die Sonne fiel durch das kleine Dachfenster, und ich öffnete es. In der Ferne hörte ich das Meer rauschen und die Möwen kreischen. Sonst war da nichts als Stille. Der blaue Streifen am Horizont glitzerte einladend, die Wipfel der Bäume wiegten sich in der warmen Brise. Ich atmete tief durch, sog die salzige Luft ein.
Wider Willen musste ich zugeben, dass dies der perfekte Ort war, um zu stranden. Schließlich war ich aus einem bestimmten Grund in diese Richtung aufgebrochen und nicht etwa in die Rocky Mountains oder nach Vancouver gefahren. Allerdings war ich mir nach wie vor nicht sicher, was ich mir eigentlich von diesem Roadtrip erhoffte. Als ich den Blick abermals über die Bäume, die gepflegten Rasenflächen und den blau glitzernden Streifen am Horizont schweifen ließ, überkam mich wieder diese kribbelige Nervosität. Ich strich mit den Fingern über das Portemonnaie in meiner Hosentasche. Darin befand sich mein wertvollster Besitz. Das einzige Foto meiner Mom, das ich besaß. Eine vergilbte, zerknitterte Aufnahme von ihr und mir am Strand. Grandma hatte es mir vor vielen Jahren gegeben, und ich hatte es seitdem gehütet, als hinge mein Leben davon ab.
Sofort bildete sich der altbekannte Kloß in meinem Hals. Was, wenn ich umsonst hergekommen war? Was, wenn hier alle Spuren im Sand verliefen?
Rasch schüttelte ich den Kopf und versuchte, die aufwallende Traurigkeit zu vertreiben. Ich durfte mich jetzt nicht runterziehen lassen. Ja, es hatte sich einiges an Ballast angestaut, den ich nicht verarbeitet hatte. Oder nie verarbeiten würde? Aber nun, da ich hier zwei Wochen festsaß, würde ich in diesem idyllischen Städtchen vielleicht erst mal abschalten und neue Kraft tanken können, bevor ich darüber nachdachte, wie ich weiter vorgehen sollte.
Ich war hier. Der erste Schritt war getan. Ein Schritt, mit dem ich einem Teil meiner Vergangenheit näher kam, als ich es in den letzten siebzehn Jahren geschafft hatte.
Bevor Tränen fließen konnten, schloss ich das Fenster und wandte mich ab. Später gäbe es noch genug Zeit dafür, mich mit mir selbst und meinen Gefühlen auseinanderzusetzen. Jetzt galt es erst einmal, ein Problem zu lösen, und darin war ich normalerweise wirklich gut. Ich musste mir einen Job suchen.
Ich ließ mich aufs Bett fallen und tauschte meine blendend weißen Nike Air Jordan 1 Milan gegen gemütlichere Air Max Infinity Sneakers in Schwarz und Hellrosa. Wer wusste schon, wie sauber die Straßen hier waren? Bei meinen geliebten Sneakers ging ich lieber auf Nummer sicher.
Wenige Augenblicke später war ich schon auf dem Weg in die Innenstadt.
Während ich durch die Straßen von St. Andrews schlenderte, war die Stille allgegenwärtig, was für mich völlig ungewohnt war. Kaum Verkehr, keine Sirenen, keine Streetcars. Ich kam nur an einigen Spaziergängern vorbei, die mich alle freundlich grüßten. Ein Lächeln zupfte an meinen Mundwinkeln. Die gute Laune der Kleinstädter war wirklich ansteckend. Irgendwo bellte ein Hund, in der Hecke am Straßenrand zwitscherten ein paar Vögel. Ab und an trug der Wind fernes Kinderlachen von einem Spielplatz an meine Ohren. Der Wind rauschte in den Baumkronen, und ich ertappte mich dabei, wie ich einen Moment stehen blieb und die Augen schloss, um alles auf mich wirken zu lassen. Eine Locke kitzelte meine Nasenspitze, meine Jeansjacke blähte sich leicht in der Brise.
Ja, es war die richtige Entscheidung gewesen hierherzukommen. Weg von der Hektik und dem Gestank der Großstadt. Aber vor allem von dem Lärm in meinem Kopf. Selbst wenn meine Suche hier in einer Sackgasse endete, würde ich wenigstens ein bisschen Urlaub machen können.
Es dauerte nicht lange, bis ich wieder in der Water Street, der Hauptstraße mit der bunten Häuserfront, ankam. Anscheinend war das hier der einzige Ort, an dem etwas los war. Es gab unzählige Restaurants, Souvenirläden und kleine Boutiquen. Ich schlenderte die Straße entlang und bestaunte die gepflegten Fassaden, den blitzsauberen Gehweg und die Straßenlaternen, die einem längst vergangenen Jahrhundert zu entspringen schienen.
