Die Mühle am Floss

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Über dieses Buch

Dorlcote Mill am Floss in England Mitte des 19. Jahrhunderts: Das Leben ist nicht leicht für die ungestüme Maggie Tulliver, die ihren Bruder Tom verehrt und verzweifelt versucht, die Anerkennung ihrer Eltern zu gewinnen. Doch ihre eigensinnige Art und scharfe Intelligenz, durch die sie sich vom bevorzugten Mädchenbild ihrer Zeit unterscheidet, bringen sie in ständigen Konflikt mit ihrer Familie. Dennoch ist es eine unbeschwerte Kindheit, die sie in der idyllischen Umgebung der Dorlcoter Mühle verlebt – bis eines Tages der Vater die Mühle verliert und Tom die Schulden der Familie begleichen muss. Zunehmend gerät Maggie zwischen die Fronten der vier Männer in ihrem Leben: des Vaters, ihres Bruders, eines Verehrers und ihres Jugendfreunds, der zufällig der Sohn des Erzfeindes ihres Vaters und Bruders ist.

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Fußnoten

  1. Vgl. Gordon S. Haight, George Eliot. A Biography, Oxford 1968, S. 206.

  2. Thomas Pinney (ed.), Essays of George Eliot, London 1963, S. 300–324. – Der Artikel mit dem Titel »Silly Novels by Lady Novelists« erschien ursprünglich in Westminster Review 66, Oktober 1856.

  3. Vgl. Gordon Haight (ed.), The George Eliot Letters, Bd. 3, New Haven 1954, S. 227.

  4. The George Eliot Letters, Bd. 3, S. 366.

  5. The George Eliot Letters, Bd. 3, S. 227.

  6. John Stuart Mill, A System of Logic, Bd. 2, London 1843, S. 494.

  7. Zu George Eliots eigenem Verhältnis zu Religion vgl. ihren Brief an F. D’Albert-Durade vom 6. Dezember 1859 in The George Eliot Letters, Bd. 3, S. 230 f.

  8. Zu George Eliots Übereinstimmung mit Feuerbach vgl. The George Eliot Letters, Bd. 2, S. 153.

  9. Vgl. A. W. Bellringer, »Education in The Mill on the Floss«, in: Review of English Literatur 7 (1966) S. 52–61: »It is surely the best Victorian achievement in the form of the Bildungsroman

  10. Vgl. W. J. Harvey, The Art of George Eliot, London 1961, S. 247. Harvey gibt das Verhältnis der Erzählerkommentare für Die Mühle am Floss mit 1 : 14, für Middlemarch mit 1 : 33 an.

Erstes Buch:
Junge und Mädchen

An der Dorlcoter Mühle

Eine weite Ebene, wo der breiter werdende Floss zwischen seinen grünen Ufern der See zueilt und die liebende Flut, die ihm entgegenströmt, seinen Lauf mit einer ungestümen Umarmung auffängt: Auf dieser mächtigen Flut werden die schwarzen Schiffe – beladen mit frischduftenden Tannenplanken, mit prallen Säcken voll ölhaltiger Samen oder mit dunkel glänzender Kohle – zur Stadt St. Ogg’s hingetragen, die ihre alten gefurchten roten Dächer und die breiten Giebel ihrer Verladeplätze zwischen den niedrigen bewaldeten Hügeln und dem Flussufer hervorsehen lässt und das Wasser unter dem flüchtigen Schein dieser Februarsonne mit sanftem Purpur färbt. Weit nach jeder Seite erstrecken sich das üppige Weideland und die Flecken dunkler Erde, die für die Aussaat des breitblättrigen grünen Getreides bereitet ist oder schon einen Hauch Farbe der zarten Herbstsaat zeigt. Von den Mengen aufgerichteter goldener Getreidegarben des letzten Jahres sind noch Überreste da, die sich in Abständen zwischen den Heckenzäunen erheben, und überall wachsen Bäume entlang den Heckenzäunen: Die fernen Schiffe scheinen ihre Masten zu heben und ihre rotbraunen Segel dicht zwischen den Ästen der ausladenden Esche zu blähen. Genau bei der Stadt mit ihren roten Dächern fließt der Nebenfluss Ripple mit munterer Strömung in den Floss. Wie anmutig der kleine Fluss ist mit seinen dunklen, sich kräuselnden Wellen! Er erscheint mir als lebendiger Begleiter, während ich am Ufer entlangwandere und auf seine leise, sanfte Stimme lausche wie auf die Stimme eines, der taub ist und liebevoll. Ich erinnere mich an jene großen, ins Wasser hängenden Weiden. Ich erinnere mich an die Steinbrücke.

