Schmelzpunkt

Schöpfungsmythos der Inuit (aus dem alten Liederzyklus Aya-Yait der Inuit)

Grönland, Diskobucht

Es war zu warm für die Jahreszeit, dazu brauchte er nicht auf das Thermometer zu schauen, er spürte es mit jedem Schritt, mit jedem Atemzug, der seine Lunge mit der salzigen Luft füllte. Die Sonne brannte die letzten Schneefelder hinter seinem Haus weg, und der Boden war aufgeweicht und matschig. Kleine Rinnsale Schmelzwasser suchten sich ihren Weg den Hügel hinunter zur Bucht. In der Ferne schimmerte das Meer. Die Eisberge sahen auf der blaugrünen Wasseroberfläche aus wie winzige Inseln. Fischerboote und Ausflugsschiffe kräuselten das Wasser. Hinter ihm zog sich das Weiß des Gletschers turmhoch bis zum Rand der Bucht, bereit, jederzeit zu kalben und neue Eismassen ins Wasser zu stoßen, so wie es seit Jahrhunderten wieder und immer wieder geschah – der ewige Kreislauf von Werden und Vergehen, eine Demonstration der Allmacht der Natur.

Es mussten draußen 25 Grad Celsius herrschen, das waren in Grönland verrückte Temperaturen, selbst jetzt im Sommer. Nanoq Egede ging zurück ins Haus. Der Duft von frisch gemahlenem Kaffee empfing ihn, dazu das typische Aroma gebratenen Walspecks.

«Wann musst du los?» Seine Schwester Sika schenkte ihm eine Tasse ein. Er füllte sich heißen Porridge in seine Schüssel und bedeckte ihn mit Zucker. Sika aß ihren Speck direkt aus der Pfanne, zusammen mit einer Scheibe Brot. Auf einem Teller hatte sie Stücke selbst geräucherter Makrele angerichtet. Immer wieder schob sie sich einen Happen in den Mund, kaute und spülte alles mit Kaffee hinunter.

Er lebte mit Sika im Haus seiner Eltern. Drei Zimmer, schlicht und aus Holz gebaut und außen rot angestrichen. Es war eine Zweckwohngemeinschaft. Seine Schwester war dreißig Jahre alt und noch nie außerhalb von Grönland gewesen. Sie hatte einen Job im Hafen, wo ihr Freund als Bootsführer arbeitete. Doch die beiden hatten sich bisher nicht dazu entschließen können zusammenzuziehen. «Das hat Zeit», pflegte Sika zu sagen, wenn ihr Bruder nachfragte.

Obwohl er ein Jahr jünger als seine Schwester war, hatte Nanoq das Bedürfnis, ein Auge auf sie zu haben. Vielleicht war es so was wie der Versuch, einen Ersatz für den Vater zu schaffen. Ihre Eltern waren schon lange tot. Doch Sika machte sich jedes Mal nur lustig über seine Bemühungen.

Sie waren beide bei ihrem Großvater aufgewachsen, einem Mann, der die alten Inuit-Traditionen pflegte und alles Neue verabscheute. Dennoch hatte der Großvater den jungen Nanoq zur Tante nach Dänemark geschickt. Er war in Kopenhagen zur Schule gegangen, fernab von zu Hause. Eine andere Welt, ein anderes Leben, nur unterbrochen durch Besuche in den Ferien.

Später hatte er eine weiterführende Sprachenschule besucht und Seminare in Geschichte belegt, um dann eine Stelle bei einer Fluggesellschaft anzunehmen, doch die Büroarbeit hatte ihn gelangweilt. Als ihm während einer seiner Heimaturlaube in Ilulissat eine Stelle als Fremdenführer und Outdoor-Guide angeboten wurde, griff er spontan zu. Seit vier Jahren lebte er nun wieder in der Heimat seiner Familie, seiner Vorfahren.

Nanoq räumte das Geschirr ab.

«Ich muss nach meinen Pflegekindern sehen.»

«Gib’s auf, das wird nichts, du machst dich nur lächerlich.» Sie schüttelte den Kopf. «Die Nachbarn reden schon über dich.»

Er zog sich eine Jacke über. «Das ist mir egal. Es ist ein Experiment. Warum sollten wir nichts verändern können?»