Im Kopf machte ich mir eine Liste der Geschäfte und Restaurants, bei denen ich nach einer Aushilfsstelle fragen könnte. Doch als ich anfing, die Liste abzuklappern, hielt mein neu gefundener Tatendrang nicht lange an. Denn mit jedem Laden, in dem ich mich nach einem Job erkundigte, mit jedem Coffeeshop und jedem Restaurant verschlechterte sich meine Laune. Die Antwort war immer dieselbe: So kurz vor der Hochsaison waren alle Stellen vergeben. Und einige Blicke der Ladenbesitzer sagten mir, dass sie sowieso keine fremde Person eingestellt hätten. In so einer Kleinstadt kannten sich alle, eine Hand wusch die andere. Nur ich kannte niemanden.
Nach jeder weiteren Absage wünschte ich mir dringlicher, dass Rachel bei mir wäre. Mit ihren Überredungs- und Flirtkünsten hätte sie sicher irgendeinen Barkeeper beschwatzt, uns einen Job in einer hippen Bar mit besonders viel Trinkgeld zu geben.
Als schließlich die Sonne immer tiefer sank und ich in meiner dünnen Jeansjacke zu frösteln begann, war meine Laune am Tiefpunkt angekommen. Wie sollte ich für die Autoreparatur und meine Bleibe bezahlen, wenn es hier weit und breit keine Jobs gab?
Ich kaufte mir einen Hotdog und spazierte zum Pier. Ein breiter Holzsteg führte weit aufs Meer hinaus, doch das Wasser stand tief. Es musste Ebbe sein. Die alten Holzbohlen ächzten leise unter meinen Füßen. Ich setzte mich an den Rand des Stegs und ließ die Beine baumeln. Auf der anderen Seite lagen ein paar kleine Boote vor Anker, die sanft schaukelten. Die Takelage knarzte, die Wellen platschten leise gegen die Schiffsrümpfe. In der Ferne kreischten ein paar Möwen, sonst war alles still. Doch selbst diese friedliche Atmosphäre, die Abendsonne in meinem Gesicht und das Rauschen der Wellen konnten meine trübe Stimmung nicht vertreiben. Ich fühlte mich einsamer denn je. In diesem Moment wäre ich am liebsten sofort aus diesem Kaff verschwunden. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, allein auf den Roadtrip aufzubrechen? Was erhoffte ich mir schon, hier zu erreichen? Das ganze Vorhaben kam mir mit einem Mal lächerlich vor.
Ich zückte mein Handy und antwortete auf Rachels letzte Nachricht:
Bin nicht mehr in Montreal, sondern in St. Andrews, der klischeehaftesten Kleinstadt aller Zeiten. Stecke mindestens zwei Wochen hier fest. Motorschaden. Später mehr. Wie lief das Bewerbungsgespräch? Telefonieren wir bald?
XOXO
Nachdem ich den Hotdog aufgegessen hatte, schlenderte ich zur Water Street zurück. Ich hatte kein Ziel. Mein Plan war königlich in die Hose gegangen. Ich ließ den Blick über die bunten Häuser und altmodischen Straßenlaternen schweifen und fragte mich einmal mehr, ob sie früher einmal diese Straße entlanggegangen war. Ob sie wohl in diesem Restaurant gegessen oder die bestickten Kissen in jenem Schaufenster bewundert hatte. Sofort bildete sich wieder der vermaledeite Kloß in meinem Hals.
»Fuck«, fluchte ich, zum gefühlt hundertsten Mal an diesem Tag. Ich schluckte und sah mich nach einer Ablenkung um.
Da fiel mein Blick auf den dunkelblauen Pick-up-Truck, der früher am Tag an mir vorbeigefahren war. Nun parkte er vor einem Souvenirshop namens The Whale Store. Der Hund, der zuvor so lustig aus dem Fenster geschaut hatte, sprang aufgeregt auf dem Bürgersteig herum. Versuchte er etwa, seinen eigenen Schwanz zu fangen?
Trotz meiner grimmigen Laune musste ich lächeln. Ich ging neben dem wunderschönen Golden Retriever in die Hocke, um sein glänzendes karamellfarbenes Fell zu streicheln.
»Hallo, mein Hübscher, wo ist denn dein Herrchen?« Ich erinnerte mich an seegrüne Augen und zerzaustes blondes Haar.
»Reggie!«, ertönte es gedämpft aus der offenen Ladentür hinter mir. Ich fuhr herum. Besagte grüne Augen musterten mich eingehend durch das Schaufenster. Ich erhob mich langsam und ließ den Blick dabei nicht von Reggies Herrchen.
Der Hund stürmte an mir vorbei und in den Laden hinein. Sein Besitzer tätschelte ihm den Kopf, ohne mich aus den Augen zu lassen. Er bohrte seinen Blick in meinen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, starrte nur zurück. War er wütend, weil ich seinen Hund einfach so gestreichelt hatte? Auf seinen hübschen Zügen zeigte sich keine Regung.
