Fabio Wolkenstein

Die dunkle Seite

der Christdemokratie

Geschichte einer

autoritären Versuchung

C.H.Beck


Zum Buch

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs feierte die Christdemokratie in Europa ihren Siegeszug. Dabei setzten sich besonnene Staatsmänner wie Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi oder Robert Schuman auf einem vormals von Krieg und Gewalt geprägten Kontinent nachdrücklich für Frieden, Wiederaufbau und Stabilität ein. Dennoch hatte die Christdemokratie im Nachkriegseuropa auch eine dunkle Seite: Der autoritäre Geist des reaktionären politischen Katholizismus wirkte in ihr weiter, was sich etwa an der unverhohlenen Bewunderung vieler Christdemokraten für Diktatoren wie Franco und Salazar oder einem angespannten Verhältnis zur freien Presse und den Institutionen der liberalen Demokratie offenbarte. Durch die schrittweise Abkehr von konservativen Positionen – in Deutschland vor allem in der Ära Kohl vollzogen – erfuhr die Christdemokratie schließlich einen nachhaltigen Demokratisierungsschub. Allerdings war der Preis dafür eine ideologische Entkernung. Fabio Wolkenstein blickt in seinem Buch auf die lange und wechselvolle Geschichte der Christdemokratie in Europa zurück und fragt, welchen autoritären Versuchungen sie widerstanden, aber auch welchen sie nachgegeben hat. Dabei spannt er einen weiten Bogen bis zur Gegenwart: Welche Strategien des Machterhalts wählen christdemokratische Parteien heute?

Über den Autor

Fabio Wolkenstein ist TT-Professor für Transformationen der Demokratie der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind politische Parteien und Ideologien in Europa.

Inhalt

Vorwort

I Einleitung: Die Herausforderungen einstiger Volksparteien

Christdemokratische Strategien

Die neue Achse der Christdemokratie

Wählerpräferenzen und Zukunftsszenarien

Wofür steht die Christdemokratie?

Eine andere Geschichte der Christdemokratie

II Die antidemokratischen Wurzeln der Christdemokratie

Auf der Suche nach einer Definition

Die Theorie integrativer Politik

Die katholische Soziallehre

Ist die Kirche demokratiefähig?

Politischer Katholizismus nach der Revolution

Von 1848 zum Syllabus errorum und Non expedit

Eine katholische Partei?

Zwischen Autoritarismus und Demokratie (1900–​1945)

Vier Spielarten des politischen Katholizismus

Aufbruch in die Nachkriegszeit

III Selbstbewusste Volksparteien, gute Demokraten?

Vorsichtiges Umdenken im Vatikan

Wahre und falsche Demokratie

Der christliche «dritte Weg»

Eine «postliberale» Verfassung

Antimaterialismus und Antiprotestantismus

Illiberale Momente, rechte Appelle, eingeschränkte Demokratie

Der andere Westen: Bewunderung für Franco

Die Liberalisierung der Christdemokratie

IV Christdemokratie im neuen Europa

Ideologische Krisen und neue Partnerschaften

Die folgenschwere Expansion einer Parteienfamilie

«Hallo, Diktator!»

Ist Orbán wirklich ein Christdemokrat?

Die historischen Lehren von 1945 vs. 1989

Ideologiebefreite Opportunisten?

Der neue politische Katholizismus jenseits der Christdemokratie

V Schluss

Dank

Anmerkungen

Vorwort

I Einleitung: Die Herausforderungen einstiger Volksparteien

II Die antidemokratischen Wurzeln der Christdemokratie

III Selbstbewusste Volksparteien, gute Demokraten?

IV Christdemokratie im neuen Europa

V Schluss

Personenregister

Vorwort

Thema des vorliegenden Buches ist das Verhältnis christdemokratischer Parteien zur liberalen Demokratie. Als kritische Analyse einer bestimmten politischen Ideologie und Parteienfamilie wird es wahrscheinlich verdächtigt werden, selbst politisch motiviert zu sein. Anhänger der Christdemokratie werden das Buch vermutlich als zu kritisch bewerten, vielleicht sogar eine politische Attacke unter wissenschaftlichen Vorzeichen wittern. Und es wäre kaum überraschend, wenn politische Gegner und Rivalen der Christdemokratie das Buch zu unkritisch finden und dem Autor vorwerfen, seinen Gegenstand mit Samthandschuhen angefasst zu haben. In jedem Fall ist davon auszugehen, dass die Neutralität des Autors in Frage gestellt wird.

Dass das vorliegende Buch nicht von einem überzeugten Christdemokraten verfasst wurde, bedeutet aber nicht, dass hier polemisch gegen die Christdemokratie angeschrieben werden soll.[1] Obwohl sich mein Erkenntnisinteresse – wie der Titel verrät – primär auf die «dunkle Seite» der Christdemokratie richtet, möchte ich hier weder anklagen noch verzeihen, sondern erst einmal verstehen.[2] Gerade in einer Zeit, in der nationalistische bzw. «populistische» Parteien in ganz Europa versuchen, den Konservatismus neu zu definieren, erscheint ein besseres Verständnis der Christdemokratie als historisch besonders einflussreiche Spielart des Konservatismus zielführender als eine vorschnelle Parteinahme oder die hysterische Jagd nach Aufmerksamkeitsprämien, wie sie in aktuellen Demokratiegefährdungsdebatten oft betrieben werden.[3]

