Berlin Friedrichstraße: Tränenpalast

Von der «Niemandszeit» sprach man, von der «Wolfszeit», in der «der Mensch dem Menschen zum Wolf» geworden war. Dass sich jeder nur um sich selbst oder sein Rudel kümmerte …

Harald Jähner

Es war ein trüber Novembertag, seit fünf Jahren war Adolf Hitler Reichskanzler. Johannes stand vor den eben erst gelieferten Kisten, doch das Auspacken konnte er sich sparen. Schon wieder hatten sie mehrere Bündel Zeitungen unbrauchbar gemacht. Die letzten beiden Male hatten die rechten Rüpel Bier über die Zeitungen geschüttet, die auf dem Verkaufstresen ausgebreitet lagen, dieses Mal hatten sie sich etwas Neues überlegt. Johannes rümpfte die Nase. Dem Gestank nach zu urteilen, hatte jemand einen Eimer Jauche ausgekippt, und da Johannes nicht davon ausging, dass man die zufällig am Bahnhof Friedrichstraße mit sich rumtrug, musste er sich eingestehen, dass diese Anschläge auf ihn geplant waren. Vermutlich sollte er noch dankbar sein, dass sie ihn dieses Mal weder verprügelt noch den Kiosk angezündet hatten.

Johannes starrte auf die stinkende Bescherung zu seinen Füßen und überlegte, wie er diese am besten entsorgen könnte, ohne selber tagelang nach Schweinejauche zu stinken. Dann durchzuckte ihn ein zweiter Gedanke: Wo sollte er möglichst schnell neue Zeitungen herbekommen? Soweit er es überblicken konnte, war die Ausgabe der Berliner Morgenpost an diesem Tag verschmutzt sowie andere Zeitungen aus den jüdischen Verlagshäusern Ullstein und Mosse. Die Bündel aus dem rechten Verlagshaus Hugenberg, wo der Berliner Lokal-Anzeiger und die Tägliche Rundschau erschienen, waren nicht betroffen. Das passte, dennoch wunderte sich Johannes,

Johannes seufzte tief. Zwar stand seit dem Brand vor einigen Jahren nicht mehr der Name Johannes Rosenstein als Eigentümer auf dem Kioskschild, sondern Lilli Wagenbach, trotzdem war er selbst nur allzu bekannt. Zudem – was scherte es die Rechten, dass bereits sein Vater sich zum Christentum bekannt hatte und auch er selbst getauft war? Für die Nationalsozialisten blieb er der Jude und musste unter ihrem Rassenwahn leiden. Wie lange sollte das noch so weitergehen? Und wo würde das enden?

Unbehagen breitete sich in ihm aus, als er an die Berichte dachte, die er in den vergangenen Tagen gelesen hatte: Tausende Juden wurden mit Sonderzügen an die polnische Grenze gebracht. Deportiert. Aus der Heimat vertrieben.

Ein ungutes Gefühl ergriff von ihm Besitz und breitete sich wie eine eiskalte Welle in ihm aus. Der Gedanke war ihm schon einige Male gekommen, und er hatte ihn stets rüde beiseitegeschoben: So schlimm würde es schon nicht werden. So schlimm durfte es nicht werden. Doch heute ließen sich seine innersten Befürchtungen nicht mehr unterdrücken: Es würde schrecklich werden, vermutlich schrecklicher, als es sich irgendeiner vorstellen konnte!

 

«Ich werde weggehen», sagte Johannes, als er am nächsten Abend am gediegenen Esszimmertisch in der großen Wohnung seines Freundes Robert Platz genommen hatte. «Aus Deutschland weggehen!»

Alle Augen richteten sich auf ihn. Fragend, verwundert, entsetzt. Robert, der Gastgeber, mit dem er schon zur Schule gegangen war und dann in den Großen Krieg, Roberts Tochter Lilli, die inzwischen zwölf Jahre alt war und das Gymnasium in Charlottenburg

Lilli reagierte als Erste. Sie sprang von ihrem Stuhl auf, lief um den Tisch und schlang ihre Arme um Johannes. «Nein, Onkel Johannes, das darfst du nicht. Du wirst mich doch nicht alleine lassen.»

