Gottfried Hofbauer
Wie die Entdeckung der Erdgeschichte
unser Denken veränderte
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Redaktion: Ruthild Kropp, Frankfurt
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ISBN 978-3-534-26728-6
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-534-74060-4
eBook (epub): 978-3-534-74061-1
Einleitung
Die Tiefe der Zeit – Siccar Point
Von der Naturgeschichte zu einer Natürlichen Entwicklungsgeschichte der Erde und des Lebens
Figurensteine als Zeugnisse der Erdgeschichte
Erdgeschichte aus dem Buch der Natur
Vulkane: Das hohe Alter geologisch jung erscheinender Formen
Darwin: Evolution braucht Zeit
Lord Kelvin schrumpft das Alter der Erde
Granit – Gibt es ein Urgestein?
Ab- und Wiederkehr der Erdgeschichte
Bildnachweis
Anmerkungen
Eine Zeitreise in das 17. Jahrhundert erscheint uns auf den ersten Blick vielleicht nicht als ein besonders spannender Gedanke. Zu nahe fühlen wir uns – zumindest hier innerhalb Europas – den Menschen jener Zeit. Manche erinnern sich möglicherweise an Filme wie Die drei Musketiere, in denen die Figuren ausgiebig ihre Gewandtheit am Degen demonstrieren, aber sonst wie wir zu denken und zu fühlen scheinen. Andere werden vielleicht im Physik-Unterricht auf Isaac Newton (1643–1727) getroffen sein, den wir als Mitbegründer der neuzeitlichen Physik in Erinnerung haben. Aber gerade Newton würde uns sehr verwundern, wenn wir seine Vorstellungen über die Entstehung und das Alter der Erde hören könnten.
Unsere scheinbare Nähe zu den Menschen dieser Zeit löst sich rasch auf, wenn wir uns mit ihren Ansichten über Vergangenheit und Zukunft beschäftigen. Über die in der Bibel erwähnten Generationen von Königen, Propheten und Geschlechtern wurde versucht, das Alter der Welt zu rekonstruieren. Dabei ging es am Ende nicht um Jahrtausende oder gar Jahrmillionen, sondern um Jahrzehnte oder wenige Jahrhunderte: Populär war weit in das 17. Jahrhundert hinein die Berechnung des Bischofs Ussher, nach der der erste Tag der Schöpfung am Abend vor dem 23. Oktober 4004 v. Chr. begonnen haben soll.
Im Denken jener Zeit bestand der Unterschied zwischen Menschheits- und Erdgeschichte darin, dass die Erde sechs Tage vor dem Menschen erschaffen wurde. Aber auch der Blick in die Zukunft war ein völlig anderer: Bei uns im christlich bestimmten Europa bedeutete die Zukunft zugleich das Ende der Welt. Der Jüngste Tag wurde auch nicht in weiter, unbestimmter Ferne gesehen, sondern schon bald, vielleicht sogar noch zu Lebzeiten, erwartet. Die Vergangenheit und Zukunft der Erde und der Menschen konnte aus der lebensweltlichen Perspektive überblickt werden, das Zeitmaß waren Jahre und Jahrhunderte, oder noch anschaulicher, Generationen.
Die Menschen des 17. und vielfach noch des 18. Jahrhunderts konnten so auch keine Vorstellung von einer Entwicklungsgeschichte der Natur haben, keine Idee von einer Veränderung der Erdoberfläche, und noch weniger von einer natürlichen Entwicklung des Lebens oder der Entstehung der Arten. Die Zeit war einfach nur „Zeit“ in dem Sinn, dass sich in ihrem Verlauf nichts Wesentliches veränderte. Mit der Erschaffung der Welt begann die Uhr zu laufen, Geburt und Tod bestimmten den Takt, das eigene Ende wie das der Welt war stets in Sichtweite.1
Es gibt Autoren, die in vielleicht überspitzter Weise behaupten, der Mensch, wie wir ihn heute kennen, hat sich erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts herausgebildet.2 Das mag etwas kühn und übertrieben erscheinen, aber was Vorstellungen von Raum und Zeit angeht, scheint der Unterschied tatsächlich radikal zu sein.
