Das Buch Dieses Buch geht der Frage nach, ob der Islam, wie er seit langer Zeit in den verschiedenen Kulturen präsentiert, interpretiert und gelebt wird, tatsächlich den Lehren des Korans selbst folgt. Schritt für Schritt untersucht die Autorin, wie der Koran in seinen Versen die Religion des Islam und die Rolle der Frau darin definiert. Ist die Frau weniger wert als der Mann? Gibt es eine Gleichberechtigung der Geschlechter? Soll der Mann über die Frau bestimmen und muss sie ihm gehorsam sein? Auf diese und mehr wichtige Fragen sucht die Autorin im Heiligen Buch des Islam, dem Koran, nach Antworten. Dabei lässt sie ihre eigenen Erfahrungen auf ihrem persönlichen spirituellen Weg einfließen. Sie integriert aber auch die Lebensgeschichten befreundeter Frauen, so ehrlich und unverfälscht, wie diese selbst sie schildern. Lisa Spray betrachtet die Aussagen des Koran nicht nur mit einer auf einem Anthropologiestudium beruhenden Sachlichkeit, sondern auch mit der spirituellen Sensibilität einer gottergebenen Frau. Ziel ihres Buches ist, das Frauenbild des Koran zu erforschen, um es aus ihrer Sichtweise Muslim(inn)en und Nicht-Muslim(inn)en gleichermaßen näherzubringen.
Weitere englischsprachige Veröffentlichungen von Lisa Spray: „My Heart's Surprise: A Personal Reconciliation of Women's Rights with the Quran and Islam”, BSMPress (2001) „Jesus: Myths and Message”, Universal Unity 1648 (1992)
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Heike Senouci
Die Verkaufserlöse dieses Bucheswerdenvollumfänglichan
Waisenkinder gespendet.
Die Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel „Women’s Rights, the Quran
and Islam“ bei BSMPress, Tucson, Arizona, USA.
Siewurde von2018 bis 2021 von Lisa Spray überarbeitet und erweitert.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Text-Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe by Lisa Spray
und Heike Senouci 2022.
Alle Rechte vorbehalten.
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7562-8041-4
INHALT
Es ist nun achtzehn Jahre her, als die erste Ausgabe dieses Buches veröffentlicht wurde. Seitdem hat sich viel in der Welt verändert, jedoch nicht allzu viel, was die Stellung der Frau in der muslimischen Welt betrifft. Alle ursprünglichen Inhalte dieses Buches sind im Leben dieser Frauen heutzutage noch genauso anwendbar, wie sie es vor achtzehn Jahren zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung waren. Und dennoch gibt es Dinge, die eine Änderung und Aktualisierung notwendig machten. Manche Internetseiten, die als Quellen dienen, haben sich verändert. Es wurde ein neues Kapitel hinzugefügt, welches von Frauen handelt, die sich gegen Tyrannei und Unterdrückung auflehnen. Einer der ursprünglichen Anhänge des Buches wurde als eigenständiges Kapitel in den Hauptteil übernommen.
Einige Menschen, die zur Entstehung der Erstausgabe beigetragen hatten, verweilen nicht mehr auf dieser Erde und werden schmerzlich vermisst. Andere, die erst kürzlich ihren Beitrag zur aktuellen Buchversion geleistet haben, sind neu gewonnene Bekanntschaften und erweisen sich als großen Segen. Alle haben sie durch ihre Beiträge sowohl diesem Buch als auch mir und meinem Leben ein großes Geschenk gemacht. Dafür bin ich in höchstem Maße dankbar. Gott sei gepriesen!
Dieses Buch ist all den Menschen gewidmet, die am 11. September 2001 ihr Leben verloren.
Es ist auch denjenigen gewidmet, die alles gegeben haben, ihnen zu helfen, und all denen, die unter Terrorismus, Unterdrückung und Tyrannei zu leiden haben.
Und es ist dem Einen gewidmet, der uns durch all dies hindurchführt.
„… Vermutungen sind kein Ersatz für die Wahrheit.“ [Koran, 53:28]
Der Islam ist bis heute eine der am meisten missverstandenen Religionen im Westen. Doch wer ist daran schuld, sind es die westlichen Medien? Wohl nicht in erster Linie. Der Hauptgrund für das Missverstehen dieser schönen Religion ist wohl die Tatsache, dass Menschen, Gelehrte oder auch Länder der Welt über Jahrhunderte hinweg einen Islam präsentiert und vorgelebt haben, der eigentlich nicht den Lehren des Korans selbst folgt.
Schreckliche Terrorakte, verübt im Namen der Religion, sind die besten Beispiele dafür. Die Angriffe mit gekidnappten Flugzeugen auf New York City und Washington, D.C., am 11. September 2001, bei denen Tausende unschuldiger Menschen getötet wurden, sind zutiefst verurteilungswürdig. Kein gottesfürchtiger Mensch kann jemals solch eine Tat stillschweigend billigen. Wie bei vielen anderen Anschlägen der Vergangenheit sind die Terroristen mit Gruppen verbunden, die den Namen des Islam missbrauchen, um Verbrechen zu begehen, die im Koran, dem Heiligen Buch der Muslime, auf das Äußerste von Gott verabscheut und verdammt werden.
Die Religion des Islam sollte nicht mit den Taten dieser sogenannten Muslime verstrickt werden. In Wahrheit sind diese Verbrecher nach der Definition des Koran ebenso wenig Muslime wie die Mitglieder des Ku-Klux-Klan Christen sind. Der Islam verurteilt das Töten und sogar die Verfolgung von Menschen, nur weil sie einem anderen Glauben angehören. Der Koran ordnet die absolute Religionsfreiheit in einer Gesellschaft an. Er erlaubt den Muslimen nicht zu kämpfen, außer zur Selbstverteidigung und um Frieden herbeizuführen. Er erlaubt es nicht, in religiösen Angelegenheiten Andersdenkenden Beschränkungen aufzuerlegen. Er ermahnt die Muslime, alle Menschen freundlich und gleichberechtigt zu behandeln.
Leider sind es nicht nur Terroristen, die dem Islam einen schlechten Namen geben. Es ist Fakt, dass sich zahlreiche von Menschen gemachte Regeln im Islam etabliert haben, die nichts mit der Religion, wie sie im Koran dargelegt wird, zu tun haben. Einer der Hauptgrundsätze, die über die Jahre beschädigt wurden, ist die Gleichberechtigung der Frau im Islam. Gott sagt uns ganz deutlich im Koran, dass wir, egal ob männlich oder weiblich, in Seinen Augen gleich sind. Auch wenn wir uns offensichtlich physisch voneinander unterscheiden, so bezieht sich die einzige von Gott gemachte Unterscheidung nur auf unsere Rechtschaffenheit. Außerdem ist der Koran voller Gebote und Gesetze, die die Rechte der Frau sowie die Rechte der Schwachen, beispielsweise von Waisenkindern, schützen.