Johannes drückte einen Kuss auf ihr wie eine Kastanie glänzendes Haar und sah in ihre Augen, in denen Tränen zu schwimmen begannen. Es waren Luises Augen, deren Blick ihm bis ins Mark fuhr, selbst wenn Lillis Augen eher grünlich als blau waren. Auch das herrlich blonde Haar ihrer Mutter hatte sie nicht geerbt, war mit ihrer Lockenpracht aber nicht minder hübsch als Luise in diesem Alter.

«Und was ist mit mir?», schaltete sich Ilse ein. «Mich willst du auch so einfach hier sitzen lassen?»

Johannes schüttelte den Kopf. «Nein, ich möchte dich bitten, mit mir zu kommen.»

Robert machte eine abwehrende Handbewegung. «Unterlass solche Scherze. Was sollte denn dann aus dem Kiosk werden?»

«Vielleicht komme ich irgendwann wieder zurück.» Johannes hob die Schultern.

Roberts Augen weiteten sich. «Dir ist es wirklich ernst? Aber warum denn? Ich meine, ist etwas passiert?»

«Ein neuer Anschlag auf meine Zeitungen. Der Schaden hält sich in Grenzen, aber das ist es nicht. Nicht allein. Wir leben zunehmend in einem Klima von Misstrauen und Angst. Seht ihr denn nicht, was da läuft? Wer jemals dachte, die Nazis würden sich schon mäßigen, wenn Hitler erst einmal Reichskanzler ist, der hatte in den vergangenen Jahren genug Zeit, sich vom Gegenteil zu überzeugen. Die Hetze wird immer schärfer, inzwischen schrecken sie nicht einmal mehr davor zurück, Menschen aus ihren Häusern zu

«Ja, das ist schrecklich», stimmte Ilse ihrem Bruder zu. «Im Osten auf dem Land gehen seltsame Dinge vor sich, aber wir sind hier in Berlin!»

Sie schwiegen, als sich die Tür öffnete und Elfriede, die Haushälterin, den Servierwagen hereinschob. Sie verteilte die Platten mit Braten, Soße, Gemüse und Kartoffelklößen auf dem Tisch, wünschte den Herrschaften einen guten Appetit und zog sich wieder in die Küche zurück.

«Lilli, setz dich bitte auf deinen Platz», meldete sich die fünfte Person am Tisch zu Wort, die bisher geschwiegen hatte.

Widerstrebend löste sich Lilli von Johannes und kehrte zu ihrem Stuhl neben ihrer Großmutter zurück. Gertrud Richter hatte in diesem Jahr ihren siebzigsten Geburtstag gefeiert. Der frühe Tod ihrer Tochter Luise hatte sie hart getroffen, dennoch hielt sie sich mit eisernem Willen aufrecht. Johannes war sich sicher, dass ihre Enkelin, von der sie ja nur ein Stockwerk entfernt wohnte und die die Zeit nach der Schule häufig bei ihr verbrachte, ihren Lebensmut aufrechterhielt. Zwar kümmerte sich auch Ilse um ihr Patenkind, doch sie war beruflich eingespannt und hatte längst nicht so viel Zeit wie Lillis Großmutter.

Nun übernahm Gertrud das Zepter und verteilte das Essen auf die Teller. Eine Weile aßen alle schweigend, bis Ilse ihre Gabel beiseitelegte und ihren Bruder fixierte.

«Und wohin willst du gehen?»

«Nach Frankreich.»

«Wohin in Frankreich?», erkundigte sie sich, während Robert gleichzeitig aufbegehrte: «Ausgerechnet zu den Franzosen? Sind wir nicht in den Schützengräben gelegen, um unsere Erbfeinde zu töten?»

Robert schnaubte. «Nicht im Krieg, denn wenn nicht ich geschossen hätte, hätten sie es getan, und du könntest mich das jetzt nicht mehr fragen.»

«Paris», murmelte Ilse, und plötzlich begannen ihre Augen zu funkeln. «Ja, Paris wäre nicht schlecht. Dort ließe sich etwas anfangen. Vielleicht sollte ich Französisch lernen?»

«Ich will auch mit!», rief Lilli und sah zwischen Johannes und ihrer Patentante hin und her.

