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Günter Eich, Gesammelte Werke in 4 Bänden, revidierte Ausgabe, Frankfurt a. M. 1991, Bd. 1, hrsg. von Axel Vieregg, S. 86.
2
Der vorliegende Aufsatz ist der erste in dem so überschriebenen Teil des Sammelbandes Poesie verstehen – Literatur unterrichten.
3
Vgl. zur ›Wiederkehr der Empathie‹ in der Narrationsforschung seit 2000: Claudia Breger / Fritz Breithaupt, »Einleitung«, in: C. B. / F. B. (Hrsg.), Empathie und Erzählung, Freiburg i. Br. / Berlin / Wien 2010, S. 8–20.
4
Suzanne Keen, Empathy and the Novel, Oxford / New York 2007, S. 5.
5
Adam Smith, Theorie der ethischen Gefühle, auf der Grundlage der Übers. von Walther Eckstein neu hrsg. von Horst D. Brandt, Hamburg 2010, S. 5 f.
6
Ebd. S. 8.
7
Ausführlich geht Keen darauf ein, vgl. Keen (s. Anm. 2).
8
Vgl. Marco Iacoboni, Woher wissen, was andere denken und fühlen. Das Geheimnis der Spiegelneuronen, aus dem Engl. von Susanne Kuhlmann-Krieg, München 2011; Gerhard Lauer, »Spiegelneuronen. Über den Grund des Wohlgefallens an der Nachahmung«, in: Karl Eibl / Katja Mellmann / Rüdiger Zymner (Hrsg.), Im Rücken der Kulturen, Paderborn 2007, S. 137–163.
9
Vgl. Paul B. Armstrong, How Literature Plays with the Brain. The Neuroscience of Reading and Art, Baltimore 2013, S. 146 f. Heftig kritisiert werden die Trennung von Emotion und Kognition und die Zuordnung der Empathie zur Emotion vom Literaturdidaktiker Olsen, vgl. Ralph Olsen, »Das Phänomen ›Empathie‹ beim Lesen literarischer Texte. Eine didaktisch-kompetenzorientierte Annäherung«, in: zeitschrift ästhetische bildung 3 (2011) Nr. 1 [http://zaeb.net/
wordpress/wp-content/uploads/2020/12/41-166-1-PB.pdf, Stand: 11. 2. 2022].
10
Fritz Breithaupt, Kulturen der Empathie, Frankfurt a. M. 2009, S. 13.
11
Vgl. Roy Sommer, »Other Stories, Other Minds. The Intercultural Potential of Cognitive Approaches to Narrative«, in: Lars Bernaerts [u. a.], Stories and Minds. Cognitive Approaches to Literary Narrative, Lincoln [u. a.] 2013, S. 155–174, hier S. 160.
12
Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, Bd. 5, hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 41967, S. 14 f.
13
Ebd., S. 14.
14
Ebd., S. 15.
15
Vgl. Ingo Scheller, Szenische Interpretation. Theorie und Praxis eines handlungs- und erfahrungsbezogenen Literaturunterrichts in Sekundarstufe I und II, Seelze 22008, S. 61 ff.
16
Max Lüthi, Märchen, Stuttgart 81990, S. 30.
17
Keen (s. Anm. 2), S. 80.
18
Zu den verschiedenen Ansätzen der »simulation theory« vgl. Karsten R. Stueber, Rediscovering Empathy. Agency, Folk Psychology, and the Human Sciences, Cambridge 2006, S. 111 ff.
19
Martin Leubner / Anja Saupe, Erzählungen in Literatur und Medien und ihre Didaktik, Baltmannsweiler 2006, S. 82.
20
Die gründlichste Analyse dieser Mittel bietet Dorrit Cohn, Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction, Princeton 1978. Als neuere Studie vgl. Kathrin Fehlberg, Gelenkte Gefühle. Literarische Strategien der Emotionalisierung und Sympathielenkung in den Erzählungen Arthur Schnitzlers, Marburg 2014.
21
Zum Begriff der Atmosphäre in literaturtheoretischer Sicht vgl. Kaspar H. Spinner, »Atmosphäre als ästhetischer Begriff«, in: Günter Butzer / Hubert Zapf (Hrsg.), Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven, Bd. 5, Tübingen 2011, S. 201–216.
