À L.
Gant amzer en em gav taouledet
Avaloù ha pennoù kalet.
Mit der Zeit werden Äpfel und harte Köpfe weich.
Bretonisches Sprichwort
»Vorzeichen des Todes, eindeutig. Intersignes de la mort.«
Kadeg, Inspektor des Commissariat de Police de Concarneau, setzte eine dramatische Miene auf. Seine Stirn war sorgenzerfurcht.
»Die Elster fliegt schon eine ganze Zeit lang ums Haus. Ab und zu setzt sie sich aufs Dach.« Der dramatischen Miene folgte eine dramatische Pause. »Vor ein paar Wochen fing ein Hahn an, vor Mitternacht zu krähen. Schließlich hat meine Tante ein Wiesel im Garten gesehen. – Und letzte Woche ist die Elster dann auch noch gegen die Scheibe des Schlafzimmerfensters geflogen.«
Ein Vibrieren lag in Kadegs ungewöhnlich matter Stimme.
»Eindeutig«, wiederholte er, »Vorzeichen des Todes.«
»Reichen Sie mir doch mal das Baguette, Riwal«, wandte sich Kommissar Georges Dupin an seinen ersten Inspektor.
Der Kommissar hatte eine assiette de la mer bestellt, ein herrliches Essen an heißen Tagen; ein Dutzend Austern, dazu ein riesiger Krebs, langoustines, eine ansehnliche Portion kleiner und großer Meeresschnecken, bigorneaux und bulots. Und das Wichtigste: frische hausgemachte Mayonnaise. Paul, der Besitzer des Amiral, Dupins zweites Zuhause in der »Blauen Stadt« am Meer, hatte ihm sicher ein halbes Pfund davon auf den Tisch gestellt. Nussessig, behauptete Paul, sei das Geheimnis ihres sensationellen Geschmacks. Wie auch immer, Dupin war verrückt nach dieser Mayonnaise. Nach Meeresfrüchten ohnehin. Andere Völker, Barbaren allesamt, verunglimpften Mayonnaise als fettigen Bestandteil des fast food, in Frankreich hingegen verstand man sie als das, was sie war: Kunst. Schon Paul Bocuse hatte sie gefeiert, wie alle göttlichen Köche. Eine Spezialität mit Geschichte, industriell verhunzt wie wenige andere. Kreiert wurde sie 1756, im Siebenjährigen Krieg. Maréchal Richelieu höchstpersönlich nahm mit seinen Truppen Menorca ein. Als Dank erhielt er weder Medaille noch Landgüter, sondern man widmete ihm eine neu erfundene Soße, eine exquisite Köstlichkeit, die nach der letzten eingenommenen Stadt benannt wurde: Maó, spanisch Mahón, die sauce mahon-naise. Die Bretonen waren sich sicher: Der Koch war einer von ihnen gewesen, es konnte gar nicht anders sein. – Das Beste war, den Teller am Ende mit einem Stück Baguette auszuwischen, auf dem sich die Reste der Mayonnaise mit den Aromen der Meeresfrüchte vermischten. Ein marines Elixier.
»Sie sollten diese Vorzeichen unbedingt ernst nehmen, Chef.« Riwal machte keine Anstalten, Dupin den Brotkorb herüberzureichen.
Die vier Kollegen hatten es sich auf der Terrasse des Amiral gemütlich gemacht. Riwal und Kadeg an einem Tisch, Dupin und Nevou, eine der beiden Polizistinnen des Kommissariats, am Tisch daneben.
»Die Elster gilt als Todesvogel.« Riwal war spürbar unbehaglich zumute. »Es sind tatsächlich alles klassische Vorzeichen. Man kennt sie seit Tausenden Jahren. Uraltes keltisches Wissen.«
»Bekomme ich trotzdem etwas Baguette?«, versuchte Dupin erneut sein Glück.
»Commissaire, das ist kein Witz.« Nevou strafte Dupin mit einem grimmigen Blick.