Der gegenwärtig in fast allen Demokratien stattfindende Kampf um die Deutungshoheit über den Konservatismus ist im zweifachen Sinne auch eine Auseinandersetzung um die Bedeutung des Begriffs der Demokratie. Zum einen geht es um die Demokratie als Herrschaftsform. Wie soll sie institutionell justiert werden? Liberal und repräsentativ wie bisher? Oder plebiszitär, damit der «Wille des Volkes» in möglichst vielen direkten Abstimmungen uneingeschränkt zur Geltung kommt? Oder doch lieber «illiberal» à la Viktor Orbán, mit einem starken Mann an der Spitze, der im Namen des Volkes exekutiv durchregiert und für Ordnung sorgt? Zum anderen geht es um die demokratische Praxis, um die Normen demokratischen Handelns, also etwa um die schwierige Frage, ob gegenüber dem rechten Rand Abgrenzung (wie aktuell von der CDU gegenüber der AfD praktiziert) oder Kooperationsbereitschaft geboten ist. An der Art und Weise, wie konservative Parteien diese Fragen beantworten, lässt sich viel über deren Verhältnis zur Demokratie ablesen.[4]

Wie ich in diesem Buch zeigen will, hat die europäische Christdemokratie recht unterschiedliche Antworten in ihrem Repertoire. Die Uneinigkeit über Wesen und Wert der Demokratie war jedoch seit jeher ein Merkmal (nicht nur) der christdemokratischen Tradition. Über diese Spannungen, die die Christdemokratie historisch begleiteten, zu reflektieren, wirft auch ein Licht auf mögliche Zukunftswege des organisierten politischen Konservatismus in Europa. Denn es ist davon auszugehen, dass konservative Parteien – nicht zuletzt die Christdemokraten – Form und Inhalt unserer Politik weiterhin maßgeblich prägen werden, auch wenn sie an dem einen oder anderen Ort zuletzt in die Defensive gerieten.

Aus historischer Sicht haben konservative Parteien oft eine zentrale Rolle bei der Stabilisierung der Demokratie gespielt. Wie Studien zeigen, hing der Erfolg einer demokratischen Ordnung oft wesentlich davon ab, ob politische Kräfte rechts der Mitte willig waren, die Demokratie und ihre Institutionen aktiv zu verteidigen – oder ob sie aus wahltaktischen oder ideologischen Gründen beschlossen, mit jenen gemeinsame Sache zu machen, die sich nach einem autoritären Staat sehnten.[5] Ein glänzendes Beispiel für den ersten Weg sind die britischen Tories, denen es im 19. Jahrhundert gelang, reaktionäre und antidemokratische Kräfte in die Partei zu integrieren und auf die Demokratie zu verpflichten. Den anderen Weg beschritten hingegen zahlreiche konservative Parteien der Zwischenkriegszeit, die am Ende oft selbst zu quasi-faschistischen Bewegungen mutierten. Eine dieser Parteien war die Christlichsoziale Partei Österreichs, die Vorgängerorganisation der heutigen Österreichischen Volkspartei (ÖVP). Schon dieser kursorische Blick auf die Vergangenheit rechtfertigt die Frage, wie die Christdemokratie eigentlich zur Demokratie und ihren Feinden steht. Das vorliegende Buch möchte darauf eine systematische Antwort geben.

Verglichen mit anderen politischen Ideologien oder Parteienfamilien ist die Christdemokratie nur schlecht erforscht. Es gibt so gut wie keine akademischen Standardwerke, ganz zu schweigen von Sachbüchern für ein breiteres Publikum. Das ist verblüffend. Wie der renommierte Historiker Martin Conway zu Recht bemerkt, sollte die katholisch dominierte Christdemokratie allein schon deshalb ein zentrales Thema in der historisch-politischen Debatte über die Entwicklung Westeuropas nach 1945 sein, weil sie – neben dem Sowjet-Kommunismus – zu den großen Gewinnern der Nachkriegsgeschichte zählt.[6] In Ländern wie Deutschland, Italien, Frankreich und Belgien prägten Christdemokraten nicht nur die Tagespolitik, sondern bestimmten oftmals auch die Verfassungsgebung in den vom Krieg zerrütteten Staaten. Und dann wäre da noch die monumentale Errungenschaft der Europäischen Einigung, die ebenfalls eine eindeutig christdemokratische Handschrift trägt.[7] Mit guten Gründen schreibt der Politologe Jan-Werner Müller: «Müßte man eine einzige ideelle und parteipolitische Bewegung benennen, die jene politische Welt geschaffen hat, in der die Europäer heute immer noch leben, dann wäre dies die Christdemokratie.»[8]

Dennoch entsteht erst seit den frühen 1990er Jahren in einigen Subdisziplinen der Geschichts- und Politikwissenschaft eine ernstzunehmende Literatur zum Thema, wobei man hier getrost von rein akademischen Arbeiten sprechen kann.[9] In der aktuellen politikwissenschaftlichen Forschung wird die Christdemokratie zudem meist im Zusammenhang mit der Entwicklung der europäischen Wohlfahrtsstaaten adressiert.[10] Dieser besondere Fokus ist nicht nur der prominenten Rolle christdemokratischer Parteien in der Ära des Wirtschaftswunders bzw. während der Trente Glorieuses geschuldet, sondern auch dem Anspruch dieser Parteien, als Sammlungsbewegungen ökonomische Konflikte durch einen Klassenkompromiss zu befrieden. Die demokratiepolitische Rolle christdemokratischer Parteien wird dabei allerdings kaum berücksichtigt.

