Zum Buch
Die Forstwissenschaftlerin Suzanne Simard nimmt uns mit in ihre Welt, ins Zentrum des Waldes, und zeigt, dass Bäume viel mehr sind als bloße Rohstofflieferanten: lebendige Wesen mit hoch spezialisierten Aufgaben, die soziale Strukturen bilden und über ein Geflecht aus unterirdischen Netzwerken miteinander kommunizieren. Sie lernen, passen ihr Verhalten an die Bedingungen ihrer Umwelt an, erkennen Nachbarn, haben Erinnerungen und sogar einen Sinn für Zukunft. Sie konkurrieren miteinander und unterstützen sich gegenseitig auf erstaunlich hoch entwickelte Weise – Eigenschaften, die normalerweise menschlichen Gesellschaften zugeschrieben werden. Im Zentrum von Simards Forschungen stehen die »Mutterbäume«: alte, mächtige und geheimnisvolle Bäume, welche die anderen um sie herum versorgen, verbinden und beschützen.
Während sie ihre wissenschaftliche Suche nachzeichnet, die zu ihrer bahnbrechenden Entdeckung des »Wood Wide Web« führte, erzählt Suzanne Simard auch von ihrer eigenen Reise. Von ihrer Kindheit in den Wäldern von British Columbia, von Liebe und Verlust, von Beobachtung und Veränderung und von der zutiefst menschlichen Eigenschaft, verstehen zu wollen, wer wir wirklich sind und welchen Platz wir in der Welt einnehmen. So verstehen wir letztlich nicht nur, was eine der spannendsten Wissenschaftlerinnen der Gegenwart antreibt, sondern auch, dass uns mehr mit den Wäldern dieser Welt verbindet, als wir denken. Denn um zu überleben, sind wir aufeinander angewiesen.
Zur Autorin
Suzanne Simard, Jahrgang 1960, stammt aus einer Familie von Waldarbeitern an der Westküste Kanadas. Sie ist Professorin für Forstökologie an der University of British Columbia und gilt als weltweit führende Expertin auf dem Gebiet nicht menschlicher Kommunikation und Intelligenz. Sie inspirierte mit ihren Arbeiten zum »Wood Wide Web« zahlreiche Künstlerinnen und Künstler, darunter auch den Regisseur James Cameron zum »Tree of Souls« in seinem Film »Avatar«. Ihre TED-Talks sind legendär und wurden inzwischen über zehn Millionen Mal angesehen.
SUZANNE SIMARD
DIE WEISHEIT
DER WÄLDER
Auf der Suche nach dem Mutterbaum
Aus dem Amerikanischen
von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié
Die englischsprachige Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel
»Finding the Mother Tree. Uncovering the Wisdom and Intelligence of the Forest« im Verlag Alfred A. Knopf., New York.
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Deutsche Erstausgabe Mai 2022
Copyright © 2021 by Suzanne Simard
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by btb Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: semper smile, München, nach einem Entwurf von Kelly Blair
Covermotiv: © Paul Colangelo / National Geographic Image Collection
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-24277-0
V001
www.btb-verlag.de
www.facebook.com/btbverlag
Für meine Töchter
Hannah und Nava
Der Mensch ist Teil der Natur,
und sein Krieg gegen die Natur
ist zwangsläufig ein Krieg gegen sich selbst.
– Rachel Carson (1907–1964)
Einige Anmerkungen der Autorin
Einleitung: Verbindungen
1 Waldgespenster
2 Handarbeit
3 Durstig
4 Auf die Bäume!
5 Tödlicher Boden
6 Erlendickicht
7 Kneipenstreiterei
8 Radioaktiv
11 Miss Birch
12 Neun Stunden am Steuer
13 Bohrende Fragen
14 Geburtstage
15 Den Stab weitergeben
Epilog: Das Mutterbaum-Projekt
Dank
Ausgewählte Quellen
Sach- und Personenregister
Bildnachweis
Bildteil
Ich benutze den Plural »Mykorrhizen«, weil er mir leichter von der Zunge geht und auch meinen Leserinnen und Lesern vielleicht besser im Gedächtnis bleibt und einfacher auszusprechen ist. Aber man findet oft auch die altgriechische Form »Mykorrhizae«. Beides ist grammatisch korrekt.
Was Artenbezeichnungen angeht, so habe ich durchweg eine Mischung aus lateinischen und Trivialnamen verwendet. Bei Bäumen und Pflanzen benutze ich in der Regel den Trivialnamen auf Speziesebene, aber bei Pilzen generell nur die Gattungsbezeichnung.
Zum Schutz ihrer Identität habe ich die Namen einiger Personen geändert.
Verbindungen
Ich stamme aus einer Familie von Holzfällern. Seit Generationen schlagen wir Bäume im Wald und verdienen uns mit diesem bescheidenen Gewerbe unseren Lebensunterhalt.
Das ist die Tradition, in der ich stehe.
Auch ich habe so manchen Baum gefällt.
Doch nichts lebt auf unserem Planeten ohne Tod und Zerfall. Darin liegt der Ursprung neuen Lebens, und wie jede Geburt führt auch sie wieder zum Tod. Diese Spirale des Lebens hat mich darauf gebracht, selbst Samen auszusäen, Bäumchen zu pflanzen und Setzlinge zu hegen, ein Teil des Kreislaufs zu werden. Der Wald seinerseits ist Teil viel größerer Zyklen, der Entstehung des Erdreichs, der Wanderung von Arten und der Umwälzung der Ozeane. Er schenkt uns reine Luft und sauberes Wasser und gutes Essen. Das Geben und Nehmen der Natur – der stillschweigende Austausch und das Streben nach Gleichgewicht – folgt einer weisen Notwendigkeit.
Die Natur ist unglaublich freigiebig.
Meine Suche nach Antworten auf die Frage, wie Wälder funktionieren, in welcher Verbindung sie zu Erde, Feuer und Wasser stehen, hat mich zur Wissenschaft gebracht. Ich habe den Wald beobachtet und ihm zugehört. Ich habe mich von meiner Neugier leiten lassen, den Erzählungen meiner Familie und anderer Menschen gelauscht, und ich habe von den Gelehrten gelernt. Schritt für Schritt – Rätsel um Rätsel – habe ich alles darangesetzt, wie ein Detektiv herauszufinden, was nötig ist, um die natürliche Welt zu heilen.