Die Umgestaltung, die auch das Lebensgefühl des Menschen so nachhaltig verändert hat, hing eng mit der Entstehung einer Wissenschaft zusammen, die es zuvor so nicht gab: Es war die Geologie, die mit der Ausgestaltung eines zuvor nicht denkbaren prähistorischen Raumes erste Konturen annahm. Nach ersten, grundlegenden Schritten im 17. Jahrhundert begannen sich Diskussionen über das Alter der Erde, über die Bedeutung der Fossilien oder die mögliche Gefahr globaler Naturkatastrophen um die Mitte des 18. Jahrhunderts im Themenspektrum der Gelehrtenwelt wie intellektuell geprägter Abendgesellschaften auszubreiten.
Dieser spannende Abschnitt der jüngeren europäischen Kultur- und Menschheitsgeschichte war und ist Thema zahlreicher wissenschaftlicher Projekte. Manche Autoren haben diesen Wandel als „Verzeitlichung“ bezeichnet.3 Studien mit dem Titel „The dark abyss of time“ und andere Arbeiten schildern und analysieren diese erstaunliche Entwicklung, wobei die Titel gar nicht selten die in jenem Umbruch häufig gebrauchte Formel vom „Abgrund“ oder der „Tiefe der Zeit“ aufgreifen, den man in der Auseinandersetzung mit diesen kaum vorstellbaren Zeiträumen wahrzunehmen glaubte.4
Die vorliegende Darstellung richtet sich auch an jene, die über die Geologie hinaus an der Entwicklung der Wissenschaften und unseres modernen Denkens interessiert sind. Die zahlreichen Illustrationen dokumentieren nicht nur historisch bedeutende Geländesituationen, sondern auch Ansichten, die den Betrachter in sinnlicher Weise mit der Dynamik der Erde wie den damit verknüpften Zeitmaßstäben konfrontieren.
Der Blick in die Tiefe der Zeit ist nicht nur Ausdruck einer besonderen Phase der Kulturgeschichte, oder eine bemerkenswerte Leistung des menschlichen Verstandes. Dieser Blick ist nicht fest gezimmert und unverrückbar, sondern bedarf stets auch der Übung. Neue Fragestellungen zur Geschichte und Dynamik unserer Erde, wie sie infolge der raschen Entwicklung der Geowissenschaften wie der menschlichen Zivilisation ständig entstehen, fordern immer wieder zur Prüfung der erdgeschichtlichen Pers pektive heraus. Nicht immer ist diese scharf und eindeutig zu fassen, oft bleibt es eine Hypothese oder ein Gedankenexperiment – aber es ist ein Akt, der immer wieder versucht werden muss. Ohne eine solche Auseinandersetzung würden wir vermutlich bald wieder in ein Denken und Fühlen zurückfallen, das den Lauf der Dinge nur aus dem kurzen Ausschnitt unserer Gegenwart zu sehen vermag.
Wir fühlten uns unvermeidlich in die Zeit zurückversetzt, in der der Schiefer, auf dem wir standen, noch auf dem Grund des Meeres lag, und der Sandstein vor uns gerade erst in Form von Sand oder Schlamm aus dem darüber befindlichen Ozean zur Ablagerung kam.
Eine noch weit entferntere Epoche bot sich dar, in der selbst die ältesten dieser Gesteine, anstatt vertikal aufrecht zu stehen, in horizontalen Schichten auf dem Meeresboden lagerten, und noch nicht durch die unermesslichen Kräfte durcheinander gebracht waren, die das feste Pflaster unserer Erdkugel auseinander gerissen haben.
Ja selbst noch weiter entfernte Umwälzungen erschienen am Horizont dieser außergewöhnlichen Perspektive. So weit in den Abgrund der Zeit blickend, schien uns der Verstand schwindelig zu werden.5
Diese Erinnerungen des Edinburgher Mathematikprofessors John Playfair handeln von dem Besuch eines Felsvorsprungs an der schottischen Ostküste im Jahr 1788, dem Siccar Point, oder The Siccar. Playfair begleitete seinen älteren Freund, James Hutton, der ebenfalls der gelehrten Szene Edinburghs angehörte.