Dupin seufzte laut. Er hatte sich den ganzen Morgen auf diese Dreiviertelstunde Mittagspause gefreut. Auf die Meeresfrüchte, die Mayonnaise, das Baguette, ja, auf die Zeit für sich. Ganz allein. Ohne andere Menschen. Dafür mit den obligatorischen Zeitungen, Ouest-France, Le Télégramme und Le Monde.
Entgegen allen meteorologischen Prophezeiungen war das Wetter erneut sagenhaft schön geworden, sodass sich die Kollegen Dupin spontan angeschlossen hatten, als er das Kommissariat verließ. Er hätte den Hinterausgang nehmen sollen, so wie er es nicht selten tat.
Es war der erste Oktober, doch der Sommer schien beschlossen zu haben, frohgemut weiterzumachen, so als wäre nichts. Als hätte es keinen Herbstanfang gegeben. Bereits die letzten Jahre waren September und Oktober lupenreine Sommermonate gewesen, bis Anfang November gar, dann erst war das Wetter umgeschlagen. Niemand beschwerte sich.
Der Kommissar setzte sich so aufrecht, wie es ging. Als Zeichen seiner Ernsthaftigkeit und Konzentration.
»Gut. – Und was soll das alles heißen?«
»Meine Tante ist sich sicher, dass sie bald sterben wird.«
Dupin erkannte Kadeg nicht wieder. Eigentlich war der Inspektor die Verkörperung unerträglicher Pedanterie, militärischer Zackigkeit, vor allem aber pragmatischer Nüchternheit, was ihn gleichwohl, bedauerlicherweise, nicht davon abhielt, sich gelegentlich in die eine oder andere fixe Idee zu verrennen. Normalerweise gehörten Phänomene wie »Vorzeichen des Todes« zu Riwals Interessen. Und Kadegs Rolle bestand darin, sich darüber lustig zu machen.
Seltsame Vorkommnisse, Erscheinungen des vielgestaltigen Übernatürlichen, die anderswo als außergewöhnlich angesehen werden mochten, waren in bretonischen Sphären ganz gewöhnlich. Auch für Nolwenn – offiziell Dupins Assistentin, inoffiziell »die Chefin«, wie es sich im Kommissariat irgendwann durchgesetzt hatte – war Übernatürliches eine ganz selbstverständliche Sache.
»Ich will ja nicht sagen, so ist es«, Riwal blickte Kadeg voller Mitgefühl an, »aber so ist es.«
Kadeg war kein Mann, der seine Gefühle zeigte, aber nun saß er vor ihnen wie ein Häuflein Elend.
»Wie alt ist Ihre Tante?«, wollte Nevou wissen.
»Neunundachtzig. Dabei noch ganz rüstig. Und völlig gesund. – Ihre Mutter ist achtundneunzig geworden.«
Riwal nickte: »Gesundheit spielt für den Tod keine Rolle.«
Dupin lag ein scharfer Protest auf der Zunge. Wenn sie »völlig gesund« war – warum sollte die alte Dame jetzt plötzlich sterben? In der Bretagne gab es nicht wenige Hundertjährige. Und die Gene hatte sie offenbar.
Dupin verkniff sich den Protest. Es wäre müßig. Er kannte die Geschichten von den »Vorzeichen des Todes«, sie waren zahllos. Und mitunter ganz alltäglich, was ihnen, so empfand es Dupin, etwas Komisches verlieh. Fast alles konnte den Tod ankündigen, den allmächtigen Ankou. Zum Beispiel, wenn nachts die Hunde heulten oder wenn in Kirchen Kerzen erloschen, wenn man von Pferden träumte – es sei denn von weißen –, man plötzlich Tränen in den Augen hatte oder von einem jähen Schauder ergriffen wurde. Besonders bedenklich: wenn Geschirr hinfiel und dabei zerbrach. Anscheinend galten die Zeichen nur in bestimmten Konstellationen – ansonsten würde jeder Bretone täglich Ankündigungen seines nahen Todes sehen und die Bretagne wäre eine menschenleere Gegend. Dupin selbst wäre ein hundertfach toter Mann. Außerordentlich hinterhältig war auch jenes Vorzeichen: wenn im Haus drei Lichter zugleich an waren. Dann nämlich, hieß es, stehe ein besonders schmerzhafter Tod unmittelbar bevor. Nur wenige der Vorzeichen, fand Dupin, hatten einen überzeugend mysteriösen Charakter. Etwa wenn man morgens mit wachsgelben Flecken auf den Händen aufwachte. Oder, vielleicht noch unwahrscheinlicher: wenn man im Traum jemanden mit einem großen Bündel schmutziger Wäsche herumlaufen sah.