22
Gernot Böhme, »Atmosphären wahrnehmen, Atmosphären gestalten, mit Atmosphären leben: Ein neues Konzept ästhetischer Bildung«, in: Rainer Goetz / Stefan Graupner (Hrsg.), Atmosphäre(n). Interdisziplinäre Annäherungen an einen unscharfen Begriff, Bd. 1, München 2007, S. 31–43, hier S. 37 f.
23
Theodor Fontane, Sämtliche Werke, Bd. 1, hrsg. von Walter Keitel, Darmstadt 1968, S. 575.
24
Ebd., S. 598.
25
Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 8, hrsg. von Waltraud Wiethölter, Frankfurt a. M. 1994, S. 11.
26
Albrecht Koschorke, Alphabetisation und Empfindsamkeit, in: Hans-Jürgen Schings (Hrsg.), Der ganze Mensch. Anthropologie im 18. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar 1994, S. 605–628, hier S. 611.
27
Vgl. z. B. Scheller (s. Anm. 13), S. 50 ff.
28
Breithaupt (s. Anm. 8), S. 64. Vgl. dazu auch Norbert Meuter, Identität und Empathie. Über den Zusammenhang von Narrativität und Moralität, in: Karen Joisten (Hrsg.), Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen, Berlin 2007, S. 45–59.
29
Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke. Berliner Ausgabe, Bd. II/1, hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle, Basel / Frankfurt a. M. 1990, S. 63.
30
Peter Stamm, Agnes. Roman, Zürich/Hamburg 21998.
31
www.peterstamm.ch/agnes.php [Stand: 11. 2. 2022].
32
Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie, hrsg. von Eckhard Heftrich, Frankfurt a. M. 2002, S. 158.
33
Vgl. dazu Cohn (s. Anm. 18), S. 116 ff., und James Wood, How Fiction Works, London 2008, S. 11 ff.
Literarisches Lernen ist ein in der Literaturdidaktik heute gern genutzter Begriff, mit dem aber sehr Unterschiedliches bezeichnet wird. Viel zitiert wird die Konkretisierung des literarischen Lernens durch die »elf Aspekte«, die ich in dem gleichnamigen Beitrag vorgeschlagen habe, der zuerst 2006 als Basisartikel in der Zeitschrift Praxis Deutsch erschienen ist und der diesen Band eröffnet. Die Online-Zeitschrift leseräume etwa hat 2015 ein ganzes Heft diesen Aspekten gewidmet, mit Analysen, Kritik und Weiterführungen (http://leseräume.de/?page_id=308). Die weiteren hier abgedruckten Beiträge entstammen Sammelbänden, die im Buchhandel nicht mehr erhältlich sind und behandeln entweder einzelne Aspekte des literarischen Lernens weiterführend, stellen eine Verbindung zu anderen Lernbereichen des Deutschunterrichts (kreativem Schreiben, Filmdidaktik) her oder zeigen, wie literarisches Lernen einen Beitrag zu übergreifenden Bildungszielen leisten kann, also zu dem, was auch als Bildung durch Literatur bezeichnet wird. Es freut mich, dass diese bislang verstreut erschienenen Aufsätze hier erstmals versammelt dem Publikum vorgelegt werden können.
Kaspar H. Spinner
»Literatur« und »Lernen« – das sind zwei Begriffe, die einander nicht so ohne Weiteres gewogen sind. Der eine assoziiert Fantasie, Spannung, Vergnügen, der andere Nützlichkeit, Überprüfbarkeit und Mühe. Wie kommen die beiden zusammen?