Ilse sackte ein wenig in sich zusammen. «Nein, Schatz, das geht nicht. Außerdem willst du doch sicher bei deinem Papa und der Großmutter bleiben.»

Lilli schob die Unterlippe vor und verschränkte die Arme vor der Brust. «Ich will, dass alle bleiben!»

Erneut senkte sich betretenes Schweigen herab, während Elfriede die Teller abräumte, den Pudding mit eingemachten Kirschen servierte und Kaffee und Tee einschenkte.

Lilli blieb bockig und rührte ihren Pudding nicht an. «Ich will das nicht», beharrte sie.

«Es können sich aber nicht alle nach dir richten», bemerkte ihr Vater streng und fuhr dann, zu Johannes gewandt, fort: «Vielleicht hast du recht. Vielleicht ist es besser, wenn ihr für eine Weile weggeht und abwartet, bis der ganze Spuk vorbei ist. Es wird ja wohl nicht ewig so weitergehen! Irgendwann haben die Leute von Hitlers und Goebbels Kampfreden die Nase voll und werden wieder vernünftig.»

«Wenn es nur keinen neuen Krieg gibt», sagte Gertrud leise.

«Aber es wird Krieg geben!», behauptete Johannes. «Hört euch nur Hitlers Reden an.»

«Und was willst du mit dem Kiosk machen?», wollte Robert wissen. «Ihn verkaufen?»

Johannes nickte. «Ich denke, ich werde mich nach einem Pächter umsehen.»

«Du willst tatsächlich gehen.» Ilse seufzte. Sie schob Lilli die verschmähte Puddingschale wieder hin. «Iss, du magst ihn doch so gerne. Ich bleibe ja bei dir.»

«Und Onkel Johannes?»

«Der schaut sich in Paris um, wie das dort so ist, und wenn er eine hübsche Wohnung gefunden hat, dann besuchen wir ihn und sehen uns zusammen den Eiffelturm an.»

«Versprochen?» Lilli schaute zu Johannes hinüber, bis dieser nickte. Erst dann griff sie nach ihrem Löffel und schaufelte sich Vanillepudding mit Kirschen in den Mund.

 

Am nächsten Tag schoss der polnische Jude Herschel Grynszpan auf den deutschen Botschafter in Paris, NSDAP-Funktionär Ernst vom Rath, nachdem Grynszpan erfahren hatte, dass seine Familie von Deutschen aus ihrem Haus vertrieben worden und mit vielen anderen Juden ins Niemandsland zwischen Deutschland und Polen deportiert worden war. Mit Schaudern las Johannes ein paar Zeilen aus dem Leitartikel des Völkischen Beobachters:

Es ist klar, daß das deutsche Volk aus dieser neuen Tat seine Folgerungen ziehen wird. Es ist ein unmöglicher Zustand, daß in unseren Grenzen Hunderttausende von Juden noch ganze Ladenstraßen beherrschen, Vergnügungsstätten bevölkern und als «ausländische» Hausbesitzer das Geld deutscher Mieter einstecken, während ihre Rassengenossen draußen zum Krieg gegen Deutschland auffordern und deutsche Beamte niederschießen.

In dieser Nacht brannten die ersten Synagogen, jüdische Einrichtungen und Friedhöfe wurden zerstört, Scheiben eingeschlagen und Läden verwüstet oder in Brand gesetzt. In Zivil gekleidete Männer zerrten Juden aus ihren Wohnungen und misshandelten sie auf offener Straße unter den Augen und dem Beifall der Umstehenden. Johannes war sich sicher, dass viele der aufgebrachten Bürger, die mit Hand anlegten und die Umstehenden anstachelten, üblicherweise die Uniformen von SA oder SS trugen. Er verrammelte seinen Kiosk, so gut es ging, und floh in Ilses Wohnung in die Kommandantenstraße. Während der Mob auf dem nahen Hausvogteiplatz tobte, hatten die Geschwister Glück und blieben in ihrer Wohnung unbehelligt.

Am nächsten Tag, dem 10. November 1938, bestieg Johannes einen Zug, der ihn nach Paris brachte. Weder Robert noch Ilse versuchten, ihn aufzuhalten.