Ich hatte das Glück, eine der ersten einer neuen Generation von Frauen in der Holzwirtschaft zu sein, doch was ich dort vorfand, war nicht das, was ich in meiner Kindheit gelernt hatte. Stattdessen stieß ich auf weite Landstriche, in denen der Wald kahlgeschlagen war, Böden, die, ihrer natürlichen Komplexität beraubt, gnadenlos den Elementen preisgegeben waren, Gemeinschaften ohne alte Bäume, in denen die jungen schutzlos und verletzlich zurückblieben, und eine Industrie, deren Praktiken mir erschreckend, ja unglaublich verfehlt vorkamen. Die Industrie hatte jenen Teilen des Ökosystems den Krieg erklärt – den Blattpflanzen und Laubbäumen, den Waldbewohnern, die nagten und horteten und Unterschlupf suchten –, die sie als Schmarotzer und Konkurrenten beim Wachstum ihrer Wirtschaftswälder ansah, die aber, wie ich bald herausfand, dringend notwendig waren, wenn wir die Erde heilen wollten. Der gesamte Wald – Mittelpunkt meines Daseins und meines ganzen Weltbilds – litt unter dieser Zerstörung, und deswegen litt alles andere auch.
Ich unternahm meine ersten wissenschaftlichen Gehversuche, wollte herausfinden, an welcher Stelle wir schreckliche Fehler begangen hatten, und das Geheimnis lüften, wie das Land es schaffte, sich selbst zu heilen, wenn man es nur einfach in Ruhe ließ – so wie ich es noch erlebt hatte, als die Älteren meiner Familie noch pfleglicher mit dem Wald umgegangen waren. Dabei entwickelten sich meine Arbeit und mein persönliches Leben auf erstaunliche, ja geradezu unheimliche Weise parallel. Beide Bereiche waren so eng miteinander verflochten wie die Elemente des Ökosystems, das ich untersuchte.
Schon bald enthüllten die Bäume mir verblüffende Geheimnisse. Ich erkannte, dass sie Teil eines Netzwerks gegenseitiger Abhängigkeit waren, verbunden durch ein System unterirdischer Kanäle, über die sie sich verständigen, sich austauschen und Beziehungen miteinander eingehen – und das mit einer uralten Raffinesse, mit etwas, das man nur Weisheit nennen kann. Ich unternahm Hunderte von Experimenten, jede Entdeckung führte mich zur nächsten. Auf dieser Forschungsreise fand ich heraus, wie Bäume miteinander kommunizieren und wie der Wald durch die Wechselbeziehungen der Bäume zu einem echten Gemeinwesen wird. Anfangs waren diese Erkenntnisse hochumstritten, doch mittlerweile sind sie wissenschaftlich anerkannt, vielfach überprüft und publiziert. Das Ganze ist kein Märchen, keine Schnapsidee, kein Einhornzauber und auch keine Erfindung von Hollywood.
Diese Entdeckungen stellen viele der gegenwärtigen forstwirtschaftlichen Praktiken infrage, die das Überleben unserer Wälder gefährden und sie noch weiter belasten, gerade in einer Zeit, in der die Natur ohnehin alle Mühe hat, sich an eine immer wärmere Welt anzupassen.
Am Anfang meiner Erkundungen stand eine tiefe Besorgnis um die Zukunft unserer Wälder, die bald zu einer intensiven Neugier heranwuchs. Ein Indiz führte zum anderen, und ich sah bald, dass der Wald weit mehr war als nur eine Ansammlung von Bäumen.
Bei dieser Suche nach der Wahrheit haben die Bäume mir gezeigt, wie aufmerksam und einfühlsam sie sind, wie sie miteinander um- und aufeinander eingehen. Was als Tradition begann und dann das Zuhause meiner Kindheit war, ein Ort der Geborgenheit und der Abenteuer im Westen von Kanada, ist zu einem tieferen Verständnis der Intelligenz des Waldes geworden, und das wiederum ließ mich fragen, wie wir unsere Achtung vor solcher Weisheit wiedererlangen können – eine Heilung für unser krank gewordenes Verhältnis zur Natur.
Einen ersten Schlüssel fand ich, als ich mich näher mit den Botschaften beschäftigte, die die Bäume einander durch ein geheimnisvolles unterirdisches Netzwerk aus Pilzen senden. Als ich den verborgenen Pfaden ihrer Unterhaltungen folgte, sah ich, dass dieses Netzwerk sich über den gesamten Waldboden erstreckt, dass es sämtliche Bäume in einem System verbindet, bei dem die Bäume die Knotenpunkte sind und das Geflecht der Pilze die Leitungen. Ich hielt den Atem an, als eine grobe Skizze mir vor Augen führte, dass von den größten, ältesten Bäumen Pilzverbindungen bis hin zu den kleinsten Sämlingen bestehen, die gerade erst beginnen, den Wald zu verjüngen. Und nicht nur das, sie stehen in Verbindung mit all ihren Nachbarn, jung und alt, sie sind die Schaltstellen in einem System von Synapsen, von Verbindungen und Knoten. Ich werde Sie auf den folgenden Seiten mit auf diese Reise nehmen, an deren Ende die Entdeckung des Unglaublichsten an diesem ganzen Muster stand – dass es nämlich Ähnlichkeit mit unserem eigenen menschlichen Gehirn aufweist. In diesem Hirn des Waldes nehmen Alt und Jung einander wahr, sie reden miteinander, sie antworten einander mit Hilfe chemischer Signale. Stoffe, die identisch mit unseren eigenen Neurotransmittern sind. Signale, geschaffen von Ionen, die durch die Membranen der Pilze sickern.
Die älteren Bäume wissen, welche unter den Stämmchen Verwandte sind.
Die alten Bäume hegen die Kleinen, sie geben ihnen zu essen und zu trinken, genau wie wir es mit unseren Kindern tun. Das ist Grund genug innezuhalten, tief durchzuatmen, nachzudenken über den Wald als gesellschaftliches Wesen und darüber, welch entscheidende Rolle er damit für die Evolution spielt. Das Pilznetzwerk macht diese Bäume fit fürs Leben. Und mehr noch. Diese alten Bäume sind wie Mütter zu ihren Kindern.
Mutterbäume.
Wenn Mutterbäume sterben – die majestätischen Mittelpunkte der Kommunikation, der Verteidigung, des Gefühlslebens eines Waldes –, geben sie ihr Wissen an ihre Nachkommen weiter, Generation um Generation, sie sagen den anderen, was nützlich und was schädlich ist, wer Freund ist und wer Feind, wie sie in einer veränderlichen Welt überleben können. Sie tun, was alle Eltern tun.
Wie ist es möglich, dass sie Warnsignale, Bestätigungen und Anweisungen quasi in Echtzeit übermitteln können? Wie helfen sie einander, wenn sie in Bedrängnis oder krank sind? Wieso zeigen sie menschliche Verhaltensweisen, und wieso funktionieren sie wie menschliche Solidargemeinschaften?
Die lebenslange Detektivarbeit hat meine Wahrnehmung der Wälder völlig auf den Kopf gestellt. Mit jeder neuen Entdeckung fühle ich mich dem Wald enger verbunden. Meine Forschungen und die anderer Wissenschaftler haben es eindeutig und unleugbar ans Licht gebracht: Der Wald besitzt Weisheit, Empfindungsfähigkeit und Heilkraft.
In diesem Buch geht es nicht darum, wie wir die Bäume retten können.