Der Begriff des literarischen Lernens gründet in der Auffassung, dass es Lernprozesse gibt, die sich speziell auf die Beschäftigung mit literarischen, das heißt hier: fiktionalen, poetischen Texten beziehen. Er grenzt sich ab vom Begriff der Lesekompetenz, der – vor allem seit der Veröffentlichung der ersten PISA-Studie – stark pragmatisch geprägt ist und sich unterschiedslos sowohl auf literarische als auch auf nichtliterarische Texte beziehen lässt. Dass in der Deutschdidaktik der letzten Jahre der Begriff des literarischen Lernens vermehrt diskutiert wird, hat damit zu tun, dass man der Literatur weiterhin einen wichtigen Stellenwert im Unterricht einräumen und dafür spezifische Lernprozesse beschreiben will. Dass dies sinnvoll ist, zeigt auch eine vertiefende Analyse zu den PISA-Daten. In Ergänzung zur ursprünglichen Rahmenkonzeption von PISA haben Cordula Artelt und Matthias Schlagmüller die erhobenen Daten auch daraufhin untersucht, ob es einen Unterschied in der Kompetenz beim Umgang mit literarischen Texten im Vergleich zum Umgang mit anderen Texten gibt, und signifikante Abweichungen festgestellt (Artelt/Schlagmüller 2004). Sie kommen zur Schlussfolgerung, dass der kompetente Umgang mit literarischen Texten offenbar andere Lese- und Verstehensanforderungen stelle als der Umgang mit anderen Texten (wobei übrigens Jugendliche in Deutschland, im Gegensatz zu manchen anderen Ländern, bei den literarischen Texten schlechter abschneiden als bei nichtliterarischen Texten). Bei IGLU (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) sind von vornherein Daten zum Leseverständnis von literarischen und von Informationstexten auch einer getrennten Auswertung unterzogen worden (vgl. Bos u. a. 2003, S. 79–87).
Literarisches Lernen und Erwerb von Lesekompetenz sind allerdings nicht nur hinsichtlich der Textsorten, um die es geht, voneinander zu unterscheiden, sondern auch bezogen auf die mediale Vermittlung. Lesekompetenz bezieht sich auf das Lesen von Geschriebenem und Gedrucktem, während literarisches Lernen auch auditive und visuelle Rezeptionsformen, also etwa Hörbuch oder Theater, einschließt und deshalb schon vor dem Erwerb von Lesekompetenz eine Rolle spielt: Schon Kleinkinder machen – vor dem Lesenlernen – Bekanntschaft mit literarischen Texten, von den Einschlafliedern bis zum Anhören von Hörkassetten und zu (Puppen-)Theaterbesuchen. Orale Vermittlung von Literatur gewinnt heute auch für Jugendliche und Erwachsene immer größere Bedeutung (vgl. dazu Praxis Deutsch 185/2004 mit dem Titel »Literatur hören und hörbar machen«).
Als Verbindungsglied zwischen den Begriffen Literatur und Lernen kann der Kompetenzbegriff gelten. Er ist in der neuen Bildungstheorie und -diskussion zum Schlüsselbegriff geworden. Bezogen auf den Literaturunterricht bedeutet er, dass für den Umgang mit literarischen Texten bestimmte Kompetenzen zu beschreiben sind, die im Unterricht gefördert werden können. In einem kompetenzorientierten Literaturunterricht richtet man den Blick nicht primär darauf, ob man (zum Beispiel) zu einer angemessenen Interpretation gelangt, sondern darauf, ob die Schülerinnen und Schüler Fähigkeiten erwerben, die dann im Umgang mit anderen Texten wieder zum Einsatz kommen können. Ziel des literarischen Lernens ist in diesem Sinne die literarische Kompetenz (vgl. dazu z. B. Abraham 2005). Das schließt kumulatives Lernen ein und damit die Überlegung, ob und wie das, was man in einer Unterrichtseinheit vermittelt, aufbaut auf dem, was vorher gemacht wurde,
und auf weitere Lernprozesse vorbereitet. Diesen Anspruch erfüllt die herrschende Praxis des Literaturunterrichts oft nicht, weil man nur daran denkt, wie man dem jeweils behandelten Werk gerecht werden kann (so erkundigen sich auch Lehrkräfte, die eine Klasse übernehmen, zwar allenfalls danach, welche Texte behandelt worden sind, aber welche Kompetenzen – z. B. welche Untersuchungsstrategien mit welchen Begriffen – im Jahr vorher vermittelt worden sind, interessiert kaum, obschon in einem kompetenzorientierten Unterricht gerade darauf aufzubauen wäre). Zu beachten ist, dass die Fähigkeiten, die an einem Gegenstand erworben worden sind, nicht automatisch auf andere Gegenstände übertragen werden; der Transfer muss im Unterricht immer wieder eigens angeregt und unterstützt werden.Literarisches Lernen als Erwerb