Um genau 3:38 Uhr begann in den ersten Morgenstunden des 2. Februar 1945 das anschwellende Heulen der Sirenen. Fliegeralarm. Schon wieder.

Lilli fuhr aus ihrem kurzen, unruhigen Schlummer und schwang die dick bestrumpften Beine über die Bettkante. Sie fühlte eine tiefe Erschöpfung und war unendlich müde, gleichzeitig war sie hellwach und versuchte, neben dem an- und abschwellenden Warnton die Geräusche der Nacht einzufangen und zu sortieren. Eine der Zwillinge fing an zu schreien. Ihre Schwester stieg mit schrillem Geheul ein, das sogar die Sirenen übertönte. Rasch schlüpfte Lilli in ihre Schuhe und warf sich den Mantel über, der neben dem Bett bereitlag. Sie hatte sich eh vollständig angezogen ins Bett gelegt, was einerseits der Winterkälte und ihren kärglichen Kohlevorräten geschuldet war, andererseits bei nächtlichem Alarm kostbare Zeit sparte.

Alle Handgriffe waren vielfach eingeübt. Lilli schlüpfte in die Riemen ihres schweren Rucksacks und griff dann nach den Henkeln der beiden Weidenkörbe, die seit den zunehmend nächtlichen Bombenangriffen zu Bettchen für die nun drei Monate alten Zwillinge umfunktioniert worden waren. In jedem strampelte und schrie eines der Mädchen, lautstark gegen die nächtliche Störung protestierend.

«Ihr habt völlig recht», murmelte Lilli und wankte mit Rucksack

«Hilf Lilli», drängte die Mutter, als Rainer schon die Hand nach einem der übergroßen Henkelkörbe ausstreckte. Dankbar überließ Lilli ihm eines der schreienden Kinder, griff mit der freien Hand nach dem Geländer und hastete hinter den Nachbarn die Treppe hinunter. Aus der Erdgeschosswohnung wankte Frieda Niedham, die den kleinen Laden direkt neben der Wohnung betrieb, der früher einmal ihrem Vater, Herrn Stöckler, gehört hatte. Nun ja, streng genommen war ihr Mann Reinhard jetzt der Chef über das nur noch spärliche Warenangebot, doch der kämpfte seit vielen Monaten, wie alle anderen Männer des Hauses auch, irgendwo an der Front.

Alle außer Friedas Onkel Werner Volkhardt, im letzten Krieg schwer verwundet, der als einziger Mann im Haus an der Kommandantenstraße den Posten als Luftschutzwart für diese Hausgemeinschaft übertragen bekommen hatte. Damit war er verantwortlich für die Einteilung weiterer wichtiger Posten. Da war, ganz wichtig, die Hausfeuerwehr: Marion, Gerda und Christa aus dem zweiten Stock, die beim Einsatz von Brandbomben Löschversuche unternehmen mussten, bis – wenn überhaupt – die richtige Feuerwehr eintraf. Da war aber auch Erika als Laienhelferin, die eine Schulung als medizinische Hilfskraft hatte besuchen müssen. Und dazu gehörte der sogenannte Melder, der bei Bombentreffern noch

Noch auf dem Weg in den Keller konnte Lilli beim Abschwellen des Sirenentons die ersten Flugzeugmotoren hören. Wieder die Briten, da war sie sich sicher. Es waren immer die Briten, die die Berliner mit ihren Bomben nachts aus dem Schlaf rissen; die amerikanischen Flieger griffen bei Tag an. Noch waren die Tommys weit genug weg – und sie mussten in ihrem nur spärlich beleuchteten Keller nicht beim Pfeifen der fallenden Bomben ängstlich die Köpfe einziehen. Die ersten Detonationen klangen wie fernes Gewitter, die Flak begann zu bellen.

