Cover-Bild von Dieser längst vergangene Sommer

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© Piper Verlag GmbH, München 2022

Redaktion: Ulla Mothes

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Vorwort

Dieser längst vergangene Sommer war flirrend vor Hitze, die Luft roch nach Dosenravioli und nach Freiheit, jeder Atemzug schmeckte nach Abenteuer. Es waren besondere Wochen, wie sie einem nur einmal im Leben vergönnt sind. Es war diese schwerelose Zeit zwischen Kindsein und Erwachsenwerden, zwischen Abitur und Studienbeginn, zwischen Nesthocken und Flüggewerden, zwischen Unbeschwertheit und dem Ernst des Lebens. Und sie waren so verdammt jung und hungrig nach diesem Leben, das aufregend geheimnisvoll vor ihnen lag und von ihnen gelebt werden wollte. Die Welt wartete nur darauf, von ihnen erobert zu werden.

Ein märchenhafter Sommer voller Lachen, zarter Gefühle und ewiger Freundschaft, der jedoch jäh mit einem Unglück endete.

Dies ist die Geschichte von Johanna, Iris und Sonja. Und natürlich von Annabell …

1

Fünfzehn Jahre nach diesem längst vergangenen Sommer
Johanna

Die kleine federleichte Rasierklinge wog unendlich schwer in Johannas Hand, ihre zitternden Finger konnten sie kaum halten. Zum zweiten Mal in den irgendwie überlebten letzten fünfzehn Jahren war sie an diesem Punkt angekommen.

»Punkt«, sagte sie leise zu sich selbst und verzog dabei ihre entschlossen zusammengepressten Lippen zu einem kaum sichtbaren spöttischen Lächeln. Ein Punkt beendete einen geschriebenen Satz, und der Punkt hinter dem letzten Satz eines Buches beendete einen ganzen Roman. Danach kamen höchstens noch vier Buchstaben: E N D E.

Kurz dachte sie an die Manuskriptseiten auf ihrem Schreibtisch – unter diesen Roman würde sie kein E N D E mehr schreiben, er würde unvollendet bleiben. Aber das war ihr egal, sie hatte keine Kraft mehr. Sollte ihre Agentin damit machen, was sie wollte – in die Tonne werfen oder von einem anderen Autor oder einer Autorin fertig schreiben lassen. Das war das erste Buch in ihrer Laufbahn, das sie nicht pünktlich abgeben würde.

»Scheiß drauf!«, zischte sie und nahm einen großen Schluck von dem teuren spanischen Rotwein. Beim Abstellen warf sie das wunderschöne Glas, das sie vor einem gefühlten Jahrtausend auf einem Flohmarkt in der Provence erstanden hatte, um ein Haar um. Was ebenfalls egal gewesen wäre, denn sie würde es nicht mehr brauchen.

Mit der scharfen Klinge streichelte sie beinahe zärtlich über die längst verblasste Narbe an ihrem rechten Unterarm, die sich vom Handgelenk aus etwa sechs Zentimeter lang in Richtung Armbeuge erstreckte.

Dieser verfluchte Roman! Wie hatte sie nur glauben können, dass sie ihn tatsächlich schreiben könnte? Ihre eigene Geschichte, endlich verarbeitet zwischen zwei Buchdeckeln – durch das Herausschreiben abgearbeitet, wie sie fälschlicherweise gehofft hatte. Ihre, Sonjas und Iris’ Geschichte. Und Annabells. Für alle Menschen da draußen zum Lesen, zum Zeitvertreib, als Bettlektüre mit einem ordentlichen Spannungsbogen. Ihre Agentin und auch der Verlag waren begeistert von der Idee, von der immensen Tragik gewesen. Keiner von ihnen wusste, wie autobiografisch dieser Roman sein würde.

Johanna seufzte laut auf. Hatte sie wirklich geglaubt, dass sie, indem sie aufschrieb, was in diesem verfluchten Sommer damals passiert war, das finden würde, was mehrere Therapeutinnen nicht fertiggebracht hatten – Erlösung?