»Vielleicht gehen Sie mal mit Ihrer Tante zum Arzt, Kadeg. Nur vorsichtshalber.« Dupin sprach mit sanfter Stimme, erkennbar um Empathie bemüht.
Nevou, Riwal und Kadeg starrten Dupin fassungslos an.
»Wenn es ihr Tod sein soll, dann ist es ihr Tod. Daran können Sie überhaupt nichts ändern«, klärte Nevou ihn auf. »Niemand kann das. Auch kein Arzt.«
Es klang wie »vor allem kein Arzt«. Riwal nickte bedächtig.
»Haben Sie Ihre Tante in letzter Zeit besucht?«, fragte Dupin.
»Am Sonntag – gestern.« Kadeg stockte. »Sie nimmt nach und nach Abschied.«
Was seine Zeit dauern würde. Dupin wusste nicht viel über Kadegs Tante, wohl aber, dass sie Oberhaupt des beachtlichen Familienclans der Kadegs war. Der Inspektor hatte seine Eltern früh verloren, ein Autounfall, er war gerade achtzehn gewesen. Er hatte mit einem Mal allein klarkommen müssen. Seine Tante, die Schwester seiner Mutter, hatte sich um ihn gekümmert. Überhaupt schien sie die Familie zusammenzuhalten. Wenn Dupin die zahlreichen Geschichten in den letzten zehn Jahren richtig gedeutet hatte, hing Kadeg sehr an ihr. Sie lebte im hohen bretonischen Norden, bei Aber Wrac’h, an einem der drei großen legendären Abers, wie sie an der Nordwestküste des Finistère hießen – Flüsse, die sich zu Meeresarmen weiteten. Der Tante gehörte eine ehemalige mittelalterliche Abtei samt einem Park, dem ehemaligen Abteigarten.
»Ich verstehe.« Es kam Dupin ein wenig makaber vor. »Ich meine, es tut mir sehr leid«, fügte er rasch hinzu. »Das mit Ihrer Tante.«
Nevou, Riwal und Kadeg bedachten den Kommissar abermals mit einem missbilligenden Blick. Dupins Satz hatte ein bisschen wie »Herzliches Beileid« geklungen.
»Noch ist sie nicht tot«, protestierte Kadeg. »Sie …«
»Möchte jemand einen café?«, rettete Paul den Kommissar. »Ach, und die neuen Äpfel sind da. – Ich habe eine ofenwarme Tarte mit köstlichen Reinettes d’Armorique.«
Eine der Dutzenden bretonischen Apfelsorten.
»Unbedingt«, schoss es aus Dupin hervor. »Und einen café.«
»In Ordnung.« Paul nickte.
»Für mich auch, bitte.« Riwals Augen leuchteten. Die Ankunft der neuen Äpfel gehörte zu den 365 kulinarischen Feiertagen des bretonischen Jahres. Und Riwal kannte sämtliche bretonischen Apfelsorten, die alten, die neuen, die zum Backen, die für Kompott … Auch Dupin mochte Äpfel – auf der Tarte goldbraun karamellisiert –, aber noch mehr den ultradünnen Teig unter ihnen.
»Für mich ebenfalls«, sagten Kadeg und Nevou gleichzeitig.
»Kadeg, wie steht es eigentlich um die Lieferung der Cinémomètres jumelles laser?« Dupin musste die Chance ergreifen und sicherstellen, dass sie nicht mehr auf Kadegs Tante zurückkamen. »Und die neuen Éthylotests waren doch auch für den Oktober angekündigt, oder?« Er mimte einen engagierten Tonfall.