In diesem Buch geht es darum, wie die Bäume uns retten können.
Waldgespenster
Ich war allein unterwegs in Grizzlyland, bibbernd vor Kälte an einem verschneiten Junitag. Zwanzig Jahre alt, von nichts eine Ahnung, hatte ich einen Ferienjob bei einer Holzfirma in den zerklüfteten Bergen der Lillooet Range im Westen von Kanada ergattert.
Der Wald war düster und totenstill. Und, wie mir schien, voller Gespenster. Eins davon schwebte geradewegs auf mich zu. Ich öffnete den Mund zu einem Schrei, doch kein Laut kam heraus. Das Herz schlug mir bis zum Hals, verzweifelt versuchte ich, meinen Verstand in Gang zu bringen – und dann lachte ich laut.
Das Gespenst war bloß ein dicker Nebelschwaden, der sich durch den Wald wälzte und die Baumstämme mit seinen Tentakeln umschlang. Keine übernatürlichen Erscheinungen, nur ein ganz gewöhnlicher Wirtschaftsforst. Die Bäume waren einfach nur Bäume. Und doch hatte ich schon immer das Gefühl, dass es in den kanadischen Wäldern spukt, dass dort ganz besonders die Geister meiner Vorfahren umgehen, der Menschen, die das Land verteidigt oder erobert hatten, die gekommen waren, um zu fällen, zu roden, neu anzupflanzen.
Anscheinend kennt der Wald kein Vergessen.
Auch wenn wir uns noch so sehr wünschen, dass er unsere Übergriffe aus seinem Gedächtnis löscht.
Es war schon recht spät am Nachmittag. Ein feiner Sprühregen waberte durch die Gruppen von Felsentannen und überzog sie mit einem schimmernden Film. Wassertröpfchen, in denen sich das Licht brach, bargen ganze Welten. An den Zweigen prangten smaragdfarbene frische Triebe über einem dichten Vlies aus jadegrünen Nadeln. Was für ein Wunder, mit welcher Beharrlichkeit die Knospen jedes Frühjahr zu neuem Leben schwellen und die länger werdenden Tage mit ihrem Überschwang begrüßen, ganz gleich wie hart der Winter war. Knospen programmiert, ihre ersten zarten Blätter genau zu dem Zeitpunkt zu entfalten, den die Erfahrung früherer Sommer sie gelehrt hat. Ich berührte einige der fedrigen Nadeln, freute mich, wie weich sie sich anfühlten. Ihre Stomata – die winzigen Öffnungen, die Kohlendioxid aufnehmen, um daraus in Verbindung mit Wasser Zucker und reinen Sauerstoff zu erzeugen – strömten die frische Luft aus, und ich sog sie tief in mich ein.
Zwischen diese riesenhaften, geschäftigen Älteren schmiegten sich die Jungbäume, Teenager, und an sie gedrückt die noch jüngeren Sämlinge, allesamt aneinandergekuschelt wie die Mitglieder einer Familie, wenn ihnen kalt ist. Die verwitterten alten Tannen reckten ihre Spitzen in den Himmel, ein Schutzdach für die jüngeren. Genau wie meine Mutter und mein Vater, meine Großmütter und Großväter mich beschützten. Und ich hatte ja weiß Gott auch genauso viel Schutz gebraucht wie ein Sämling; immer hatte ich mich in Schwierigkeiten gebracht. Mit zwölf war ich einmal auf einem Ast eines Uferbaums bis über den Shuswap River geklettert und wollte sehen, wie weit ich kam. Beim Versuch zurückzuklettern rutschte ich ab und fiel ins reißende Wasser. Grampa Henry sprang in sein selbstgezimmertes Boot und konnte mich gerade noch am Kragen packen, sonst wäre ich in den Stromschnellen verschwunden.
Der Schnee lag hier oben in den Bergen tiefer als ein Grab, neun Monate im Jahr. Die Bäume waren mir haushoch überlegen, denn sie hatten ihre Gene den Extremen des Kontinentalklimas angepasst, das mich mit Haut und Haaren zu verschlingen drohte. Ich tätschelte an einem der alten einen Ast, wollte ihm sagen, wie dankbar ich ihm dafür war, dass er die verletzlichen Nachkommen unter seine Fittiche nahm, und steckte einen gefallenen Zapfen in eine Astgabel.
Ich zog mir die Mütze über die Ohren, dann verließ ich die Forststraße und stapfte durch den Schnee tiefer in den Wald hinein. Obwohl nur noch wenige Stunden bis zum Einbruch der Dunkelheit blieben, verweilte ich bei einem Stamm, der ein Opfer der Sägen geworden war, welche den Weg zuvor gebahnt hatten. Das bleiche, runde Gesicht seiner Schnittfläche zeigte Jahresringe so fein wie Wimpern. Das blonde Frühholz, die Frühlingszellen prallvoll mit Wasser, waren abgesetzt mit den dunkelbraunen Ringen des Spätholzes, entstanden im August, wenn die Sonne hoch am Himmel steht und die Trockenheit kommt. Ich zählte die Ringe, markierte jede Dekade mit dem Bleistift – der Baum war zwei Jahrhunderte alt. Mehr als das Doppelte der Zeit, die meine Familie bisher in diesen Wäldern lebte. Wie hatten die Bäume den zyklischen Wechsel von Wachstum und Winterruhe gemeistert, wie war das im Vergleich mit den Freuden und Entbehrungen, die meine Familie in einem Bruchteil dieser Zeit erlebt hatte? Manche Ringe waren breiter, sie waren in Regenjahren mächtig gewachsen, vielleicht auch in Sonnenjahren, nachdem ein Nachbarbaum gestürzt war, andere waren so schmal, dass man sie kaum erkennen konnte, sie waren langsam gewachsen während einer Trockenzeit, in einem kalten Sommer oder unter anderer Belastung. Diese Bäume trotzten Klimakapriolen, mörderischen Konkurrenzkämpfen und verheerenden Feuern, Insektenangriffen und Stürmen – Bedrohungen, die so etwas wie Kolonialismus, Weltkriege und das runde Dutzend Premierminister, die meine Familie erlebt hatte, bedeutungslos erscheinen ließen. Sie waren die Vorfahren meiner Vorfahren.