Erschöpft stellte Lilli den Korb mit der weiter schreienden Cornelia auf den Boden, streifte den Rucksack ab und ließ sich auf ihren niederen gepolsterten Stuhl an der Wand fallen. Rainer stellte den anderen Korb, in dem Anne lag, daneben und setzte sich dann zu seiner Familie. Jeder hatte seinen festen Kellerplatz, den er sich so wohnlich wie möglich eingerichtet hatte. Lilli rückte sich zwei Kissen in ihrem schmerzenden Rücken zurecht und streichelte mit jeder Hand eines der vom Schreien erhitzten Kindergesichter, während ihr Blick durch den Raum wanderte. Die Petroleumlampe, die an einem Balken hing, spendete ein wenig Licht. Weiter hinten aus den Schatten leuchteten die auf Augenhöhe rundum mit Phosphor bestrichenen Balken in diffusem Grün, damit keiner mit dem Kopf dagegenstieß, sollte die Lampe verlöschen. Das Gas war sicher schon mit der ersten Vorwarnung abgestellt worden, und der Strom fiel sowieso häufig aus.

Lilli spürte die missbilligenden Blicke einiger der Kellergestalten

Ja, Bomben und Kindergeschrei mitten in der Nacht waren für die Nerven vermutlich zu viel. Lilli sah nicht einmal zu ihm auf. Stattdessen nahm sie Cornelia aus dem Korb, griff nach der Decke, die das Mädchen weggestrampelt hatte, und wickelte sie darin ein. Unter ihrem halb offenen weiten Mantel knöpfte Lilli die Bluse auf und entblößte ihre Brust. Gierig schloss sich der Kindermund um ihre Brustwarze und saugte sich geradezu gewaltsam daran fest. Vermutlich war nicht mehr viel zu holen. Kein Wunder, wenn sie daran dachte, was sie in den vergangenen Wochen gegessen hatte: überlagerte Kartoffeln, Grießbrei, mit Wasser gekocht, oder Brotsuppe und die allgegenwärtigen Rüben, die nach allem oder nichts schmecken konnten. Doch mit was sollte man ihnen auch Geschmack verleihen? Alles war knapp und teuer oder einfach nicht zu bekommen, und zum Ende des Winters gab es nicht einmal mehr Kräuter zu sammeln, die noch im Sommer am Ufer des Kanals und in den Ruinen zerbombter Häuser zu finden waren. Löwenzahn und Brennnesseln gegen Skorbut! So weit waren sie schon gekommen!

Nun, da Cornelias Gebrüll verklungen war, konnte man neben den fernen Bombeneinschlägen und dem Bellen der Flak das Greinen ihrer zweitgeborenen Schwester Anne hören. Lilli spürte einen Anflug von schlechtem Gewissen. Von Anfang an hatte sich Cornelia, was ihr zustand, energisch erkämpft. Sie kam Lilli wie ein Kuckuckskind vor, das die Schwächere gnadenlos aus dem Nest drängt. Anne dagegen war zart und ruhig, weniger robust und kam immer ein wenig zu kurz, fürchtete Lilli. Sie schob Anne den alten Schnuller in den Mund, den sie selbst nach ihrer Geburt geschenkt bekommen hatte. Natürlich war der Schnuller mit dem Beißring alt, und es hatte in besseren Tagen modernere Dinge für ein Baby

Einsamkeit, das Gefühl, verlassen zu sein, teilte Lilli dieses Schicksal nicht mit fast allen Nachbarn hier unten im Keller? Berlin war eine Stadt der Frauen und Mädchen geworden. Väter, Ehemänner und Söhne waren an der Front, gefallen oder verschollen. Nur Alte und Versehrte wie Volkhardt oder Jungs wie Rainer waren noch da. Menschen eben, die Hitler in seinem Krieg nicht gebrauchen konnte. Wobei der Kreis derer, für die der Führer keine Verwendung fand, immer mehr schrumpfte, je schlechter die Lage auf den Schlachtfeldern rund um Deutschland zu werden schien. Im vergangenen September hatte der Führer propagandawirksam den Volkssturm ins Leben gerufen, in dem alle waffenfähigen Männer zwischen sechzehn und sechzig Jahren, die noch nicht der Wehrmacht dienten, zur Verteidigung des Heimatbodens eingesetzt werden sollten. Die ersten Verbände waren den Berlinern zum Jahrestag der Völkerschlacht von Leipzig im Oktober bei einer Parade vorgeführt worden, wie üblich begleitet von aufpeitschenden Reden des Reichspropagandaministers Goebbels. Ob er auch nur ein einziges Wort seiner Reden selbst glaubte? Die Leute, die Lilli kannte, misstrauten den tönenden Phrasen jedenfalls schon lange.

Endlich schien Cornelia zufrieden, und Lilli packte sie in ihren Korb zurück, ehe sie der kleinen Anne die andere Brust anbot. Ihr Blick streifte Volkhardt, der herüberstarrte, der alte Idiot. Und auch Rainer, der wie seine beiden Schwestern an einem belegten Brot kaute, sah immer wieder zu Lilli, die sich bemühte, ihren nackten Busen unter dem Mantel zu verbergen. Als sich ihre Blicke kreuzten, schaute der Junge rasch zu Boden. Vermutlich wurde er sogar rot, aber das konnte sie in dem trüben Licht nicht erkennen. Erika wühlte in ihrem Bunkerkoffer und brachte noch eine zusammengeklappte Brotscheibe zum Vorschein. Sie nickte Lilli mit einem Lächeln zu, und schon kam Margret mit dem Brot in der Hand und hielt es ihr hin. Dankend nahm Lilli an. Hunger hatte sie eigentlich immer. Kein Wunder, ihre beiden kleinen Vampire saugten sie ja förmlich aus. Das dunkle Brot war mit irgendeiner Paste aus Gott weiß was beschmiert, die aber gar nicht schlecht schmeckte.

Während irgendwo in einem der benachbarten Stadtviertel Bomben fielen, Dächer und Wände barsten und Dachstühle in Flammen aufgingen, lächelte Lilli zu Erika hinüber und ließ sich den sorgsam vorbereiteten Luftangriffsproviant schmecken. So saßen sie in ihrer Zwangsgemeinschaft beisammen, bis um 4:31 Uhr Entwarnung gegeben wurde. Alle schleppten sich und ihr Notgepäck in die Wohnungen zurück, um wenigstens noch zwei, drei Stunden Schlaf zu bekommen.

***

Lilli straffte die Schultern, schob sich in den Laden und ergatterte tatsächlich noch zwei Brote. Erst dann rannte sie, die Beute fest unter den Arm geklemmt, im Schatten der Häuserfronten zurück in ihre Straße, während die Flugzeuge weiter südlich, vermutlich Richtung Tempelhofer Feld, erste Bombenladungen herabregnen ließen. Die vielen Explosionen verschmolzen zu einem auf- und abschwellenden Dröhnen, das immer näher kam. Die Erde rumorte und bebte.

An einer Ecke blieb Lilli mit Seitenstechen kurz stehen und sah die Straße nach Süden runter. Vor Schreck bekam sie einen Schluckauf. Der Himmel schien übersät von Flugzeugen, ein Schwarm schwarzer Rieseninsekten tauchte über den Dächern auf und raste auf sie zu, als wollte er ganz Berlin verschlingen. Das mussten viele Hundert Maschinen sein! Lilli rannte weiter. Hoffentlich war Erika mit den Kindern schon im Keller. Das Pfeifen der herabfallenden Bomben schrillte in ihren Ohren. Das ohrenbetäubende Krachen der Explosionen, dann das Donnern zusammenstürzender Mauern. In Wellen umwehten sie der Rauch und der Geruch nach Brandbomben. Luftminen, Spreng- und Phosphorbomben regneten vom Himmel. Und dann traf nicht weit von Lilli entfernt einer der berüchtigten Wohnblockknacker, wie sie genannt wurden, die unvorstellbare Verwüstungen anrichteten.

Lilli sah Erika, die auf sie einredete, doch sie verstand kein Wort und konnte nur den Kopf schütteln. «Mir ist nichts passiert», versuchte sie zu sagen, während Erika ein Tuch in einen Wassereimer tauchte und damit Blut und Dreck aus Lillis Gesicht wusch. Bebend ließ sich Lilli auf ihren Stuhl sinken. Erika war hilfsbereit und lieb, dennoch sehnte sich Lilli plötzlich nach den Menschen, die ihr so vertraut waren und die sie aufgezogen hatten: nach ihrem Vater Robert und ihrer Patin Ilse, nach ihrer Großmutter Gertrud und nach Ella Weber, die auch draußen in Charlottenburg wohnte. Die treue Ella ihrer Kindertage aus dem Hinterhaus, die später mit ihrem Sohn Michael bei Großmutter zur Untermiete gewohnt hatte. Und sie sehnte sich nach Johannes, Ilses Bruder, der immer für sie da gewesen war und den sie sogar noch mehr liebte als ihren Vater.

***

Die Innenstadt von Berlin war nicht mehr wiederzuerkennen. Nicht einmal zwei Stunden hatte der Fliegeralarm am 3. Februar 1945 gedauert, bis der erlösende Entwarnungston in die Berliner Keller und Bunker drang. Und nicht einmal zwei Stunden waren nötig

Als die Menschen aus den Kellern auf die Straßen hinausquollen, war die Luft von Staub und dichtem Qualm erfüllt, der den Himmel verbarg und den Stand der Sonne nur noch vage erahnen ließ. Lilli stand mit den Körben in beiden Armbeugen neben der Haustür und starrte ihre Straße hinunter, wo aus geborstenen Wänden und zerstörten Dächern Flammen in die Höhe schlugen. Von den Häusern, die bisher den Blick nach Süden verwehrt hatten, waren nur Trümmerhaufen geblieben. Auch Richtung Stadttheater und Reichsdruckerei stieg schwarzer Rauch auf. Zumindest waren die Feuerwehrleute der Hauptwache so nah dran, dass sie nicht einmal ihre Feuerwehrwagen besteigen mussten, zu zahlreichen anderen Bränden in der Stadt rückten sie mit jaulenden Sirenen aus. Kleinere Brände mussten die Hausgemeinschaften eh selbst bekämpfen. Dazu musste man – seit Goebbels Aufruf zur ständigen Luftschutzbereitschaft von 1943 – stets wassergefüllte Badewannen und Eimer vor allem in den oberen Stockwerken sowie Gartenschläuche bereithalten und, wenn kein Wasser da war, Sandsäcke und Feuerpatschen.

Warum haben wir nicht einen Gedanken daran verschwendet, was da auf uns zukommen könnte?, wunderte sich Lilli nicht zum ersten Mal, als sie jetzt mit ihren Kindern auf dem Gehweg stand. Dabei war bereits zwei Jahre vor dem Einmarsch in Polen der Polizeipräsident von Berlin auch zum Leiter des Luftschutzes ernannt worden. Zudem hatte eine Verordnung die Berliner Bevölkerung angewiesen, aus Brandschutzgründen alle Dachböden zu entrümpeln und das Holz mit Feuerschutzmittel zu behandeln. Und bereits im Mai 1939 war eine Verdunklungsverordnung erlassen worden.

«Wir haben mal wieder Glück gehabt», sagte Erika und nahm Lilli einen der Körbe ab.

«Ganz im Gegensatz zu vielen anderen», stellte Lilli fest.

Auch das Nachbarhaus hatte deutlich mehr abgekriegt. Die Fassade war fast vollständig eingestürzt, und die Trümmer versperrten die Eingangstür. Zum Glück hatten die beiden Hausgemeinschaften im zweiten Kriegsjahr gemäß der Aufforderung für Sicherungsmaßnahmen gegen Luftangriffe eine Wand zwischen beiden Kellern durchgebrochen und einen Zugang geschaffen, durch den die Nachbarn gerade auf die Straße traten. Die ersten Frauen begannen schon die Trümmer vor der Haustür wegzuräumen. Die Wohnungen waren vermutlich nur noch zum Teil bewohnbar. Die Südwand fehlte fast völlig, und an der Westseite klafften riesige Löcher, durch die man in die Zimmerreste sehen konnte. Im zweiten Stock ragte ein halbes Kinderbett mit einer hellblauen Decke gefährlich über die Bruchkante. Das dazugehörende Bürschchen kam zum Glück gesund und munter auf dem Arm seiner Mutter aus dem Keller.

«Lass uns hochgehen», schlug Erika vor. «Ich helfe denen oben beim Aufräumen, und du legst dich hin und ruhst dich ein bisschen aus.»