In jener Zeit gab es kein Studienfach „Geologie“ und somit auch keine Geologen, zumindest nicht im heutigen Sinn. James Hutton, der 1726 in Edinburgh geboren war, hatte ein Medizinstudium absolviert, aber niemals anhaltend als Arzt praktiziert. Sein Interessen waren vielfältig, und sie hatten einen gemeinsamen Grundzug: Er versuchte zu verstehen, wie die Dinge funktionieren, welche Prozesse und Abläufe ihr Erscheinungsbild, ihre Vergangenheit und Zukunft bestimmen. Wie arbeitet der menschliche Verstand, wie die Sprache? Wie kann man den Kreislauf von Saat und Ernte, wie den Ackerbau insgesamt optimieren?6
Aber trotz all dieser anderen Fragen galt sein bevorzugtes Engagement der Erde. Engagement war auch in ganz besonderer Weise nötig, denn Antworten auf diese geologischen Fragen ließen sich nur sehr eingeschränkt durch reines Nachdenken am Schreibtisch gewinnen. Neu an der Geologie waren nicht nur die Inhalte, die sie zur Diskussion brachte, sondern auch das methodologische Erfordernis, zum Studium dieser Fragen hinauszugehen und die Zeugnisse der Erdgeschichte vor Ort zu sichten, und sei es an den unzugänglichsten Stellen oder in den entferntesten Landschaften.
James Huttons Vorstellungen über die Erde waren anfangs tatsächlich mehr auf Überlegungen allgemeiner Art als auf systematische Beobachtungen gegründet. Erst nach der Veröffentlichung einer ersten, noch kurz und abstrakt wirkenden „Theorie der Erde“ (1785),7 hat er seine Reisen intensiviert und nach überzeugenden Belegen für sein Konzept gesucht. Seine Methodik ähnelte mehr der eines Physikers als eines traditionell vorgehenden Beobachters.
So hat er nicht versucht, zuerst umfangreiches Material zu sammeln, Beobachtungen festzuhalten oder Messungen vorzunehmen, um danach zu überlegen, was dies alles in Hinblick auf die Erde und die sie gestaltenden Prozesse möglicherweise bedeuten könnte. Hutton war ein Freund des Frage- und Antwort-Spiels. Er zog es vor, aus gründlichen Gedankengänge heraus Hypothesen zu entwickeln, für die er dann im Gelände nach möglichst eindeutigen Belegen suchte – so wie eine physikalische Hypothese durch ein entscheidendes Experiment, ein experimentum crucis, erhärtet, aber auch verworfen werden konnte.8
Der „Blick in die Tiefe der Zeit“ war im 18. Jahrhundert wahrscheinlich die aufregendste aller Perspektiven, die Verstand und Vorstellungskraft einzunehmen vermochten. Als James Hutton im Jahr 1788 mit seinen Freunden am Siccar Point anlegte, waren die Worte über den „Abgrund der Zeit“ allerdings schon auf dem Weg, ein gebräuchliches Sprachbild für die sich öffnende, scheinbar unendliche Dimension der Erdgeschichte zu werden.
Was diese Situation nun aber gegenüber anderen und früheren hervorhebt, ist die Anbindung an eine besonders prägnante Struktur, an einen Ausschnitt aus der Erdkruste, der in besonderer Weise die Abfolge unterschiedlicher Zustände belegt. Siccar Point war genau eine dieser Stellen, die Hutton im Sinne eines experimentum crucis zur Demonstration seiner geologischen Vorstellungen suchte, und die zu finden ihm – welch unkalkulierbares Glück! – auch tatsächlich vergönnt war.
Lässt man sich, wie Hutton und seine Freunde, auf die am Siccar Point aus den Strukturen heraus entwickelbare Logik ein, wird man über das greifbar vorliegende erdgeschichtliche Zeugnis hinausgeführt. Dieses steinerne Dokument erschließt nicht nur zuvor unzugängliche Dimensionen an Zeit und Wissen, an ihm lässt sich zugleich auch demonstrieren, was man nicht in Erfahrung bringen kann.
Jedes geologische Zeugnis ist nämlich selbst schon das Resultat eines Prozesse oder einer „Ursache“. Alles was wir sehen und greifen können, verweist auf etwas Vorangehendes, das selbst nicht mehr materiell greifbar, aber notwendig wirksam oder gegeben gewesen sein muss. Auch das älteste Zeugnis am Siccar Point, die steil gestellten – von Playfair als schistus/ Schiefer bezeichneten – Schichten, sind schon das Ergebnis vorausgehender Bedingungen und Prozesse: Hier belegen sie, dass auch zur Zeit der Ablagerung dieser Schichten in ihrer Umgebung bereits ein Festland existiert haben muss, das, wie auch alle heutigen Festländer, von Abtragung und Umlagerung des durch die Verwitterung gelockerten Gesteins betroffen gewesen sein muss.