Neue Hightechgeräte zur Geschwindigkeitskontrolle und für Alkoholtests. Beides waren Themen, denen sich Kadeg geradezu leidenschaftlich widmete.
»Ich erwarte sie spätestens Ende des Monats.« Augenblicklich war Kadeg bei der Sache. Und wieder fast der Alte. »Sie katapultieren uns direkt in die Zukunft, Commissaire. Die Präzision der neuen Lasertechnologien erreicht unvorstellbare …«
»Was ist mit unseren Passagenschwimmern, Nevou?«
Weitere Lobpreisungen der technischen Innovationen waren nicht nötig, es war Dupin nur um die Ablenkung gegangen.
Seit ein paar Tagen machte sich eine Gruppe Jugendlicher den Spaß, nachts in der Passage zu schwimmen, den hundert Metern Meer zwischen den beiden Stadthälften Concarneaus, der Ville Close und dem östlichen Teil der Stadt. Zweimal am Tag strömten die gigantischen Wassermassen des Atlantiks durch die Passage in den großen Hafen der Stadt hinein und wieder heraus. Concarneau besaß einige Kilometer Küste und nicht wenige traumhafte Strände, jeder durfte schwimmen, wo er wollte, nur hier, wo die Boote ein- und ausfuhren, war Schwimmen strengstens verboten. Es kamen viele Boote, Tag und Nacht. Der besondere Kick beim Schwimmen durch die Passage bestand darin, gegen die mächtige Strömung anzukämpfen. – Nevou hatte sich der Sache angenommen, mit ein paar Anwohnern gesprochen, um die Gruppe zu identifizieren. Eigentlich war es eine Petitesse. Aber eben eine gefährliche.
»Hab ich geklärt.«
»Was heißt das?«
»Ich weiß, wer da mitmacht, und habe mit zwei der Jugendlichen gesprochen.« Sie rieb sich übers Kinn und fügte hinzu: »Ich denke, sie haben verstanden.«
Dupin hatte keinen Zweifel.
»Und Riwal? – Was liegt für Sie heute noch an?«
»Das wissen Sie doch, Chef. – Die Fortsetzung des Gesprächs mit Madame Docteur.«
Dupin wusste es, natürlich. Er hatte es bloß vergessen. Verdrängt. Weil es zu absurd war. Vorgestern früh hatten sie einen Anruf vom Hauptpostamt erhalten. Ein Päckchen, das zur Auslieferung angekommen war, hatte über Nacht in der Post gelegen und am Morgen penetrant seltsam gerochen. Mehr noch: Die ganze Post hatte danach gestunken. Ein Postbeamter hatte eine gute Nase bewiesen – verdächtig gut – und war sich sofort sicher gewesen: Cannabis. Und er hatte recht gehabt. Dreißig Gramm schlecht verpacktes Cannabis. Anschließend hatte nicht die Post, sondern die Polizei, genauer gesagt: Le Menn und Riwal, das Paket ausgeliefert. Ein wenig außerhalb, Richtung Fouesnant. Die Empfängerin des Päckchens war die pensionierte Stadtarchivarin, eine »Madame Docteur«, Historikerin. Le Menn und Riwal hatten bei ihrem Besuch höflich auszudrücken versucht, dass die Sache illegal sei und man Anzeige erstatten müsse. Die ausgesprochen fröhliche Siebzigjährige hatte nicht im Ansatz verstanden, warum. Sie bestelle die »Medizin« seit zehn Jahren und immer beim selben bretonischen Hersteller, fait en Bretagne. Noch nie habe jemand etwas einzuwenden gehabt. Sie hatte dann dringend zu einem Friseurtermin gemusst, und man hatte sich auf eine Fortsetzung des Gesprächs am heutigen Nachmittag geeinigt. Fluchtgefahr bestand keine.
Dupin selbst hatte um fünfzehn Uhr einen Termin, der nicht weniger absurd war.