von Lesekompetenz meint mehr als motivierende Leseförderung, die den Schwerpunkt auf die Vermittlung von Leselust legt. Einem Gegensatz zwischen Leseförderung und literarischem Lernen (wie er in der Vergangenheit zum Teil herausgestellt worden ist) sollte allerdings nicht das Wort geredet werden (vgl. dazu z. B. Rosebrock 1999). Ein genaueres und vertieftes Verstehen von literarischen Ausdrucksweisen kann, didaktisch gut gestaltet, eine positivere Einstellung zum literarischen Lesen unterstützen. Zwar ist es immer noch so, dass vielen Schülerinnen und Schülern im Laufe der Schulzeit durch den Unterricht die Freude an der Literatur ausgetrieben wird, aber es gibt, wie die Lesesozialisationsforschung gezeigt hat, auch die andere Erfahrung, nämlich dass durch den Unterricht die Augen geöffnet worden sind für intensives, vertieftes literarisches Verstehen. Die folgende genauere Bestimmung des literarischen Lernens zielt auf einen Unterricht, der den Schülerinnen und Schülern den Erwerb literarischer Kompetenz als Gewinn erfahrbar macht. Das literarische Lernen wird dabei nicht auf die Fähigkeit der Analyse
spezifischer literarischer Ausdrucksmittel (Stilfiguren, Verslehre, Erzähltechnik …) reduziert; im Gefolge insbesondere der werkimmanenten Interpretation hat man zum Teil die Auffassung vertreten, man müsse vor allem durch solche Analyse dem ästhetischen Charakter literarischer Texte gerecht werden. Dabei bleiben jedoch so zentrale Aspekte wie die Imagination oder die Perspektivenübernahme beim Lesen unberücksichtigt. Deshalb wird in der jüngeren Diskussion dezidiert ein weiterer Begriff des literarischen Lernens vertreten. Mit Nachdruck hat die didaktische Forschung auch gezeigt, dass literarisches Lernen nicht nur eine Angelegenheit höherer Klassenstufen ist, sondern von Anfang an schon in der Grundschule wichtig ist (dazu vor allem Waldt 2003) und durch die vorschulische Lesesozialisation, vor allem durch Vorlesesituationen, vorbereitet wird (Wieler 1997).Ausdrücklich sei betont, dass das literarische Lernen, so wie es im Folgenden dargestellt wird, nicht alle Zielsetzungen des Literaturunterrichts umfasst. Er dient beispielsweise auch der Erschließung von Inhalten (z. B. von moralischen Problemen), der Förderung psychologischer Einsichten, dem sozialen Lernen, dem Einblick in Geistesgeschichte und somit ganz allgemein der Vermittlung von Weltwissen. All dies meint literarisches Lernen hier nicht (bzw. nur in dem Sinn, dass eine bestimmte Art des Umgangs mit solchen Inhalten durch literarisches Lernen angeeignet wird).
Mit dem Kompetenzbegriff stellt die hier vorgestellte Konzeption literarischen Lernens einen Bezug zu den Bildungsstandards her, für die das Prinzip des »kumulativen Kompetenzerwerbs« (so in der Vereinbarung der Kultusministerkonferenz vom 4. 12. 2003 zu den Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss) ebenfalls wichtig ist. Die Bildungsstandards für den Hauptschulabschluss und für den Mittleren Schulabschluss fassen in einer Rubrik »literarische Texte
verstehen und nutzen« explizit Zielsetzungen für den Literaturunterricht zusammen; bei den Bildungsstandards für die 4. Klasse wird zwar nicht getrennt zwischen literarischen und Sach- und Gebrauchstexten, aber es finden sich auch da einzelne Bildungsstandards, die sich speziell auf literarische Texte beziehen. Die einzelnen Standards wirken dann allerdings bei allen Klassenstufen (4, 9 und 10) wie eine unverbundene Aneinanderreihung von Lernzielformulierungen. Es zeigt sich, dass die von der Kultusministerkonferenz vorgesehene Entwicklung schlüssiger Kompetenzmodelle eine Aufgabe ist, die von der Fachdidaktik noch zu leisten ist. In der folgenden genaueren Explikation dessen, was literarisches Lernen ist, verweise ich zumindest andeutungsweise bei einzelnen Aspekten auf die Kompetenzentwicklung im Laufe der Schulzeit. Für das erste bis sechste Schuljahr findet man im Übrigen bei Petra Büker (2002, S. 129–133) eine Art Curriculum des literarischen Lernens. Anhaltspunkte bilden auch die Untersuchungen zur Entwicklung des literarischen Verstehens (knappe Zusammenfassung des Forschungsstandes bei Eggert/Garbe 1995, S. 22–26), die vor allem in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts durchgeführt worden sind; sie bedürften allerdings heute einer breiteren empirischen Absicherung.