Seine «Pflegekinder» waren drei mickrige Sibirische Fichten, kaum einen Meter hoch, die er vor zwei Jahren aus Russland importiert und im Vorgarten eingepflanzt hatte. Nur mit Mühe war es ihm gelungen, die Setzlinge in dem kargen Boden zum zarten Wurzeln zu bringen. Er wollte beweisen, dass auf Grönland Bäume wachsen konnten, so wie zu Zeiten der Wikinger, die einst vom «Grünland» geschwärmt hatten. Doch die Zeiten der grünen Insel waren längst vorbei. Bäume gab es in Grönland schon lange nicht mehr. Die wenigen Flecken, die nicht von Eis bedeckt waren, waren schmutzige Teppiche aus Flechten, Gräsern und Moosen.

Er holte einen Eimer mit Wasser, löste Dünger darin auf und goss die Fichten. Im Küchenfenster stand Sika, die ihm eine Grimasse schnitt. Seine Freunde zogen ihn auf, wenn er von seinem Vorhaben erzählte, denn es hatte noch nie jemand geschafft, auf Grönland Bäume anzupflanzen. Warum also Energie dafür verschwenden? Die Natur war sowieso stärker.

Auch die alteingesessenen Inuit, die sich noch nie weiter als fünfzig Kilometer von ihrem Ort entfernt hatten und die Vergangenheit in rosigen Farben malten, tuschelten hinter seinem Rücken. Sie hielten es für eine Marotte eines Abtrünnigen, der durch die dekadente Lebensweise des Mutterlandes Dänemark verdorben worden war, der die traditionellen Sitten und Gebräuche missachtete, der eine bessere Zukunft durch zweifelhafte Segnungen der Moderne importieren wollte. Der auf Fremde mehr hörte als auf das eigene Volk.

Vielleicht stimmte es ja. Nanoq hatte viel darüber

Er liebte die raue Natur seiner Heimat, das Meer, die Menschen. Zugleich jedoch vermisste er die Vorzüge Dänemarks: Klubs, Theater, Kino, Restaurants, aber auch so etwas Alltägliches wie Zentralheizungen, Krankenhäuser und überall verfügbare Transportmittel – Dinge, die es auf Grönland kaum gab.

Und noch etwas nagte an ihm, es war ein winziger Stachel in seiner Seele: Er hatte noch keine feste Beziehung gefunden, keine Frau, mit der er zusammenleben wollte. Seine letzte Freundin in Kopenhagen, mit der er sich eine Wohnung geteilt hatte, hatte ihn nur entgeistert angeschaut, als er verkündet hatte, er habe einen Job in einem kleinen Ort in der Arktis angenommen und hoffe, sie würde mitkommen. Zwei Tage später war sie ausgezogen. Er hatte seitdem nie mehr was von ihr gehört.

Seine Schwester bemühte sich immer wieder, ihm Treffen mit Frauen zu arrangieren. Wie zufällig schauten regelmäßig ihre Bekannten und Freundinnen vorbei, und Sika zerrte ihn zu jedem Kaffemik in Ilulissat und den Nachbarorten. Diese Kaffeekränzchen waren für die Inuit die beliebtesten Treffen unter Verwandten, Freunden und Bekannten. Man schwatzte, man tauschte Neuigkeiten aus, man feierte gemeinsam. Ob erster Schultag, Hochzeit oder eine frisch erlegte Robbe – jeder Anlass für ein weiteres Kaffemik war willkommen. Eine gute Gelegenheit, jemanden kennenzulernen. Sogar zu einem Ausflug in die Hauptstadt Nuuk im Süden hatte Sika ihn vor Kurzem eingeladen, «mal richtig schick ausgehen, was trinken, tanzen, das ganze Programm», wie sie gesagt hatte.

Doch ihre Versuche blieben stets ohne Erfolg. Es lag nicht an ihm, glaubte er. Oder vielleicht doch? Er bemühte sich bei jedem Treffen, aber es funkte einfach nicht zwischen ihm und

Und das Schlimmste: Nichts blieb hier geheim, jeder wusste Bescheid, mit wem er gerade ein Rendezvous gehabt hatte – sogar worüber er und seine Begleitung geredet hatten. Schon lange musste er sich von allen möglichen Leuten gute Ratschläge anhören. Das war der Preis, wenn man irgendwo in Grönland lebte: Die Orte waren winzig, oft lebten nur ein paar Hundert Menschen zusammen. Jeder kannte jeden. Wie Verwandte in einer großen Familie glaubten sie alle, etwas beitragen zu können oder einander helfen zu müssen, wie es die Inuit seit jeher taten. Und wenn sie einander nicht halfen, sprachen sie übereinander. Klatsch und Tratsch ersetzten die beste Fernsehsendung. So blieben ihm nur gelegentliche nächtliche Zusammenkünfte mit erlebnishungrigen Touristinnen, die Lust auf ein exotisches Abenteuer hatten und ihn, ihren Guide, zu sich ins Hotel einluden – weit weg von zu Hause und ohne den heimlichen Wunsch nach mehr.