Ein keckerndes Eichhörnchen flitzte den Stamm entlang und versuchte, mich von seinem Beuteversteck an der Basis des Baumstumpfs zu verscheuchen. Ich war die erste Frau, die für die Holzfirma arbeitete. Für einen Betrieb in einem rauen, gefährlichen Gewerbe, das gerade erst begonnen hatte, seine Türen für die eine oder andere Studentin zu öffnen. An meinem ersten Arbeitstag wenige Wochen zuvor hatte ich mit meinem Vorgesetzten Ted einen Kahlschlag inspiziert – ein dreißig Hektar großes Areal, auf dem sämtliche Bäume gefällt worden waren und wo wir uns nun vergewissern wollten, dass die neuen Setzlinge gemäß den amtlichen Vorgaben gepflanzt worden waren. Ted hatte sehr klare Vorstellungen davon, wie man ein Bäumchen pflanzt und wie nicht, und mit seiner sanften Art spornte er selbst die erschöpftesten Arbeiter noch an. Mir war es peinlich, dass ich den Unterschied zwischen einer J-förmig abgeknickten und einer angemessen tief eingepflanzten Wurzel überhaupt nicht sah, aber Ted hatte mir geduldig alles erklärt, und ich hatte aufmerksam zugesehen und zugehört. Schon bald vertrauten sie mir die Aufgabe an, bestehende Schonungen zu kontrollieren – Neuanpflanzungen als Ersatz für gefällte Bäume. Ich hatte nicht vor, mich zu blamieren.
Camping am Shuswap Lake bei Sicamous, British Columbia, 1966. Von links nach rechts: Kelly, drei Jahre alt; Robyn, sieben; dann Mum, Ellen June, neunundzwanzig; ich bin fünf. Bei der Fahrt dorthin mit unserem 1962er Ford Meteor waren wir auf dem Trans-Canada Highway nur knapp einem Erdrutsch entgangen; Steinbrocken kamen die steile Bergflanke heruntergepoltert, durchschlugen das Autofenster und landeten bei Mum im Schoß.
© Peter Simard
Die Schonung, zu der ich heute unterwegs war, lag auf der anderen Seite dieses alten Waldes. Dort hatte die Firma eine große Parzelle mit samtigen alten Felsentannen abgeholzt und im letzten Frühjahr Stechfichtensetzlinge gepflanzt. Deren Wachstumsfortschritt sollte ich nun überprüfen. Die Forststraße zu dem Kahlschlag hatte ich nicht nehmen können, weil sie zu stark ausgewaschen war – ein Segen, denn das hatte mir den Umweg vorbei an diesen nebelverhangenen Schönheiten beschert. Doch dann ließ mich ein großer Haufen frischer Grizzlykot innehalten.
Die Bäume waren noch immer in Nebelschwaden gehüllt, und ich hätte schwören können, dass sich in der Ferne etwas bewegte. Ich sah genauer hin. Es waren die blassgrünen Strähnen einer Flechte, die wegen der Art, wie sie von den Ästen herabhängt, Baumbart genannt wird. Alte Flechten, die besonders auf alten Bäumen wachsen. Ich gab Laut mit meiner Drucklufthupe, um das Gespenst der Bären zu vertreiben. Die Angst vor ihnen hatte ich von meiner Mutter geerbt, die als Kind nur knapp einem Bären entronnen war, der sie auf der Veranda bedroht hatte; ihr Großvater, mein Uropa Charles Ferguson, hatte ihn kurz darauf mit einem beherzten Schuss erlegt. Uropa Charles lebte um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert als Pionier in Edgewood, einer vorgeschobenen Siedlung im Inonoaklin Valley an den Arrow Lakes, im Columbia-Becken von British Columbia. Mit Äxten und Pferden rodeten er und seine Frau Ellen das Land der Sinixt-Indianer, auf dem sie sich niedergelassen hatten und wo sie Heuwiesen anlegten und Vieh züchteten. Charles hatte einen Ruf als Bärentöter, und er schoss Wölfe, wenn sie sich an seinen Hühnern vergriffen. Er und Ellen zogen drei Kinder groß: Ivis, Gerald und meine Großmutter Winnie.
Gemäßigter Regenwald, typisch für die Gegend in British Columbia, in der Mum und Dad aufwuchsen
© Sterling Lorence
Ich kletterte über moos- und pilzüberwucherte Baumstämme, atmete tief das Aroma der immergrünen Natur. Über einen der Stämme zogen sich wie ein Rinnsal die winzig kleinen Helmlinge, folgten in ihrem Lauf über die gesamte Länge den Rissen der Rinde, bis ihre Bahn sich schließlich verzweigte und einen Fächer entlang der Baumwurzeln bildete, bis hin zu den verrotteten dürren Enden. Mich beschäftigte schon lange die Frage, was Wurzeln und Pilze mit dem Wohlergehen des Waldes zu tun hatten – mit dem Gleichgewicht der großen und kleinen Dinge, auch derer, die im Verborgenen wirkten und leicht zu übersehen waren. Baumwurzeln faszinierten mich seit Kinderzeiten; damals hatte ich die unbändige Kraft der Pappeln und Weiden bestaunt, die meine Eltern hinter dem Haus gepflanzt hatten und deren massive Wurzeln sogar in den Keller unseres Hauses eindrangen, die Hundehütte umwarfen und unseren Gehweg aufwölbten. Mum und Dad zerbrachen sich den Kopf darüber, wie sie diesen Schwierigkeiten begegnen sollten, unabsichtlich heraufbeschworen, als sie unser kleines Grundstück mit den Bäumen ihrer Kindheit umsäumen wollten. Jedes Frühjahr hatte ich ehrfürchtig zugesehen, wie sich aus flauschigen Samen eine Vielzahl von Keimlingen entwickelte, inmitten der Pilzringe rund um den Fuß der Baumstämme; und mit elf Jahren hatte ich zu meinem Entsetzen miterlebt, wie die Stadt direkt neben unserem Haus ein Kanalrohr verlegte, aus dem schäumende Abwässer in den Fluss liefen und die Uferpappeln absterben ließen. Zuerst wurden die Spitzen der Kronen schütter, dann bildeten sich schwarze Krebsgeschwüre an den furchigen Stämmen, und im Frühjahr darauf waren die wunderbaren Bäume tot. Nichts keimte mehr, wo die gelbe Brühe floss. Ich schrieb einen Brief an den Bürgermeister und bekam nie eine Antwort.
Ich pflückte einen der winzigen Pilze. Die Schirme der Helmlinge, wie Zwergenmützen, waren dunkelbraun an der Spitze, nach außen hin verblassten sie zu einem durchscheinenden Gelb, das die Lamellen der Unterseite zeigte und den dünnen Stiel. Die Stiele wurzelten in den Furchen der Baumrinde und trugen damit zum Zerfall des Baumstamms bei. Die Pilze wirkten so zart und zerbrechlich, kaum vorstellbar, dass sie in der Lage sein sollten, ganze Bäume aufzulösen. Aber ich wusste, dass sie das konnten. Die abgestorbenen Pappeln am Bachufer meiner Kindheit waren umgestürzt, und Pilze waren auf ihrer dünnen, immer rissigeren Haut aufgetaucht. Binnen weniger Jahre waren die schwammartigen Strukturen des morschen Holzes vollständig im Boden verschwunden. Diese Pilze hatten eine Methode entwickelt, Holz durch von ihnen ausgeschiedene Säuren und Enzyme zu zersetzen und die Energie und Nährstoffe des Holzes mit ihren Zellen aufzunehmen. Ich sprang von dem Stamm, landete mit den Spikes meiner Forststiefel im Mulm und musste mich an den Tannenschösslingen wieder die Böschung hinaufhangeln. Diese Schösslinge hatten einen Flecken gefunden, an dem sie vom Licht der Sonne und der Feuchtigkeit des schmelzenden Schnees gleichermaßen profitierten.