Wenn man heute, mehr als 200 Jahre nach James Hutton, nach den ältesten Zeugnissen der Erdgeschichte fragt, dann trifft man – ganz in diesem Sinn – nicht auf einen ersten, voraussetzungslosen Urzustand. Man findet vielmehr ein Mineral, einen Zirkon, der auf Kristallisationsprozesse in einer frühen, selbst nicht mehr erhaltenen kontinentalen Kruste verweist.9
James Hutton hat diese Schwelle gesehen und erkannt, dass es grundsätzlich nicht möglich ist, Anfänge oder Ursprünge zu finden, sondern nur Ergebnisse und Konsequenzen: Das Ergebnis unser gegenwärtigen Untersuchung ist daher, dass wir weder die Spur eines Anfangs, noch die Aussicht auf ein Ende finden.10
Dieser berühmte Satz wurde oft als Behauptung missdeutet, die Erde hätte keinen Anfang und kein Ende. Aber das hat James Hutton damit nicht gemeint. Ihm ging es darum deutlich zu machen: Es ist vergeblich, einen Anfang, oder auch ein Ende finden zu wollen, denn gleich in welche Richtung wir blicken, wir sehen nur die Kette von Ursachen und Wirkungen.
Mit der Entdeckung der tiefen Zeit hat sich der Blick auf die Vergangenheit geändert. Die bis dahin als unveränderlich angesehene Erdoberfläche hat Veränderungen erfahren, die Natur hat Geschichte. Und zwar „Geschichte“, so wie wir sie heute verstehen: Veränderung, Entwicklung, Umwandlung.
„Geschichte“ und auch andere Begriffe hatten zuvor eine andere, vom heutigen Verständnis abweichende Bedeutung. In Hinblick auf die Natur hatte Zeit einst keine Bedeutung, denn Natur war geschaffen worden und nicht ein natürlicher Prozess, in dessen Verlauf sich vieles verändern und entwickeln konnte. Um die Veränderung der Wahrnehmung von „Zeit“ und „Geschichte“ nachvollziehen zu können, müssen wir einen Blick auf die ursprüngliche Bedeutung dieser Begriffe werfen.
Unter „Geschichte“ (lateinisch: historia) verstand man bis früher allgemein die Aufzeichnung von Gegenständen und Ereignissen, die sich in der Geschichte zugetragen hatten, und nicht einen Verlauf oder eine Entwicklung. Natürlich folgte eine Geschichte, wenn sie ein Territorium, seine Herrscher oder andere besonders erwähnenswerte Ereignisse betraf, in ihrer Darstellung einer zeitlichen Ordnung. Wenn die „Geschichte“ allerdings Bereiche aus Natur oder Handwerk betraf, dann musste man andere Ordnungskriterien finden: Zumeist wurden die Gegenstände hier nach regionalen, sachlichen oder einfach auch alphabetischen Gesichtspunkten gruppiert.
Die berühmteste Naturgeschichte unserer griechisch-römisch-christlichen Welt ist die Naturalis Historia des Plinius. Der Römer kam im Jahr 79 n. Chr. beim Ausbruch des Vesuvs ums Leben. Bis dahin hatte er ein Werk mit 2493 Kapiteln voller Themen zustande gebracht, die wir heute in die Kosmologie, Astronomie, Geologie, Metallurgie, Natursteinkunde, Anthropologie, Pharmazie, Medizin, Botanik, Zoologie und noch manch anderes Gebiet einordnen würden.
Die Struktur dieses gewaltigen Werks ist enzyklopädisch, also im Sinne dieses Begriffs als „umfassendes Lehrwerk“ angelegt. Das Verständnis der Bezeichnung „Naturgeschichte“ kam somit dem nahe, was wir heute als Sachlexikon bezeichnen würden oder eben als Enzyklopädie, wenn es über einzelne Sachbereiche hinweg greifend, alles an Wissen zusammenfassend darstellen möchte.