Darum ist Frau Lisa Sprays Arbeit, die sie in dieses Buch investierte, so ungemein wertvoll. Sie spricht all die Problematiken an, mit denen sich die Frau von heute konfrontiert sieht, wenn sie der Religion des Islam folgt oder folgen will. Sie bringt Beispiele aus ihrem Erfahrungsschatz und erzählt uns, wie sie langsam, Schritt für Schritt, mit jedem einzelnen Problem, dem sie begegnete, umging.
Frau Spray ist besonders gut für diese Aufgabe qualifiziert, weil sie verschiedene Glaubensrichtungen, darunter auch den traditionellen Islam, aus eigener Erfahrung kennt. Eine traditionelle Muslimin zu sein war für sie, wie es auch für andere westliche Frauen der Fall gewesen wäre, wirklich eine eindrückliche Erfahrung; bis Gott sie dem Islam des Koran begegnen ließ und sie erkannte, dass das, was man ihr als Islam beigebracht hatte, sich sehr von dem unterschied, was Gott im Koran offenbarte.
Neben ihren eigenen Erfahrungen bezieht sie viele Lebensgeschichten befreundeter Frauen, die Ähnliches durchlebt haben, in ihr Buch mit ein. Auch sie sahen das Licht am Ende des Tunnels, sobald sie Bekanntschaft mit dem koranischen Islammachten.
Darüber hinaus hat sie die Wichtigkeit einer guten Übersetzung des Korans in den Vordergrund gestellt. Der Koran, das letzte Testament für die Menschheit, ist nicht nur schön, vollständig und vollkommen detailliert geschrieben, sondern birgt auch einen göttlichen mathematischen Beweis in sich, den Frau Spray erörtert und in einem Anhang ihres Buches zusammenfasst.1 Ich hoffe, dass ihr Buch ein Meilenstein und eine Inspiration für den Leser sein wird, sich einen Koran zu besorgen, um von der ersten bis zur letzten Seite Gottes leitende Worte zu lesen.
Abdullah Arik
Imam und Direktor der International Community of Submitters
„Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen.“
Afrikanisches Sprichwort
In vielerlei Hinsicht brauchte es eine ganze Gemeinde, dieses Buch zu schreiben. Ich möchte all jenen meine Anerkennung und meinen Dank aussprechen, die dabei geholfen haben, es „großzuziehen“.
Zunächst möchte ich den Mitwirkenden Anerkennung und Dank für ihre persönlichen Geschichten aussprechen, die sowohl zum Inhalt als auch „zum Herzen“ des Buches so viel beitragen. In der Reihenfolge, in der sie erscheinen, danke ich Shari, Irandokht, Patty, MeauVell, Jamileh, Lory, Evah, Ihsan Ramadan, Lydia Kelley, Lourdes, Parsa, Naima, Khaula, Carolyn und weiteren Frauen, die nicht namentlich genannt werden möchten. Eure Geschichten begeistern und eure textlichen Vorschläge waren von unschätzbarem Wert. Ein zusätzlicher von Herzen kommender Dank gebührt Lydia für ihr Korrekturlesen und all ihre Unterstützung.
Weitere Menschen haben wunderbare Beiträge geleistet, und ich danke ihnen allen: Rev. Raven Gaston, Beth Harris, Azar Khan, Margaret Sierras, Donna Udell, Carol Vinson, Sara Sexton und viele mehr. Ganz besonders danke ich meinem Mann Ralph, nicht nur für seine wundervolle Lektoratsarbeit, sondern auch für seine unermüdliche Unterstützung. Ich danke Abdullah Arik, auch wenn er nicht mehr unter uns weilt, für sein exzellentes Vorwort, für seine Anmerkungen zum Text und für seine gesamte Hilfestellung.
Ein großes Danke geht auch an Mehri für die Erlaubnis, einen Auszug aus ihrer Autobiographie zu übernehmen, für ihren schönen Cover-Entwurf1, für all ihre Vorschläge und ihre Unterstützung bei der Erstellung der Kindle-Edition des Buches. Zu guter Letzt danke ich Heike für ihren Beitrag am Korrektorat und ihre Übersetzung des Buches in die deutsche Sprache.
In Wahrheit ist dieses Buch viel mehr eures als meines.
Möge es Gott gefallen, dem jeglicher Dank und jegliche Anerkennung gebühren.
Lisa Spray
Am 11. September 2001 wurden die Vereinigten Staaten von Amerika auf ihrem eigenen Grund und Boden angegriffen. Tausende unschuldiger Menschen wurden durch eine sorgfältig geplante Serie von Flugzeugentführungen getötet, deren Intention es war, die vollbesetzten Passagierflugzeuge als Bomben einzusetzen. Dieser Plan wurde bis auf das letzte Kidnapping in die Tat umgesetzt, und die Flugzeuge wurden vorsätzlich ins World Trade Center und in das Pentagon hineingesteuert. Es war eine unfassbare, grauenvolle Machenschaft, angeblich ausgetragen im Namen des Islam.
Der Koran hingegen, das heilige Buch des Islam, verurteilt aggressive Angriffe, mit Ausnahme aus Gründen der Selbstverteidigung. Er verurteilt ebenfalls das Töten von Menschen, mit Ausnahme derer, die persönlich einen Mord oder wirklich entsetzliche Verbrechen begangen haben. Glücklicherweise ist die breite Öffentlichkeit zu der Überzeugung gelangt, dass die Terrorakte des 11. September nicht als „islamisch“ bezeichnet werden können. Und es keimt nun ein allgemeines Interesse daran auf, zu verstehen, was Islam eigentlichwirklich ist.
Ich hatte gerade ein Buch über die Rechte der Frau im Islam für Glaubensschwestern und –brüder sowie für speziell am muslimischen Glauben interessierte Menschen fertiggeschrieben. Das, was Sie jetzt in den Händen halten, ist die Erweiterung jenes Buches für eine größere Leserschaft. Ich habe versucht, mehr persönliche Geschichten zu integrieren und zu spezifischen Fragen Vergleiche mit der Bibel aufzuzeigen. In der aktuellen Weltlage ist es nicht einfach zu vermitteln, dass der Islam nicht nur eine einzige Betrachtungsund Auslegungsweise zulässt. Die Vorstellungen über eine korrekte Praktizierung des Islams sind ebenso vielfältig, wie sie es hin sichtlich der Religionsausübung des Christen- und Judentums sind. Gleichwohl ist es gewagt, deutlich auszusprechen, dass Christen, Juden und Muslime wesentlich mehr Gemeinsamkeiten teilen als dass Unterschiede sie trennen. Ich persönlich glaube sogar, dass diese Aussage auf all jene Menschen zutrifft, die aufrichtig versuchen, einem spirituellen Pfad zu folgen. Unser Vokabular mag unterschiedlich klingen, aber die zugrundeliegende Essenz ist dieselbe.