Sein kümmerliches Liebesleben versetzte ihn regelmäßig in eine melancholische Stimmung, immer wieder überwältigten ihn Phasen von Niedergeschlagenheit, und es gab Tage, da wäre er am liebsten in ein Flugzeug gestiegen und nach Kopenhagen zurückgekehrt. Doch dann zwang er sich jedes Mal, nicht weiter darüber zu grübeln, und stürzte sich in die Arbeit.

Nanoq räumte den Eimer weg, ging zurück ins Haus und holte seinen Rucksack.

«Sehen wir uns heute Mittag im Hafen?», fragte Sika.

«Ich glaube nicht. Ich mache mit meiner Gruppe einen längeren Ausflug zu den Eisbergen vor Qeqertarsuaq. Wir werden nicht vor Nachmittag zurück sein.»

Ellesmere-Insel, Kanada, nördlich des 80. Breitengrads

Christine betrachtete sich im Spiegel. «Macht mich dieser Daunenparka nicht sehr dick?»

«Du siehst wunderbar aus. Und draußen wirst du froh sein, was Warmes anzuhaben. Die Temperatur ist garantiert weit unter null, dazu der eisige Wind, das ist verdammt kalt, sag ich dir.» Richard nahm noch einen Schluck von dem Tee mit Rum. «Ich wärm mich lieber von innen», fügte er mit einem Lächeln hinzu.

«Ich bin schon ein bisschen aufgeregt», sagte Christine und überprüfte nochmals den Sitz der Kapuze. «Robben, Rentiere und Walrosse. Was haben wir nicht alles gesehen in den letzten Tagen. Und all die Wasservögel. Vögel, Vögel und noch mehr Vögel. Ich hab die ganzen Namen schon wieder vergessen, so viele. Vögel haben wir zu Hause ja auch – aber heute sehen wir endlich mal einen echten Eisbären in freier Wildbahn!»

«Ja, ich bin auch froh, dass wir uns nicht für die Tour zu den Eisbergen entschieden haben. Da versprechen Eisbären schon etwas mehr Action. Aber hoffentlich bekommen wir so ein Viech überhaupt vor die Linse – wenn man bedenkt, was dieser Ausflug kostet.» Ihr Ehemann holte seine Fotokamera aus dem Schrank. «Und so was nennt sich all-inclusive.»

Christine zuckte die Schultern. «Ich fand die Eisberge auch schön. Wofür haben wir denn sonst diese Schiffsreise in die Arktis unternommen?»

«Na, um uns zu erholen und Eisbären zu sehen.» Ihr Mann nahm noch einen Schluck.

«Das kannst du zu Hause auf dem Sofa auch», antwortete sie. Sie hatten sich die Luxuskreuzfahrt Letzte Geheimnisse in den

«Nicht zu vergessen die fünf verschiedenen Biersorten …» Richard grinste. «Das muss ich denen lassen – die Bar ist spitze.»

Ein Krächzen ertönte aus dem Lautsprecher. «Die Gäste, die die Tour ‹Könige der Arktis› gebucht haben, bitte bereit machen. Treffpunkt in fünf Minuten an Deck. Ich wiederhole: in fünf Minuten an Deck.»

«Na, dann los.» Richard erhob sich.

«Moment, ich brauch noch was für unterwegs.» Christine steckte zwei Schokoriegel ein und sah ihn verschmitzt an. «Wer weiß, wann wir wieder zurückkommen.»

 

An Deck der Nordic Adventure blies ein unangenehmer Wind. Die Sonne war hinter blassgrauen Wolken verschwunden. Christine zog ihre Kapuze zu.