Die Ordnung der Einträge und Begriffe in alphabetischer oder thematischer Reihenfolge ist in Enzyklopädien ein unumgängliches Verfahren, um dem Benutzer den gezielten Gebrauch zu ermöglichen. Doch niemand würde heute erwarten, Wikipedia oder eine andere, vielleicht auch noch gedruckte Enzyklopädie, als „Geschichte“ oder auch „Geschichte der Natur und Kultur“ tituliert zu finden.
Unter dem Begriff „Naturgeschichte“„ verstehen wir heute, in beträchtlicher Abweichung des ursprünglichen Sinns, eine zeitlich geordnete Ereignisfolge, oder gar eine Entwicklungsgeschichte. Was uns an Geschichte fasziniert, ist weniger eine starre Ordnung der Gegenstände oder Ereignisse, sondern die Prozesse und Veränderungen in Natur und Kultur, die Entwicklung neuer Formen, Ordnungen und Systeme.
Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein hatte sich an dem schon von Plinius angewandten Konzept von Naturgeschichte nichts Wesentliches geändert: die Naturalis Historia wurde als eine Sammlung und Beschreibung von Naturgegenständen jeglicher Art angesehen, in der von einer der Zeit folgenden Entwicklung nichts zu ahnen ist. Wenig geändert hatte sich auch die Art der Datensammlung. Das in diesen Werken angeführte Wissen wurde überwiegend aus der Literatur zusammengestellt. Erst mit der Neuzeit, verstärkt im 17. und 18. Jahrhundert, trifft man in den „Naturgeschichten“ häufiger auf Zusammenfassungen von Informationen, die vom Autor selbst auf Exkursionen und Forschungsreisen gesammelt wurden, wobei in dieser Zeit auch der wissenschaftliche Reisebericht als Darstellungsform an Bedeutung gewinnt. Ohne dass sich die Bezeichnung Naturgeschichte geändert hätte, hat sich ihr Charakter von einer Schreibtisch-Wissenschaft zur empirischen, auf unmittelbare Beobachtung gegründeten Forschung verschoben.11
Geschichte/historia wurden von den Gelehrten der frühen Neuzeit vor allem als ein Thema der Gedächtnisarbeit angesehen. Die als historia gedruckten Aufzeichnungen waren die niedergelegten Archive, die in der Summe gleichsam das kollektive Gedächtnis aller Vorfälle und Gegenstände aus Natur und Kultur bildeten. Die Alternative zur historia naturalis war die philosophia naturalis, also die Naturphilosophie. Ihr Gegenstand waren nicht die konkreten Ereignisse oder Gegenstände der Natur, die „geschaffene Natur“ oder natura naturata, sondern die Natur als Prozess und schöpferisches System, der natura naturans. Die Naturphilosophie war damit auch eher einer Sache des Verstandes: Es ging vor allem darum, die Natur in ihrer Wirkungsweise und Bedeutung zu begreifen.
Aus der philosophia naturalis entwickelte sich im 17. Jahrhundert die neuzeitliche Physik mit ihrem Motiv, die Gesetze der Natur auf der Grundlage von Beobachtung und Experiment herauszufinden. Mit Hilfe der Mathematik konnten die Beziehungen zwischen verschiedenen messbaren Größen in einfacher wie allgemeiner Weise zum Ausdruck gebracht werden. Mit dieser Neuausrichtung wurde zugleich die Abgrenzung gegenüber der traditionellen Naturphilosophie betont, die ihre Konzepte eher auf die Diskussion von Begriffen oder Hypothesen über die Beziehungen zwischen Kosmos, Erde und Mensch gegründet hatte. Der Titel von Newtons großem Werk zur Himmelsmechanik (1687) bringt dieses neue Motiv der Naturphilosophie deutlich zum Ausdruck: Philosophiae Naturalis Principia Mathematica – also Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie.
Die stark von spekulativen Elementen durchdrungene Naturphilosophie des Mittelalters und der frühen Neuzeit versuchte man im 17. Jahrhundert zu überwinden, indem man sich, wie auch die Kollegen aus der Naturgeschichte, dem „Buch der Natur“ zuwandte.12 Während die Methodik der historia naturalis auf Beobachtung, Sammlung, Vergleich und Systematisierung baute, hat die Naturphilosophie Messung, die Verwendung und Entwicklung mathematischer Methoden, Experimente und besondere, an der Mathematik orientierte Denkmuster wie das ausdrückliche Setzen von Axiomen oder den Gebrauch von Analogieschlüssen zur Grundlage gehabt.