Ich denke, dass durch hinreichend neues Material diese Buchrevision all denen Nutzen bringt, die bereits „Heart’s Surprise“ gelesen haben. Was die neuen Leser dieser Materie betrifft, so glaube ich, dass meine eigenen sowie die persönlichen Erfahrungen der Mitwirkenden genügend Hintergrundinformation bieten, um ein wirklich gutes Verständnis davon zu vermitteln, wie es aussehen kann, eine Frau im Islam zu sein… Nicht im Islam der Terroristen, sondern im Islam des Korans.
Eines der wundervollsten Dinge, die mir jemals passiert sind, ist, dass eine Freundin mir einen Koran gab, weil sie nicht wollte, dass ihr Hund ihn noch einmal zwischen die Zähne bekäme…
Natürlich war ich mir damals sicher, dass ich niemals eine Muslimin werden könnte. Es wäre zweifellos völlig verrückt für eine aufgeklärte westliche Frau, solch einen selbstzerstörerischen Akt auch nur in Erwägung zu ziehen.
Ich wusste an diesem schicksalhaften Tag Mitte der Siebzigerjahre noch nicht, dass das Frauenbild des Korans sich sehr von dem unterscheidet, was wir als das „islamische Frauenbild“ kennen. Vielmehr ist unter allen Heiligen Schriften der Koran zweifellos der Fackelträger der Frauen.
Das hätten Sie nicht erwartet, nicht wahr? Und ebenso ist auch der Islam des Korans nicht das, was Sie erwarten würden. Das meiste, das wir als islamisch kennen, ist eher kulturell islamisch als spirituell islamisch. Es basiert auf arabischer Tradition und Kultur und nicht nur auf dem Koran. Die Araber vermischten ihre Kultur mit der göttlichen Offenbarung und lehrten das Ergebnis als den Islam. Genau diese Art von „Vermischung“ ist natürlich auch in anderen religiösen Traditionen zu finden.
Wie hätten die Menschen auch anders gekonnt? Unser Verständnis von allem, was ist, wird stark von unserer Kultur geprägt, auch wenn wir glauben, unbefangen und unbeeinflusst zu sein. Die Art und Weise, wie wir göttliche Gebote in unser tägliches Leben übertragen, begründet sich also aus unserer Kultur heraus.
Dies trifft sowohl für die westliche Welt als auch für jeden anderen Teil der Erde zu. Alle menschlichen Wesen sehen die Welt durch die Zerrbrille ihrer eigenen Kultur.
Jedoch bin ich davon überzeugt, dass wir in eine neue Ära des Verstehens gleiten. Globale Kommunikationsformen erlauben uns, unsere „Nachbarschaft“ in wesentlich größerem Ausmaß zu betrachten. Wir können uns per E-Mail mit neuen Freunden auf der ganzen Welt austauschen und können Chatrooms beiwohnen, zusammen mit Menschen, die sich geografisch weit von uns entfernt befinden, beispielsweise in China, Norwegen oder Australien. Nun beginnen wir wirklich die Wahrhaftigkeit der Bezeichnung „The Global Village“ („Das globale Dorf“) zu begreifen.
Gerade in der jetzigen Zeit wird uns mehr als jemals zuvor bewusst, wie sehr wir schon in einem globalen Dorf leben. Die Ereignisse in einem so fernen Land wie Afghanistan haben heute direkten Einfluss auf uns. Ich habe einige beunruhigte Frauen fragen gehört, wie es nur geduldet werden kann, dass die Rechte der Frauen in Afghanistan unter den Taliban vollkommen erodiert werden. Hätte es sich hier um eine ethnische Gruppe wie die Juden gehandelt, hätte dann die Welt einfach nur danebengestanden und zugesehen? Ich kenne die Antwort auf diese Fragen nicht. Ich glau be aber, dass es für uns im Westen gefährlich werden kann, wenn man anfängt zu verstehen, dass vieles von dem, was man uns als echte muslimisch-religiöse Haltung gegenüber Frauen weismachen will, gar NICHT ISLAMISCH ist. Vieles davon geht gegen die eindeutigen Lehren des Korans.
Am aktuellen Punkt der Geschichte wird es für uns kritisch, diese Unterscheidungen zu machen, da wir uns einer Auferstehung des „islamischen Fundamentalismus“ in weiten Teilen der muslimischen Welt gegenübersehen. Ich persönlich glaube, dass repressive und terroristische Gruppen wie die Taliban und Al-Kaida diese Auferstehung ganz wesentlich vorantreiben. Die Werte dieser Bewegung gründen sich auf kulturelle Traditionen, nicht auf den Koran. Es sind diese Werte, die nicht nur die Existenz, sondern auch das Gedeihen terroristischer Randgruppen eines sogenannten Islams erlauben.
Vielleicht wird diese fundamentalistische Bewegung getrieben von einer Angst vor dem gegenwärtigen Zusammenbruch von Grenzen und Barrieren zwischen Kulturen und Gesellschaften. Im Grunde genommen ist der Prozess dieser Bewegung schon seit langer Zeit im Gange, begonnen in geschriebener Sprache, beschleunigt zunächst durch die Einführung gedruckter Medien und viel später durch Filmmaterial, Radio und Fernsehen. Jetzt wird die Geschwindigkeit des Prozesses noch stärker vorangetrieben durch das Internet und die Globalisation.
Mit einem neuen Verständnis geht auch die Möglichkeit einher, die eigene Kultur mit ein wenig mehr Objektivität zu betrachten. Mir scheint, dass dies auf der ganzen Welt gerade geschieht, und dies nirgends dramatischer als in der muslimischen Welt. Innerhalb der Zeitspanne einer einzigen Generation begannen sich für die meisten muslimischen Frauen enorme Veränderungen zu vollziehen.
An einigen Orten gab und gibt es heftige Rückschläge und verstärkte Unterdrückung der Frauen, alles im Bestreben, die althergebrachte Ordnung aufrechtzuerhalten. Afghanistan unter den Taliban ist das Musterbeispiel dafür. Der allgemeine Trend verläuft aber immer noch zum Positiven hin, obwohl das Wiederaufleben des Fundamentalismus es eventuell schaffen kann, diesem Fortschritt entgegenzuwirken.
Vielleicht ist ein wesentlicher Faktor dieses Fortschritts eine scheinbar wachsende Entwicklung hin dazu, wieder verstärkt den Koran als die Quelle des Islam zu betrachten und weniger die in Hadith und Sunna aufgezeichneten, mündlich überlieferten Traditionen. (Hadith ist die Sammlung der Aussprüche und Weisheiten, die man dem Propheten Mohammed zugeordnet hat. Sunna ist die Überlieferung dessen, was man als seine Verhaltensweisen und Praktiken verstanden hat. Beides wurde erst Generationen nach Mohammeds Tod niedergeschrieben.)