Und hier ist die Dorlcoter Mühle. Ich muss ein paar Minuten hier auf der Brücke stehen bleiben und sie ansehen, obwohl die

Das Rauschen des Wassers und das Dröhnen der Mühle schaffen eine verträumte Taubheit, die das Friedliche der Szene noch zu erhöhen scheint. Es ist wie ein großer Vorhang aus Schall, der einen von der dahinterliegenden Welt abschirmt. Und jetzt donnert der riesige Planwagen daher, der mit Getreidesäcken heimkommt. Der rechtschaffene Fuhrmann denkt an sein Essen, das zu dieser späten Stunde im Ofen traurig dahintrocknet; aber er wird es nicht anrühren, bevor er nicht seine Pferde gefüttert hat – diese starken, geduldigen Tiere, die mit ihren sanften Augen, so meine ich, in mildem Vorwurf zwischen ihren Scheuklappen hervorschauen, weil er so fürchterlich mit der Peitsche knallt, als ob sie dieser Ermunterung bedürften. Wie recken sie doch ihre Schultern schon aufwärts zur Brücke, mit umso größerer Anstrengung, weil sie bald daheim sind. Man sehe sich nur ihre großen, zottigen Hufe an, die die feste Erde zu greifen scheinen; die geduldige Stärke ihrer Nacken, die sich unter dem schweren Kummet beugen, die mächtigen Muskeln ihrer sich mühenden Schenkel! Ich würde sie gern über ihrem schwerverdienten Futter wiehern hören und sehen,

Jetzt kann ich meine Augen wieder der Mühle zuwenden und das rastlose Rad beobachten, das Wasser wie Diamanten spritzen lässt. Das kleine Mädchen dort beobachtet es auch: Sie steht schon auf demselben Fleck am Wasser, seit ich auf der Brücke haltmachte. Und der merkwürdige weiße Hund da mit dem braunen Ohr scheint in vergeblichem Protest gegen das Rad zu springen und zu bellen. Vielleicht ist er eifersüchtig, weil seine Spielgefährtin mit der Bibermütze von dessen Bewegung so eingenommen ist. Ich meine, es wäre Zeit für die kleine Spielgefährtin hineinzugehen; dort ist ein helles, flackerndes Feuer, das sie locken will, das rote Licht scheint nach draußen unter dem dunkler werdenden Grau des Himmels. Es ist auch Zeit für mich, meine aufgestützten Arme von dem kalten Stein der Brücke zu nehmen …

Ja, meine Arme sind tatsächlich schon ganz steif. Ich habe meine Ellbogen gegen die Lehnen meines Sessels gedrückt und geträumt, ich stünde auf der Brücke vor der Dorlcoter Mühle, die noch so aussah wie vor vielen Jahren an einem Februarnachmittag. Bevor ich in meine Träume versank, wollte ich erzählen, worüber Mr und Mrs Tulliver sprachen, als sie am hellen Feuer in der Wohnstube zur Linken saßen, gerade an dem Nachmittag, von dem ich träumte.