Natürlich war sie gescheitert. Jo Winter, die Bestsellerautorin, war sogar grandios gescheitert an den Erinnerungen von damals, die sie so viele Jahre mehr oder weniger erfolgreich verdrängt hatte. Nicht selten unterstützt von den tüchtigen Helferlein Alkohol und Tabletten. Die eine oder andere Droge hatte sie anfangs auch ausprobiert, wovon sie aber schnell abgekommen war, da sie ihr Denken dann doch zu sehr benebelt und damit ihr Schreiben unmöglich gemacht hatten. Und schreiben musste sie. Nicht nur, weil sie keinen Beruf erlernt hatte und auch nichts anderes konnte, sondern weil sie Geschichten in sich trug, die sie aus sich herausschreiben musste. Hätte sie damals nicht mit dem Schreiben begonnen, wäre sie wahrscheinlich verrückt geworden. Oder drogenabhängig. Auf jeden Fall hätte sie auch ohne den ersten Buchvertrag nicht mit dem eigentlich geplanten Studium begonnen, zu tief war ihre Welt, ihr Leben damals erschüttert worden.

Johanna atmete tief durch. Dieses Dasein als Schriftstellerin würde sich in Kürze erledigt haben. Der ewige Überlebenskampf, das immerzu Schreibenmüssen, der Leistungsdruck, bedrohlich heranrückende Abgabetermine, gemeine, vernichtende Kritiken – das alles würde sie mit einem dicken Punkt, einem Ende in blutigem Rot abschließen. Ihre zermürbenden Erinnerungen, ihre unauslöschbaren Schuldgefühle – das alles würde sie hinter sich lassen. Sie würde abtauchen in dieses stille, watteweiche, erlösende Nichts, das sie vor ziemlich genau zwölf Jahren schon einmal kurz spüren durfte, aus dem sie aber ihre Mutter gewaltsam wieder herausgerissen hatte. Etwas, was sie ihr nie verziehen hatte. Auch nicht die quälenden Monate in der psychiatrischen Klinik, wo sie ins »normale Leben« zurücktherapiert worden war. Zwölf Jahre Kampf gegen sich selbst und ihre inneren Dämonen hatte ihre Mutter ihr beschert, indem sie sie zu früh im Bad gefunden und den Notarzt gerufen hatte.

Heute würde sie mehr Erfolg haben, heute würde sie niemand finden und zurück in dieses beschissene Leben und ihre erdrückenden Erinnerungen holen.

Sie nahm einen letzten Schluck Wein, ließ ihn mit geschlossenen Augen auf der Zunge liegen, bevor sie ihn hinunterschluckte und seinem intensiven Geschmack so bewusst nachlauschte wie nie zuvor. Vollmundig, samtig, mit dem Aroma von reifen Kirschen im Abgang. Ein wirklich köstlicher Sterbebegleiter.

Nachdem Johanna das Glas abgestellt hatte, setzte sie die Rasierklinge direkt neben der Narbe an ihrem rechten Handgelenk an. Sie musste gar nicht so fest drücken, wie sie es im Gedächtnis hatte, und sie spürte fast nichts, als sich die messerscharfe Klinge ihren Weg durch die Haut in ihre Pulsader bahnte. Völlig entspannt beobachtet sie, wie ihr Blut aus dem Schnitt quoll und auf ihre Lieblingsjeans tropfte.

Der Schnitt am anderen Arm gelang ihr nicht so gut. Nicht nur, weil Johanna Linkshänderin war, sondern auch, weil sie vor lauter Blut gar nicht richtig sehen konnte, wo sie schneiden musste. Die Klinge rutschte ihr mehrmals aus den blutfeuchten Fingern, aber sie gab nicht auf. Und es tat verdammt weh. Aber auch das würde im Lauf der nächsten halben Stunde vorbei sein. Für immer. Wenn das hier überstanden war, würde Johanna nie wieder Schmerzen ertragen müssen.

Nach getaner Arbeit ließ sie die Klinge einfach auf den hellen Fliesenboden fallen. Ihr Blut würde die Fugen versauen, was aber nicht mehr ihr Problem war. Sie legte die blutenden Arme auf die Lehnen ihres Lieblingssessels und ließ sich entspannt zurücksinken. Abwechselnd betrachtete sie die Dächer der Münchener Altstadt, die ihr jenseits der Fensterfront des Wintergartens ihres Penthouses zu Füßen lagen, und die Schnitte an ihren Handgelenken, aus denen wunderbar sanft und stetig das Blut aus ihrem Körper floss.