Dieses bloß punktuelle Interesse verblasst im Vergleich mit den unzähligen Studien über Sozialdemokratie, Sozialismus und Kommunismus. Hinzu kommt, dass in einigen der bedeutendsten Arbeiten über die Sozialdemokratie der große historische Gegenspieler, die Christdemokratie, noch nicht einmal beiläufig erwähnt wird.[11] Woher rührt diese selektive Aufmerksamkeit? Es mag klischeehaft klingen, aber Sozialwissenschaftler sympathisieren tendenziell wahrscheinlich eher mit linken Ideologien, was sie dazu führen könnte, andere politische Strömungen in ihrer Breite – vom «Rechtspopulismus» abgesehen – intellektuell zu vernachlässigen. Dass einflussreiche Denker wie Jürgen Habermas die von Christdemokraten geprägte Nachkriegszeit als Ära der «Restauration» verdammten, hat sicher auch seinen Teil zum politikwissenschaftlichen Desinteresse beigetragen.[12]

Deutlich ergiebiger erscheint hingegen die historische Forschung zur Christdemokratie, obwohl auch in der Geschichtswissenschaft erst in den vergangenen drei Jahrzehnten ein lebendiges und vielfältiges Forschungsfeld um die verschiedenen Spielarten des politischen Katholizismus entstanden ist.[13] Viele dieser Arbeiten sind von einer hohen Sensibilität für theologische, soziologische und ideengeschichtliche Fragestellungen geprägt und suchen zudem den Dialog mit den Sozialwissenschaften, allen voran der Politikwissenschaft und der Soziologie.[14] Ferner ist das wachsende Interesse der internationalen Geschichtswissenschaft an der römisch-katholischen Kirche und dem Laienkatholizismus für die Erforschung der Christdemokratie relevant. Gerade in den letzten zehn Jahren erschienen zahlreiche große historische Studien zum Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert, die auch auf die vielfältigen Parteien und Organisationen des politischen Katholizismus und der Christdemokratie eingehen.[15]

Für die Thesen dieses Buches war die historische Forschung zum politischen Katholizismus – neben einer Vielzahl politischer Biografien und Primärquellen[16]– von außerordentlicher Bedeutung. Sie hat den Autor auf einzigartige Weise für das komplexe und angespannte Verhältnis der Kirche und ihrer Gläubigen zur Moderne sensibilisiert. Traditionalistische Glaubensgrundsätze mit dem bürgerlichen Kapitalismus und den politischen Institutionen des säkularen Nationalstaates in Einklang zu bringen, war die große Herausforderung, mit der sich die Katholiken im 19. und frühen 20. Jahrhundert konfrontiert sahen. Die Exponenten des in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommenden politischen Katholizismus, aus dem knapp 100 Jahre später die Christdemokratie hervorgehen sollte, begaben sich deshalb auf die Suche nach einer spezifisch katholischen Antwort auf die Moderne und die Trias Industriekapitalismus, Arbeiterbewegung und liberale Demokratie. Einigkeit herrschte auch trotz päpstlicher Interventionen faktisch nie: Einige Katholiken wollten zurück zur Monarchie, andere bevorzugten einen autoritären Ständestaat, wieder andere befürworteten die Demokratie.

Verschiedene Merkmale des historischen politischen Katholizismus begleiten uns bis heute, wenngleich die christlichen Parteien des frühen 21. Jahrhunderts wenig mit ihren Vorläufern aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert zu tun haben. Doch scheint insbesondere das Verhältnis der Christdemokratie zur liberalen Demokratie mittlerweile wieder zur Debatte zu stehen. Viktor Orbáns Fidesz-Partei, die sich als christdemokratisch bezeichnet, hat in Ungarn die liberale Demokratie abgeschafft – und es ist bezeichnend, dass diese Partei bis ins Frühjahr 2021 von hochrangigen europäischen Christdemokraten in Schutz genommen wurde. Wer Orbáns Politik den ideologischen Charakter abspricht, macht es sich zu einfach. Politik geht nur selten komplett in zynischer Machtpolitik auf. Sonst hätten der ungarische Premierminister und seine Gefolgsleute auch nicht so viel Erfolg damit, die christliche Religion für ihr autoritäres politisches Projekt zu mobilisieren und dabei Zuspruch von ultrakonservativen Kräften innerhalb der europäischen Christdemokratie (und Applaus von Salvini, Kaczyński und Co.) zu ernten. Ob Politiker wirklich an die Dinge glauben, die sie sagen, lässt sich zwar nie mit absoluter Sicherheit feststellen. Dass sie sich innerhalb einer bestimmten ideologischen Tradition verorten und diese über Jahrzehnte konsequent verteidigen, ohne an die Richtigkeit ihrer Grundideen zu glauben, dürfte jedoch selten vorkommen.[17] Deswegen muss der neue christliche Illiberalismus, der in Orbáns Partei Gestalt annimmt, auch so ernst genommen werden.

Eine der Thesen dieses Buches lautet, dass das erste Zeitalter der Christdemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg eine knapp 20-jährige Anomalie war.[18] Die Nachkriegschristdemokraten waren, im Gegensatz zu ihren unmittelbaren Vorgängern, weitgehend überzeugte Demokraten, die sich für Frieden, Wiederaufbau und Stabilität in Europa einsetzten – zumindest, wenn es um ein gewisses Setting repräsentativdemokratischer Institutionen ging. Doch auch diese «tugenddemokratische» Christdemokratie hatte eine dunkle Seite, da der autoritäre Geist der Vergangenheit in der Nachkriegszeit noch lange nicht überwunden war, was etwa in der unverhohlenen Bewunderung vieler Christdemokraten für die Ibero-Diktatoren Franco und Salazar und einem manchmal sehr angespannten Verhältnis zur freien Presse (Stichwort Spiegel-Affäre) zum Ausdruck kam. Wenig überraschend war die Demokratie, die von den Christdemokraten der Nachkriegszeit bevorzugt wurde und sich in der starken Führung Adenauers geradezu idealtypisch widerspiegelte, eine stark eingeschränkte, jedenfalls keine gelebte Form der Demokratie. Vom Prinzip der Mehrheitsherrschaft wollte die Christdemokratie damals oft nichts wissen.