«Blaue, rote und gelbe Gäste, bitte aufpassen!» Der Expeditionsleiter, ein Mann in den Dreißigern mit Vollbart und verspiegelter Brille, hob die Hand. Er war kein Einheimischer, sondern tatsächlich Deutscher, sah aber aus, als hätte er schon viele Expeditionen geleitet. Christine war erleichtert. Ihr Englisch war sehr eingerostet, bei Richard sah es noch schlechter aus.

«Bitte finden Sie sich zu Ihrer Gruppe zusammen. Die Farbe steht auf Ihrem Ticket für den Ausflug. Wir werden gleich in drei Zodiac-Schlauchboote einsteigen. Jeweils acht Passagiere pro Einheit. Sie erkennen Ihr Boot anhand der Flaggenfarbe Blau, Rot oder Gelb an Bord. Bitte nur in das Zodiac einsteigen, das Ihre Farbe hat.» Seine Stimme ging beinahe im allgemeinen Geplauder der Teilnehmer unter. «Hallo, bitte aufpassen!» Der Bärtige klatschte in die Hände. «Bitte zuhören, das ist wichtig!»

«Sehen wir denn garantiert einen Eisbären?», fragte ein Mann mit Fellmütze.

«Die Chancen stehen sehr gut», antwortete der Expeditionsleiter. «Um diese Jahreszeit halten sich die Tiere für gewöhnlich in Strandnähe auf. Falls es Sie beruhigt: Auf unseren letzten Ausflügen kamen unsere Gäste immer auf ihre Kosten.» Er sah jeden einzelnen seiner Gäste an. «Eisbären sind eine seltene Spezies geworden, sie stehen auf der Liste der gefährdeten Arten. Daher haben Sie bitte Respekt vor diesen prächtigen Tieren. Wenn wir gleich ein Exemplar sehen, genießen Sie das Schauspiel. Selbst für mich ist das jedes Mal ein erhebender Moment. So einen Ausflug vergisst man sein Leben lang nicht.» Er zeigte auf die Treppe. «Und nun bitte in die Boote.»

Ein Begleiter des Expeditionsleiters trug ein Gewehr mit sich. «Wollen Sie uns was zum Abendessen schießen?», sagte Richard grinsend, als er an ihm vorbeiging.

Der Mann verzog keine Miene. «Die Waffe habe ich zu unserem Schutz dabei, ist Vorschrift», erklärte er ebenfalls auf Deutsch. «Eisbären sind Raubtiere. Sie werden sechshundert Kilo schwer und können ganz schön schnell unterwegs sein, wenn sie wollen.» Er sah Richards entgeisterten Gesichtsausdruck und fügte hinzu: «Machen Sie sich keine Sorgen. Wie gesagt, es ist Vorschrift, eine Waffe dabeizuhaben. In all den Jahren, die ich schon Expeditionen begleite, ist noch nie etwas vorgefallen.»

 

Packeisschollen schwammen im Meer. Geschickt wichen die wendigen Zodiac-Schlauchboote aus, Gischt spritzte, Wassertropfen trafen die Gesichter der Gäste wie Eisnadeln.

Alles war still, bis auf die Außenbordmotoren. Kein Vogel, keine Robbe, kein Insekt waren zu sehen, die Touristen schienen hier die einzigen Lebewesen zu sein.

Sie fuhren in eine kleine Bucht. Die Boote landeten an einem flachen Strandabschnitt an. Helfer sicherten die Zodiacs und geleiteten die Gäste an Land. Es dauerte eine Weile, bis sich alle versammelt hatten. Tote Fische lagen überall herum, offenbar angespült.

«Bitte die Tierkadaver nicht berühren», rief der Expeditionsleiter.

«Woran sind die Fische denn gestorben?», fragte jemand.

«Ich weiß es nicht. Das ist das erste Mal, dass ich so etwas sehe – die Natur kann launisch sein», antwortete der Mann und drehte sich um. «Gehen wir weiter.»

Weit und breit kein Eisbär.

«Wir marschieren ein Stück», sagte der Expeditionsleiter. «Bitte folgen Sie mir alle im Gänsemarsch.»

In einiger Entfernung waren Hügel zu sehen. Das Gelände stieg sanft an, das Eis knirschte unter den Füßen.

Christine öffnete den Reißverschluss ihres Parkas. «Es ist ja gar nicht so kalt hier. Obwohl die Sonne nicht scheint.»