Mr Tulliver von der Dorlcoter Mühle erklärt, was er Toms wegen beschlossen hat

»Was ich will, weißt du«, sagte Mr Tulliver, »was ich will, ist, Tom ’ne gute Ausbildung zu geben, eine, wo er sein Brot mit verdienen kann. Das war’s, was ich im Kopf hatte, als ich ihn zu Mariä Verkündigung von der Lehranstalt abgemeldet hab. Ich will ihn jetzt zu Mittsommer auf ’ne richtig gute Schule schicken. Die zwei Jahr’ auf der Lehranstalt hätten ja wohl gereicht, wenn ich aus ihm ’nen Müller oder Bauern machen wollte, denn er hat jetzt schon mehr Schule gehabt als ich in meinem ganzen Leben. Die Gelehrsamkeit, für die mein Vater bezahlt hat, war Prügel auf der einen Seite und das Alphabet auf der andern. Aber Tom soll so was wie ’n Gelehrter sein, damit er mit den Tricks mitkommt, die diese Kerle gebrauchen, die gut reden und verschnörkelt schreiben können. Er könnt’ mir dann bei den Prozessen und Schlichtungen und all dem helfen. Ich will kein’ richtigen Advokaten aus dem Jungen machen – es tät’ mir leid, wenn er ein Schurke würde – aber so ’nen Ingenieur oder Verwalter oder ’nen Auktionator und Schätzer, wie Riley, oder ein’ von diesen schlauen Geschäftsleuten, die nur Gewinn haben und nie Ausgaben, außer für ’ne schwere Uhrkette und ’nen hohen Bürostuhl. Das ist fast alles dasselbe, und die kommen auch mit dem Gesetz ins Reine, glaub ich, denn Riley sieht dem Advokaten Wakem so scharf ins Gesicht wie eine Katze der andern. Er hat keine Angst vor ihm.«

Mr Tulliver sprach zu seiner Gattin, einer hübschen blonden Frau mit einem fächerförmigen Häubchen. (Es ist jetzt schon furchtbar lange her, dass fächerförmige Häubchen getragen wurden – demnach müssten sie bald wieder in Mode kommen. Damals, als Mrs Tulliver fast vierzig war, waren sie neu in St. Ogg’s, und man fand sie entzückend.)

»Du kannst jedes Huhn auf dem Hof schlachten, wenn du willst, Bessy, aber ich werde weder Tante noch Onkel fragen, was ich mit meinem eigenen Jungen machen soll«, sagte Mr Tulliver herausfordernd.

»Meiner Seel!«, sagte Mrs Tulliver, erschreckt über diese angriffslustige Redeweise. »Wie kannst du so sprechen, Mr Tulliver? Aber so verächtlich sprichst du ja immer von meiner Familie, und Schwester Glegg sagt, ich sei schuld, obwohl ich doch so unschuldig bin wie ein ungeborenes Kind. Ich hab doch noch nie gesagt, es sei nicht gut für meine Kinder, dass sie Onkel und Tanten haben, die über genug zum Leben verfügen. Doch wenn Tom auf eine neue Schule gehen soll, dann hätt’ ich’s gern, wenn er wohin ginge, wo ich für ihn waschen und flicken kann; sonst bekommt er besser Kattun als Leinen, weil ja eins so vergilbt ist wie das andre, bevor es ein halbdutzendmal gewaschen ist. Und dann könnt’ ich dem Jungen, wenn der Koffer hin- und hergeht, einen Kuchen schicken oder Schweinspastete oder einen Apfel, denn er kann wohl was extra gebrauchen, der Gute, egal, ob sie das Essen knapp bemessen oder nicht. Meine Kinder können so viel essen wie andere auch, Gott sei’s gedankt.«

»Schon gut, wir werden ihn nicht außer Reichweite des Botenwagen schicken, wenn sich was Passendes findet«, sagte Mr Tulliver. »Aber du darfst uns wegen der Wäsche keine Steine in ’n Weg legen, wenn wir keine Schule in der Nähe bekommen können. Das will mir nicht recht gefallen, Bessy, dass du immer, wenn du ’nen Knüppel im Weg liegen siehst, meinst, du könntst nicht drübersteigen. Du würdst mich wohl noch dran hindern,