Durch die schrittweise Abkehr von ihrer ursprünglich konservativeren Programmatik in der Nachkriegszeit, die in Deutschland vor allem während der langen Ära Kohl vollzogen wurde, erfuhr die Christdemokratie schließlich einen Liberalisierungsschub. Der Preis dafür war ihre ideologische Entkernung, zu der auch die sukzessive Ausdehnung der christdemokratischen Parteienfamilie wesentlich beigetragen hat. Insbesondere in der Endphase des Kalten Kriegs kam es zu einer unaufhörlichen Expansion des transnationalen christdemokratischen Parteinetzwerks, in das eine Reihe konservativer Parteien ohne nennbar christdemokratisches Fundament integriert wurde. Schließlich sollte die von führenden Christdemokraten unterstützte große Osterweiterung der EU im Jahr 2004 erhebliche Bedeutung für das erlangen, was man im heutigen Europa eine christlich-konservative Politik nennen könnte.[19] Mit Ungarn und Polen traten nämlich zwei Länder der EU bei, die ihre eigenen Vorstellungen eines illiberalen christlichen Traditionalismus im 21. Jahrhundert auch gegen supranationalen Widerstand umzusetzen gewillt sind. Ironischerweise präsentieren sie sich dabei als wahre Erben der Nachkriegschristdemokratie: als echte Europäer und letzte Verteidiger des christlichen Abendlandes. Und hat Orbán nicht auch ein bisschen Recht, wenn er seine Ziele und Visionen mit denen der klassischen Christdemokratie vergleicht? Darüber möchte das vorliegende Buch Aufschluss geben.

I Einleitung: Die Herausforderungen einstiger Volksparteien

Christdemokratische Strategien

Nach der krachenden Wahlniederlage bei der Bundestagswahl 2021 steht wieder der programmatische Kurs der deutschen Christdemokratie zur Debatte. Soll dieser künftig stärker nach rechts gehen oder soll der moderate Zentrumskurs mit potenziellen Koalitionspartnern links der Mitte fortgesetzt werden? Die österreichischen Christdemokraten haben in den vergangenen Jahren beides versucht. Unter Sebastian Kurz hat die wiedererstarkte Österreichische Volkspartei zunächst von 2017 bis 2019 mit der nationalkonservativen, oft als «rechtspopulistisch» bezeichneten Freiheitlichen Partei (FPÖ) koaliert; seit Anfang 2020 regiert sie nun zusammen mit den Grünen, die nach dem vernichtenden Wahldebakel von 2016 bei den Nationalratswahlen 2019 wieder ins Parlament einziehen konnten. Nach einem deutlichen Rechtsruck im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise von 2015, die Kurz seine erste Kanzlerschaft einbrachte (Stichwort Schließung der Balkanroute), folgte zwar keine größere politische Kursänderung. Dennoch blieben die Christdemokraten offen für eine Regierungszusammenarbeit mit der Partei, die in der politischen Landschaft Österreichs den linken Rand besetzt.

Kurz’ ursprünglicher Erfolg beruhte nicht nur auf seinem Schwenk nach rechts in Immigrations- und Integrationsfragen, der überdies auch eine klare Abgrenzung von Angela Merkel bedeutete. Seine Neuinszenierung der ÖVP als stark personalisierte politische «Bewegung» war von ebenso großer Bedeutung. Nachdem Kurz 2017 Parteichef wurde, hatte er die verkrustete und gerade für jüngere Wähler nicht besonders attraktive Volkspartei kurzerhand in «Liste Kurz» beziehungsweise «neue Volkspartei» umbenannt. Das klerikale Schwarz wurde im Parteilogo durch ein dynamisches Türkis ersetzt, und als Kandidaten wurden der Öffentlichkeit statt der üblichen konservativen Berufspolitiker und Vertreter der Bünde nun mehr oder weniger bekannte Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Sport und Kultur präsentiert. Die Rechnung ging am Wahltag auf. Und obwohl Kurz inzwischen die Politik verlassen hat und für den deutsch-amerikanischen Tech-Investor Peter Thiel arbeitet, bleibt das «Modell Kurz» eine Blaupause für christdemokratische Erneuerung.

Ein anderes Modell zeitgenössischer christdemokratischer Politik findet man im benachbarten Ungarn. Dort regiert der vielleicht erfolgreichste konservative Politiker unserer Zeit, der umstrittene ungarische Premierminister und Franz-Josef-Strauß-Preisträger Viktor Orbán. Seit 2010 hat Orbán politische Gestaltungsmöglichkeiten, von denen andere christdemokratische Politiker und Parteien in Europa nur träumen können. Durch die Eigenheiten des ungarischen Wahlsystems (und die stabile Zusammenarbeit mit der kleinen Kereszténydemokrata Néppárt) verfügt Orbáns Fidesz-Partei sogar über eine Zweidrittelmehrheit im ungarischen Parlament, was der Regierung umfassende Verfassungsänderungen ermöglicht. Von dieser Option hat Orbán auch mehrfach Gebrauch gemacht, um die eigene Machtposition zu zementieren. Zu erwähnen ist vor allem die Verfassungsnovelle von 2013, mit der die Befugnisse des Verfassungsgerichtshofes empfindlich beschränkt (die vormals inhaltliche ist der rein verfahrensrechtlichen Prüfung von Gesetzen gewichen) und Wahlwerbung in privaten (also nicht von Fidesz kontrollierten) Medien verboten wurden.