«Die Temperaturen hier sind schon seit Jahren um einiges höher als früher», erklärte der Begleiter mit dem Gewehr. «Unsere Gäste sind immer überrascht, wenn sie das merken. Sie haben

«Da. Da ist er!», rief der Expeditionsleiter.

«Was? Wer?»

Der Ausflugsteilnehmer mit der Fellkappe deutete nach vorn. «Ein Eisbär! Dahinten!»

Alle schauten in die Richtung, in die er zeigte. Tatsächlich bewegte sich in der Ferne etwas. Ein Eisbär.

Soweit es für Christine erkennbar war, war es ein einzelner Bär. Er bewegte sich seltsam schleppend, schwankend, kraftlos, als wäre er verletzt. Dann verschwand das Tier hinter einem Hügel.

«War das wirklich ein Eisbär?», fragte jemand aus der Gruppe. «Das war doch eine komische Erscheinung, irgendwie irreal. Ein Gespenst.»

«Wo ist er jetzt hin?», fragte eine Frau.

«Der war viel zu weit weg, wie soll ich da ein vernünftiges Foto hinkriegen?», rief jemand.

«Genau», sagte Richard, «da nützt nicht mal mein Teleobjektiv etwas.»

Andere nickten zustimmend.

Der Expeditionsleiter blickte in die Runde. «Also gut, wir gehen näher ran, bis zum nächsten Hügel. Da haben wir Deckung und können das Tier aus der Nähe beobachten. Aber bitte zusammenbleiben und ruhig verhalten.»

Einige Minuten marschierten sie bis zum Fuß des Hügels. Der Expeditionsleiter stieg hinauf und schaute von dort auf die andere Seite. Nach einer Weile gab er der Gruppe ein Zeichen, zu ihm aufzuschließen.

Hinter dem Hügel sahen sie den Eisbären, vielleicht dreißig Meter entfernt. Das Tier war ausgemergelt, das Fell schmutzig

«Der sieht ja ganz anders aus als die Bären im Tierpark Hellabrunn in München», flüsterte Christine enttäuscht.

«Das arme Tier – ist es krank?», fragte eine Frau aus der Gruppe.

«Liebe Teilnehmer, der Anblick hier wird Sie vielleicht schockieren, aber das ist der Lauf der Natur», sagte der Expeditionsleiter mit gedämpfter Stimme. «Bitte denken Sie dran, Eisbären ernähren sich im Wesentlichen von Robben. Die fangen sie, indem sie auf Eisschollen lauern, bis die Robben zum Luftholen auftauchen. Aber durch das wärmere Klima gibt es immer weniger Packeis, daher wird das Jagdrevier für die Eisbären kleiner und kleiner. Und an Land tun sie sich schwer, Nahrung zu finden. Deshalb müssen sie fasten, die Notreserven in ihrer Fettschicht werden nach und nach aufgebraucht.»

Schnüffelnd näherte sich das Tier, doch es schien die Ausflügler nicht zu bemerken.

«Mein Gott, wie traurig», sagte Christine. «Der Eisbär wird doch verhungern, wenn er nichts zu fressen bekommt.» Sie packte einen ihrer Schokoriegel aus und warf ihn in Richtung des Tieres.

Der Expeditionsleiter wirbelte herum und riss ihr den Arm weg, doch es war zu spät. «Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?» Er war fassungslos. «Sie können doch nicht … Wir sind hier doch nicht beim Entenfüttern im Park!»

Der Eisbär tappte zu dem Schokoriegel, roch kurz daran und schlang ihn gierig herunter. Er hob den Kopf und nahm Witterung auf. Dann fixierte er die Gruppe. Er stieß einen Laut aus, mehr ein Fauchen dieses Mal, und bewegte sich auf die Besucher zu.

Wieder hob der Eisbär den Kopf. Er riss das Maul auf, zeigte die Zähne, er brüllte. Zielstrebig wurde er schneller.

«Der greift uns an!», schrie eine blonde Frau aus der Gruppe. «Nichts wie weg, bevor wir alle aufgefressen werden!» Sie drehte sich um und rannte zurück in Richtung der Schlauchboote. Einige Ausflügler folgten ihr. Richard griff Christines Hand und zog sie mit sich.

«Halt! Nicht …!», rief der Expeditionsleiter.

Aber es war zu spät. Die Gruppe löste sich in Panik auf, die Menschen flüchteten, sie liefen um ihr Leben. Einige schrien.