Ich erhebe keinesfalls den Anspruch, eine vorurteilsfreie Quelle zu sein. Für mich steht es außer Frage, dass der Koran das Wort Gottes offenbart, erstmals vor 1400 Jahren in Schriftform gebracht. Selbst die Leser, die nicht meine Ansicht teilen, werden im Koran einige nachdenklich stimmende Aussagenkonzepte finden. Für Muslime und Nicht-Muslime ist es gleichermaßen lohnend, das Frauenbild des Korans zu erforschen.
Dies ist Sinn und Zweckmeines Buches, das nun vor Ihnen liegt. Ich hoffe, Sie haben Freude damit und Spaß beim Lesen, so Gott will!
In den folgenden Kapiteln werden alle von der Autorin herangezogenen Bibel-, Thora- und Koranverse im englischen Original mit Quellenangabe gemeinsam mit ihrer deutschen Entsprechung abgedruckt.
Bei den deutschen Übersetzungen handelt es sich ausdrücklich nicht um offizielle, etablierte deutsche Bibel-, Thora- bzw. Koranübersetzungen aus dem Arabischen, Hebräischen, Griechischen oder Aramäischen, sondern lediglich um die möglichst wörtliche Übertragung der zitierten englischen Verse ins Deutsche.
Diese Übersetzungen erheben keinesfalls den Anspruch, korrekte Übersetzungen der Heiligen Schriften aus deren Ursprungssprachen zu sein.
Sie geben aber die englischen Verse, auf die die Autorin ihre Ausführungen aufbaut, sehr genau wieder. Sie dienen einzig und allein dem Zweck, dem Leser ein gutes, flüssiges Textverständnis dieses Buches zu ermöglichen.
1
Seit ich denken kann, glaube ich an Gott. Meine Familie war nicht religiös, obwohl meine Eltern beide hoch spirituelle Menschen waren. Ich hatte also alle Freiheit, den weiten Raum religiösen Gedankenguts auf meine eigene Weise zu erforschen. Und genau das tat ich. Als Kind las ich Unmengen an Sagen und Mythen aus aller Welt. Die amerikanischen Indianer-Mythologien berührten mich am tiefsten.
Vielleicht lag das an unseren Familienausflügen zu den Osterzeremonien der Yaqui, einer indianischen ethnischen Gruppe. Diese Zeremonien sind eine wunderbare Mischung aus Katholizismus und dem ursprünglichen Glaubenssystem der Yaqui, bevor sie in Kontakt mit Europäern kamen. Das zelebrierte Tanzdrama stellt anschaulich den Kampf zwischen bösen und guten Mächten dar, eingebettet in die Geschichte der Osterpassion. Die Gemeinde der Yaqui organisiert ihr Leben zu einem großen Teil rund um die jährliche Vorbereitung und schließlich Vorführung dieser Zeremonien. Tief mit der Tradition verwurzelte Männer werden Mitglieder einer der Tanzgruppen, die dann die beeindruckende, tief religiöse Zeremonie um ihrer selbst willen vollziehen. Das ist keine Bühnenproduktion, sondern echter Ausdruck von Gläubigkeit, und wir konnten uns als höchst privilegiert betrachten, hier zuschauen zu dürfen.
Solch tiefe Ehrfurcht und totale Hingabe auf einem religiösen Weg zu beobachten, hatte meine Seele tief berührt, und mein eigenes Bedürfnis nach einem spirituellen Weg erwachte in mir.
Im frühen Teenageralter begann ich die Heiligen Schriften zu lesen. Ich las die Bibel sowie hier und da Bruchstücke von Texten anderer Glaubenstraditionen. Ich las Geschichten über die Heiligen und weinte um sie und ihre Leiden. Ich erinnere mich, wie ich so bei mir dachte: „Ein derart guter Mensch könnte ich niemals sein, aber ich bin so froh, dass es solche Menschen gab.“
Ich las auch Geschichten über die europäischen „Siedler“ verschiedener Nationalitäten. Das Abschlachten und die brutale Versklavung der amerikanischen Ureinwohner durch diese Europäer lösten Entsetzen in mir aus. Das Schockierendste daran war, dass so viele dieser schrecklichen Taten im Namen der Religion ausgeführt wurden. (Als ich älter wurde, verstand ich, dass dies die übliche Vorgehensweise der Eroberer war, und zwar aller großen organisierten Religionen und zu allen Zeiten.)
Mein sehnsüchtiges Verlangen nach Gott und einem spirituellen Weg auf der einen Seite und mein Schrecken vor den organisierten Religionen und deren Aktivitäten auf der anderen Seite verursachten ein konstantes Drama in meinem jungen Leben. Als junge Erwachsene fand ich eine Zeitlang ein geistiges Zuhause in einer Quäker-Zusammenkunft und später in einem westlichen Sufi-Orden. Traditionsgemäß sind die Sufis islamische Mystiker. Jedoch wurde der Sufi-Orden im Westen von einem spirituellen Schüler aus Indien ins Leben gerufen, dessen Lehrer ihn damit beauftragte, den Islam im Westen in einer Art und Weise einzuführen, die ihn zugänglich machen würde. Die Gruppierung, der ich mich angeschlossen hatte, war definitiv eine New Age-Sufi-Gemeinschaft, von der nur sehr wenige Mitglieder etwas mit dem traditionellen Islam zu tun hatten. In der Einführung habe ich bereits erwähnt, dass eine Freundin mir meinen ersten Koran gab. Diese Freundin war eine Sufi.
Nachfolgend erzähle ich die Geschichte, wie besagter Koran mich eventuell zum Islam gebracht haben mag. Die Erzählung stammt aus „THE HOOPOE“, einem ehemaligen Islamischen Literaturmagazin, welches nicht mehr publiziert wird.
Ins Licht hinein
von
Lisa Spray
© 1988
IM NAMENGOTTES,
DES ALLERGNÄDIGSTEN, BARMHERZIGSTEN.
Nein, sie hatte wirklich keine andere Wahl. Sie hatte sich entschieden in dieser unglaublichen Nacht. Es war eine Nacht, wie sie sie hoffentlich niemals wieder erleben würde!
Die See war aufgewühlt, und der Wind übertraf sie noch. Der Segelschoner, dessen Segel bis auf das kleinste, zur Stabilisation noch notwendige Minimum gestrichen waren, schaukelte wild umher wie ein Spielzeug zwischen den tollpatschigen Pfoten eines übermütigen Kätzchens.
An den tiefsten Punkten der Wellentäler, während sie an masthohen Wasserbergen hinaufschaute (zumindest erschien es ihr so im lange herbeigebeteten Morgengrauen), wurde ihr bewusst, wie sich die Kinder Israels gefühlt haben mussten, als sie im Roten Meer zu versinken drohten, angesichts der Wasserberge, die jeden Augenblick über ihnen hätten zusammenstürzen können. Es war wie ein Wunder, dass sie heil durch diese Nacht gekommen war. Sie, eine ausgesprochene Landratte, die nicht einmal gerne schwamm (außer schnorcheln), überlebte die unerträglichste Nacht schlimmster Wassertorturen, die sie sich vorstellen konnte. Sie überlebten alle, niemand wurde von Bord gespült, und nichts hatte den Bootskörper aus Ferrozement durchschlagen … und nur Gott konnte sie durchgebracht haben. Das wusste sie noch sicherer als die Tatsache, dass das Blut, das durch ihre Adern floss, rot war.