Plötzlich sprach ihn eine junge Frau von hinten an, und er drehte sich zu ihr um. Sie hatte langes schwarzes Haar und einen rötlich braunen Hautton, der meinem ähnelte. Mit einer vertrauten Geste legte sie ihm eine Hand auf den Arm. Ich seufzte. Natürlich war so ein gut aussehender Typ wie er vergeben.
Mir fiel auf, dass ich die Frau ziemlich unhöflich anstarrte, was unter anderem daran lag, dass ich nicht oft Leute mit einer ähnlichen Hautfarbe wie meiner sah. Peinlich berührt wandte ich mich ab und machte mich auf den Rückweg zum Cottage.
Die Rezeption war leer, was mir gerade recht kam. Nach dem langen Tag voller Pannen und Misserfolge hatte ich keine Lust, mich mit jemandem zu unterhalten. Ich sehnte mich nach einem heißen Bad und einem hoffentlich traumlosen Schlaf.
Ich stand hinter dem Schaufenster des Whale Stores und wartete auf Debbie. Gerade bediente sie eine junge Familie. Deren zwei Kinder tollten aufgeregt durch den Laden und blieben schließlich bei den Büchern hängen. Sie blätterten durch die typische Lektüre wie Anne of Green Gables und Winnie Puuh. Dann kamen sie zu den Geschichten von First-Nation-Autoren. Als sie nach dem Bilderbuch mit den vielen Tieren auf dem Cover griffen, lächelte ich. Thanks to the animals, eins von Maras Lieblingsbüchern.
»Das ist eine schöne Geschichte«, rief ich den beiden zu. »Meine Nichte ist in eurem Alter, und ich lese sie ihr oft vor.«
Die Kleinen sahen mich mit großen Augen an. Dann setzten sie sich auf den Boden und blätterten neugierig in dem Buch herum. Kurz darauf hatten sie alles um sich herum vergessen. Das kannte ich nur zu gut, da ich selbst oft zwischen den Seiten eines Buchs versank.
Immer noch lächelnd drehte ich mich wieder zur Fensterscheibe, um nach Reggie zu sehen, den ich im Auto gelassen hatte. Natürlich war er mal wieder aus dem offenen Fenster gesprungen und jagte auf dem Gehsteig fröhlich bellend seinem Schwanz hinterher. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Das Wetter war herrlich. Endlich hatten wir die eisigen Temperaturen hinter uns gelassen, die hier in New Brunswick bis in den Mai anhalten konnten. Ich würde Reggie seinen Spaß lassen und durch die Scheibe ein Auge auf ihn haben. Er war zwar jung und übermütig, aber nicht gefährlich. In der Stadt bestand eine Leinenpflicht, aber um ehrlich zu sein, konnte Reggie nicht mal einer Fliege etwas zuleide tun. Nur Möwen, die waren eine ganz andere Geschichte. Ich grinste, als ich an seine letzte Begegnung mit einem Schwarm in der Nähe des Piers dachte. Er hatte den Vögeln und einigen Touristen einen gehörigen Schrecken eingejagt, als er wie ein Kugelblitz in sie hineingerannt war.
Das Lächeln erstarb auf meinen Lippen, als jemand über den Gehweg auf Reggie zusteuerte. Im Ernst? Es hatte keine fünf Minuten gedauert, bis sich jemand beschweren kam, weil er nicht angeleint war?
Ich erstarrte, als ich die junge Frau wiedererkannte, die mir früher am Tag am Straßenrand aufgefallen war. Den Rauch aus dem Motor hatte ich schon von Weitem gesehen und anhalten wollen, um meine Hilfe anzubieten. Allerdings hatte ich im Näherkommen Donalds Abschleppwagen entdeckt, sodass ich weitergefahren war.
Die Frau strich sich ein paar widerspenstige dunkle Locken aus dem Gesicht und ging neben Reggie in die Hocke. Er hörte sofort auf, seinen Schwanz zu jagen, legte den Kopf schief und blickte interessiert zu ihr auf. Als sie etwas zu ihm sagte und vorsichtig eine Hand ausstreckte, wäre ich am liebsten nach draußen gelaufen. Es war wirklich nicht in Ordnung, wenn Fremde – meistens Touristen – ständig anderer Leute Hunde betatschten, ohne vorher zu fragen. Kein Wunder, wenn sich die Tiere das nicht immer gefallen ließen.