Anhand dieser Kriterien lassen sich die beiden Forschungsweisen bis über das 17. Jahrhundert hinaus zuverlässig unterscheiden. Im 18. Jahrhundert beginnen sich dann aber zunehmend Unschärfen einzustellen: Der Naturphilosoph bedurfte nun einer soliden beschreibenden, „historischen“ Basis, um seine Schlüsse oder sein System – etwa in einer Theorie der Erde – auf eine akzeptable empirische Grundlage zu stellen. Zu dieser Zeit beginnt dann aber auch die uns heute vertraute Gewohnheit, Wissenschaftler nicht mehr nach ihrer bevorzugten Methodik, sondern nach ihren Forschungsbereichen einzuordnen. Diese Veränderungen festigten sich schließlich im 19. Jahrhundert, als der universal ausgerichtete Gelehrte durch den auf ein bestimmtes Fach festgelegten, an einer Lehreinrichtung entsprechend ausgebildeten Wissenschaftler ersetzt wurde.13
Die mathematische Methode der Naturforschung, wie die Naturforschung überhaupt, lässt sich allerdings nicht ohne Grundsätze (Prinzipien, Axiome) betreiben, die schon vor der eigentlichen empirischen Bearbeitung eines Themas gesetzt werden müssen. So hebt Newton in der Principia mehrere Regeln für das naturphilosophische Denken („rules of reasoning“) hervor, darunter auch das Kausalprinzip: „Gleiche Wirkungen werden durch gleiche Ursachen erzeugt.“ Er nennt auch Beispiele: Gleiche Ursachen muss demnach die Atmung bei Tier und Mensch haben, genauso – unter anderen – die Entstehung von Steinen in Europa wie in Amerika.14
Das Prinzip „gleiche Wirkungen werden durch gleiche Ursachen erzeugt“ wurde etwa dazu gebraucht, um die Gültigkeit der Gravitation auch für andere Planeten annehmen zu können. Eine solche notwendige Grundlage für Analogieschlüsse von einem Objekt zu einem anderen, ähnlichen Objekt, wurde bald auch als Voraussetzung für die Erdgeschichtsforschung benötigt: Die Deutung erdgeschichtlicher Zeugnisse lässt sich überhaupt nur dann erfolgversprechend vornehmen, wenn wir sie mit ähnlichen, heute erklärbaren Erscheinungen vergleichen können.
Die Erdgeschichtsforschung baut also ebenfalls auf das in der Naturphilosophie so wichtige Analogieprinzip. Das besondere dabei war aber nun, dass es Analogien zwischen Zeugnissen unterschiedlicher Bildungszeit herzustellen galt: In den Gesteinen dokumentierte Strukturen der Erdgeschichte waren nur dann verständlich, wenn sie den in der Gegenwart bekannten ähnlich waren. War diese Ähnlichkeit gegeben, dann konnte man die in der Gegenwart bekannten Erklärungen, mit gutem Vertrauen rückwirkend in die Erdgeschichte übertragen.
Die Zeit Newtons war auch die Zeit der ersten großen erdgeschichtlichen Entwürfe. Ein erster Ansatz in Descartes Prinzipien der Philosophie (1644) versucht, die Entstehung der Erde, ihrer Kruste, der Meere und der Atmosphäre durch ein mechanisches Modell zu erklären. Auf diesen Ansatz werden wir später noch etwas genauer zurückkommen.
Der eigentliche Startschuss für eine anhaltende Diskussion über eine natürliche Entstehung der Erde und der natürlichen Ursachen der Sintflut wurde allerdings durch Thomas Burnett gesetzt. In seiner Heiligen Theorie der Erde (ab 1681) wird die ganze Schöpfungsgeschichte bis zum Ende der Erde am Jüngsten Tag als eine natürliche Entwicklung skizziert.15
Ein erhaltener Briefwechsel dokumentiert die Diskussion zwischen Burnet und Newton über die Frage, wie wörtlich der biblische Schöpfungsbericht wohl zu verstehen sei.16 Newton plädiert für eine wörtliche Interpretation, wobei er die Überlegung vorbringt, die im Schöpfungsbericht genannten sechs Tage könnten möglicherweise doch länger als heutige Tage gewesen sein, wenn die Rotation der Erde langsamer verlaufen wäre.