Der »Pfannkuchenpilz«, ein Röhrling (Suillus brevipes)
© Jans Wieting
Ein Schmierröhrling – eng an ein Stämmchen gelehnt, das vor ein paar Jahren hier Fuß gefasst hatte – trug einen runzligen braunen Pfannkuchenhut über einem gelblich porösem Unterbau; der fleischige Stiel reichte noch ein Stückchen in die Erde hinein. In einem Regenschauer war dieser Pilz aufgegangen, das Produkt eines dichten Myzelgeflechts, das sich im Waldboden über weite Strecken hinzog und auffächerte. Wie eine Erdbeerpflanze, die an ihrem großen, weitverzweigten System von Wurzeln und Ausläufern ihre Früchte trägt. Mit einem Energiestoß aus den unterirdischen Fäden hat sich die Pilzkappe aufgespannt wie ein Regenschirm, und Spuren des spitzenfeinen Velums hafteten noch auf halber Höhe an dem braun gefleckten Stiel. Ich pflückte den Pilz, diese Frucht des eigentlichen Pilzwesens, das hauptsächlich im Untergrund lebt. Die Unterseite des Huts war wie das Zifferblatt einer Sonnenuhr, ein Speichenrad aus radialen Poren. Jede der ovalen Öffnungen darin barg winzig kleine Stiele, gespannt, um die Sporen herauszuschießen wie die Funken eines Feuerwerkskörpers. Sporen sind die »Samen« der Pilze, voller DNS, die sich kombiniert, neu kombiniert und mutiert, um neuartiges, an Veränderungen der Umweltbedingungen angepasstes genetisches Material zu produzieren. Rund um das helle Loch, das beim Pflücken zurückgeblieben war, lag ein Kranz zimtbrauner Sporen. Andere Sporen waren vermutlich schon von einem Aufwind erfasst worden, hatten sich an die Beine eines Fluginsekts geheftet, oder ein Eichhörnchen hatte sie mit seiner Mahlzeit verzehrt.
In dem winzigen Krater, in dem noch die Reste des Pilzstiels steckten, sah man feine gelbe, nach unten verlaufende Fäden, deren einzelne Stränge sich zu einem verzweigten Myzelgespinst verflochten, dem Netzwerk, das die Milliarden von organischen und mineralischen Partikeln umhüllt, aus denen das Erdreich besteht. Am Ende des Pilzstiels baumelten abgerissene Fäden, die Teil dieses Netzes gewesen waren, bevor ich sie so unsanft durchtrennt hatte. Was wir Pilz nennen, ist nur der sichtbare Teil eines großartigen, hochkomplexen Gebildes, etwas wie ein Tuch aus kunstvoll geklöppelter Spitze, das mit dem Waldboden verwoben ist. Die verbliebenen Fäden breiteten sich fächerartig in der Streu aus – der lockeren Schicht aus abgefallenen Nadeln, Knospen und Zweigen –, um dort nach mineralischen Schätzen zu suchen, die sie durchdringen und absorbieren konnten. Ich fragte mich, ob dieser Röhrling vielleicht ebenso vom Abbau von Totholz lebte wie der Helmling, oder ob ihm eine andere Rolle zukam. Ich steckte ihn jedenfalls zu dem Helmling in meine Tasche.
Der Kahlschlag, auf dem neu angepflanzte Bäumchen die abgeholzten Bestände ersetzen sollten, war immer noch nicht in Sicht. Dunkle Wolken brauten sich zusammen, und ich zog meine gelbe Regenjacke aus der Seitentasche meiner Outdoorweste. Auf meinen Streifzügen in unwegsamem Gelände hatte sie ziemlich gelitten und war nicht mehr so wasserdicht, wie sie es hätte sein sollen. Mit jedem Schritt, den ich mich weiter von dem Lastwagen entfernte, spürte ich eine wachsende Bedrohung, eine düstere Vorahnung, dass ich nicht vor Einbruch der Dunkelheit wieder auf der Straße sein würde. Aber von schwierigen Situationen ließ ich mich nicht unterkriegen; darin kam ich ganz nach meiner Großmutter, »Grannie Winnie«, die noch nicht einmal zwanzig gewesen war, als sie ihre Mutter Ellen verlor, ein Opfer der Grippe Anfang der 1930er Jahre. Als die Nachbarn endlich durch das vereiste Tal und brusthohen Schnee zu der eingeschneiten Familie vordrangen, fanden sie Ellen tot in ihrem Zimmer und die übrigen Fergusons so krank, dass sie nicht mehr die Kraft zum Aufstehen hatten.
Als ich plötzlich mit dem Stiefel abrutschte, klammerte ich mich im Fallen an einen jungen Baum, der sich unter meiner Hand aus dem Boden löste. Auf dem Weg hangabwärts drückte ich noch weitere Bäumchen um, bevor ich an einem durchweichten Stamm zum Stillstand kam, in der Hand immer noch einen wirren Polypen aus Wurzeln. Bei dem jungen Baum handelte es sich offenbar um einen Teenager, wie man an den seitlichen Astkränzen erkennen konnte, die jeweils ein Jahr markierten, insgesamt etwa fünfzehn. Eine Regenwolke öffnete in diesem Moment ihre Schleusen und durchweichte mir in wenigen Sekunden die Jeans. Wassertropfen perlten über den Stoff meiner abgeschabten Öljacke.
In diesem Job konnte man sich keine Schwäche leisten, und ich hatte mir schon früh, so weit meine Erinnerung überhaupt zurückreichte, eine raue Schale zugelegt, um in einer männlich dominierten Welt bestehen zu können. Ich wollte so gut sein wie mein jüngerer Bruder Kelly und seine Kumpane mit den québecfranzösischen Namen Leblanc, Gagnon und Tremblay, also spielte ich bei minus zwanzig Grad auf der Straße Eishockey mit den Jungs aus der Nachbarschaft. Ich stand im Tor, die unbeliebteste Position von allen. Sie zielten gnadenlos auf meine Knie, aber ich verbarg die blauen Flecken unter den Hosenbeinen. Genau wie Grannie Winnie die Ohren steifgehalten hatte und schon bald nach dem Tod ihrer Mutter wieder zu Pferd durch das Inonoaklin Valley geprescht war, wo sie den Farmern Post und Mehl brachte.