Ein Professor des weltberühmten Instituts für Meeresbiologie in Concarneau hatte das Gefühl, verfolgt zu werden. Seit drei Wochen. Letzten Mittwoch hatte der Wissenschaftler, ein Pariser um die vierzig, unangekündigt im Kommissariat gestanden. Und von einem Mann in einem blauen Seemannspullover berichtet, der ihm nachstelle. Ein Pullover, wie ihn Zehntausende Bretonen besaßen, auch Dupin. Und unzählige Touristen. »Ungefähr so groß wie Sie«, hatte die weitere Aussage des Professors gelautet. Und: »Überhaupt ähnelt er Ihnen, muss ich sagen. Bloß mit weißen Turnschuhen.« Dabei hatte der Professor den besagten Mann immer bloß aus der Ferne gesehen. Beim Verlassen des Instituts war der Mann ihm angeblich bis nach Hause gefolgt, rund zehn Minuten zu Fuß. Gestern dann – der Professor hatte Dupin heute früh angerufen – wollte er ihn beim Verlassen seines Hauses gesehen haben. Er arbeite durchaus an etwas Geheimem, hatte der Professor zu Protokoll gegeben, aber jede weitere Auskunft verweigert. Dupin wusste, dass das Institut, das erste meeresbiologische Institut der Welt, den Geheimnissen des Atlantiks, seiner Tiere und Pflanzen, auf der Spur war. Und dass diese in der Tat ungeheure Möglichkeiten boten. Auch Claire wies ab und zu mit einer bedeutungsschweren Geste aufs Meer: »Da liegen die Lösungen für all unsere Probleme. Nicht bloß dass wir dort herkommen, so wie alles Leben auf der Erde – das Meer kann uns auch retten.« Wobei sie grimmig hinzufügte: »Verdient haben wir die Rettung eigentlich nicht, so wie wir uns benehmen.«
»Nach dem Gespräch mit Madame Docteur übernehme ich eine Schicht«, komplettierte Riwal, seine Züge hellten sich auf.
»Sehr gut.« Dupin nickte. Bei der »Schicht« ging es um die Überwachung einer Bootsbaustelle. Um die Abwehr von Industriespionage. Seit vier Jahren baute der Segler François Gabart – weltweit einer der Großen des Segelsports und stolzer Concarnois – sein neues Superboot: einen Trimaran der »Classe Ultime«. Zweiunddreißig Meter lang. Ein aerodynamisches Wunder. Die ganze Stadt fieberte beim Bau mit. Jetzt war es fast fertig, im nächsten Jahr würde Gabart damit die Transatlantikregatta bestreiten. Die Farbe des Bootes war ein patriotisches Bekenntnis: ein blaues Boot für die blaue Stadt. Zwei Polizisten waren abgestellt, um auf der Baustelle nach dem Rechten zu sehen, eigentlich reichte das – aber Riwal liebte den Job. So wie er Boote liebte. Und François Gabart.
»Et voilà.« Paul war zurück. Mit den cafés – und der Tarte. Stille trat ein, jeder genoss das Dessert für sich.
Im Hafenbecken der Ville Close – der auf einer Insel gelegenen Altstadt Concarneaus – veranstaltete die Sonne ein unruhig funkelndes, grelles Spektakel, das die gesamte Welt überbelichtete und in einen diffusen Lichtschleier packte. Von der typisch frühherbstlichen Milde des Lichts war nichts zu merken.
»Ja?«
Bärbeißiger hatte ein Ja wahrscheinlich noch nie geklungen.
Es war halb eins. Nachts.
Dupin lag im Bett. Claire lag neben ihm. Sie schlief längst. Seit zehn schon, sie war spät und todmüde aus der Klinik gekommen, hatte das Omelette heruntergeschlungen, das Dupin zubereitet hatte, rasch geduscht, war – ein abendliches Ritual – ans Fenster getreten, um aufs Meer zu schauen, und dann ins Bett gefallen.