Burnet hält dem entgegen, dass die sechs Tage unmöglich die Schöpfung des ganzen Universums betreffen können, denn Sonne und Sterne könnten doch wohl nicht nach der Erde, also erst am dritten Tag, entstanden sein. Auch eine Verlängerung der Tage würde schließlich nicht hinreichen, die Erde aus dem ursprünglichen Chaos in natürlicher Weise in einen bewohnbaren Planeten zu transformieren. Burnet bringt seine prinzipielle Skepsis an der wörtlichen Interpretation des Schöpfungsberichts prägnant zum Ausdruck: „Und wenn der Schöpfungsbericht in einem Teil ein Idealbild ist, dann kann er dies in einem gewissen Maß in jedem Teil sein“.17
Newtons Festhalten am mosaischen Schöpfungsbericht bedeutet auch, dass er – im Gegensatz zu Burnet – die gegenwärtige Form der Erde tatsächlich als von Anfang an gegeben ansieht. Während Burnet hier sein auf Naturgründe bauendes Sintflut-Modell entwickelt, vermag Newton dazu nur eine aus dem Stehgreif gefasste Hypothese vorzubringen:
„Während ich schreibe, fällt mir eine andere Illustration zur oben vorgeschlagenen Erschaffung der Berge ein. Milch ist eine gleichförmige Flüssigkeit wie das Chaos. Wenn man Bier hinein gießt und die Mischung eintrocknen läßt, wird die Oberfläche dieser geronnenen Substanz rauh und gebirgig erscheinen wie die Erde es überall ist. Ich verzichte darauf, andere Gründe für Berge zu beschreiben, wie das Ausbrechen von Dämpfen aus der Tiefe, bevor die Erde richtig fest geworden war, das Absetzen und Schrumpfen der ganzen Erdkugel, nachdem die oberen Bereiche oder die Oberfläche hart zu werden begannen […].“18
Burnet ist insofern „moderner“ als Newton, als er sich eine von der buchstäblichen Interpretation der Bibel losgelöste Erdgeschichte vorstellen kann. Sein Modell ist deistisch, das heißt, Gott braucht nach der Schöpfung nicht mehr in den Lauf der Dinge einzugreifen. Damit gewinnt der Autor die Freiheit, sich eine natürliche Entwicklungsgeschichte zurecht zu legen, so hypothetisch der Entwurf auch sein mag.
Newton hält hingegen am biblischen Zeitmaßstab fest. In dem Briefwechsel wird deutlich, dass er sich bis zu diesem Zeitpunkt zu dieser Frage offenbar noch keine Gedanken gemacht hatte. Eine Geschichte der Erdoberfläche im Sinne einer mehrfachen oder gar andauernden Umgestaltung kommt ihm jedenfalls nicht in den Sinn: Die Oberfläche ist schon am Beginn der Geschichte, unmittelbar im Anschluss an die Entstehung der Erde, in einem einzigen Akt entstanden.
Für den Wissenschaftshistoriker bleibt so nur noch die Frage: Bier in Milch gegossen – war das nur ein Missgeschick an einem unordentlichen Schreibtisch oder hat Newton das vielleicht öfter getrunken? Ein gezieltes Experiment zur Geschichte der Erde ist das jedenfalls nicht gewesen.
Ungeachtet Newtons Naivität war der Beitrag der Philosophen zur Rekonstruktion der Erdgeschichte aber doch von erheblicher Bedeutung. Ihre Neigung zur Mathematik und zum Experiment – auch wenn es mitunter nur Gedankenexperimente waren – hat gerade in dieser frühen Zeit der Geologie erheblich dazu beigetragen, dass eine natürliche Erdgeschichte überhaupt denkbar geworden ist. So begannen Philosophen, Naturgeschichte in unserem heutigen Sinn zu schreiben, indem sie eine natürliche Entwicklung der Erde zumindest erst mal als Hypothese für möglich gehalten haben.