Ihr Blick blieb an der Fingerkuppe ihres rechten Zeigefingers hängen, an einer kleinen, leicht verknorpelten Narbe, die sie dort seit beinahe fünfzehn Jahren hatte. Vorsichtig strich sie mit dem Daumen darüber. Diese Stelle hatte sich immer taub angefühlt, bestimmt waren bei dem Schnitt mit dem nicht sonderlich scharfen Taschenmesser ein paar Nerven durchtrennt worden. Die Wunde war damals nur schlecht verheilt, genau wie bei den anderen auch. Wahrscheinlich hatten sie sich einfach nur eine denkbar ungünstige Stelle dafür auserkoren. Blutsfreundinnen. Was für ein kindischer Blödsinn!

In ihren letzten Lebensminuten dachte sie, anders als es immer kolportiert wurde, nicht weiter über ihr Leben nach. Sie dachte vielmehr daran, dass sie den perfekten Ort zum Sterben ausgewählt hatte. In Filmen lagen die Menschen, die sich ihre Pulsadern aufschnitten, immer in gefüllten Badewannen. Nie und nimmer hätte sie nackt in immer kälter werdendem Wasser sterben wollen!

Eine Elster ließ sich auf dem Geländer nieder. Mit schiefgelegtem Kopf saß sie da, und es sah beinahe so aus, als würde sie Johanna beobachten. Dann breitete der Vogel seine Flügel aus, stieß sich vom Geländer ab und segelte davon.

Johanna sah ihm lächelnd nach. Genauso würde gleich ihre Seele davonfliegen.

Schläfrigkeit ergriff sie, hüllte sie ein wie ein weiches Tuch. Es fiel ihr schwerer und schwerer, die Augenlider geöffnet zu halten. Ein letztes Mal ließ sie den Blick über die Dächer ihrer geliebten Stadt gleiten, dann schloss sie die Augen. Ihre Hände, ihre Arme spürte sie nicht mehr, auch nicht ihre Beine. Da war nur ein leises Frösteln, während ihr Herz noch immer tapfer weiterschlug und das letzte bisschen Leben aus ihr herauspumpte. Ihre Gedanken zerflossen wie die Wolken am Himmel. Endlich tat das Leben nicht mehr weh …

2

Iris

»Mama?«

Iris sah von ihren Notizen auf und ihre Tochter genervt an. Demonstrativ legte sie den Zeigfinger der freien Hand an die Lippen und schüttelte den Kopf.

Mit der anderen Hand hielt sie den Telefonhörer ans Ohr, in den sie mit zunehmend dünner werdendem Geduldsfaden hineinsprach: »Wie ich Ihnen jetzt schon mehrmals sagte, Herr Wadlinger: Es ist kein Versäumnis von unserer Seite – mein Fahrer ist hier pünktlich vom Hof gefahren, aber jetzt steht er mit einem Motorschaden mitten auf der Autobahn. Ein anderer Lkw ist bereits auf dem Weg zu Ihnen, es wird nur ein wenig später.« Iris hielt inne, als sie merkte, dass sie während des Telefonats immer lauter geworden war. Nicht zum ersten Mal an diesem Tag fragte sie sich, warum es so verdammt viele begriffsstutzige Menschen auf der Welt gab. Aber sie musste unbedingt ruhig bleiben, immerhin sprach sie mit einem langjährigen Geschäftspartner. Mit der »Wadlinger Druckguss« hatte schon ihr Vater zusammengearbeitet, als sie noch im Kindergarten war. Und genauso, wie der alte Wadlinger seinen Sessel nicht räumte, hätte auch ihr Vater sich ganz sicher niemals freiwillig aus dem Geschäft zurückgezogen. Eigentlich sollte sie ihm dankbar sein, dass er viel zu früh gestorben war … obwohl, dann wäre alles anders gekommen, dann säße sie ganz bestimmt nicht hier in diesem kleinen beschissenen Büro und müsste auch nicht dieses nervenaufreibende Gespräch führen.

»Mama!« Nicola stand jetzt direkt vor ihrem mit Papieren übersäten Schreibtisch, und ihre Stimme klang mindestens so gereizt wie ihre eigene.

Iris hob den Kopf, sah sie beschwörend an und formte mit den Lippen ein lautloses »Sofort«.