Der Eisbär kam näher, geleitet von seinen Instinkten. Sein Gang war jetzt geschmeidig. Wieder ein Brüllen – es klang wie der Ruf zur Jagd. Auf dem Hügel blieb er kurz stehen, fixierte seine Beute. Dann nahm er die Verfolgung auf.

Die Teilnehmer kannten nur noch ein Ziel: den Strand. Auch der Expeditionsleiter hatte jetzt zu rennen begonnen. Unterwegs stolperten manche, fielen hin, rappelten sich auf, stolperten wieder. Jemand schrie um Hilfe, keiner beachtete ihn. Die Boote waren schon zu sehen.

Der Eisbär war nur noch wenige Meter hinter den Langsamsten, die vergeblich zur Gruppe aufzuschließen versuchten.

Christine blieb plötzlich stehen, fasste sich an die Seite. «Ich kann nicht mehr», schnaufte sie. Ihr Atem rasselte.

«Komm weiter, Schatz, halt durch.» Richard versuchte, sie unterzuhaken und wegzuschleifen. Viel zu nah hinter sich hörten sie das Knurren des Eisbären.

«Tut mir leid, es geht nicht.» Christine atmete schwer, Tränen liefen ihr übers Gesicht.

Sie drehte sich um und sah, wie das Tier auf sie zu kam, wie es zum Sprung ansetzte. Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen.

Christine hob den Kopf. Kaum einen Meter vor dem Ehepaar brach der Eisbär zusammen. Aus einem Loch in seinem Kopf rann Blut und färbte das Eis rot.

«Das war verdammt knapp», sagte der Tourbegleiter mit dem Gewehr. Er hielt die Waffe weiter im Anschlag und ging um das Tier herum. «Der ist tot», bestätigte er leise.

Auf der Rückfahrt mit den Zodiacs sprach keiner ein Wort. Der Mann mit der Fellkappe hielt den Kopf gesenkt und schluchzte.

«Guter Mann, seien wir froh, dass wir überlebt haben. Die Situation können wir nicht mehr ändern.» Richard versuchte ihn zu trösten. «Das Tier ist nun mal tot.»

Der Mann schluchzte weiter.

Richard legte ihm den Arm um die Schultern. «Das ist uns allen an die Nieren gegangen. So ein schönes Tier. Aber Sie werden darüber hinwegkommen.»

«Ach, der Eisbär interessiert mich doch gar nicht.» Der Mann hob den Kopf. «Ich hab mein Handy auf der Insel verloren!»

3

Garmisch-Partenkirchen, Deutschland

Eigentlich hätte es ein weiterer wunderbarer Tag in den bayerischen Alpen werden sollen. Die Sonne schien, kein Lüftchen regte sich, es war ideales Bergwetter. Hanna Jordan hatte bereits eine Woche Urlaub in Berchtesgaden hinter sich und jeden Tag eine Wanderung oder eine Klettertour unternommen.

Doch dann hatte ihr Chef in Bremerhaven sie angerufen. Wenn es ihr nichts ausmache, ihre Ferien zu unterbrechen, sei es wichtig, wirklich dringend, dass sie sich mit einem Herrn Dominik Hager in Garmisch traf, er kenne sonst keinen, den er

Sie war gestern Abend in Garmisch angekommen. Jetzt, noch vor Sonnenaufgang, legte sie sich ihre Kletterausrüstung zurecht, schulterte den Rucksack und nahm den Waldweg durch den Hammersbacher Forst. So früh am Morgen waren hier kaum Menschen unterwegs. Der Weg war gut befestigt, die Baumwipfel gaben immer wieder den Blick frei auf die steilen Wände des Wettersteinmassivs. In der Höllentalklamm ließ sich Hanna Jordan Zeit und genoss das ständig wechselnde Naturschauspiel: dunkle Stollen, spektakuläre Wasserfälle und das tosende Wasser des Baches, der sich tief in die Felsen gegraben hatte.

Sie liebte diese Momente des Alleinseins, die Zeit ganz für sich, gerade jetzt im Urlaub. Bei ihrer Arbeit war sie ständig irgendwo unterwegs und hatte mit vielen unterschiedlichen Menschen zu tun. Da tat ihr ein wenig Einsamkeit ganz gut.