Schon bald hatte Dupin sich neben sie gelegt und gelesen. Eine verrückte Geschichte, Freya von den sieben Inseln, Claire hatte ihm das Buch geschenkt. Aber in Wahrheit hatte er Claire beim Schlafen zugesehen. Er mochte das. – Eigentlich hatte er mit ihr letztes Wochenende wegfahren wollen. Eine Überraschung. Er hatte ein Zimmer gebucht, im Hotel Ty Mad in Tréboul, ein Juwel am Ende vom Ende der Welt, es gehörte seiner Freundin Armelle. Alles hatte gepasst. Mit Armelles Hilfe hatte er ein prächtiges Picknick organisiert, in einer versteckten Bucht. Im warmen Sand zwischen mächtigen, vom Meer gerundeten hellen Steinen. Das war jedenfalls Dupins Plan gewesen. Dann war Claires Kollege krank geworden. Und sie hatte das Wochenende durcharbeiten müssen. Als Ausgleich würde sie nun morgen und übermorgen freihaben – wovon sie gemeinsam nichts haben würden, gar nichts.
Dupin hatte Claire an dem Wochenende fragen wollen. Endlich. Es wäre perfekt gewesen.
»Er – er steht draußen vor der Tür. Er hat versucht, einzudringen. Glaube ich.« Dupin hatte die Stimme des Meeresbiologen erkannt. Der Professor klang panisch.
»Was heißt das, Monsieur?« Dupin war hellwach.
»Ich habe gesehen, wie sich die Türklinke bewegt hat. – Er will ins Haus.«
»Sind Sie sich sicher? Ich meine, dass sich die Türklinke bewegt hat?« Dupin flüsterte. Er wollte Claire nicht wecken.
»Fast sicher. – Es war dunkel. Und selbstverständlich habe ich das Licht nicht angemacht.«
Dupin hatte sich im Bett aufgesetzt.
»Da war jemand vorm Haus. Ich versichere es Ihnen. Er ist auf und ab gegangen.«
»Und es war der Mann, von dem Sie denken, dass er Sie in letzter Zeit verfolgt hat?«
Ein kurzes Zögern, dann: »Mit abschließender Gewissheit kann ich das nicht sagen.«
Großartig. Schon bedauerte Dupin, dem Professor seine Handynummer gegeben zu haben. Es war als Beruhigung gedacht gewesen.
»Sind Sie allein zu Hause, Monsieur?«
»Meine Frau ist auch da. Sie schläft.«
»Können Sie die Person vom Fenster aus erkennen?«
Es war eine sternenklare Nacht, zudem beinahe Vollmond. Die Welt war in solchen Nächten alles andere als dunkel.
»Wenn ich ans Fenster trete, sieht er mich doch.«
»Vermutlich weiß die Person, dass Sie sich im Haus befinden.«
Wenn da überhaupt eine Person war.
»Ich will nur …«
Ein Knacken.
»Hallo? – Professor?«
Das Gespräch war abgebrochen.
»Hallo? Hallo?« Dupin flüsterte nun ganz und gar nicht mehr.
»Georges? Was ist los?«
Jetzt hatte er Claire doch geweckt.
Schläfrig drehte sie sich zu ihm.
Dupin stand auf.
»Alles in Ordnung, Claire, schlaf weiter. Ich muss kurz einer Sache nachgehen. – Bin gleich wieder bei dir.«
»Okay.«
Sie drehte sich um.
Dupin war erleichtert, sie schien sofort wieder einzuschlafen.
Er ging ins Badezimmer und schloss vorsichtig die Tür hinter sich, dann machte er das Licht an und wählte die Nummer des Professors.
Nichts.
»So ein Scheiß.«
Missmutig verließ Dupin das Bad, holte leise ein paar Sachen aus dem Kleiderschrank und lief zur Treppe. Unten machte er das Licht an und versuchte es noch einmal bei dem Professor.
Auch dieses Mal ohne Erfolg.
»Na gut«, seufzte er.
Er streifte sich seine Sachen über, Jeans, Polohemd. Wählte dabei Riwals Nummer.
Der Inspektor nahm augenblicklich ab.