Ich starrte auf das Geflecht der Wurzeln in meiner Hand. An ihnen klebte glänzender Humus, der aussah wie Hühnerdreck. Als Humus bezeichnet man die speckige schwarze, durch Verrottung entstandene Schicht im Waldboden, die zwischen der frischen Streu aus abgefallenen Nadeln und absterbenden Pflanzen und der durch die Verwitterung von Felsgestein entstandenen mineralischen Bodenschicht anzutreffen ist. Humus entsteht durch den Zerfall von toten Pflanzen, Insekten und Kleintieren. Der Komposthaufen der Natur. Baumwurzeln lieben Humus, weit mehr als die Schichten darüber oder darunter, denn der Humus liefert ihnen eine Fülle von Nährstoffen.
Winnifred Beatrice Ferguson (Grannie Winnie) auf der Ferguson-Farm in Edgewood, British Columbia, ca. 1934 – damals war sie zwanzig Jahre alt, ihre Mum war kurz zuvor gestorben. Jetzt war Winn es, die die Hühner versorgte, die Kühe molk und das Heu wendete. Zu Pferd war sie ein Wirbelwind, und einmal schoss sie einen Bären vom Apfelbaum. Nur selten sprach meine Großmutter von ihrer Mutter, aber bei unserem letzten gemeinsamen Spaziergang, am Seeufer in Nakusp, rief sie mit ihren sechsundachtzig Jahren unter Tränen: »Meine Mum fehlt mir!«
© Gerald Ferguson
Was an diesen Wurzelenden auffiel, war ihr gelblicher Schimmer, wie die Lichter an einem Weihnachtsbaum, und sie mündeten in ein ebenso gefärbtes Myzelgespinst. Die Fäden dieses Myzels hatten fast dieselbe Farbe wie die, die sich von den Stielen der Röhrlinge im Erdreich ausbreiteten, und ich holte das Exemplar, das ich abgepflückt hatte, aus der Tasche. Ich hielt das Wurzelknäuel mit seiner wallenden gelben Mähne in einer Hand und den Pilz mit dem zerrissenen Myzel in der anderen. Ich musterte beide eingehend und fand, das Geflecht sah in beiden Fällen gleich aus.
Vielleicht war der Röhrling ein Freund der Wurzeln, im Unterschied zum Helmling, der tote Materie zersetzte? Intuitiv hatte ich seit jeher dem gelauscht, was lebendige Wesen mir zu sagen haben. Wir denken, ein wichtiger Hinweis müsste etwas Großes sein, aber die Welt erinnert uns gern daran, dass solche Hinweise oft winzig klein sind. Ich grub ein Stück Waldboden auf. Offenbar war er ganz von dem gelben Myzel durchdrungen. Hunderte von Meilen an Fäden, die ich da unter meinen Handflächen spürte. Und egal wo sie lebten, diese zarten Verzweigungen des Pilzgeflechts, die sogenannten Hyphen, schienen – ebenso wie die Pilze, die ihnen als Fruchtkörper wuchsen – nur ein winziger Teil des gewaltigen Myzels im Boden zu sein.
In der Reißverschlusstasche auf der Rückseite meiner Weste hatte in meine Wasserflasche, und ich spülte die Erdkrümel von den restlichen Wurzeln ab. Ich hatte noch nie eine solche Buntheit an Pilzgewebe gesehen – mit Sicherheit kein so leuchtendes Gelb, dazu Weiß und auch Rosa, jeder Faden einer bestimmten Farbe um eine einzelne Wurzelspitze geschlungen, ein Bart wie Spinnwebfäden. Wurzeln müssen weit ausgreifen und auch in entlegenen Ecken nach Nährstoffen suchen. Aber warum kamen so viele Pilzfäden nicht nur aus den Wurzelspitzen, sondern schillerten dazu auch noch bunt? Gehörte zu jeder Farbe eine eigene Pilzart? Hatte jede ihre eigene Aufgabe im Boden?
Ich war geradezu verliebt in diese Arbeit. Es begeisterte mich so, wenn ich durch diese prachtvollen Waldlichtungen streifen konnte – das war größer als all meine Furcht vor Bären oder Geistern. Ich steckte die Wurzeln des ausgerupften Bäumchens bei einem Wächterbaum wieder in die Erde, zusammen mit dem bunten Pilzgewebe daran. Die Schösslinge hatten mir die Farben, die Texturen der Unterwelt des Waldes gezeigt. Gelb und Weiß und Altrosa, Farben, die mich an die Wildrosen meiner Kindheit erinnerten. Der Boden, in dem diese Bäume Fuß gefasst hatten, war wie ein Buch, man konnte die bunten Seiten eine nach der anderen umblättern, und alle erzählten davon, wie das Leben hier draußen seine Nahrung bekam.
Als ich schließlich am Kahlschlag anlangte, kniff ich die Augen zusammen, so grell war das plötzliche Licht in dem Nieselregen. Ich wusste, was mich hier erwartete, doch trotzdem stockte mir das Herz. Jeder einzelne Baum war abgesägt worden, nur die Stümpfe standen noch. Weiße Flächen in dem Erdreich, wie Knochen. Letzte Rindenstücke lagen auf dem Boden, schon von Wind und Regen verwittert. Ich suchte mir einen Weg zwischen abgeschlagenen Gliedmaßen, ich spürte ihren Schmerz, wie sie so verloren dort lagen. Ich hob einen Ast an, um einen jungen Baum freizulegen, so wie ich als Kind Unrat von den Blumen gelesen hatte, die versuchten, unter den Abfallhaufen in den Hügeln oberhalb unseres Wohnviertels zu blühen. Ich wusste, wie wichtig solche Gesten waren. Ein paar kleine, samtige Tannen standen verwaist bei den Stümpfen ihrer Eltern und versuchten, den Verlust zu verwinden. Sie würden sich nur mühsam erholen, wenn man danach ging, wie spärlich die Triebe seit dem Abholzen gewachsen waren. Ich berührte die winzige äußerste Knospe dessen, der mir am nächsten stand.
Einige weiß blühende Rhododendren und Heidelbeersträucher waren ebenfalls der Säge entkommen. Ich war Teil der Holzindustrie, dieses Geschäfts mit dem Abholzen von Bäumen, das darin bestand, Flächen zu roden, auf denen sie frei, natürlich und gesund herangewachsen waren. Meine Kollegen planten bereits die nächsten Kahlschläge, damit der Laden weiterlief und ihre Familien zu essen hatten, und ich verstand auch ihre Beweggründe. Aber die Sägen würden erst stillstehen, wenn ganze Täler verwüstet waren.
Ich ging zu einer krummen Reihe von Setzlingen zwischen Rhododendren und Heidelbeersträuchern. Der Pflanztrupp, der die Schonung angelegt hatte, um die gefällten alten Tannen zu ersetzen, hatte Stechfichtenbäumchen gesetzt, jetzt knöchelhoch. Es mag seltsam erscheinen, dass man als Ersatz für die gefällten Felsentannen nicht neue Felsentannen gepflanzt hatte. Aber Fichtenholz gilt als wertvoller. Es ist feinporig, verrottet nicht so leicht und ist ein begehrtes, hochwertiges Material. Das Holz alter Felsentannen hingegen ist weich und von minderer Qualität.