Ihre Entscheidung war erst vor einigen Stunden gefallen, obwohl es ihr wie einige Jahre erschien. Lange Zeit hatte sie im Koran [Quran] gelesen, den ihr eine Freundin einmal gegeben hatte. Alles darin war so offensichtlich wahr, und das trotz des King James-Englisch seines Urdu-sprachigen Übersetzers. Fast musste sie lachen, als sie sich daran erinnerte, wie Sayida ihr den Koran gab: „Ich habe dieses Buch nicht gelesen, aber als mein Hund darauf herumbeißen wollte, dachte ich, ich gebe es besser jemandem, der es vielleicht liest.“ Einige ihrer allerbesten Freunde waren Hunde. Sayidas Hund gehörte ganz sicher dazu!
Wie dem auch gewesen sein mag, nun war alles sonnenklar. Sie konnte nicht länger zögern. Sie war Muslimin geworden, trotz all dem, was sie über Muslime wusste. Das Buch enthielt die Wahrheit. Vielleicht würde der ganze Rest später noch Sinn ergeben.
Sie sprach mit einem alten Sufi-Freund. Er war der einzige praktizierende Muslim, den sie kannte. Was hatte sie zu tun? Nun, es war sehr einfach. Alles, was sie tun musste, war diese Zeremonie zu durchlaufen und jene bestimmten Worte auf Arabisch zu sagen und diese Gebete zu lernen und diese Kleidung zu tragen, jene Bücher zu lesen, sich auf diese bestimmte Art und Weise zu waschen, sich Männern gegenüber in dieser gewissen Art und Weise zu verhalten und, und, und … Nebenbei bemerkt, vielleicht würde sie damit beginnen, diese Gebete für den Propheten zu machen.
Schwer beladen mit Büchern und noch schwerer befrachtet mit Instruktionen torkelte sie nach Hause in den kleinen Wohnwagen, den sie mit ihrem inzwischen an Land verankerten Seemanns-Ehemann teilte.
„Was ist, wenn ich all diese Sachen nicht hinbekomme?“
„Du wirst es niemals erfahren, wenn du es nicht versuchst.“
Geduldig und sich zur Unterstützung bereithaltend beobachtete er, wie sie sich in eine Frau des 14. Jahrhunderts verwandelte. Er half ihr sogar beim Lernen, als sie sich durch das seltsame kleine pakistanische Buch mit den Gebeten kämpfte.
„Gay reel mag dooby…”
„Warte, ich glaube es heißt eher ‚Guy real‘, aber der Tintenklecks macht es so unleserlich.“
Jetzt war sie eine „offizielle“ Muslimin. Die Leute schauten ihr auf der Straße nach, wenn sie an ihr vorbeigingen, und wunderten sich, was für eine Art Nonne sie wohl war. Alte Freunde erkannten sie nicht mehr. Und die Namen ihrer neuen Freunde konnte sie nicht aussprechen.
Ihre Familie war erschrocken. Ihre Beteiligung an der Widerstandsbewegung gegen den Vietnam-Krieg hatten sie gelobt. Die Sufis zu akzeptieren, war schon schwieriger für sie zu verdauen, aber die waren nett und „New Age“ und schienen recht harmlos zu sein. Segeln war gefährlich, aber nur für das eigene Leib und Leben. Muslime jedoch! Muslime waren Terroristen, und sie behandelten Frauen wie Vieh, und sie lehnten jegliche Basis eines modernen Lebens ab!
Ihr befreundeter Sufi-Muslim war gerade dort zugegen, wo jemand eine neue Moschee aufbaute. Die Anstricharbeiten waren fast beendet und es lagen schon Teppiche darin. Er fragte sie, ob sie nicht vorbeikommen und ein wenig helfen wolle. Begeistert war sie nicht gerade von diesem Vorschlag.
Ihr letzter Besuch in einer Moschee war eine furchteinflößende Angelegenheit gewesen. Die einzige Frau, die außer ihr selbst dort war, sprach kein Englisch, und alle anwesenden Männer behandelten sie, als hätten sie eine hoch ansteckende Krankheit. Eigentlich war das sogar ein Glück, denn der Raum, in dem sich die beiden Frauen befanden, musste einst ein begehbarer Schrank gewesen sein. Mehr Leute da rin, ob männlich oder weiblich, hätten sich wohl wie Sardinen in der Büchse gefühlt!
Sobald das Juma-Gebet (Freitagsgebet der Gemeinde) vorüber war, ergriff sie die Flucht.
Nein, eine weitere Moschee-Erfahrung war in ihren Augen eher nicht dazu geeignet, einen schönen Nachmittag zu verbringen.
Nach einer Weile brachte sie dann doch genug Mut auf und fand sich schließlich vor der Eingangstür der neuen Moschee wieder. Aber sie blieb noch ziemlich lange auf der Veranda des renovierten Hauses stehen, bevor sie sich überwinden konnte, hineinzugehen.
Jetzt, gerade in diesem Moment, sitzt sie vor ihrem Computerbildschirm und fragt sich, wie lange sie es wohl als „Muslima“ ausgehalten hätte, wenn sie nicht durch diese Tür gegangen wäre, wenn sie nicht diesen sanft lächelnden Mann kennengelernt hätte, der gerade dort arbeitete in dem sonnendurchfluteten Raum, der sich fast mehr wie ein Zuhause anfühlte als ihr eigenes Elternhaus. Wenn sie nichts davon erfahren hätte, dass dieser Mann den mathematischen Kode im Qur’an entdeckt hatte – diesen verschlüsselten Kode, den Gott als Sein eigenes, fälschungssicheres Prüfsiegel auf Seine Botschaft gesetzt hat, die an jeden von uns gerichtet ist.
Wie lange hätte sie sich wohl von der Hidschāb in Kleiderketten legen lassen, bevor sie sie von sich geschleudert hätte – und mit ihr alles, was damit zusammenhing?
Natürlich war die Geschichte hier noch nicht zu Ende. Es gab noch sehr viel Weiterentwicklung, viele Stolpersteine, oft stellte sie sich selbst ein Bein und so manches Mal wollte sie wieder umkehren.
Aber mit Gottes großer Gnade hatte sie es geschafft und war noch immer hier auf diesem Weg. Und nur mit Seiner großen Gnade wird sie dortbleiben und weitermachen, Inshallah!
Natürlich wird es auch weiterhin viel Wachstum und Entwicklung geben. Aber das ist ok, denn, um es mit Elliot Paul zu sagen: „Alles, was nicht mitwächst, passt irgendwann nicht mehr!“
(Aus THE HOOPOE, Sommer-, Herbstausgabe 1988, Seite 20.)