»Meiner Seel!«, sagte Mrs Tulliver in milder Überraschung. »Wann hab ich je was gegen einen Mann gesagt, nur weil er ein Muttermal im Gesicht hatte? Ich mag doch Muttermale sogar gern, weil mein Bruder, der nun schon unter der Erde ist, ein Muttermal auf der Stirn hatte. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass du je einen Fuhrmann mit einem Muttermal hättst einstellen wollen, Mr Tulliver. Da war John Gibbs, und der hatte ebenso wenig ein Muttermal, wie du eins hast, und ich war doch ganz dafür, dass du ihn einstellst, und so hast du’s getan, und wenn er nicht an Lungenentzündung gestorben wär’, als wir Dr. Turnbull noch für die Behandlung bezahlt haben, dann würd’ er sehr wahrscheinlich heut noch den Wagen fahren. Vielleicht hatte er ein Muttermal irgendwo, wo man es nicht sehen kann, aber wie sollt’ ich das wohl wissen, Mr Tulliver?«

»Nein, nein, Bessy, es ging mir ja gar nicht um das Muttermal; ich wollt’ damit was anderes sagen, aber gleichviel – Reden ist ein verwirrendes Geschäft. Ich denk drüber nach, wie man am besten die richtige Schule für Tom findet, denn ich könnt’ wieder Pech haben, wie mit der Lehranstalt. Ich will nie wieder was mit ’ner Lehranstalt zu tun haben; auf welche Schule ich Tom auch schicke, es wird keine Lehranstalt sein, es soll eine sein, wo die Jungen ihre Zeit anders zubringen als mit Schuheputzen für die Familie und Kartoffellesen. Es ist ’ne ganz ungewöhnlich schwierige Sache, rauszufinden, was für ’ne Schule man am besten nimmt.«

Mr Tulliver schwieg eine Minute oder zwei und schob die Hände tief in beide Hosentaschen, als ob er hoffte, dort einen Vorschlag zu finden. Offensichtlich wurde er nicht enttäuscht, denn schon sagte er: »Ich weiß, was ich tun werd – ich werd’s mit Riley besprechen. Er kommt morgen wegen dem Wehr, um zu schlichten.«

»Nun, Mr Tulliver, ich hab die Laken für das beste Bett rausgelegt, und Kezia hat sie ans Feuer gehängt. Es sind nicht die

Als Mrs Tulliver den letzten Satz aussprach, zog sie einen Bund glänzender Schlüssel aus der Tasche, hielt einen davon hoch und rieb zufrieden lächelnd mit Daumen und Finger daran entlang, während sie ins helle Feuer sah. Wäre Mr Tulliver hinsichtlich seiner ehelichen Verbindung ein empfindlicher Mann gewesen, so hätte er vermuten können, dass sie den Schlüssel nur herauszog, um ihrer Vorstellungskraft nachzuhelfen, mit der sie bereits den Zeitpunkt sah, da er in einem Zustand sein würde, der das Hervorholen der besten Leinenlaken rechtfertigte. Glücklicherweise war er das nicht, er war nur empfindlich, wenn es um sein Recht auf die Wasserkraft ging. Überdies hatte er die Angewohnheit aller Ehemänner, nicht genau hinzuhören, und seit seiner Erwähnung von Mr Riley war er ganz offensichtlich mit dem prüfenden Befühlen seiner Wollstrümpfe beschäftigt gewesen.

»Ich glaub, ich hab’s getroffen, Bessy«, war seine erste Bemerkung nach kurzem Schweigen. »Riley ist doch wohl ’n Mann, der ’ne Schule wissen sollte; er ist selbst zur Schule gegangen und kommt viel rum zum Schätzen und Schlichten und all dem. Und wir werden morgen Abend Zeit haben, drüber zu reden, wenn das Geschäftliche erledigt ist. Ich möchte, dass Tom so ’n Mann wird, wie Riley einer ist, weißt du – der so gut reden kann, als ob’s alles für ihn aufgeschrieben wär’, und der ’ne Menge Wörter kennt, die nicht viel bedeuten, so dass man sie bei Gericht nicht zu fassen kriegt, und der dazu ’ne solide Kenntnis vom Geschäft hat.«

»Nein, nein«, sagte Mr Tulliver. »Ich denke nicht daran, dass er nach Mudport gehen soll. Ich möcht’, dass er sich ein Büro in St. Ogg’s einrichtet, bei uns in der Nähe, und zu Hause wohnt. – Aber«, fuhr Mr Tulliver nach einer Pause fort, »wovor ich etwas Angst hab, ist, dass Tom nicht die rechte Sorte Verstand hat für ’nen gewitzten Mann. Ich mein, er ist ein bisschen langsam. Er schlägt nach deiner Familie, Bessy.«

»Ja, das tut er«, sagte Mrs Tulliver und nahm die letzte Behauptung als ein für sich sprechendes Urteil auf. »Es ist wunderbar, dass er so gern ordentlich viel Salz in der Brühe mag. Genauso war’s bei meinem Bruder, und davor bei meinem Vater.«

»Trotzdem scheint es doch ein wenig schade zu sein«, sagte Mr Tulliver, »dass der Junge nach der Seite der Mutter schlägt und nicht das kleine Mädel. Das ist das Schlimmste dabei, wenn man zwei Zuchten kreuzt: Man kann niemals vorausberechnen, was dabei rauskommt. Die Kleine schlägt nach meiner Seite; sie ist zweimal so aufgeweckt wie Tom. Zu aufgeweckt für ’ne Frau, fürcht ich«, fuhr Mr Tulliver fort und wiegte bedenklich den Kopf. »Es ist nicht so schlimm, solange sie noch

»Es ist schlimm, solang sie noch klein ist, Mr Tulliver, denn es führt alles nur zu Ungezogenheit. Wie ich sie zwei Stunden lang in einer sauberen Schürze halten soll, geht schon über meinen Verstand. Aber jetzt, wo du mich drauf gebracht hast –«, setzte Mrs Tulliver hinzu, stand auf und ging zum Fenster, »ich weiß nicht, wo sie jetzt ist, und es ist schon fast Zeit zum Teetrinken. Ach, das dacht’ ich mir ja – da wandert sie am Wasser auf und ab, wie ’ne Wilde, sie wird eines Tags noch reinfallen.« Mrs Tulliver klopfte kräftig ans Fenster, gab ein Zeichen zum Hereinkommen und schüttelte mit dem Kopf. Diesen Vorgang wiederholte sie mehrmals, bevor sie zu ihrem Stuhl zurückkehrte.

»Du redst von Aufgewecktheit, Mr Tulliver«, bemerkte sie, als sie sich setzte, »aber ich bin sicher, dass das Kind in manchen Dingen ’n halber Schwachkopf ist, denn wenn ich sie raufschicke, um irgendwas zu holen, vergisst sie, wofür sie gegangen ist, und setzt sich vielleicht im Sonnenschein auf’n Fußboden und flicht ihr Haar und singt vor sich hin wie ein Geschöpf aus Bedlam, und ich wart hier unterdessen die ganze Zeit. Das gab’s in meiner Familie nie, Gott sei Dank, und auch nicht so ’ne braune Haut, mit der sie wie ’n Mulatte aussieht. Ich will ja die Vorsehung nicht rausfordern, aber es ist doch hart, dass ich nur ein Mädchen habe, und das eine ist so wunderlich.«

»Ach, Unsinn!«, sagte Mr Tulliver. »Sie ist so ’n feines schwarzäugiges Mädel, wie man’s sich nur wünschen kann. Ich weiß nicht, worin sie anderer Leute Kinder nachstehen soll, und sie kann schon fast so gut lesen wie der Pastor.«

»Aber ihr Haar will sich nicht kräuseln, da kann ich mit machen, was ich will, und sie ist wie toll, wenn ich’s auf Papier rollen will, und ich hab alle Mühe, dass sie stehen bleibt und es mit dem Eisen locken lässt.«

»Wie kannst du nur so reden, Mr Tulliver? Sie ist so ’n großes Mädchen, schon über neun und groß für ihr Alter, zu alt, um ihr Haar kurz schneiden zu lassen; und ihre Kusine Lucy hat ’nen Lockenkranz um den Kopf und kein Haar, das aus der Reihe tanzt, ’s ist wohl hart, dass meine Schwester Deane das hübsche Kind haben sollte. Ich bin sicher, dass Lucy mehr nach mir schlägt als mein eignes Kind. – Maggie, Maggie«, fuhr die Mutter in einem halb zuredenden, halb ärgerlichen Ton fort, als dieser kleine Missgriff der Natur das Zimmer betrat, »warum sag ich dir wohl immer, dass du vom Wasser wegbleiben sollst? Eines Tages wirst du reinfallen und ertrinken, und dann wird’s dir leidtun, dass du nicht auf deine Mutter gehört hast.«

Maggies Haar bestätigte die Klagen ihrer Mutter auf schmerzliche Weise, als sie die Mütze wegwarf. Mrs Tulliver, die wollte, dass ihre Tochter einen Lockenkopf hätte wie ›anderer Leute Kinder‹, hatte es über der Stirn zu kurz schneiden lassen, um es noch hinter die Ohren zu kämmen, und da es gewöhnlich eine Stunde, nachdem die Lockenpapiere herausgenommen waren, wieder glatt war, warf Maggie unaufhörlich ihren Kopf zurück, um das dunkle, schwere Haar aus den glänzenden schwarzen Augen zu halten – eine Bewegung, die ihr ganz das Aussehen eines kleinen Shetlandponys gab.

»Oje, oje, Maggie, was denkst du dir dabei, die Mütze so hinzuwerfen? Nimm sie mit nach oben, sei ein braves Mädchen, und lass dir die Haare bürsten, und zieh um Himmels willen ’ne andre Schürze an und andre Schuhe, und komm und setz dich wieder an deine Flickenarbeit, wie ’ne kleine Dame.«

»Oh, Mutter«, sagte Maggie heftig aufbegehrend, »ich will aber meine Flickenarbeit nicht machen.«

»Was, keine hübsche Flickenarbeit für ’ne Decke für deine Tante Glegg?«

Maggie beendete ihren Auftritt, indem sie, die Mütze am Band hinter sich herschleifend, hinausging, während Mr Tulliver hörbar lachte.

»Ich weiß wirklich nicht, wie du drüber lachen kannst, Mr Tulliver«, sagte die Mutter leicht gereizt. »Du bestärkst sie nur in ihrer Ungezogenheit. Und ihre Tanten meinen dann wieder, dass ich es bin, die sie verwöhnt.«

Mrs Tulliver war, was man eine sanftmütige Person nennt; als Kind hatte sie nie wegen eines geringeren Anlasses als Hunger und Nadelstichen geweint, und von der Wiege an war sie gesund, blond, mollig und einfältig gewesen, kurz, die Zierde ihrer Familie, was Schönheit und Liebenswürdigkeit anlangt. Aber Milch und Milde halten sich nicht besonders gut, und wenn sie nur ein wenig sauer werden, können sie jungen Mägen ernstlich schlecht bekommen. Ich habe mich oft gefragt, ob die frühen Madonnen von Raffael mit den blassen Gesichtern und dem etwas dümmlichen Ausdruck ihre Milde noch bewahrten, als ihre kräftigen und willensstarken Knaben etwas zu alt wurden, um ohne Bekleidung auszukommen. Ich glaube, sie müssen sich auf schwachen Protest verlegt haben und immer mürrischer geworden sein, je unwirksamer er wurde.