Orbáns Politik ist kontrovers. Ihm wird vorgehalten, die liberale Demokratie zu torpedieren und Ungarn zu einem quasi-autoritären Regime umbauen zu wollen. Zu diesem Schluss kommen nicht nur politische Gegner links der Mitte, auch führende Rechts- und Politikwissenschaftler (vor allem Juristen stehen normalerweise nicht im Verdacht, Linke zu sein) sind sich in dieser Frage weitgehend einig.[1] So klassifizieren etwa die amerikanischen Politologen Steven Levitsky und Daniel Ziblatt in ihrem vielbeachteten Buch Wie Demokratien Sterben Ungarn als ein «mild autoritäres» Regime.[2] Und die an der Universität Princeton lehrende Rechtswissenschaftlerin Kim Lane Scheppele nennt das Land in Anlehnung an das berühmte Monster aus Mary Shelleys Roman einen «Frankenstate» – einen Staat, in dem aus eigentlich demokratischen Verfassungselementen ein autoritäres Monster zusammengestückelt wurde.[3] Auch viele weitere namhafte Beobachter sind der Überzeugung, Ungarn könne längst nicht mehr als Demokratie bezeichnet werden – zumindest nicht als Demokratie ohne einschränkende Adjektive.

Und Orbán selbst? Macht bekanntlich keinen Hehl daraus, dass er in Ungarn eine «illiberale Demokratie» etablieren will. Dem ungarischen Premierminister zufolge ist dieses Vorhaben nicht nur mit den Idealen der Christdemokratie vereinbar – nein, echte christdemokratische Politik muss für ihn illiberal sein. Die für Europa überlebenswichtige «Renaissance der Christdemokratie», so Orbán in einer Rede vor Parteifreunden, setze voraus, sich entschieden vom Liberalismus abzuwenden, der «unsere Völker, Nationen, Familien […], mit anderen Worten: unsere europäische Lebensform, nicht schützen kann.»[4] Folglich sollen die europäischen Christdemokraten, statt eine «antipopulistische Front» gegen Parteien wie die italienische Lega oder den französischen Rassemblement National zu bilden, «verantwortungsvolle Antworten» auf die Fragen geben, die «rechtspopulistische» Parteien heute aufwerfen, und für eine Zusammenarbeit mit solchen Parteien offen bleiben. Diese Haltung verortet Orbán selbst in der «konservativen Tradition» der europäischen Christdemokratie. In dieser Tradition stehe laut Ungarns starkem Mann auch die CSU, die er gern mit seiner eigenen Partei vergleicht (O-Ton Orbán: «Wir sind ohne Zweifel die CSU der Europäischen Volkspartei»[5]).

Die neue Achse der Christdemokratie

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte Europa seinen «christdemokratischen Moment». In zahlreichen Ländern konnten christdemokratische Parteien Wahlen gewinnen oder sich durch große Stimmenzuwächse Zugang zu wichtigen politischen Ämtern sichern. Damals waren die wichtigsten Parteien unbestritten die deutsche Christlich Demokratische Union, der französische Mouvement Républicain Populaire und die italienische Democrazia Cristiana. Die führenden Politiker dieser Parteien – Konrad Adenauer, Robert Schuman und Alcide De Gasperi – versprachen Stabilität und Frieden und nutzten ihre Macht, um die Europäische Integration voranzutreiben. Auf diese Weise definierten sie gleichsam, was Christdemokratie bis heute bedeutet. Ihr Angebot war so einfach wie überzeugend: Statt ein utopisches politisches Projekt zu bewerben, forderten sie die Rückbesinnung auf christliche Werte, Anstand und Moral. Dabei galt es, als Volkspartei unterschiedlichste Bevölkerungsgruppen anzusprechen.

Rund 75 Jahre später sind es die christdemokratischen Parteien Deutschlands, Österreichs und Ungarns (ob Fidesz wirklich als christdemokratische Partei bezeichnet werden kann, wird noch ausführlich besprochen), die maßgeblich darüber entscheiden, wofür die Christdemokratie heute politisch steht. Die ehemals einflussreichen Parteien der anderen Kernländer der Christdemokratie sind allmählich von der Bildfläche verschwunden. In Italien wurde die einst dominante Democrazia Cristiana 1994 im Nachgang des Tangentopoli-Korruptionsskandals aufgelöst. Der französische Mouvement Républicain Populaire verlor bereits in den 1950er Jahren an politischer Bedeutung und fiel 1967 auseinander. Somit zählen die Unionsparteien, die ÖVP und Fidesz zu den letzten größeren Parteien Europas – von der allein wegen der Größe des Landes relativ marginalen luxemburgischen Chrëschtlech Sozial Vollekspartei abgesehen –, die sich mehr oder weniger emphatisch zur Christdemokratie bekennen. Bei Fidesz kam dieses Bekenntnis erst spät. Orbáns Partei hatte sich ursprünglich dem Liberalismus verschrieben und wurde erst Ende der 1990er Jahre zu einer christlich-konservativen Partei.[6] Die ÖVP und CDU/CSU können hingegen auf eine lange Parteitradition mit angestammten religiös-bürgerlichen Wählermilieus zurückblicken, in denen sich trotz gradueller Desintegration bis heute noch Stammwähler finden. Das führt direkt zu einer weiteren Gemeinsamkeit der drei Parteien: Sie können immer noch relativ große und heterogene Wählergruppen mobilisieren. Zwar kann man die Wahlergebnisse der letzten zwei Jahrzehnte längst nicht mehr mit jenen der Nachkriegszeit vergleichen, als die Parteibindung in allen gesellschaftlichen Gruppen deutlich stärker war und die Christdemokraten regelmäßig über 40 Prozent der Stimmen bekamen. Aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Union, ÖVP und Fidesz eine alles in allem solide Wahlperformance aufweisen – ein Langzeittrend, der auch dafür spricht, dass die Unionsparteien sich wieder von der Niederlage bei der Bundestagswahl 2021 erholen können.[7] Kurzum: Die deutschen, österreichischen und ungarischen Christdemokraten stechen in der europäischen Parteienlandschaft hervor, obwohl die großen Volksparteien im Allgemeinen und der normative Referenzrahmen christlicher Werte im Besonderen in den letzten vier Jahrzehnten stark an Bedeutung eingebüßt haben.[8]