Das Programm zur Wiederaufforstung sah auch vor, dass die Setzlinge wie in einem Garten in Reih und Glied gepflanzt wurden, damit ja kein Fleckchen Erde ungenutzt blieb. Die Begründung dafür war, dass Bäume, die in regelmäßigen Abständen wuchsen, bessere Erträge abwürfen als solche in verstreuten Gruppen. Man glaubte, indem man sämtliche Lücken füllte, könne man mehr Holz produzieren als unter natürlichen Bedingungen. Indem man jedes Fleckchen Boden nutzte, fühlte man sich berechtigt, mehr alte Bäume zu schlagen, quasi im Vorgriff auf künftige Erträge. Und alles, was in ordentlichen Reihen stand, war leichter zählbar. Dieselben Überlegungen, die Grannie Winnie angestellt hatte, als sie das Gemüse in ihrem Garten in Reihen anbaute, nur dass sie den Boden pflegte und jährlichen Fruchtwechsel betrieb.
Der erste Fichtensetzling, den ich in Augenschein nahm, lebte – aber nur gerade so eben. Seine Nadeln waren gelblich verfärbt, das Stämmchen mitleiderregend schmächtig. Wie sollte es in dieser unwirtlichen Umgebung überleben? Ich ließ den Blick über die Reihe von Setzlingen schweifen. Sämtliche neu gepflanzten Bäumchen wirkten kränklich – eins so erbärmlich wie das andere. Warum sahen sie so elend aus? Und wieso wirkten die Tannen, die in dem Altwald, durch den ich gekommen war, wild heranwuchsen, im Vergleich dazu so gesund? Ich zückte meine Kladde, wischte die Nadeln von dem wasserfesten Einband und Regentropfen von meinen Brillengläsern. Die Wiederaufforstung sollte die Wunden heilen, die wir geschlagen hatten, und unsere Bemühungen waren kläglich gescheitert. Was sollte ich als Gegenmittel verordnen? Am liebsten hätte ich der Firma vorgeschlagen, noch einmal ganz von vorn anzufangen, aber für die Kosten würde niemand aufkommen wollen. Ich wollte mir keine Abfuhr holen, und so schrieb ich: »Zufriedenstellend, aber abgestorbene Exemplare ersetzen.«
Ich hob ein Stück Rinde auf, unter dem sich ein Bäumchen duckte, und schnippte es ins Gestrüpp. In einem improvisierten Tütchen aus Notizpapier sammelte ich die vergilbten Nadeln des Setzlings. Ich war froh, dass ich einen eigenen Schreibtisch in einer Nische abseits der Kartentische und der lärmenden Büros hatte, wo Männer Geschäfte abschlossen und über Holzpreise und Rodungskosten verhandelten; wo sie entschieden, welche Teile des Waldes als nächste gefällt werden sollten; wo sie Verträge vergaben wie Auszeichnungen bei einem Sportfest. In meiner winzigen Ecke konnte ich mich in aller Ruhe den Sorgen der Schonungen widmen. Vielleicht würde ich die Symptome des Setzlings ja in einem der Nachschlagewerke finden – es gab eine Vielzahl möglicher Ursachen für eine solche Gelbfärbung.
Ich suchte nach gesunden Setzlingen, aber ohne Erfolg. Was war der Auslöser für diese Krankheit? Ohne eine eindeutige Diagnose würden die Ersatzbäumchen wahrscheinlich ebenfalls eingehen.
Ich schämte mich, dass ich das Problem unter den Teppich kehren und den einfachen Weg für die Firma wählen wollte. Die Anpflanzung war eine Katastrophe. Ted wollte sicherlich informiert werden, wenn wir die Vorgaben der Behörden zur Wiederaufforstung auf diesem Gelände nicht erfüllten, denn wenn wir scheiterten, bedeutete das finanzielle Einbußen. Ihm ging es allein darum, die Auflagen zur Wiederaufforstung mit möglichst geringen Kosten zu erfüllen, und ich wusste ja nicht einmal, was ich ihm anderes vorschlagen sollte. Ich zog also einen weiteren Fichtensetzling aus seinem Pflanzloch und fragte mich, ob die Antwort womöglich an den Wurzeln zu finden war, nicht in den Nadeln. Sie steckten tief in der krümligen Erde, wo der Boden auch im Spätsommer noch feucht war. Pflanztechnisch perfekt gemacht. Waldboden beiseitegescharrt, Pflanzloch tief in das mineralreiche Erdreich darunter gegraben. Mustergültig. Wie aus dem Bilderbuch. Ich steckte die Wurzeln wieder ins Loch und überprüfte einen weiteren Setzling. Und dann noch einen. Jeder einzelne genau richtig in einen mit dem Spaten gegrabenen Schlitz gesteckt und dann die Erde wieder so angedrückt, dass keine Luftkammern blieben; aber die Wurzeln sahen wie mumifiziert aus, als habe man sie in ein Grab gesteckt. Anscheinend hatte keine einzige dieser Wurzeln verstanden, was man von ihnen erwartete. Keine hatte neue weiße Sprossen gebildet, die im Boden auf Nahrungssuche gingen. Die Wurzeln waren dick, schwarz, sie stachen ins Nichts. Die Setzlinge warfen gelbe Nadeln ab, weil ihnen etwas fehlte. Die Wurzeln waren keine Verbindung mit dem Boden, in dem sie steckten, eingegangen, nicht die geringste.
Zufällig stand ganz in der Nähe eine gesunde kleine Felsentanne, aus einem Samenkorn gewachsen, und zum Vergleich holte ich sie mitsamt Wurzeln heraus. Anders als die gepflanzten Fichten, die sich so leicht aus dem Boden ziehen ließen wie Möhren, hatte die kleine Tanne weitverzweigte Wurzeln, sie war so fest im Waldboden verankert, dass ich sie zwischen beide Füße nehmen und mit aller Kraft zerren musste. Schließlich rissen die Verbindungen, und ich plumpste – eine kleine Rache – auf den Rücken. Die tiefsten Wurzeln waren abgerissen, sie hatten sich meinen Versuchen widersetzt, im Protest zweifellos. Ich streifte Humus und lose Erde von den abgerissenen Wurzeln, griff zur Wasserflasche und spülte die letzten Krümel ab. Manche Wurzelenden waren fein wie Nadelspitzen.
Zu meiner Verblüffung sah ich rund um die Wurzelspitzen dieselben hellgelben Pilzfäden, wie ich sie zuvor im noch intakten Wald gesehen hatte, wiederum exakt von der Farbe des Myzels, jenes Netzwerks von Hyphen am Stiel des Röhrenpilzes. Als ich in dem Loch, das die herausgerissene Tanne hinterlassen hatte, noch ein wenig scharrte, sah ich außerdem, dass die gelben Fäden in die organische Deckschicht hineinwuchsen, ein Geflecht aus Myzelfäden bis in weite Ferne.