Aus dieser Phase der Wissenschaftsgeschichte stammt auch der erste Gedanke, das Alter der Erde über den Salzgehalt der Ozeane zu bestimmen. Es war Edmond Halley, der Entdecker des nach ihm benannten Kometen, der im Jahr 1715 in einem kleinen Beitrag in den Philosophischen Abhandlungen der Königlichen Gesellschaft zu London diese Überlegung vorstellte.19 Um diesen Ansatz auch tatsächlich in eine Kalkulation umzusetzen, hätte er einen Maßstab für die Zunahme des Salzgehalts im Laufe der Zeit gebraucht – im Prinzip also eine Vorstellung davon, wie viel Salz die Flüsse pro Jahr ins Meer transportieren, und wie groß das Volumen der Ozean genau ist.
Weil solche Daten aber nicht vorlagen, konnte Halleys eine derartige Kalkulation auch nicht ausführen. Aber er macht deutlich, dass die Erde nicht unendlich alt sein kann: denn in diesem Fall müssten die Ozeane – so wie das Tote Meer – völlig versalzen sein. Umgekehrt spricht der Salzgehalt der Meere aber auch dafür, dass die Erde viel älter als gemeinhin angenommen sein könnte. Denn die Flüsse führen so wenig Salz, dass sie die deutliche, viel höhere Konzentration in den Meeren auch nicht in kurzer Zeit zuwege bringen können.
Das Entwicklungsdenken hatte in der Mitte des 18. Jahrhunderts nahezu alle Bereiche erfasst – vom Kosmos bis zum menschlichen Verstand. Auch letzterer konnte nicht von einem Moment zum anderen entstanden sein. Ihn zu schulen und zu entwickeln, war schließlich ein wesentliches Element der Aufklärung. Der Gedanke, dass die vollständige Umsetzung einer „Entwicklungsgeschichte der Natur“ erst dann vollständig gelungen sein kann, wenn auch die Entwicklungsgeschichte des Lebens integriert ist, wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts deutlich. Immanuel Kant hat dieses Ziel im Jahr 1777 in der ihm eigentümlichen Weise ausgesprochen:
Wir nehmen die Benennungen Naturbeschreibung und Naturgeschichte gemeiniglich in einerlei Sinne. – Allein es ist klar: dass die Kenntnis der Naturdinge, wie sie jetzt sind, immer noch die Erkenntnis von demjenigen wünschen lassen, was sie ehedem gewesen sind und durch welche Reihe von Veränderungen sie durchgegangen, um an jedem Orte in ihrem gegenwärtigen Zustand zu gelangen. Die Naturgeschichte, woran es uns fast noch gänzlich fehlt, würde uns die Veränderung der Erdgestalt, ingleichen die der Erdgeschöpfe (Pflanzen und Tiere), die sie durch natürliche Wandrungen erlitten haben, und ihre daraus entsprungene Abartungen von dem Urbilde der Stammgattungen lehren […]
Man muß, so sehr man auch und zwar mit Recht der Frechheit der Meinungen feind ist, eine G e s c h i c h t e der Natur wagen, welche eine abgesonderte Wissenschaft ist, die wohl nach und nach von Meinungen zu Einsichten fortrücken könnte.20
Dennoch hat es noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts gedauert, bis Alfred Russel Wallace und Charles Darwin ein hinreichend gut begründetes Konzept zur natürlichen Entwicklungsgeschichte des Lebens vorlegen konnten. Dieser lange Weg ist deshalb bemerkenswert, weil das Sammeln von Fossilien schon im 17. Jahrhundert intensiv betrieben wurde. Doch Ziel dieser Sammlungstätigkeit war nicht gewesen, eine Entwicklungsgeschichte der Spezies zu erforschen. Bei der Bearbeitung der Fossilien standen nicht zeitlich-entwicklungsgeschichtliche, sondern systematische, traditionelle „naturhistorische“ Fragen im Vordergrund.
So bedurfte es erst der verlässlichen Einsicht, dass sich das Spektrum der Organismen im Laufe der Erdgeschichte tatsächlich verändert hat. Und dies ist erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts deutlich geworden. Die Frage nach einer natürlichen Entwicklung der Spezies hat somit nicht Jahrhunderte, sondern nur Jahrzehnte im Raum gestanden.