Was sie darüber hinaus eint: Die verbliebenen christdemokratischen Parteien müssen sich seit einiger Zeit in hohem Maße über ihr Verhältnis zu den medial überaus präsenten nationalkonservativen (oft «rechtspopulistisch» genannten) Kräften definieren, weil teils große Überlappungen in der Wählerschaft bestehen. Die individuellen Positionierungsstrategien unterscheiden sich jedoch enorm. Die CDU fährt gegenüber der AfD bisher eine Strategie der Abgrenzung. Die ÖVP zeigt hingegen einerseits Kooperationsbereitschaft bis zur Regierungszusammenarbeit und andererseits eine klare Tendenz zur programmatischen Annäherung, insbesondere in der deutlichen Bewegung nach rechts in der Flüchtlings- und Migrationspolitik nach 2015. Fidesz setzt wiederum auf Assimilation, ja ist selbst zur nationalkonservativen Partei geworden, sodass noch radikaleren Mitbewerbern wie der ursprünglich militant rechtsextremen Jobbik-Partei im politischen System kein Platz mehr bleibt.

Die verschiedenen Strategien im Umgang mit dem organisierten Nationalkonservatismus erlauben auch vorläufige Rückschlüsse auf die moralischen und politischen Möglichkeitshorizonte der drei christdemokratischen Parteien. In Deutschland wäre die ungarische Strategie der Assimilation genauso undenkbar wie die österreichische Strategie der Kooperationsbereitschaft. (Man stelle sich nur einmal die Welle der Empörung vor, wenn die Union auf Bundesebene mit der AfD koalieren würde!) In Österreich ist wiederum eine stärkere «Orbánisierung» der Christdemokratie nur schwer vorstellbar. Dem steht die inzwischen stark verjüngte und liberalere Wählerschaft der ÖVP entgegen. Eine klare inhaltliche Abgrenzung gegenüber der FPÖ wäre aufgrund der wiederholten Regierungszusammenarbeit beider Parteien allerdings ebenso unwahrscheinlich, weil schlicht unglaubwürdig. Und in Ungarn ist nicht zuletzt wegen der oben erwähnten Verfassungsänderungen, die der Fidesz-Partei eine maximale Machtfülle beschert haben, nichts anderes als der Status quo denkbar. Wie fest Orbán in Budapest im Sattel sitzt, zeigte sich Ende März 2020, als Fidesz im Rahmen der Corona-Pandemie ein Gesetz durch das Parlament peitschte, das es dem Ministerpräsidenten ermöglicht, im Rahmen eines Notstandes ohne Zeitbegrenzung per Dekret zu regieren – und der Regierung, den ausgerufenen Notstand ohne die Zustimmung des Parlaments unbegrenzt zu verlängern.

Wählerpräferenzen und Zukunftsszenarien

Dass christdemokratische Parteien heute viel Zeit und Energie auf ihre Positionierungsstrategien verwenden müssen, erklärt sich vor allem aus den Kernthemen von nationalkonservativen Parteien wie der AfD oder FPÖ. So markieren etwa die Begrenzung der Immigration und der Schutz der nationalen Identität und Souveränität eine neue und gewichtige gesellschaftliche Konfliktlinie, die das Feld der parteipolitischen Repräsentation maßgeblich strukturiert.[9] Demnach werden traditionelle Gegensätze wie Arbeit gegen Kapital oder Stadt gegen Land immer stärker vom Konflikt zwischen «Nationalisten» und «Globalisten» überschattet.[10] In einer bekannten Zuspitzung beschrieb der britische Journalist David Goodhart die rivalisierenden Gruppen als somewheres und anywheres. Erstere stehen Goodhart zufolge der Globalisierung, Europäischen Integration und dem Multikulturalismus tendenziell skeptisch bis ablehnend gegenüber. Sie wünschen sich, dass in ihrer Heimat alles wieder so wird «wie früher». Letztere können hingegen mit der Nation oder Volkstümelei wenig anfangen, fühlen sich in einer kulturell diversen und «postnationalen» Welt pudelwohl und blicken teils verächtlich auf die vermeintlich reaktionären somewheres herab.[11] Obwohl sich alle politischen Parteien auf dieser Konfliktlinie positionieren müssen, steht die Christdemokratie vor besonderen Herausforderungen. Schließlich treten die neuen politischen Mitbewerber rechts der Mitte vor allem zu ihr in Konkurrenz.

Gerade in Deutschland hat diese Entwicklung zu einer regen Debatte über Gegenwart und Zukunft des Konservatismus geführt, wobei die Christdemokratie in der Regel als eine Spielart des Konservatismus gilt. Die CDU sucht nach der Merkel-Ära nach ihrem programmatischen Profil, während Politiker wie Alexander Gauland für die AfD in Anspruch nehmen, die «eigentlich konservative Kraft in Deutschland zu sein.»[12] Der Ausgang dieses Richtungskampfs wird davon abhängen, so fasst der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher zusammen, «ob es der AfD gelingt, sich das Label des Konservativen dauerhaft anzueignen und/oder es zumindest dem politischen Konkurrenten erfolgreich abzusprechen, der sich nicht länger vom berüchtigten ‹grün-versifften› Einheitsbrei der Mainstreampolitik abhebe, sondern restlos in ihm aufgegangen sei – oder ob es umgekehrt die Repräsentanten der Christdemokratie fertigbringen, einen respektablen Konservatismus von einem despektierlichen ‹Rechtspopulismus› der AfD abzugrenzen.»[13] Diese Diagnose bringt die aktuellen Herausforderungen der Union (und anderer christdemokratischer Parteien) auf den Punkt. Sollte sie an ihrer Aufgabe scheitern, fährt Biebricher fort, «ist nicht ausgeschlossen, dass Konservatismus über kurz oder lang in Rechtspopulismus kollabiert, die intellektuell-politischen Brandmauern nach rechts abgetragen werden und letztendlich auch einer politischen Kooperation nichts mehr im Wege steht.»[14]