»Was ist passiert, Chef?«
»Höchstwahrscheinlich gar nichts. – Dieser Professor vom Institut. Er glaubt, dass sich der Mann, der ihn verfolgt, vor seinem Haus rumtreibt. Er hat mich gerade angerufen. – Die Verbindung ist plötzlich abgebrochen.«
»Und Sie erreichen ihn nicht mehr?«
»Nein. – Ich fahre kurz vorbei, Riwal.«
»Völlig richtig, Chef. Sie wissen, dass das Institut ein paar spektakulären Dingen auf der Spur ist …«
»Ist gut, Riwal.«
»Ich komme mit, Chef. Der Professor wohnt in meiner Nähe.«
»Gut.« Dupin hatte den Autoschlüssel schon in der Hand. »Dann treffen wir uns dort.«
»Übrigens, haben Sie es schon gehört, Chef?«, setzte Riwal nach.
Dupin öffnete die Haustür.
»Was denn?«
Dupin lief durch den Garten und die laue Nacht.
»Sehr traurig, Chef.«
Es waren sicher immer noch siebzehn Grad.
»Kadegs Tante. – Sie ist gestorben. So schnell ist es gegangen.«
»Was?«, rief Dupin, viel zu laut.
»Ihre Nichte hat sie heute Abend um halb acht gefunden. Auf der Terrasse, im Liegestuhl. – Wohl ihr Lieblingsplatz. Dort ist sie friedlich entschlafen. Kadeg hat eben angerufen.«
»Heute Abend?«
»Heute Abend, ja. Der Dorfarzt hat den Tod festgestellt. Plötzlicher Herztod. ›Altersherz‹. Ein Bestatter aus Brest hat sie bereits abgeholt. Kadeg ist unterwegs dorthin.«
Dupin erreichte seinen Wagen, stieg ein und startete den Motor.
»Das tut mir sehr leid zu hören. Ich rufe Kadeg morgen an.«
»Sie hat es ja gewusst. Die Zeichen waren eindeutig. – Und so ist es nun gekommen.«
»Ich denke nicht, dass …«
Dupin brach ab. Zugegebenermaßen schien es ein eigentümlicher Zufall. Dass sie gerade erst heute Mittag über Kadegs Tante und die Vorzeichen des Todes gesprochen hatten – und sie nun, keine zwölf Stunden später, tatsächlich tot war. Aber selbstverständlich gab es das: Menschen, die spürten, dass ihr Tod nahte. Mit Übernatürlichem hatte das nichts zu tun.
»Bis gleich, Riwal.«
Dupins Citroën machte einen energischen Satz nach vorn.
Um 3 Uhr 15 legte sich Dupin ein zweites Mal in dieser Nacht ins Bett.
Er war hellwach.
Es war ein rundum grotesker Einsatz gewesen, er hätte es wissen müssen.
Weit und breit war niemand zu sehen gewesen. Kein Verdächtiger, kein Unverdächtiger. Keine Spur eines Verfolgers.
Und der jähe Abbruch der Verbindung und dass der Professor danach nicht mehr zu erreichen gewesen war, hatte die banalste aller Erklärungen gehabt: ein leerer Akku.
Riwal war damit beschäftigt gewesen, mit einer seiner gigantischen Taschenlampen den Garten des Professors abzusuchen, als Dupin eingetroffen war. Ohne irgendetwas Auffälliges zu finden. Anschließend hatten Dupin und Riwal dann zusammen die Straße vor dem Haus und die nähere Umgebung in Augenschein genommen. Zuletzt hatten sie noch einmal ausführlich mit dem Professor gesprochen, der unverändert darauf beharrte, jemanden vor dem Haus gesehen zu haben. Er hatte verlangt, dass sie Fingerabdrücke von der Haustürklinke nahmen, und war erst zu beruhigen gewesen, als sie ihm zugesichert hatten, am nächsten Morgen jemanden vorbeizuschicken.
Claire hatte gar nicht gemerkt, dass Dupin zurück ins Bett gekrochen war. Schlief sie einmal, dann schlief sie tief und fest. Dupin beneidete sie darum.
Er griff nach seinem Buch und folgte Freya abermals auf die sieben Inseln.