»Lieber Herr Wadlinger«, wandte sie ihre Aufmerksamkeit bemüht freundlich wieder ihrem Gesprächspartner zu. »Aber ja, das klappt heute ganz sicher noch, versprochen.«

Das bemühte Lächeln, das sie extra für den alten Wadlinger aufgesetzt hatte, verging ihr mit seiner Antwort. Hatte der alte Krauter tatsächlich gerade gesagt, dass das ganz sicher nicht so schiefgelaufen wäre, wenn ihr Vater noch am Leben wäre? Als ob seine Laster nie kaputtgegangen wären! Dabei war sie es gewesen, die nach seinem Tod für einen komplett neuen und zudem viel größeren Fuhrpark gesorgt hatte. Zu Vaters Zeiten hätte nämlich gar kein Ersatzfahrzeug zur Verfügung gestanden – so sah das nämlich aus!

»Jammerschade, dass ihr Vater so früh verstorben ist und keinen geeigneten Stammhalter hatte, der das Geschäft übernehmen konnte«, ergänzte Wadlinger das eben Gesagte um eine weitere Unverschämtheit. »Nichts gegen Sie, Frau Seiler, Sie tun sicherlich Ihr Bestes, aber Frauen haben halt in diesem Geschäft einfach nichts verloren.«

Ungeachtet der jahrzehntealten Geschäftsbeziehungen lag ihr eine geharnischte Antwort auf der Zunge.

»Mama!«

Nicola brachte sie jedoch völlig aus dem Konzept. »Einen kleinen Moment bitte, Herr Wadlinger, da kommt gerade einer meiner Fahrer rein.«

Mit der Hand deckte sie die Sprechmuschel ab. »Was denn, verdammt noch mal!«, fuhr sie ihr Kind schlecht gelaunt an, was ihr sofort leidtat.

»Ich brauche das Foto.« Nicola schien ihr den Ton zum Glück nicht übel zu nehmen.

»Was denn für ein Foto?«

»Das Kinderfoto für die Schülerzeitung.«

Iris erinnerte sich vage, dass Nicola vor ein paar Tagen etwas in dieser Richtung erwähnt hatte.

»Hat das denn nicht Zeit bis später?« Obwohl sie Wadlinger um einen Moment Pause gebeten hatte, quakte der nicht sonderlich freundlich weiter in ihr Ohr.

Mit dem für sie typischen Schmollmund verschränkte Nicola die Arme vor der Brust. »Nein, das hat keine Zeit mehr! Ich sollte das Bild schon gestern in der Redaktion abgeben, aber du hast ja nie Zeit. Morgen früh geht die Zeitung in den Druck, ich kann also nur noch heute das Bild abgeben. Sag mir doch einfach, wo die Fotoalben sind, dann suche ich mir selbst eins raus.«

Augenblicklich hatte Iris ein schlechtes Gewissen. Ja, sie hatte viel zu wenig Zeit für ihre Tochter. Am liebsten wäre sie aufgestanden, hätte sie fest in den Arm genommen und dann mit ihr zusammen nach einem passenden Foto gesucht. Und danach hätten sie ein Eis essen gehen oder etwas anderes Schönes zusammen machen können. Aber sie hatte ja noch den alten Wadlinger an der Strippe.

»Sorry, Süße, hab ich wohl vergessen. Wird nicht wieder vorkommen.«

Nicola verzog spöttisch das Gesicht. »Ja, ja, das sagst du immer. Also, wo sind die Alben?«

»In der Abstellkammer im alten Schrank, oberstes Fach. Es ist das Album mit dem rosa Teddy drauf.«

Nicola warf ihr eine Kusshand zu und verschwand aus dem Büro.

Alois Wadlinger brüllte ihr schmerzhaft ins Ohr, ob sie überhaupt noch da sei und ob sie ihn verarschen wolle.