Sie war glücklich damit, Single zu sein, und schätzte es, niemanden um Erlaubnis fragen zu müssen, um dies oder jenes zu tun. Oder sich in langen Diskussionen mit einem Partner auseinandersetzen und am Ende unbefriedigende Kompromisse eingehen zu müssen.

Ihre Beziehungen hatten nie lange gehalten: Ihre wechselnden Freunde kamen mit ihrer Lebensweise nicht klar, zumal sie berufsbedingt oft monatelang auf Reisen war. Deshalb gab es immer wieder Streit, am Ende stand regelmäßig die Trennung. So blieb es bei flüchtigen Zufallsbekanntschaften oder kurzen Affären mit Kollegen. Aber das machte ihr nichts aus – im Gegenteil: Ihre Freiheit war es wert. Und sie war ja erst 32 Jahre alt.

Dominik Hager hatte als Treffpunkt die Höllentalangerhütte vorgeschlagen. Als sie die Hütte erreichte, winkte ihr ein Mann Mitte vierzig von der Gaststättenplattform aus zu.

Sie setzten sich und bestellten etwas zu trinken.

«Sie machen’s aber wirklich spannend», sagte Hanna, als zwei kalte Almdudler vor ihnen standen. «Meine Neugierde ist geweckt. Um was geht’s?»

«Wir haben im Höllentalferner, dem Gletscher unterhalb des Zugspitzgipfels, eine seltsame Entdeckung gemacht.»

«Das ist sicher sehr interessant, aber was hat das mit mir zu tun, wenn ich fragen darf? Ich bin Biologin und keine Glaziologin. Gletscher sind nicht mein Fachgebiet.»

«Seien Sie nicht so bescheiden.» Er lächelte. «Wie mir Ihr Chef beim Alfred-Wegener-Institut erzählt hat, kennen Sie sich ganz gut mit Eis und Gletschern und deren Tierwelt aus. Sie haben sogar an der berühmten ‹Mosaic›-Expedition Ihres Instituts teilgenommen.»

«Das stimmt, aber ich war die meiste Zeit im Labor tätig oder habe Eisproben genommen.»

Sie war fast ein Jahr lang mit einer internationalen Wissenschaftler-Crew auf dem Eisbrecher Polarstern in der Arktis unterwegs gewesen. Das Schiff hatte sich in der Nähe des Nordpols festfrieren lassen, um im Winter die Drift im Nordpolarmeer zu untersuchen und Klimadaten zu sammeln. Es war die bisher größte Polarexpedition weltweit gewesen. Die Leitung des Projekts hatte beim Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung gelegen, abgekürzt AWI, wo sie als Biologin angestellt war.

Hanna war in München geboren, zur Schule gegangen und hatte dort studiert. Die Nähe zu den Bergen, Wandern und Skifahren – nie hätte sie sich vorstellen können, aus Bayern wegzuziehen. Doch für ihre Doktorarbeit über Kleinlebewesen im

«Vielleicht erzähle ich zuerst ein wenig von mir», unterbrach Dominik Hager ihre Gedanken. «Ich bin tatsächlich studierter Glaziologe und Geowissenschaftler. Zusammen mit einigen Kollegen leite ich ein Projekt, um die Entwicklung der bayerischen Gletscher zu erforschen.»

«Da werden Sie wohl leider nicht mehr lange zu tun haben, so traurig es ist», bemerkte Hanna.

«Sie spielen auf den Rückgang der Gletscher an.» Der Wissenschaftler seufzte. «Und ich muss sagen: Sie haben leider recht. Unsere Daten zeigen eindeutig: In zehn Jahren gibt es in Deutschland keine Gletscher mehr. Aus und vorbei. Von wegen ‹ewiges Eis›: Es schmilzt so schnell wie nie. Keine Gegenmaßnahme hat die Entwicklung aufhalten können. Wir haben es mit Stroh versucht, das wir auf der Oberfläche der Gletscher zum Schutz gegen die Hitze und Sonneneinstrahlung aufgebracht haben, oder mit Plastikbahnen. Nichts hat geholfen. Die drei Gletscher der Zugspitze, der Höllentalferner sowie der südliche und nördliche Schneeferner unterhalb des Gipfels, sind nur noch armselige Relikte. Sie sterben einen schnellen Tod. Dabei sind sie die größten permanenten Eisflächen unseres Landes.»

Er hatte sich in Rage geredet und wischte sich jetzt den Schweiß von der Stirn. Hanna wartete, bis er fortfuhr.

