Sibylle Berg
Und jetzt: die Welt!
Oder: Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen
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Sibylle Berg schreibt Romane, Theaterstücke, Essays und Kolumnen (u.a. für NZZ und Spiegel Online). Ihr Roman «Der Mann schläft» war 2009 in der Auswahl für den Deutschen und «Danke für das Leben» (beide: Hanser Verlag) 2012 in der Auswahl für den Schweizer Buchpreis. Sibylle Berg war mit «Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot» (2000), «Helges Leben» (2001), «Hund, Frau, Mann» (2002) und «Die goldenen letzten Jahre» (2009) für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert. Die Hörspielfassung von «Das wird schon. Nie mehr Lieben!» wurde von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste zum Hörspiel des Monats gewählt. Im Juni 2008 wurde Sibylle Berg für ihr Werk mit dem Wolfgang-Koeppen-Literaturpreis der Universitäts- und Hansestadt Greifswald ausgezeichnet.
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Sie sind klug, gut ausgebildet und leben in prekären Verhältnissen, weil auch das x-te Praktikum kein Geld bringt. Sie verkaufen selbstgekochte Drogen im Internet, schreiben Mode-Blogs und steigern den Marktwert ihres Körpers im Fitnessstudio, obwohl sie den Markt verachten. Sie kommunizieren per Skype, SMS, Chat oder Telefon, und doch bleibt da ein Gefühl von überwältigender Einsamkeit. Eine junge Frau bilanziert in Sibylle Bergs «Text für eine Person und mehrere Stimmen» ihr bisheriges Leben: früher Mitglied einer brutalen Mädchengang, heute friedlich Yoga, früher unbeholfenes Knutschen mit Jungs im Zeltlager, heute Gender-Fragen und die Projekte «Sex» und «Liebe» mit Männern oder Frauen, früher hochfliegende Ideale, heute Pragmatismus. Sehnsucht ist etwas, das man hauptsächlich aus Filmen kennt, Familie ein Verbund, den man sich selbst zusammenstellt, und immer lauert draußen die Welt, stellt Forderungen und diktiert Bilder, denen man unmöglich genügen kann.
Gnadenlos und zugleich mit großer Zärtlichkeit porträtiert Sibylle Berg vier Frauen Anfang 20, die – schwankend zwischen Aggression und Apathie, Aufbruch und Abgeklärtheit – unsicher sind, wofür sie kämpfen sollen, und bei denen schon das Wort «wir» für berechtigte Skepsis sorgt.
Originalausgabe
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2014
Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Aufführungsrechte: Rowohlt Theater Verlag, Hamburger Straße 17, 21465 Reinbek
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Umschlaggestaltung any.way, Cathrin Günther (Foto: thinkstockphotos.de)
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Satz Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-644-90571-9
www.rowohlt.de
www.rowohlt-theater.de
ISBN 978-3-644-90571-9
Ein Text von Frau Berg für eine Person und mehrere Stimmen. Oder anders.
Während des Textes wird gefilmt. Eine Idee: Man sieht den Adressaten des Videos im Keller. Oder nur seine Augen. Oder ganz anders.
Die Freundinnen und die Mutter können auftauchen, müssen aber nicht.
Gerne viel Musik.
Hart muss ich werden, um zu wissen,
was zählt, was wichtig ist,
und dann
kann ich der Welt die Antwort geben,
die ist: Ich muss hier überleben.
Muss Sieger sein, mit aller Macht –
nicht angerührt, nicht ausgelacht,
auch nicht bedrängt und kleingemacht.
Ich werde meinen Körper stählen,
fickt euch ins Knie und gute Nacht!
Ich bin beeindruckt von meiner Fähigkeit zu reimen.
Und der, Versprechen einzuhalten.
Ich zeige dir die Welt. Die Welt der Normalen. Du weißt schon – der Leute mit Hoffnung.
Und du bist ruhig.
Das war der Deal.
Menschen ertragen ihr Leben nur mit Hoffnung.
Wie geht es dir eigentlich?, fällt mir da unzusammenhängend ein. Hoffst du, irgendwann noch einmal die Sonne zu sehen? Ich, um von dem zu reden, was mich am meisten interessiert, glaube mal, das wird nichts.
Dumm gelaufen.
Meine Hoffnung, auch wenn du nicht danach fragst, ist, dass da draußen ein Mensch auf mich wartet. Warten können sie, die Jungen, sie sind fast alle arbeitslos. Oder studieren, um im Anschluss arbeitslos zu sein. Oder sie befinden sich in einem Praktikum. Für zehn Jahre. Problemlos könnte da also jemand herumlungern und auf mich warten. Eine junge Frau mit grünen Augen und Interesse an Kung-Fu. Vielleicht heißt sie Lina.
Mein Mensch befindet sich vielleicht genau jetzt an seinem Fenster, sieht dahin, wo vor dem Dauerregen mal Himmel war, und fragt sich, ob in einem Liebeskontext ein anderes Gefühl hergestellt werden kann als Schmerz. Irgendwann tut es doch immer weh. Weil einer will und der andere nicht oder einer nicht mehr will oder beide nicht genug, und dann sitzt man sich gegenüber und wundert sich.
Summen.
Vor dem Fenster kreisen schon wieder Spionagedrohnen. Das neue Hobby halbwüchsiger junger Männer, die sich die Dinger aus 3D-Printern ausdrucken und dann auf die Suche nach Geschlechtspartnern schicken. Demnächst werden sie ihre Penisse an diese Drohnen hängen. Prost. Es gibt Schlimmeres.
Jung zu sein und am Abend alleine zu Hause zum Beispiel. Meine selbst zusammengestellte Familie ist auswärts. Gemma beim Shoppen, Minna beim Sport, und ich hänge hier rum und mache ein Video, das außer dir, lieber Paul, keiner zu sehen bekommen wird.
Guten Abend, meine Möbel,
was habt ihr heute so gemacht?
Bin ich daheim, schnappt mich die Stille,
das Bett, der alte Hund, der lacht.
Es riecht so einsam in der Wohnung,
die Lampe hängt so gelb darin.
Und ich weiß nicht, was ich lieber,
alleine oder Gruppe bin.
Liebe gibt’s doch nur in Liedern,
im Leben gibt’s doch so was nicht.
Wenn dich die Sehnsucht richtig packt,
dann ist es Nacht, und du bist nackt.
Ich rede noch was zu mir selber,
dann lösche ich mit Angst das Licht.
Obwohl ich nicht darauf brenne, nackt zu sein. Und Sehnsucht das falsche Wort ist. Ich sehne mich nur nach Orten und Dingen, die ich kenne. Also zum Beispiel sehne ich mich nicht nach dem Gipfel des Himalaya oder nach einer Darmspiegelung, sondern nach einem Gefühl, das mir aus Filmen bekannt ist. Ich wurde noch nie von einem Menschen geliebt. Also in diesem gewaltigen, durch die Medien und Kunst aufgeladenen Sinn. Jemanden, der, ohne sich an mich gewöhnt zu haben, von mir bezaubert ist, gibt es nicht. Dabei entspreche ich rein optisch allen Parametern, die ein begehrenswerter Mensch unserer Zeit zu erfüllen hat. Ich habe gute Zähne und bin politisch korrekt.
Hör ich dich widersprechend wimmern, Paul?