Iris atmete tief durch. »Nein, Herr Wadlinger, ich will Sie nicht verarschen. Ich will Ihnen nur noch schnell sagen, dass der Fahrer heute nicht mehr kommen wird. Dass nie wieder ein Fahrer von uns kommen wird. Ihre Firma habe ich nur noch als Kunden behalten, weil Sie ein langjähriger Partner meines Vaters waren. Dass ich Ihre Fracht noch zu den alten Konditionen befördert habe, haben Sie wohl nicht bemerkt, denn dann würden Sie sicherlich nicht so unverschämt mit mir sprechen. Da ich also in den letzten Jahren so gut wie nichts an Ihren doch recht kleinen Aufträgen verdient habe, kann ich in Zukunft gut auf die »Wadlinger Druckguss« verzichten. Suchen Sie sich also bitte einen anderen Spediteur.«

Kurz herrschte Stille am anderen Ende. »Aber Frau Seiler, das war doch alles nicht so gemeint!«

»Doch, Herr Wadlinger, von meiner Seite war es ganz bestimmt so gemeint. Leben Sie wohl!«

Mit dem wunderbaren Gefühl der Genugtuung legte Iris auf. Ihr Vater würde sich zwar im Grab herumdrehen, wenn er das wüsste, aber das war ihr ausnahmsweise mal egal. Schließlich war das jetzt ihre Firma. Eine Firma, die sie erst zu dem gemacht hatte, was sie jetzt war: finanziell auf soliden Füßen stehend und international agierend. Auch wenn das anfangs so gar nicht ihr Metier gewesen war, hatte sie Papas kleine Spedition zu einem ernst zu nehmenden Unternehmen mit insgesamt fünfzehn Angestellten gemacht. Sollte sich der alte Wadlinger seine blöden Druckgussteile doch sonst wohin schieben.

Iris wählte die Handynummer des Fahrers, der auf dem Weg zu Wadlinger war, um ihn zurückzupfeifen. Danach wollte sie den Anrufbeantworter einschalten und hinüber zu Nicola gehen, um mit ihr die Kinderfotos anzusehen.

Dieser Plan scheiterte jedoch gleich im Ansatz, da nach dem Gespräch mit dem Fahrer das Telefon einfach nicht stillstehen wollte.

Als sie endlich Feierabend machen konnte, den Rechner herunterfuhr und die Rufumleitung aktivierte, war es kurz nach sieben.

An der Tür, als sie gerade das Licht ausgeschalten wollte, fiel ihr der Brief ein, der noch auf dem Schreibtisch lag. Sie ging zurück und nahm ihn von der obersten Ablage. Der Empfänger war mit der Hand auf den Umschlag geschrieben worden, und er war an sie persönlich adressiert, nicht an die Firma. Da ihr der Name der Absenderin, eine Karin Becker, nicht bekannt war, hatte sie ihn noch nicht geöffnet. Das würde sie nach dem Abendessen tun.

Erleichtert trat sie hinaus ins Freie und sog die sommerliche Abendluft in ihre Lungen. Irgendwo hinter der Halle lief ein Hochdruckreiniger, einer der Fahrer spritzte also noch seinen Laster ab. Sie schloss die altmodische Bürotür aus Metallrahmen und Sicherheitsglas ab und ging über den ansonsten ruhigen Hof zum Wohnhaus hinüber.

Als sie die Diele betrat, stolperte sie erst einmal über ein mitten im Weg stehendes Paar pinkfarbener Sneakers. Ob ihre Tochter es jemals lernen würde, wenigstens ein Mindestmaß an Ordnung einzuhalten? Für ihr Alter viel zu laut ächzend, bückte sie sich danach, um die Schuhe in das dafür vorgesehene Schuhschränkchen zu stellen. In dem herrschte das pure Chaos. An ihren lächerlichen zwei Paar Schuhen, die sie im Vergleich zu der deutlich größeren Menge an Fußbekleidung ihres Kindes besaß, lag das ganz bestimmt nicht. Wenn sie mal Zeit übrighaben sollte, würde sie hier klar Schiff machen, aber heute genügte es ihr, Nicolas Schuhe irgendwo dazwischenzustopfen.

»Nicki?«, rief sie ins Haus hinein.

Sie bekam keine Antwort. Auf der Küchentheke klebte ein neonrosa Zettel: Bin um halb acht wieder da, Kuss Nic.