Zu meiner Überraschung ließ Reggie die Frau gewähren. Er schmiegte sogar seinen Kopf an ihre Hand. Aber ich hatte den Mund schon geöffnet. Das Wort war heraus, bevor ich es zurückhalten konnte. »Reggie!«
Sein Kopf zuckte sofort in meine Richtung, er ließ die Frau stehen und raste durch die offene Tür in den Laden. Die beiden Kinder quietschten vor Vergnügen, als er an ihnen vorbeihuschte. Im nächsten Moment strich er schwanzwedelnd um meine Beine. Den Eltern schien der Hund im Laden allerdings weniger zu gefallen. Sie bezahlten schnell und scheuchten die Kleinen nach draußen.
Ich bekam das Ganze nur am Rande mit, denn die Frau hatte mich hinter der Scheibe entdeckt. Der Blick aus ihren sturmgrauen Augen lag auf mir, und ich konnte nicht anders, als ihn zu erwidern. Abwesend tätschelte ich Reggie, damit er sich beruhigte, ohne unseren Blickkontakt abzubrechen. Ich konnte mich nicht mehr regen, hatte das Gefühl, als würde die Zeit einen Moment stillstehen. Der Sturm in ihren Augen zog mich zu sich, verschlang mich und wirbelte mich hin und her, während ich wie angewurzelt dastand. Meine Verärgerung darüber, dass sie Reggie einfach so gestreichelt hatte, war verpufft.
Wer war sie? Ich hatte sie noch nie in St. Andrews gesehen, so viel war sicher. Eine Touristin? Möglich, auch wenn sie etwas früher als die anderen dran war. Vielleicht war sie nur auf der Durchreise. Vermutlich auf dem Weg nach Prince Edward Island, wie viele Leute, die hier durchkamen. Auf jeden Fall hatte sie es geschafft, dass ich alles um mich herum vergaß. Das schafften sonst nur Bücher. Oder Postkarten.
Als Debbie mich ansprach, musste sie eine Hand auf meinen Arm legen, damit ich sie wahrnahm.
»Sorry, Debbie, was hast du gesagt?« Ich drehte mich mit zerknirschtem Gesichtsausdruck zu ihr um.
Die Frau meines ältesten Freundes lächelte. Belustigung blitzte in ihren warmen braunen Augen auf, als sie einen wissenden Blick über meine Schulter warf. »Ich wollte mich nur noch mal für deine Hilfe bedanken. Nach dem Wasserrohrbruch drüben im Coffeeshop hätten wir es diese Woche ohne dich nicht geschafft, den Laden zu führen.«
»Überhaupt kein Problem.« Ich versuchte, meine Verlegenheit zu überspielen, indem ich mir über den Nacken rieb. »Ich springe immer gern ein, wenn es nötig ist.«
Sie nickte. »Das weiß ich.« Dann bückte sie sich und hob das Buch auf, das die beiden Kinder auf dem Boden liegen gelassen hatten. »Hier, nimm das mit. Für deine Mühen.«
Ich starrte sie an. »Was? Nein, das kann ich nicht annehmen. Ich möchte, wenn schon, dafür bezahlen.«
»Ich weiß, dass du es Mara gern vorliest, wenn du bei deiner Schwester bist, und habe gehört, wie du es den beiden Kindern empfohlen hast. Nimm es mit. Dann hast du es wenigstens bei dir, wenn Mara und Nelly dich das nächste Mal besuchen kommen.«
Unschlüssig streckte ich eine Hand nach dem Buch aus, das sie mir entgegenhielt. Auf dem Cover kuschelten sich viele Tiere an einen kleinen Jungen, um ihn warm zu halten, so wie ich gerne meine beiden Nichten knuddelte. »Danke, Debbie.«
Sie holte noch eine Retro-Postkarte von dem Ständer neben ihr und legte sie auf das Buch. »Ich weiß doch, wie gern du die hast.« Als ich protestieren wollte, schnitt sie mir mit einer Handbewegung das Wort ab. »Das ist das Mindeste, was ich dir als Dankeschön geben kann.«
Sie wandte sich um und ging wieder zum Tresen, gerade als die nächsten Kunden hereinkamen.
»Bestell Ed einen schönen Gruß«, rief ich ihr hinterher, und sie winkte lächelnd zum Abschied.
Ich drückte mir das Buch und die Postkarte an die Brust. Als ich mir vorstellte, wie Mara vor Vergnügen quietschen würde, wenn sie das nächste Mal zu mir kam, musste ich grinsen. Gedankenverloren strich ich Reggie über den Kopf, der brav neben mir Platz gemacht hatte.
»Wir müssen gleich los, Buddy, bevor die Flut einsetzt und wir nicht mehr auf die Insel kommen.« Schon wollte ich zur Tür gehen, da fiel mir die Frau vor dem Schaufenster wieder ein.
Als ich herumfuhr, war sie verschwunden. Keine Spur von grauen Augen, ungezähmten schwarzen Locken und diesem intensiven Blick. Sie hatte einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen, den ich noch nicht recht deuten konnte.
Das Mädchen mit den Sturmaugen.