Dass der innerkonservative Konflikt zwischen Christdemokratie und «Rechtspopulismus» bzw. Nationalkonservatismus noch unentschieden ist, trifft gewiss nur auf Deutschland zu. In Österreich und Ungarn hat sich die Christdemokratie ja bereits in eine andere Richtung entwickelt, indem sie die Grenzen zum Nationalkonservatismus zunehmend verwischte. Dennoch wirft die deutsche Debatte zumindest zwei Fragen auf, die für Gegenwart und Zukunft der europäischen Christdemokratie von entscheidender Bedeutung sind. Erstens: Welche Strategie oder Tendenz wird sich in den kommenden Jahren im bevölkerungsreichsten Land der Europäischen Union durchsetzen? Werden sich CDU/CSU nach der Ära Merkel dem Nationalkonservatismus und dessen Wählern annähern oder den liberalen Zentrumskurs beibehalten? Die zweite Frage, auf die dieses Buch eine Antwort geben möchte, ist komplexer: Welche der genannten Strategien ist im Kern eigentlich christdemokratischer? Abgrenzung, programmatisches Entgegenkommen oder gar «orbáneske» Assimilation? Welcher dieser Wege ist am besten mit den Werten, Traditionen und Idealen der Christdemokratie vereinbar?

Wofür steht die Christdemokratie?

Solche Fragen mögen zunächst verkopft und praxisfern wirken. Parteien, so könnte ein Einwand lauten, gehe es am Ende doch – wie allen anderen wichtigen Playern im politischen Betrieb – immer bloß um den Machterhalt. Werte und Prinzipien bildeten nur einen dünnen rhetorischen Firnis, der sich über handfeste Interessen lege. Sie könnten jederzeit verworfen werden, sobald es Wählerstimmen bringe. Aber so primitiv ist Politik dann auch wieder nicht. Alle Parteien haben eine wirkmächtige Tradition, und auch jene mit kurzer Geschichte beziehen sich oftmals mit Aplomb auf die Vergangenheit, vor allem wenn es um programmatische Grundsatzentscheidungen geht.[15] Grundwerte und Gründungsfiguren werden dabei ebenso gerne ins Spiel gebracht wie Einschwörungen auf eine programmatische Essenz, für die man angeblich «immer schon» gekämpft habe. Und weil die Geschichte und Tradition einer Partei für ihre Identität und ihr Selbstverständnis so bedeutsam sind, ist der offene Bruch mit der Vergangenheit riskant. Lähmende innerparteiliche Querelen sind auf Dauer mindestens so gefährlich wie die kalkulierte Abkehr von einer ehemals loyalen Wählerschaft.[16]

Dieser Risiken scheint sich Friedrich Merz bewusst zu sein, der – obwohl er seit neuestem als gemäßigter Politiker der Mitte auftritt – in seinen vielen Kämpfen um den CDU-Vorsitz stets beteuerte, dass er eigentlich nur die «großen und starken Wurzeln der CDU» wiederbeleben wolle.[17] Umarmungsversuche mit Blick auf die AfD-Wählerschaft stehen demzufolge im Einklang mit der Tradition der deutschen Christdemokratie. Als plakatives Beispiel für die entgegengesetzte Deutung der Parteitradition dürfen die Wortmeldungen des inzwischen verstorbenen ehemaligen CDU-Generalsekretärs Heiner Geißler gelten. Er hat die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin – die ja laut Merkel-Kritikern wie Merz maßgeblich zum Profilverlust der Union und zum Aufstieg der AfD beigetragen hat – wiederholt als den einzigen mit den christlichen Grundwerten seiner Partei vereinbaren Weg verteidigt. Im Nachgang der Ereignisse von 2015 bezeichnete Geißler die bayerische CSU, die lautstark eine deutlich restriktivere Asyl- und Aufnahmepolitik forderte, sogar als «Totengräberin der Union», die sich auf «derselben geistigen Ebene wie die Orbán-Partei in Ungarn» befinde.[18] Vorschläge wie die Bevorzugung von Flüchtlingen aus dem christlich-abendländischen Kulturkreis, so Geißler in Richtung der Schwesterpartei, seien «das Gegenteil dessen […], was die christliche Botschaft bedeutet. Wer solche Vorschläge macht, hat sonntags in der Kirche nichts verloren und steht im Widerspruch zur Botschaft des Evangeliums, zum Papst als auch zur evangelischen Kirche.»

Historische Wurzeln, die christliche Botschaft, der Papst und das Evangelium – diese Referenzpunkte spielen auch außerhalb der Tagespolitik eine Rolle. So postulierte etwa der bekannte deutsche und in Graz lehrende Theologe Rainer Bucher in einem Beitrag zu Merkels Flüchtlingspolitik: «Angela Merkel positioniert sich dort, wo die Christdemokratie sich erfand: in der Mitte eines nüchternen christlichen Realismus, der sich nicht einschüchtern lässt, weder von der Angst vor dem, was kommt, noch von dem Bisherigen, das offenkundig verschwindet, noch von der Unübersehbarkeit einer Gegenwart, die ständig überrascht.»[19] Dieser nüchterne Realismus war Bucher zufolge «einmal das Charakteristikum der katholischen Christdemokratie gewesen, auch gegen Widerstände der kirchlichen Hierarchie. Heute steht diese Hierarchie, zumindest in der Flüchtlingsfrage anders als die CSU und Teile der CDU demonstrativ hinter Angela Merkel.» Seine Schlussfolgerung: «Vielleicht erleben wir gerade den Anfang der protestantischen Erneuerung der Christdemokratie: nüchtern, realistisch, fast pathosfrei, aber notwendig. Angela Merkel jedenfalls steht dem Papst näher als Horst Seehofer: eine bemerkenswerte ökumenische Konstellation.»