Aber was genau waren diese verzweigten Pilzfäden nun, und wozu waren sie da? Sie konnten nützliche Hyphen sein, die sich durch den Erdboden schlängelten und Nährstoffe aufnahmen, die sie den Wurzeln im Tausch gegen Energie überließen. Möglicherweise waren sie aber auch Parasiten, die die Wurzeln befielen und aussaugten, der Grund dafür, dass empfindliche Jungpflanzen gelb wurden und abstarben. Zur richtigen Zeit kamen vielleicht die Pilzkörper aus dem unterirdischen Gespinst an die Oberfläche und verteilten ihre Sporen.
Aber vielleicht hatten diese gelben Fäden auch gar nichts mit Röhrlingen zu tun und gehörten zu einer ganz anderen Spezies. Schließlich gibt es mehr als eine Million Pilzarten auf der Erde, ungefähr sechsmal so viele wie Pflanzenarten, und nur ungefähr zehn Prozent von ihnen sind eindeutig klassifiziert. Mit meinem spärlichen Wissen hatte ich kaum eine Chance, die Art zu bestimmen, zu der diese gelben Fäden gehörten. Wenn die Fäden oder die Pilze keine Anhaltspunkte lieferten, gab es vielleicht andere Gründe, warum die Fichtensetzlinge an dieser Stelle nicht gediehen.
Ich strich das Wort Zufriedenstellend und notierte, die Aufforstung sei gescheitert. Eine völlige Neuaufforstung mit derselben Art von Setzlingen nach demselben Verfahren – einjährige Containerpflänzchen, wie sie massenweise in Baumschulen herangezogen wurden, mit Hilfe einer Schaufel gepflanzt – hörte sich nach der kostengünstigsten Lösung für die Firma an, doch das galt nicht, wenn wir es wegen der gleichen niederschmetternden Ergebnisse immer wieder neu machen mussten. Wir mussten einen anderen Weg finden, wenn hier wieder ein Wald wachsen sollte. Doch wie konnte ein solcher Weg aussehen?
Felsentannen anpflanzen? Die gab es in keiner Baumschule, und das Holz galt als nicht vermarktbar. Wir konnten Fichtensetzlinge mit mehr Wurzelwerk pflanzen. Aber die Wurzeln würden trotzdem verkümmern, wenn sie keine kräftigen neuen Spitzen trieben. Oder wir könnten sie so einpflanzen, dass sie mit dem Pilzgeflecht im Boden in Berührung kamen. Vielleicht würde dieses gelbe Gespinst meine Setzlinge gesund erhalten. Aber die Vorschrift lautete, dass die Wurzeln in die tiefer liegende, krümlig-mineralische Bodenschicht gesetzt werden sollten, nicht in die Humusschicht – weil Sand, Schluff und Lehm im Spätsommer mehr Wasser speicherten und folglich bessere Überlebensbedingungen böten –, und die Pilze wuchsen hauptsächlich im Humus. Wasser, so die gängige These, war die wichtigste Ressource, die Böden benötigten, um die Wurzeln zu versorgen, und damit wüchsen die Setzlinge an. Es gab kaum eine Chance, dass diese Taktik geändert würde und wir die Pflänzchen so einsetzen könnten, dass ihre Wurzeln mit dem gelben Pilzgeflecht in Berührung kamen.
Hätte ich doch nur jemanden gehabt, mit dem ich hier draußen im Wald hätte reden, meine immer konkreter werdende Vermutung diskutieren können, dass der Pilz womöglich ein Freund und Helfer für die Setzlinge war. Enthielt der gelbe Pilz einen geheimnisvollen Wirkstoff, den ich – wie alle anderen – bisher übersehen hatte?
Wenn ich keine Antwort fand, würde mich der Gedanke an das Massensterben auf diesem Kahlschlag, an diesen Friedhof voller Baumkadaver nie wieder loslassen. Rhododendron- und Heidelbeergestrüpp anstelle eines neuen Waldes, bald würden wir die Kontrolle verlieren, eine Schonung nach der anderen wäre dem Untergang geweiht. Das konnte ich nicht zulassen. Ich hatte gesehen, wie Wälder ohne fremdes Zutun nachgewachsen waren, als meine Familie bei uns zu Hause Bäume gefällt hatte, und wusste, dass ein Wald sich von der Holzernte erholen konnte. Vielleicht lag es daran, dass meine Großeltern stets nur eine überschaubare Anzahl von Bäumen aus einem Bestand gefällt hatten. Dass sie da Lücken geschlagen hatten, wo sich umliegende Zedern1 und Schierlingstannen und Douglasien leicht ausbreiten konnten und wo die jungen Pflänzchen leicht Zugang zum Boden fanden. Ich kniff die Augen zusammen und spähte zum Waldrand, aber er war zu weit entfernt. Diese Kahlschläge waren riesig, und vielleicht war ihr Umfang Teil des Problems. Aus gesunden Wurzeln konnten hier gewiss neue Bäume wachsen. Doch vorerst bestand meine Aufgabe darin, Anpflanzungen zu überwachen, die kaum eine Chance hatten, sich je zu etwas zu entwickeln, was an die Wälder erinnerte, die hier zuvor gestanden hatten, Stämme wie die Säulen einer Kathedrale.
In dem Augenblick hörte ich das Brummen. Nur ein paar Schritte entfernt, an einer Hecke, wo sie die blau, purpurn und schwarz schillernden Beeren geschleckt hatte, stand eine Bärin. Der silbrige Fellwulst im Nacken ließ keinen Zweifel: ein Grizzly. Ein dunkelbraunes Jungtier, winzig wie Pu der Bär, aber mit überdimensionalen Puschelohren, schmiegte sich an die Mutter, als sei es dort angeklebt. Das Bärenkind musterte mich mit seinen sanften schwarzen Augen und seiner glänzenden Nase, als wolle es mir gleich in die Arme laufen, und ich lächelte. Aber nur für einen Moment. Die Bärin brüllte, und wir blickten uns in die Augen, beide überrascht. Sie richtete sich auf die Hinterbeine auf, ich stand wie angewurzelt.
Ich war allein, am Ende der Welt, mit einem aufgeschreckten Grizzly. Ich ließ die Drucklufthupe dröhnen – aaaaaw! –, aber das reizte das Tier nur noch weiter. Was tat man in so einem Fall, sich hoch aufrichten oder lieber zusammenducken? Eins von beiden machte man bei Schwarzbären, das andere bei Grizzlys. Warum hatte ich nicht besser aufgepasst, als man mir das erklärt hatte?
Die Bärenmutter ging wieder auf alle viere, schüttelte den Kopf, wobei ihr Kinn die Blaubeerbüsche streifte. Sie stupste das Kleine an, und beide machten kehrt. Langsam ging ich zurück, die beiden Bären verschwanden im Unterholz. Die Mutter schickte das Kleine auf einen Baum, sie scharrte an der Rinde. Instinktiv beschützte sie ihr Kind.