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So ist das hier im Block, tagein, tagaus
Halt mir zwei Finger an den Kopf und mach:
Peng! Peng! Peng! Peng!
Materia
Fanny lenkte den Wagen über die Landstraße, die rechts und links von hohen Bäumen gesäumt war. Der Traum von letzter Nacht steckte ihr in den Knochen. Wie ein spitzer Stachel in ihrer Haut. Aber das Autofahren beruhigte sie. Hier und da fiel der Sonnenschein durch die Blätter, scheckte den Asphalt mit Kuhflecken aus Licht und Schatten. Sie hatte das Panoramadach, das ihr Vater so gut wie nie nutzte und das sein Wagen nur deswegen besaß, weil ein geschäftstüchtiger Verkäufer es ihm aufgeschwatzt hatte, komplett geöffnet und der Geruch von Sommer erfüllte den ganzen Wagen. Während sie mit der einen Hand lenkte, knabberte sie an den Fingernägeln der anderen herum. Ihre Gedanken kehrten wie ein Bumerang immer wieder zum Traum zurück, Fanny versuchte, an etwas anderes zu denken. Überlegte, dass es irgendwie schon komisch war, dass ausgerechnet ihr Vater, der Wirtschaftswissenschaftler, kein besonders guter Geschäftsmann war. All die Jahre hatte ihre Mutter sämtliche wichtigen Entscheidungen getroffen. Von Reisen bis hin zu Neuanschaffungen. Vielleicht war sie es auch, die das Panoramadach bestellt hatte. Und da ihr Vater ja sowieso meist zur Arbeit radelte, hatte er inzwischen bestimmt völlig vergessen, dass sein Auto überhaupt über so ein Feature verfügte. Fanny schüttelte leicht den Kopf. Egal, wie oft sie es versuchte – sie konnte sich immer noch nicht vorstellen, dass die beiden nun getrennt voneinander lebten. Das musste sich doch anfühlen, als wenn einem auf einmal ein Fuß fehlt. Natürlich durch die vielen Konferenzen und Symposien, Forschungsaufenthalte und Gastsemester, an denen ihr Vater im Laufe seiner Karriere teilgenommen hatte, war sie daran gewöhnt, dass ihre Mutter auch mal alleine war. Aber Fanny hatte immer geglaubt, dass ihre Eltern trotz allem glücklich miteinander waren. Diese Trennung kam für sie aus dem Nichts.
Für ihren Vater wohl auch. Es war, als hätte ihre Mutter einfach für sie alle entschieden. Dabei sollte sie über die Wechseljahre oder irgendeine Art von Midlife-Crisis längst hinaus sein! Warum also diese plötzliche Radikalität, sich zu trennen und in das Ferienhaus auf Rügen zu ziehen? Und das, wo sie doch wusste, dass ihr Mann alleine längst nicht mehr überlebensfähig war. Fanny wunderte sich selbst ein wenig darüber, wie sehr sie ihre Mutter für diese Entscheidung verurteilte. Hatte sie sich doch früher immer über die Selbstverständlichkeit, mit der ihre Mutter dem Vater hinterherräumte, aufgeregt. Doch auf einmal kam sie ihr mit ihrem urplötzlichen Freiheitsdrang lächerlich und unendlich egoistisch vor. All die Jahre war sie gefolgt, wie ein braver Soldat, der seinem Offizier dient, und nun auf einmal die totale Emanzipation?
Anscheinend war es ihr auch völlig egal, was das für ihre Kinder bedeutete. »Kind, du bist 34 Jahre alt. Du solltest längst deine eigene Familie haben«, hatte ihre Mutter ihr beim letzten Telefongespräch lachend auf ihren Vorwurf geantwortet. Fanny hatte nur geschnauft. Von wegen eigene Familie. Kaum jemand, den sie in ihrem Alter kannte, hatte eine eigene Familie. Jedenfalls nicht in Berlin. Aber wie sollte sie das einer Frau erklären, deren Kinder immer der Mittelpunkt ihres Lebens gewesen waren? Obwohl sie auch immer gearbeitet hatte, warf Fanny in Gedanken ein, denn darauf legte ihre Mutter wert: Kinder und trotzdem gearbeitet. Das war der ganze Stolz der Frauen aus der ehemaligen DDR, den sie den Westfrauen, so sie denn einander begegneten, mit spürbarer Verachtung für deren Hausfrauendasein entgegenschmetterten.