Buchers Kommentar enthält einen wichtigen Zusatz, der uns zu einem besseren Verständnis der Richtungsentscheidungen verhelfen kann, vor denen die Christdemokratie künftig steht:

Weder die katholische Hierarchie noch die Katholikinnen und Katholiken müssen mehr mit dem modernen Verfassungsstaat versöhnt werden – das war die Leistung der klassischen Christdemokratie. Die katholische Hierarchie muss auch nicht mit den sozialen Herausforderungen der Globalisierung konfrontiert werden: Das tut schon Papst Franziskus. Konfrontiert werden muss das europäische Christentum mit der Erkenntnis, dass es vor der Entscheidung steht, «Christentum» kulturalistisch und damit exklusivistisch, oder programmatisch und damit inklusivistisch zu verstehen: Orbán oder Franziskus, das ist die Frage.

Mit anderen Worten: Das Christentum kann im Sinne reiner Identitätspolitik verstanden werden, als politischer Kampfbegriff zur Abgrenzung von anderen Kulturräumen und Religionen wie dem Islam – oder aber als breiteres normatives Wertefundament, das sich auch in eine säkulare oder interreligiös zugängliche Sprache übersetzen lässt. Und für Theologen wie Bucher und Politiker wie Geißler ist nur die zweite Auffassung auch wirklich christdemokratisch. Damit sprechen sie dem Verkünder einer «Renaissance der Christdemokratie» Viktor Orbán zumindest indirekt die Glaubwürdigkeit als Fackelträger einer stolzen europäischen Parteienfamilie ab.

Doch sosehr man mit solchen Stellungnahmen aus politischer Sicht sympathisieren mag – und so wichtig es ist, zwischen dem Christentum als identitätspolitischer Chiffre und dem Christentum als breiterem Wertefundament zu unterscheiden –, erscheint es äußerst fraglich, ob sich der Markenkern der Christdemokratie überhaupt so klar bestimmen lässt. Appelle an den «nüchternen christlichen Realismus», aus dem die Christdemokratie angeblich hervorgegangen sei, unterschlagen das Ausmaß der Umstrittenheit, wann, wo und mit welcher ideologischen Prägung die Christdemokratie eigentlich ihren Anfang nahm. Jede Kritik an der Instrumentalisierung des Christentums im Sinne exklusivistischer (rechter) Identitätspolitik muss zumindest einräumen, dass zahlreiche unbestritten christdemokratische Parteien immer wieder (auch erfolgreich) auf Identitätspolitik gesetzt haben. Ja, die scheinbar über alle Zweifel erhabene Nachkriegschristdemokratie setzte eindeutig identitätspolitische Akzente: Bei der Bundestagswahl 1949, am Ausgangspunkt des «christdemokratischen Moments» in Europa, prangte auf den Wahlplakaten der CDU der Slogan «Rettet die abendländische Kultur» – ein Spruch, der inzwischen zum rhetorischen Repertoire des nationalkonservativen Milieus gehört.

Der von Viktor Orbán und seinem Umfeld so vehement vertretene Antiliberalismus hat innerhalb der christdemokratischen Theorie und Praxis tatsächlich eine große Rolle gespielt. Noch in den späten 1950er Jahren war eine scharfe Abgrenzung zu den Traditionen des liberalen Denkens ein zentraler Aspekt der politischen Selbstbeschreibung deutscher Christdemokraten: «Der Liberalismus galt als unvereinbar mit den Grundsätzen, auf denen die Unionsparteien ruhten.»[20] Zudem wäre die enge Zusammenarbeit mit nationalkonservativen Parteien und Politikern, mit der Orbán liebäugelt,[21] wohl kaum ein schockierender Tabubruch innerhalb der christdemokratischen Parteienfamilie. Schon der «Kommunistenfresser» Franz Josef Strauß arbeitete in den 1970er Jahren eng mit antidemokratischen und sogar neofaschistischen Parteien in Spanien, Portugal und Italien zusammen.

Dieser Perspektive könnte man entgegenhalten, die Christdemokratie habe sich weiterentwickelt und ihren antiliberalen und antidemokratischen Tendenzen abgeschworen. Schließlich haben alle wichtigen christdemokratischen Parteien den liberalen Verfassungsstaat nach dem Zweiten Weltkrieg anerkannt. Ebenso könnte man heute auf die vielen gemäßigten (vor allem nordeuropäischen) Parteien verweisen, die sich als Mitglieder der Europäischen Volkspartei anscheinend zur Christdemokratie bekennen und vehement für einen Ausschluss von Viktor Orbáns illiberaler Fidesz-Partei eintraten. Wie ich in diesem Buch darlegen möchte, lässt sich jedoch aus keinem dieser Umstände eine lineare Entwicklung der Christdemokratie ableiten. Zwar wurden christdemokratische Parteien in der Vergangenheit insgesamt demokratischer. Aber die Geschichte ihrer autoritären Versuchung setzt sich bis heute fort.

Eine andere Geschichte der Christdemokratie

Die konfliktreiche Lage der gegenwärtigen europäischen Christdemokraten soll im Folgenden zum Anlass genommen werden, sie aus historischer Sicht als breiteres politisches Projekt in den Blick zu nehmen. Statt eine bestimmte Strömung innerhalb der Christdemokratie zu verteidigen oder zu kritisieren, soll also zunächst einmal erörtert werden, was die Christdemokratie eigentlich ist, oder besser: was sie alles sein kann.

nichtEVP