Obwohl es mich Überwindung kostete, an der Tür zu klingeln, als ich an jenem Tag dort auf der Veranda stand, zeigte sich im Nachhinein, dass das Eintreten in die Moschee dem Greifen nach einer Rettungsleine gleichkam. Gott hatte mich zu einer Gruppe von Menschen geführt, die einzig dem Koran allein folgten, und das war genau das, was ich gebraucht hatte. Ich glaube nicht, dass ich noch lange versucht hätte, all die Regeln und Vorschriften zu befolgen, die der traditionelle Islam in all seinen vielfältigen Ausprägungen „seinen“ Frauen auferlegt. Ebenso wenig hätte ich die Auflagen und Auswirkungen der offenkundig existierenden Ungleichwertigkeit der Frau im Islam durchgestanden, mit denen ich zu kämpfen hatte. Eigentlich drohte ich damals schon längst im Strudel dieser Ungereimtheiten, Fragen und Zweifel unterzugehen.
2
Der Kulturbegriff und die Art und Weise, wie die Kultur sich auf uns Menschen auswirkt, haben mich schon immer fasziniert. Nachdem ich in meinen ersten beiden Studentenjahren noch hin und her gestolpert war, entschloss ich mich schließlich etwas zu studieren, was mir wirklich Spaß machte. Ich wählte die Anthropologie, die das Studium der Kulturwissenschaften beinhaltet. Es war nicht gerade eine Studienwahl, die mir eine durchschlagende Karriere versprach, aber sie half mir, mich selbst und meine zahlreichen Freunde aus unterschiedlichen Kulturen ein wenig besser zu verstehen.
Obwohl ich großes Interesse an den verschiedenen Kulturen hatte, hätte ich doch nie geglaubt, dass ich irgendwann Freunde auf der ganzen Welt haben würde – das war etwas, was sich völlig unerwartet entwickelte.
Bevor ich mit Freunden in deren Segelschoner von Südkalifornien durch den Panamakanal zu den Jungferninseln segelte, hatte ich bereits ein oder zwei Jahre im Koran gelesen. Auf diesem Segeltrip bewegten wir uns ungefähr 500 Meilen von der Küste Mexikos entfernt, weil wir Horrorgeschichten über Piraten gehört hatten, die Boote überfielen und sie für ihren Drogenschmuggel präparierten.
So weit weg von der Küste segelnd gerieten wir in einige schwere Unwetter, und es geschah in einem dieser Stürme, dass ich Muslimin wurde! (Das war der Sturm, den ich im vorausgehenden Kapitel beschrieben habe.) In dieser Nacht, während ich die zweite Wache hielt, traf ich die verbindliche Entscheidung, mehr zu tun als nur den Koran zu lesen. Ich musste den Versuch wagen und Muslimin werden, trotz aller erschreckenden Dinge, die ich über den Islam zu wissen glaubte. Der Koran fühlte sich zweifellos richtig an, vielleicht würde der Rest einfach von selbst folgen.
Das war im Dezember 1976, und ich habe meine Entscheidung niemals bereut. Ich bin seitdem eine praktizierende Muslimin – der Richtigkeit halber: seitdem ich die Praktiken gelernt hatte. Das hat mein Leben in solch wunderbarer Weise verändert, wie ich es mir niemals hätte vorstellen können.
Wie schon im ersten Kapitel beschrieben nahm ich einige Monate später, nachdem ich wieder in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt war, Kontakt zu dem einzigen „aktiven“ Muslim auf, den ich kannte. Schon bald wurde ich von einer neuen Welt eingeholt, in der ich Freundschaften mit Menschen der unterschiedlichsten Kulturen knüpfte und weit mehr von meiner Anthropologie anwenden konnte, als ich es mir jemals erträumt hätte. Mein Kulturinteresse machte sich nun in jeder Hinsicht bezahlt.
Ich bin keine Islamgelehrte und auch keine Anthropologin. Jedoch glaube ich, dass meine langen Jahre als Muslimin und meine umfangreichen Kontakte zu vielfältigen Kulturen mir einige interessante Einblicke erbrachten, die „mit-teilenswert“ sind.
Oft, wenn die Praktiken einiger Muslime nicht zu meinem Verständnis des Korans passten, stellte ich fest, dass es sich um ein kulturell gewachsenes Thema handelte.
Was ist Kultur? Gute Frage. Zahlreiche Bücher haben versucht, den Kulturbegriff zu definieren.
Grob vereinfacht sehe ich in diesem Begriff die Gesamtheit aller Dinge, die eine Gruppe von Menschen gemeinsam hat, bzw. einander ähnlich macht, und gleichzeitig von anderen Gruppen unter scheidet. Das umfasst die Art, in der wir sprechen, die Worte, die wir benutzen, die Speisen, die wir essen, die Geschichten, die uns erzählt wurden und die wir unseren Kindern weitergeben werden. Das wirkt sich aus auf die Art und Weise, wie wir uns selbst und andere betrachten, auf unsere Sichtweise gegenüber dem Leben und dem Tod, selbst auf die Farben, in der wir unsere Häuser anstreichen! Das beinhaltet eine Million Dinge, die wir, ohne darüber nachzudenken, als zu uns gehörig und als Teil dessen, was uns als Mensch ausmacht, akzeptieren.
Die persönliche Distanzzone, mit der wir uns umgeben, ist ebenfalls aus unserer Kultur heraus zu begründen. Haben Sie es schon erlebt, dass Sie unwillkürlich zurückgewichen sind, weil Ihr Gesprächspartner Ihre Distanzzone durchbrochen hat und Ihnen zu nahe kam? Oder vielleicht waren Sie die Person, die zu dicht an jemanden heranrückte. Hier sind Sie womöglich kulturellen Unterschieden begegnet.
Vor einigen Jahren verbrachte ich einige, leider schlaflose Nächte mit einer wundervollen Freundin aus Ägypten. Sie war in einem kleinen Dorf aufgewachsen, behaglich umgeben von den Geräuschen der Menschen und Tiere dort. Sie konnte ohne eine solche Geräuschkulisse nicht schlafen, deshalb ließ sie immer den Fernseher oder das Radio laufen. Ich dagegen wuchs in einer Kultur auf, in der man idealerweise sein eigenes, stilles Schlafzimmer hat, geschützt vor Lärm und Tumult. Wir mussten lachen, als wir später darüber sprachen.
Trotz all meiner Erfahrungen mit anderen Kulturen ertappe ich mich immer noch dabei, dass ich tief Luft holen und bis Zehn zählen muss, wenn jemand mit sehr lauter Musik zu meinem ruhigen Picknickplätzchen hochgefahren kommt. Obwohl ich viel Verständnis aufbringe, bin ich doch noch in meine eigene Kultur fest eingebunden, in der laute Musik an einem friedlichen Platz einfach ärgerlich ist.