Iris strich zärtlich über das Papier. Nic – seit ein paar Wochen wollte ihr Küken nicht mehr Nicki genannt werden, weil das angeblich zu kindisch klang. Vierzehn war Nicki jetzt und so anders als sie selbst in diesem Alter. Ihre Tochter wusste, was sie wollte. Schon mit vier Jahren hatte sie das gewusst, egal ob es um die Farbe eines T-Shirts oder den Belag ihres Pausenbrotes gegangen war. Seit damals hatte sich nichts geändert, im Gegenteil, Nicki hatte sich zu einer ernst zu nehmenden Diskussionspartnerin entwickelt, die mit jeder Faser ihres Körpers für ihre Überzeugungen einstand und notfalls auch kämpfte.

Die Iris in Nickis Alter war schrecklich schüchtern und still gewesen. Was wahrscheinlich an ihrem Vater gelegen hatte, der nicht unbedingt ein Despot, aber doch der Mann im Haus gewesen war, der niemals Widerworte oder gar eine andere Meinung zugelassen hatte. Vielleicht aber auch daran, dass sie immer und überall die Kleinste und Jüngste gewesen war. Oder aber auch, weil sie zu sehr nach ihrer Mutter kam, die nie ein leuchtendes Beispiel für Selbstbestimmung, Durchsetzungsvermögen oder gar Rebellion für sie gewesen war und die sich stets klaglos ihrem großen und lauten Mann untergeordnet hatte. Erst nach ihrem viel zu frühen Tod hatte Iris erkannt, dass ihre sanftmütige, unscheinbare Mutter in all den Ehejahren die heimliche Strippenzieherin gewesen war, die gute Seele des Geschäfts, das Kittmaterial, das die Familie zusammengehalten hatte. Dann nämlich, als der kraftstrotzende, weltgewandte, alles schaffende Vater an ihrem Grab zusammenbrach und danach nie wieder zu dem Kerl wurde, der er mal gewesen war.

Sie wusch sich die Hände und fing an, das Gemüse für das Abendessen zu putzen und zu schnippeln. Es würde eine bunte Gemüsepfanne mit dem Reis geben, der gestern übrig geblieben war. Ohne Fleisch, denn seit Kurzem war Nicki auf dem Vegetariertrip.

Verständnisvoll lächelnd briet Iris das Gemüse in Olivenöl an. Vegetarierin war sie auch eine Zeitlang gewesen, acht Monate oder so. Womit sie bei ihren Eltern, vor allem bei ihrem Vater, auf Unverständnis gestoßen war. Kein Wunder, denn er war Jäger und hätte Fleisch in allen Variationen auch ohne lästige Beilagen zu sich genommen.

Überhaupt waren ihre Eltern nicht die Eltern, die zu ihr »gepasst« hatten. Der Vater ein derber, unbehauener Klotz, mit dem sehnlichen Wunsch nach einem Sohn. Er hatte es ohne Schulabschluss, aber mit Lkw-Führerschein zum recht angesehenen Kleinunternehmer geschafft. Die Mutter eine stille, nicht unintelligente zierliche Person mit Realschulabschluss, die zwar den Haushalt und die Bücher führen durfte, aber ansonsten nichts zu sagen hatte. Und dann kam sehr spät in dieser eher trostlosen Ehe sie, Iris, auf die Welt, ausgerechnet ein Mädchen. Ein Mädchen, ebenso zierlich wie die Mutter. Mit einem IQ von hundertfünfzig, von dem keiner wusste, wo er überhaupt herkommen konnte, und vor allem, wie man damit umgehen sollte. Ein Mädchen, dass eine Schulklasse übersprang und dank der wohlwollenden Unterstützung ihrer Lehrer tatsächlich und gegen den Willen des Vaters Abitur machen durfte. Das erste Abitur seit Familiengedenken. Mit einem so guten Abitur, dass sie ohne Wartezeit einen Studienplatz für Medizin bekommen hatte.

Auch wenn sie tief im Innern wusste, dass ihr Vater stolz auf sie gewesen war und sie auf seine Art geliebt hatte, war sie als junge Frau davon überzeugt gewesen, in der falschen Familie, im falschen Leben gelandet zu sein.

Iris sah auf die Uhr. Fünf Minuten vor halb acht. Sie mischte den Reis unter das Gemüse und schaltete den Herd aus.

Heute würden sie und Nicola nicht in der Küche, sondern im Esszimmer essen. Sie wollte mit ihrer Tochter mal wieder »dinieren«, mit tollem Geschirr, feinen Gläsern und dem Silberbesteck ihrer Großmutter, das deren Mutter während des Zweiten Weltkriegs auf der Flucht aus Schlesien in die neue Heimat mitgeschleppt hatte.