«Wir haben ein Frühwarnsystem bei den Gletschern installiert, das uns ständig aktuelle Daten liefert. Mittels Satelliten und GPS vermessen wir die Eisfelder. Laserscans und Bodenradar zeichnen Eisdicke und Wasserabfluss auf. Und ein Netz aus Sensoren erfasst Parameter wie Feuchtigkeit, Temperatur, Niederschlag oder Bodenbewegungen. Um es kurz zu machen: Unsere Geräte haben Alarm geschlagen. Das Eis ist an einigen

«Ein Ding?»

«Vermutlich etwas Organisches. Wir haben vor Ort alles so belassen, wie es war, und wollten uns zuerst bei einer Expertin rückversichern. Deshalb bitten wir Sie um Hilfe.» Er legte einen Geldschein auf den Tisch und griff nach seinem Rucksack. «Wir sollten jetzt hochgehen und uns das Ding gemeinsam ansehen. Ich bin auf Ihr Urteil gespannt.»

 

Nach einem moderaten Aufstieg erreichten sie die Leiter eines Klettersteigs, der aus in die Felsen gehauenen Eisenstufen bestand. Sie legten ihre Klettergurte an und setzten Helme auf. Von nun an ging es mühselig weiter. An der senkrechten Felswand mussten sie über Stahlstifte balancieren. Danach betraten sie das Höllental Kar, überquerten eine Geröllfläche und standen schließlich auf dem Gletscher. Von dort ging es nur mit Steigeisen weiter.

«Da oben ist es, wo das Eis die Felswand berührt.» Hager ging voran.

Schon von Weitem war die Stelle zu erkennen: Ein Bereich des Berges war mit einem Band abgesperrt.

«Hier sind wir fast bei 2400 Meter Höhe», erklärte er.

«Aber wo ist das, was Sie gefunden haben?» Hanna konnte außer Eis und Geröll nichts erkennen. Irgendwo in der Ferne rauschte Wasser.

«Einen kleinen Abstieg braucht es noch.» Hager deutete auf eine schmale Spalte, die sich zwischen Berg und Eisfläche auftat. Darunter war ein Bach zu sehen, der ungestüm talwärts floss und bald wieder unter dem Gletscher verschwand.

«Wir müssen uns abseilen, in drei Meter Tiefe gibt es einen kleinen Sims.»

Nach zehn Minuten standen Hanna und Dominik Hager auf dem Sims. Hier war es eng und feucht, das Tageslicht schaffte es kaum zu ihnen nach unten. Vor ihnen stand die Eiswand. Dunkle Linien durchzogen das Weiß. Hanna konnte nichts erkennen und schaltete ihre Stirnlampe ein. Die Linien sahen aus wie Äste. An einer Stelle ragte ein helleres, spitzes Stück heraus. Sie befühlte es und leuchtete es genauer ab.

Ihr Herz begann plötzlich schneller zu schlagen, als sie begriff, was sie da sah. «Das ist ein Mammut-Stoßzahn! Und im Eis liegen weitere Mammut-Knochen!»

Vor Aufregung hätte sie auf dem schmalen Sims fast den Halt verloren.

«Wir haben uns so was schon gedacht, wollten aber sichergehen.» Hager strahlte übers ganze Gesicht. «Na, das ist ein Fund, was?»

«Wahnsinn! Die Knochen scheinen wirklich gut erhalten zu sein.» Noch nie hatte Hanna einen so perfekt konservierten Mammut-Stoßzahn gesehen. «Er lag hier die ganze Zeit wie in einem Gefrierschrank. Und die Gletscherschmelze bringt ihn nach all den Jahrtausenden wieder ans Tageslicht!»

«Wie alt schätzen Sie die Knochen?»

«Schwer zu sagen. Sie stammen wohl aus der Eiszeit. Vielleicht sind sie 40000 bis 50000 Jahre alt. Dazu müsste man aber ausführlichere Untersuchungen anstellen.»

«Das könnte hinkommen», meinte Hager nachdenklich. «Früher reichten die Gletscher hier bis ins Voralpenland. Und damals bevölkerten auch Mammuts die Region.»

«Es gibt doch bereits Mammut-Funde in Bayern, oder nicht?», fragte Hanna.

Hager lächelte und nickte. «Genau. Forscher haben früher ein gut erhaltenes Skelett in der Gegend von Siegsdorf beim