Diese kulturellen Unterschiede werden auch in die Religion hineingetragen. Wir akzeptieren meistens, dass Leute Essen zu sich nehmen, welches sich sehr von dem, was wir gerne mögen, unterscheidet, und dass sie Musik hören, die unsere Nerven blank liegen lässt. Dennoch erwarten wir aber von ihnen, dass sie sich in der gleichen spirituellen Welt bewegen wie wir. Das ist sehr menschlich, aber auch sehr unrealistisch. In vielerlei Hinsicht ist unser spirituelles Denken, sprich unsere spirituelle Realität, Kern und Mittelpunkt unserer Kultur und somit auch von uns selbst. Wie können wir erwarten, dass diese Realität für jeden die gleiche ist?
Bevor ich zum ersten Mal im Koran las, dachte ich, ich wüsste alles über den Islam – und dass er sehr erniedrigend gegenüber Frauen sei. Natürlich nahm ich an, dass der Koran dies bestätigen würde.
Ich sollte allerdings eine ziemliche Überraschung erleben! Laut Koran sind Männer und Frauen nämlich gleich.
Das konnte ich jedoch zu Beginn noch nicht so klar und deutlich erkennen.
In der Einführung erwähnte ich, dass eine Freundin mir einen Koran gab, weil sie nicht wollte, dass ihr Hund noch einmal darauf herumbiss. Es war die Übersetzung von Abhullah Yusuf Ali, die 1968er Ausgabe. Ich hatte die Bibel gelesen, die Thora und einiges aus der Bhagavad Gita. Ich entschied, dass ich den Koran ebenfalls lesen sollte, obwohl ich ziemlich überzeugt davon war, dass er für mich nicht das Richtige wäre.
Wie die meisten Menschen im Westen betrachtete ich den Islam als ein Glaubenssystem, dem alle Muslime mit der gleichen Sichtweise einvernehmlich folgen. Ich ahnte nicht, dass es unter den Muslimen ebenso viele unterschiedliche Verständnisweisen der Religion gibt, wie es auch bei den Christen, Juden oder jeder anderen großen Religion der Fall ist.
Das, wovon ich immer angenommen hatte, es sei die einzige Form des Islam, gefiel mir so gar nicht. Es war eine Fußnote in Yusuf Alis Übersetzung, die zum ersten Mal mein Interesse weckte und einen Lernprozess in Gang setzte, der in jener stürmischen Nacht in der Entscheidung gipfelte, Muslimin zu werden. Als ich zum ersten Mal seine Übersetzung des Verses 3:195 las, stach mir noch gar nichts ins Auge. Der Vers bezieht sich auf Menschen, die an Gott glauben, zu Ihm beten und um Seine Vergebung und Gnade bitten.
Gott hat uns versprochen:
Und ihr Herr erhörte sie
und antwortete ihnen:
„Von keinem von euch lasse ich
jemals ein Werk verlorengehen,
sei es Mann oder Frau:
Ihr seid Teil voneinander, der Eine ist vom Anderen […]
Wahrlich werde ich ihre Missetaten
von ihnen auslöschen
und sie in Gärten eingehen lassen […]
And their Lord hath accepted
Of them, and answered them:
“Never will I suffer tobe lost
The work of any of you,
Be he male or female:
Ye are members, one of another [...]
Verily, I will blot out
From them their iniquities,
And admit them into Gardens [...]
(The Holy Quran III:195 [3:195])
Allerdings erstaunte mich Yusuf Alis Fußnote unter dieser Passage:
Im Islam wird die Gleichstellung der Geschlechter nicht nur anerkannt, sondern es wird darauf bestanden. Wenn die Unterscheidung zwischen den Geschlechtern, die ja eine von der Natur gegebene Unterscheidung darstellt, in spiritueller Hinsicht keine Rolle spielt, spielen selbstverständlich „künstlich“ entstandene Unterschiede wie Rang, Besitz, Position, Rasse, Hautfarbe, Herkunft etc. noch viel weniger eine Rolle.
Wie kann Yusuf Ali behaupten, dass der Islam auf die Gleichstellung von Männern und Frauen bestehe? Diese Aussage traf mich völlig unerwartet. Frauen sind doch im Islam unterwürfig, oder stimmt das etwa nicht? Natürlich stimmt das! Es ging aus jedem Medienbericht und jedem Buch, das ich bisher gelesen hatte, hervor.
Vielleicht hatte er einen Fehler gemacht. Möglicherweise war seine Übersetzung voreingenommen. Wenn ich andere Übersetzungen der Sure 3, Vers 195 betrachtete, fand ich keinen einzigen weiteren Hinweis auf diesen Gleichstellungsstatus.
Die zweite Koranübersetzung in Buchform, die ich in diesem Buch heranziehe, ist die von Dr. Rashad Khalifa in der Ausgabe von 2010. Und hier heißt es:
Ihr Herr antwortete ihnen:
„Ich belohne ganz sicher jeden einzelnen Wirkenden unter euch für jedes Werk, das ihr vollbringt, ob ihr männlich oder weiblich seid – ihr seid einander gleichgestellt [...]“
Their Lord responded to them: “I never fail to reward any worker among you for any work you do, be you male or female - you are equal to one another [...]“
(Quran: The Final Testament 3:195)
Hier stand es nun schließlich schwarz auf weiß. Männer und Frauen sind gleichgestellt im Islam.
Doch warum sagten die anderen Übersetzungen das nicht aus? Wenn man noch einmal genauer hinschaut, so sind deren Formulierungen zwar nicht direkt, klar und eindeutig, aber es verbirgt sich darin die gleiche Bedeutung. Alle übrigen Übersetzungen, die ich mir ansah, sind der Yusuf Alis ähnlich: „Ihr seid Teil voneinander, der Eine ist vom Anderen.“ Was bedeutet das anderes, als dass wir im Grunde genommen dieselben, also gleich sind?
Wenn man jedoch aus einem kulturellen Hintergrund kommt, in dem die Gleichberechtigung der Geschlechter nicht akzeptiert wird, könnte man auf diese Bedeutung eventuell gar nicht kommen. Selbst ich, die ich aus einem Hintergrund stamme, der die Gleichheit der Geschlechter akzeptiert, hatte sie nicht auf Anhieb erfasst!
Vielleicht liegt hier der Schlüssel. Ich war mir bereits sicher gewesen, dass der Islam unfair gegenüber Frauen ist. Es gibt hinreichend Indizien dafür, dass wir dazu neigen, das zu sehen, was wir erwarten. Das ist wohl der größte blinde Fleck, den wir alle in unserer Sichtweise der Dinge mit uns tragen. Ich hatte mich selbst darauf „gepolt“, die Gleichstellung von Mann und Frau im Koran nicht zu sehen. Es kann sein, dass es den meisten Übersetzern des Korans ebenso erging.
Rashad Khalifas Übersetzung des restlichen Verstextes bekräftigte mein Verständnis:
[ …] Diejenigen also, die auswandern und aus ihren Heimstätten vertrieben werden, und die ummeinetwillen verfolgt werden und kämpfen und getötet werden, Ich werde ihnen ganz gewiss ihre Sünden erlassen und sie in Gärten mit fließenden Bächen eingehen lassen [...]