Lilli musste ihr die Worte von den Lippen ablesen, denn in ihren Ohren dröhnte und rauschte es noch immer, ihr Kopf schmerzte, und ihr war übel, daher widersprach sie nicht. Nachdem sich die

Später gab es Graupensuppe unten bei Frieda, die meist nach den Luftangriffen für alle im Haus einen großen Topf Suppe oder Eintopf kochte und dafür auf die Ladenvorräte zurückgriff. Ihr Vater, der alte Stöckler, hätte sicher nicht anders gehandelt. Bei Friedas Mann allerdings hatte Lilli so ihre Zweifel, und Volkhardt beschwerte sich eh über alles. Seine Kritik zu überhören, darin hatte Frieda Übung. Jedes Mal versuchte der Luftschutzwart durchzusetzen, dass die Hausbewohner ihre Suppe bezahlten, doch davon wollte seine Nichte nichts wissen. Dank Friedas Großzügigkeit blieb es ihnen erspart, sich in die Schlangen vor den städtischen Suppenküchen einzureihen, die nach Luftangriffen erstaunlich schnell in den Notunterkünften für Ausgebombte Essen anboten. Draußen in Hohenschönhausen hatte die Nationalsozialistische Wohlfahrt auf einem Fabrikgelände eine Großküche errichtet, von der aus das Stadtzentrum und die nahen Wohnviertel versorgt wurden.

Nun saßen sie also alle um Friedas Esstisch: Lilli und Erika mit ihren Kindern, Herr Volkhardt und seine Schwester, die verwitwete Lehrerin Johanna Förster, die zusammen die kleine Wohnung im zweiten Stock bewohnten, sowie die Familie Leonhardt aus der großen Wohnung über Erika. Dem dazugehörigen Großvater würden sie später eine Schüssel Suppe hochbringen müssen.

Frieda verschwand noch einmal in den Kellerräumen des Ladens und kam mit zwei Flaschen Wein zurück. «Dass wir diesen Tag so gut überstanden haben – na, wenn das kein Grund zum Trinken ist!», verkündete sie und griff nach einem Korkenzieher.

«Ja, wer weiß, wie lange wir noch trinken können», grummelte Johanna und stürzte den Inhalt ihres Glases in einem Zug hinunter.

«Auf die, die wir lieben», sagte Lilli und dachte an ihren Vater

***

Wie betäubt saß Michael 1944 seiner Mutter am Tisch gegenüber. Sie streckte den Arm aus, um ihn zu berühren, doch er zog seine Hand so hastig zurück, dass der Stuhl, auf dem er saß, mit einem unangenehmen Geräusch über den Boden scharrte.

«Ich musst es dir sagen, bevor’s zu spät is», fügte Ella unsicher an.

«Ehe es zu spät ist», wiederholte Michael langsam. «Na ja, dann hält mich hier ja nichts mehr fest, oder? Dann brauche ich nicht im Untergrund mein Leben zu riskieren und ab und zu wie ein Verbrecher nachts zu Ilses Wohnung schleichen. Der Genosse wird sich freuen, wenn ich mich seiner Reise nach Moskau anschließe. Er sagt, dort können sie einen Mann wie mich mit solch einem ungewöhnlichen Gedächtnis und dem Blick für das Verborgene gut gebrauchen. Die KPD wird mein Talent schätzen! Ich werde studieren dürfen, denn dort muss man nicht die richtigen Eltern haben, um auf die Technische Hochschule zu gehen. Ich war in der Schule immer der Beste in Mathematik und Physik, und trotzdem hatte keiner den Einfall, ich solle Abitur machen!»

«Du hast doch zur Polizei wolln», erinnerte Ella.

Michael starrte sie an. «Ja, weil ich sonst keine Möglichkeiten hatte. Ich wäre gern Ermittler bei der Kripo geworden, und ich würde das gut machen! Ich sehe einfach Dinge und Zusammenhänge, die anderen nicht auffallen. Aber das Polizei-Institut hier in Charlottenburg wurde ja zu einer Führerschule der Sicherheitspolizei umgewandelt. Weißt du, was bei denen neben Kriminalwissenschaft und Rechtskunde noch auf dem Stundenplan steht? Zur

Ella war blass geworden und schüttelte wild den Kopf. Sie wollte das nicht hören – und lenkte ab. «Wirste ihr Bescheid sagen?»

«Ich? Warum ich? Nein, ich werde morgen nach Moskau abreisen und verschwinden. Für immer.»