Als sie hinübergegangen war und das Licht eingeschaltet hatte, beschleunigte sich ihr Herzschlag. Auf dem Esstisch lag noch aufgeschlagen das Fotoalbum mit Nickis Kinderbildern, und daneben … Iris hielt die Luft an. Da stand ein alter, mit bunten, schrecklich kitschigen Poesiebildchen beklebter Schuhkarton, der ihr unangenehm bekannt vorkam. Der Deckel lag auf der Tischplatte, genauso wie unzählige Fotografien. Fotografien, die sie vor vielen Jahren in diesen Karton verbannt und seitdem nie wieder hervorgeholt hatte.

Mit einem dicken Kloß im Hals trat sie an den Tisch und wagte kaum, eines der Fotos anzusehen, geschweige denn anzufassen. Sie hätte sie damals vernichten und nicht in der hintersten Ecke des Schrankes verstecken sollen.

Iris bekam gar nicht mit, wie Nicola die Haustür aufschloss und nach ihr rief. Sie zuckte heftig zusammen, als sie plötzlich neben ihr stand.

»Die hab ich vorhin gefunden, aber ich kenne niemanden darauf außer dir.« Nicola griff nach einer der Aufnahmen und hielt sie ihr unter die Nase. »Die zweite von links, das bist doch du, oder?«

Iris starrte wortlos auf das Bild. Vier junge Frauen standen da nebeneinander, Arm in Arm, und lachten dem Fotografen fröhlich und unübersehbar glücklich in die Kamera. Vier junge Frauen aus einem anderen Leben in knappen bunten Bikinis. Eine davon, die kleinste und zierlichste, war sie. Die mit der hellsten Haut und dem Sonnenbrand. Die drei anderen waren sommersonnengebräunt. Iris glaubte beinahe die Hand zu spüren, die Johanna ihr damals beim Fotografieren auf die schmerzhaft gerötete Schulter gelegt hatte.

Nicola sah ihre Mutter prüfend von der Seite an. »Witzig, da schaust du so aus wie ich heute.«

Iris sah dem beinahe fünfzehn Jahre jüngeren Ich ins fröhliche Gesicht. Ja, Nicola hatte recht, sie sah aus wie ihr Klon. Bis auf die dunklen Augen und die beiden kleinen Grübchen, die sie von ihrem Vater mitbekommen hatte.

»Das hier ist lustig.« Nicola zeigte ihr eine andere Aufnahme.

Iris nahm sie in die Hand. Dreieinhalb lachende Gesichter waren darauf zu sehen, das halbe war ihres. Dieses Bild war das klägliche Ergebnis ihres Versuchs gewesen, sich selbst und die andern zu fotografieren. Heute hieß das Selfie, aber damals gab es diesen Begriff noch nicht. Auch nicht die Möglichkeit, sich beim Selbstfotografieren auf einem Display zu sehen. Sie wusste noch genau, wann sie dieses Foto aufgenommen hatte …

»Wie alt warst du da?«, fragte Nicki munter und schob die anderen Fotografien auf dem Tisch herum, als suche sie etwas.

»Siebzehn«, sagte Iris mit brüchiger Stimme. Sie wunderte sich, dass sie überhaupt einen Ton über die Lippen brachte.

Nicki betrachtete sie aufmerksam. »Ist was mit dir? Du bist so komisch.«

»Ich hab nur … nicht damit gerechnet, diese Bilder hier … zu finden.«

»Ihr hattet wohl sehr viel Spaß, ihr seht so glücklich aus. Hier, schau mal.«

Vier junge lachende Frauen bäuchlings nebeneinander auf einer Luftmatratze, mitten im blauen Wasser eines Pooles. Iris konnte nur mit Mühe die Tränen zurückhalten. Ja, da waren sie noch glücklich gewesen. Aber nach diesem Schnappschuss, wie lange noch? Zwei Tage? Oder sogar nur einen Tag? Ein paar wenige Stunden?

»Wo wart ihr da?«

Iris atmete tief durch. »In Italien.«

»Und wer sind die anderen Mädels? Waren das damals deine Freundinnen?«

Iris betrachtete das Luftmatratzenfoto genauer. An einem der Zeigefinger ihres jüngeren Ichs entdeckte sie ein durchgeweichtes Pflaster. Die anderen drei hatten auch ein solches Pflaster gehabt, auch wenn man das auf dieser Aufnahme nicht sehen konnte. Wie Trophäen hatten sie sie damals getragen.

»Blutsfreundinnen«, sagte sie leise, und es klang beinahe ehrfürchtig. Sie setzte sich, weil ihre Knie zitterten.

»Echt? Ihr habt Blutsfreundschaft geschlossen? Wie cool! Hat das wehgetan?«

Iris befühlte die kleine Narbe an ihrem linken Zeigefinger. Sie glaubte, ein leises Kribbeln zu spüren.

»Es ist wochenlang nicht verheilt.«

»Zeig mal.«

Iris hielt ihr den Finger hin.

»Besonders beeindruckend sieht das aber nicht aus«, stellte Nicki enttäuscht fest. »Wer sind die Mädchen? Die Rechte sieht echt umwerfend aus. Die ist bestimmt Schauspielerin oder Model geworden.«

Iris nahm allen Mut zusammen, um die Namen auszusprechen.

»Das da links ist Jo.« Sie räusperte sich. »Johanna, aber wir nannten sie alle Jo. Daneben ich, dann Sonni, also Sonja, und …« Sie brach ab. »Annabell«, sagte sie schließlich tonlos.

»Hattest du auch einen Spitznamen?«

»Blümchen.«

»Blümchen? Wieso das denn?«

»Weil Iris ein Blumenname ist und ich immer die Kleinste in der Klasse war.«

»Du hast nie von ihnen erzählt – seid ihr nicht mehr befreundet?«

»Nein.« Iris schob mit fahrigen Bewegungen die Bilder zusammen und warf sie in den Schuhkarton, als wären sie heiße Kohlen. »Unser Leben hat uns, kurz nachdem diese Fotos gemacht wurden, in alle Himmelsrichtungen verteilt. Das passiert leider, wenn man erwachsen wird.«

»Mit Elli und mir ganz bestimmt nicht, wir werden ein Leben lang Freundinnen bleiben!«

Bevor Iris den Deckel schließen konnte, griff Nicki nach dem Foto, das jetzt obenauf lag. »Und die Jungs? Wer waren die?«

Iris riss ihr das Bild aus den Fingern und stopfte es in den Karton. Dann legte sie den Deckel auf und behielt die Hand darauf, als wäre der Inhalt gefährlich und könnte wieder herausgekrochen gekommen.

»Irgendwelche Jungs, Urlaubsbekanntschaften, ihre Namen weiß ich nicht mehr. Ist ja auch völlig egal. Und jetzt komm in die Küche, das Essen ist fertig.«

Iris war nicht mehr nach Silberbesteck und gutem Geschirr. Sie wollte nur weg von diesem Karton voller schmerzlicher Erinnerungen.

Sobald Nicki im Bett war, ging Iris ins Esszimmer. Der Karton stand unverändert da, mitten auf dem Esstisch, die Hängelampe darüber warf ihr Licht wie ein Bühnenscheinwerfer darauf.

Iris stand mit schützend vor der Brust verschränkten Armen da und starrte ihn an. Schließlich überwand sie sich, packte ihn und trug ihn durch die Diele, öffnete die Haustür und trat hinaus auf den in tiefer Dunkelheit liegenden Hof. Nach dem zweiten Schritt reagierte der Bewegungsmelder, drei Strahler tauchten alles in gleißende Helligkeit. Neben der Halle standen die Mülltonnen. Mit einer Hand öffnete Iris den Deckel der großen Altpapiertonne. Mit der anderen hielt sie den buntbeklebten Schuhkarton einen kurzen Moment lang über dem geöffneten Schlund, so als würde sie endgültig Abschied von ihm und seinem Inhalt nehmen, dann ließ sie ihn fallen. Mit dumpfem Poltern landete er auf dem Boden des vor Kurzem geleerten Behälters. Schnell schloss sie den Deckel und eilte zurück zum Haus. Mit der nächsten Leerung würden dann endlich die letzten Erinnerungen an diesen längst vergangenen Sommer für immer und unwiederbringlich vernichtet sein.