[...] Thus, those who immigrate, and get evicted from their homes, and are persecuted because of Me, and fight and get killed, I will surely remit their sins and admit them into gardens with flowing streams [...]
(Quran: The Final Testament 3:195)
Frauen sind nicht nur absolut gleichwertig gegenüber Männern, sondern sie können genau wie sie auch für Gott und seine Botschaft aktiv werden und arbeiten. Frauen können auswandern, verfolgt werden, kämpfen und sterben für Gott.
Ich möchte hervorheben, dass diese Verszeilen nicht nur besagen, dass Männer und Frauen gleich sind, sondern dass sie sich auch gleichberechtigt für Gottes „Sache“ einsetzen können. Daraus folgt für mich, dass beide auch zwangsläufig die Mittel dazu besitzen.
Das in diesem Vers enthaltene Frauenbild ist nicht eins, in dem Frauen in ihren Gemächern (oder im Harem) versteckt werden, getrennt von der Männergesellschaft und nur mit sogenannten „Frauenangelegenheiten“ betraut. Hier handelt es sich um Frauen, die aktiv in die Gesellschaft involviert sind. Es sind Frauen, die kämpfen, auswandern müssen und verfolgt werden. Diese Dinge können nur Frauen passieren, die sozusagen an vorderster Front stehen.
Der Vers ist nicht die einzige Stelle, in der Gott uns mitteilt, dass rechtschaffene Gläubige gleichwertig sind, ungeachtet ihres Ge schlechtes. Liest man weiter im Koran, so wird diese Gleichheit wiederholt konstatiert:
Wer aber
rechtschaffene Werke tut –
sei er männlich oder weiblich –
und gläubig ist,
sie werden in den Himmel eintreten [...]
If any do deeds
Of righteousness,—
Be they male or female—
And have faith,
They will enter Heaven [...]
(The Holy Quran IV:124 [4:124])
Also ist das Paradies der Lohn für die Gläubigen, die ein gutes, rechtschaffenes Leben führen, egal, ob sie männlich oder weiblich sind.
Bevor wir weiter gehen, lassen Sie mich schnell ein paar Worte zu den Koranübersetzungen sagen, die ich nutze. Oft greife ich zu A. Yusuf Alis Ausgabe von 1968 (diese Ausgabe bekam ich von meiner Sufi-Freundin). Yusuf Ali ist die am weiträumigsten benutzte Übersetzung [in Amerika – Anm. der Übers.] und wurde zu der Zeit, als ich Muslimin wurde, generell als die beste betrachtet. Immer, wenn am Ende des zitierten Verses die Quellenangabe „The Holy Quran“ zu lesen ist, wissen Sie, dass ich diese Übersetzung benutzt habe. Danach steht die Angabe des Verses zuerst in römischen Zahlen, wie sie der Übersetzer angab, gefolgt von den entsprechenden arabischen Zahlen in Klammern.
Die andere Übersetzung, die ich benutze, ist von Dr. Rashad Khalifa in der Ausgabe von 2010. Obwohl sie nicht sehr bekannt ist, finde ich sie für englischsprachige Leser besonders klar und leicht zu verstehen. Wenn ich persönlich im Koran lese, dann in dieser Version. Rashad Khalifa wählte für seine Übersetzung den Titel „Quran: The Final Testament” [„Koran: Das Letzte Testament“ – Anm. der Übers.]. Wo ich also seine Übersetzung zitiere, sehen Sie diesen Titel mit der entsprechenden Versangabe in der Quellenangabe.
Die Bibelverse sind den meisten Lesern wahrscheinlich vertrauter. Die Bibelausgaben, die ich für diese Zitate benutzt habe, sind mit Datum und Titel an der Stelle versehen, an der sie erstmals zitiert werden.
Nun zurück zum Thema Gleichberechtigung von Mann und Frau. Diese Gleichwertigkeit wird noch einmal im Koran in Vers 16:97 erklärt:
Jeder, der in Rechtschaffenheit wirkt und handelt, sei es Mann oder Frau, und dabei gläubig ist, wir werden ihnen ganz gewiss ein glückliches Leben auf dieser Welt gewähren, und wir werden ihnen ganz gewiss ihren vollen Lohn (am Tag des Jüngsten Gerichts) für ihre rechtschaffenen Werke zahlen.
Anyone who works righteousness, male or female, while believing, we will surely grant them a happy life in this world, and we will surely pay them their full recompense (on the Day of Judgment) for their righteous works.
(Quran: The Final Testament 16:97)
Für die rechtschaffenen Gläubigen steht Glück und Freude bereit, sowohl in dieser Welt als auch im Jenseits. Es spielt keinerlei Rolle, ob diese Gläubigen männlich oder weiblich sind. Aus meiner Sicht können wir nur dann wirklich glücklich sein, wenn wir weder selbst unterdrückt werden noch andere unterdrücken. Unterdrückung verletzt beide, die Unterdrückten und die Unterdrücker.
Vers 40 der Sure 40 teilt uns die gleiche Aussage mit, nämlich dass Männer und Frauen gleichwertig für ihre guten Taten entlohnt werden, und lässt uns darüber hinaus wissen, dass, wenn wir sündigen, uns lediglich „gleichviel vergolten“ wird.
Die Gleichheit von Mann und Frau war mehr als nur eine theoretische Weltanschauung in den frühen Jahren des Islam. Nachfolgend haben wir ein interessantes Beispiel dafür, wie der Prophet Mohammed, durch den der Koran offenbart wurde, mit Frauen als gleichberechtigte Mitmenschen umging. In Kapitel 58 mit dem Titel „Die Debatte“ lesen wir, dass eine Frau mit ihm debattiert:
Gott hat die Frau gehört, die mit dir über ihren Ehemann debattierte und sich vor Gott beklagte. Gott hörte alles, was ihr beiden besprochen habt. Gott ist der Hörende, der Sehende.
God has heard the woman who debated with you about her husband, and complained to God. God heard everything the two of you discussed. God is Hearer, Seer.
(Quran: The Final Testament 58:1)
Man diskutiert nicht mit jemandem, der ein minderwertiger Untergebener ist. Frauen hatten in der Gesellschaft des Propheten Mohammeds ganz klar eine wesentlich höhere Stellung als in vielen heutigen Gesellschaften, die für sich beanspruchen, dem Propheten zu folgen. Können Sie sich eine Frau vorstellen, die mit einem Taliban-Führer debattiert?
Das Neue Testament gibt uns ähnliche Beispiele von Jesus, wie er mit Frauen debattiert. Am bekanntesten ist wahrscheinlich seine Debatte mit der Samariterin am Brunnen im Buch Johannes, Kapitel 4, Verse 7—42.
Es folgt ein weiteres, kürzeres Beispiel einer Debatte zwischen Jesus und einer Frau: