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Tut Sand in die Maschine.

Hans Fallada

Wenn der Nebel so über dem Sund aufstieg, ja geradezu gen Himmel dampfte, war es schwer zu glauben, dass eigentlich Sommer war. Fanny Wolff band sich die Schnürsenkel etwas fester zu. Sie atmete noch einmal tief durch und stemmte ihren langen schlaksigen Körper aus seiner gebeugten Haltung in die Höhe. Dann lief sie weiter. Ihre pinkfarbenen Turnschuhe leuchteten wie kleine Bojen, während sie sich, zwei ablegenden Schiffen gleich, kontinuierlich vom Hafen entfernten. Die Sundpromenade mit ihrem Kopfsteinpflaster lag morgens um fünf wie ausgestorben da. Und auch auf der Ostsee wippten nur ein paar Möwen und Schwäne teilnahmslos in den kurzen, abgehackten Wellen auf und ab. Hinter Fanny verblasste der Hafen Stück für Stück im Morgennebel. Sie lief gleichbleibend schnell, so als hätte jemand in ihr einen Tempomat angestellt. Ihr Atem begleitete sie dabei wie ein Metronom. Ein vertrautes, beruhigendes Geräusch. Das Klick-Klack der Metronome war der Takt ihrer Jugend gewesen. An jedem Klavierwettbewerb in Mecklenburg-Vorpommern hatte sie teilgenommen. Einmal, mit 14, war sie sogar in Berlin angetreten. Wie gerne würde sie das Gefühl von damals, als sie zum ersten Mal alleine in der Großstadt war, noch einmal erleben. Diese leichte Anspannung, dieses innere Kribbeln. Diesen Sog und dieses Gefühl von Freiheit. Sie steigerte die Geschwindigkeit und sprintete am Ernst-Thälmann-Denkmal vorbei. In ihrem Kopf begann es zu arbeiten. Wer war das noch mal? Irgendein Kommunist, oder? Am liebsten hätte sie ihren Lauf sofort unterbrochen, um bei Wikipedia nachzulesen. Sie biss sich auf die Unterlippe und rannte weiter. In ihrem Leben müsse sich etwas fundamental ändern, hatte Ben gesagt. Die Worte hallten wie ein Echo in ihr nach. Warum nicht jetzt damit beginnen? Mit Unwissenheit? Mit Ignoranz? Mit geistiger Entspannung?

Sie sehnte sich nach Freiheit. Der Freiheit, nicht alles wissen zu müssen. Sie wollte nicht über der Angst, eine Chance nicht zu nutzen oder ein Detail der Geschichte nicht zu kennen, ihr Leben verpassen. Andererseits. Hatte sie nicht schon genug geändert? Sollte sie jetzt auch noch ihr Smartphone (obwohl, allein das Wort war eine Beleidigung in sich – waren denn heutzutage die Telefone klug und nicht mehr ihre Besitzer?) abwerfen wie Ballast?

Am Bootssteg hielt Fanny an, um ausgiebig zu dehnen. Erst jetzt nahm sie den Blick wahr, der sie wie eine Wandtapete im Hintergrund begleitet hatte. Die spektakuläre Rügenbrücke. Das saftige Grün der Insel, die ihr verheißungsvoll im Licht der langsam aufgehenden Sonne zublinzelte. Die roten Dächer von Altefähr. Da drüben waren sie oft nach der Schule Eis essen gewesen. Manchmal auch baden. Wenn sie keine Lust hatten, bis nach Binz oder auf den Darß zu fahren. Oder keine Zeit. Fanny hatte schon damals selten Zeit gehabt. Sie lernte und engagierte sich bereits als Schülerin bis zum Umfallen.

Am Ende des Bootsstegs, dort, wo eine gleichmäßige dünne Algenschicht das alte Holz in einen weichen grünen Teppich verwandelt hatte, zog sie die Schuhe aus und streckte dann langsam ihre Arme in die Höhe. Sie reckte sich so weit es ging in Richtung Himmel. Ihre kurzen dunklen Locken tanzten in der Morgensonne. Aber jetzt, schienen sie zu rufen, jetzt würde alles anders werden.

Immerhin war Fanny umgezogen. Zurück an den Ort, an dem sie geboren worden und aufgewachsen war und der sie irgendwie auch, so hieß es doch immer, zu der gemacht hatte, die sie heute war. Ihre Rückkehr in die lange von ihr verschmähte Heimat war allerdings nicht ganz freiwillig gewesen.

Jahrelang hatte sie, fest im Sattel eines hohen Rosses sitzend, auf diejenigen hinuntergeschaut, die es nicht für nötig, ja lebensnotwendig hielten, über den eigenen Tellerrand zu gucken. Sie hatte es anders gemacht. Und als Kriegsreporterin einen Weg eingeschlagen, der ihr von dem, was sie kannte, so weit entfernt wie nur möglich schien. Afghanistan. Irak. Libanon. Gaza. Bombenanschläge. Raketen. Terror. Der Krieg in all seinen Formen. Bis sie sich irgendwann nicht mehr von dieser Angst, die sie anfangs nur gelegentlich erfasste, hatte befreien können und schon der Gang in den Supermarkt zur Qual wurde.

Als die Redaktion sie dann nach Syrien schicken wollte, war Schluss. Sie fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Plötzlich schien die Heimat, so sehr sie ihr einst auch wie ein Gefängnis vorgekommen war, in ihrer Überschaubarkeit die einzige Welt zu sein, die sie jetzt noch ertragen könnte.

Fanny dehnte ihren nicht schweren, aber wegen ihrer Größe eben auch nicht leichten Körper bis in die Zehenspitzen. Machte mit dem linken Bein einen Ausfallschritt nach hinten und streckte es durch. Ihre Wade fing langsam an zu brennen und wie eine Situation, die viel zu schnell eskalierte, wurde dieses Brennen ziemlich unerträglich. Fanny wechselte das Bein.

Und dann noch das mit ihren Eltern. Sie hatte sich zum ersten Mal in ihrem Leben so richtig geschlagen gefühlt. Niedergerungen. Besiegt. Hatte alles über den Haufen geworfen. Aus ihrem prall gefüllten Leben einfach die Luft herausgelassen. Und vor allem: Sie hatte sich von Ben getrennt. Bei dem Gedanken an seine braunen ehrlichen Augen, wurde ihr heiß. Ihr Herz begann zu rasen. Nicht schon wieder, dachte sie erschöpft und versuchte sich voll und ganz auf ihren Atem zu konzentrieren. Darauf, wie ihr Brustkorb sich gleichmäßig hob und senkte. Fanny ließ die Arme fallen und schüttelte ihren Körper förmlich aus. Ihr Herzschlag verlangsamte sich allmählich wieder. Sie wurde besser darin, die Attacken abzuwehren. Aber vielleicht war es auch nur die frische Luft. Eine Weile ließ sie sich kopfüber hängen, ihre Arme baumelten wie Strippen herunter. Sämtliche Spannung schien aus ihren Muskeln gewichen. Wie eine Marionette, deren Fäden gerissen waren.

Während sie sich schließlich ziehharmonikaartig wieder aufrollte, fiel ihr Blick auf das trübe Wasser, das in sanften Bewegungen an den Steg plätscherte. Irgendetwas trieb auf sie zu. Etwas Großes. Fanny beugte sich vorsichtig vor, und hielt sich dabei mit der rechten Hand am Steg fest. Der Gegenstand drehte sich langsam. Sie lehnte sich hinunter, um besser erkennen zu können, was da im Sund schwamm. Und plötzlich sah sie in ein paar leere Augen.