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Das Weisheitsbuch der alten Chinesen

FRÜHLING UND
HERBST DES
LÜ BU WE

LÜ SCHÏ TSCHUN TSIU

Aus dem Chinesischen
übersetzt und erläutert von
Richard Wilhelm

Anaconda

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Die Originalausgabe erschien 1928 unter dem Titel
Frühling und Herbst des Lü Bu We
bei Eugen Diederichs in Jena.

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

© 2006 Anaconda Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlagmotiv: Kaiser Chu Yuan-Chang (1328-98),

Gründer der Ming Dynastie, Chinesische Schule.

National Palace Museum, Taipei, Taiwan/Bridgeman Giraudon

Umschlaggestaltung: Sabine Reimer, London

ISBN 978-3-7306-9124-3
V002

www.anacondaverlag.de

INHALT

ERSTER TEIL
DIE ZWÖLF AUFZEICHNUNGEN

Buch I · Mong Tschun Gi
Aufzeichnungen des ersten Frühlingsmonats

1. Der erste Frühlingsmonat · MONG TSCHUN

2. Anpassung an das Leben · BEN SCHONG

3. Das Wichtignehmen des eignen Ich · DSCHUNG GI

4. Das Werthalten der Gerechtigkeit · GUI GUNG

5. Entfernung der Selbstsucht · KÜ SÏ

Buch II · Dschung Tschun Gi
Aufzeichnungen des mittleren Frühlingsmonats

1. Der mittlere Frühlingsmonat · DSCHUNG TSCHUN

2. Das Werthalten des Lebens · GUI SCHONG

3. Triebe und Begierden · TSING YÜ

4. Der rechte Einfluß · DANG JAN

5. Erfolg und Ruhm · GUNG MING

Buch III · Gi Tschun Gi
Aufzeichnungen des letzten Frühlingsmonats

1. Der letzte Frühlingsmonat · GI TSCHUN

2. Erreichung des vollen Alters · DSIN SCHU

3. Bei sich selber anfangen · SIÄN GI

4. Beurteilung der andern · LUN JEN

5. Der runde Weg · YÜAN DAU

Buch IV · Mong Hia Gi
Aufzeichnungen des ersten Sommermonats

1. Der erste Sommermonat · MONG HIA

2. Ermahnung zur Bildung · KÜAN HÜO

3. Ehrung der Meister · DSUN SCHÏ

4. Ungerechte Vorwürfe gegen Schüler · WU TU

5. Benützung der Menge · YUNG DSCHUNG

Buch V · Dschung Hia Gi
Aufzeichnungen des mittleren Sommermonats

1. Der mittlere Sommermonat · DSCHUNG HIA

2 Große Musik (Klassische Musik) · DA YÜO

3. Rauschende Musik · TSCHÏ YÜO

4. Vom Treffen des rechten Tons · SCHÏ YIN

5: Alte Musik · GU YÜO

Buch VI · Gi Hia Gi
Aufzeichnungen des letzten Sommermonats

1. Der letzte Sommermonat · GI HIA

2. Die Tonarten · YIN LÜ

3. Anfänge der Musik · YIN TSCHU

4. Die Grundlagen der Musik · SCHÏ YÜO

5. Verständnis der Weltordnung · MING LI

Buch VII · Mong Tsiu Gi
Aufzeichnungen des ersten Herbstmonats

1. Der erste Herbstmonat · MONG TSIU

2. Über den Gebrauch des Militärs · DANG BING

3. Beseitigung der Unordnung · DSCHEN LUAN

4. Verhinderung des Unheils · GIN SÄ

5. Gnade üben · HUAI TSCHUNG

Buch VIII · Dschung Tsiu Gi
Aufzeichnungen des mittleren Herbstmonats

1. Der mittlere Herbstmonat · DSCHUNG TSIU

2. Abhandlung über die Einschüchterung · LUN WE

3. Die rechte Auswahl · GIÄN SÜAN

4. Entscheidung des Siegs · GÜO SCHONG

5. Liebevolle Fürsorge für die Staatsbeamten · AI SCHÏ

Buch IX · Gi Tsiu Gi
Aufzeichnungen des letzten Herbstmonats

1. Der letzte Herbstmonat · GI TSIU

2. Die Befolgung des Volkswillens · SCHUN MIN

3. Erkenntnis der Staatsmänner · DSCHÏ SCHÏ

4. Selbstbeurteilung · SCHEN GI

5. Fernwirkungen des Geistes · DSING TUNG

Buch X · Mong Dung Gi
Aufzeichnungen des ersten Wintermonats

1. Der erste Wintermonat · MONG DUNG

2. Beschränkung der Beerdigungssitten · DSÏÄ SANG

3. Wie man die Toten zur Ruhe bestattet · AN SÏ

4. Verschiedener Wert · I BAU

5. Verschiedene Art der Betätigung · I YUNG

Buch XI · Dschung Dung Gi
Aufzeichnungen des mittleren Wintermonats

1. Der mittlere Wintermonat · DSCHUNG DUNG

2. Höchste Treue · DSCHÏ DSCHUNG

3. Treue und Unbestechlichkeit · DSCHUNG LIÄN

4. Worauf man zu achten hat · DANG WU

5. Weitsichtigkeit · TSCHANG GIÄN

Buch XII · Gi Dung Gi
Aufzeichnungen des letzten Wintermonats

1. Der letzte Wintermonat · GI DUNG

2. Staatsmännische Prinzipientreue · SCHÏ DSÏÄ

3. Entschlossenheit · G LI

4. Wahrhafte Unbestechlichkeit · TSCHONG LIÄN

5. Sich nicht imponieren lassen · BU TSIN

Nachwort

ZWEITER TEIL
DIE ACHT BETRACHTUNGEN

Buch XIII · Yu Schï Lan
Betrachtung über die Anfänge

1. Die Anfänge · YU SCHÏ

2. Reaktion auf Verwandtes · YING TUNG

3. Beseitigung der Befangenheit · KÜ YU

4. Hören auf Worte · TING YÄN

5. Aufmerksames Hören · GIN TING

6. Betonung der Grundlagen · WU BEN

7. Große Ziele · YÜ DA

Buch XIV · Hiau Hing Lan
Betrachtung über die kindliche Ehrfurcht

1. Kindliche Ehrfurcht · HIAU HING

2. Wie man zu köstlichen Speisen kommt · BEN WE

3. Zeitgemäßheit · SCHOU SCHÏ

4. Gerechtigkeit im Belohnen · I SCHANG

5. Überlegenheit beim Angriff · DSCHANG GUNG

6. Arbeit an sich selbst · SCHEN YÄN

7. Zusammentreffen · YÜ HO

8. Beschränkung aufs eigene Selbst · BI GI

Buch XV · Schen Da Lan
Betrachtung über die Vorsicht bei hoher Stellung

1. Vorsicht bei hoher Stellung · SCHEN DA

2. Abwägen der Verdienste · KÜAN HÜN

3. Herablassung den Würdigen gegenüber · HIA HIÄN

4. Vergeltung · BAU GONG

5. Anpassung beim Reden · SCHUN SCHUO

6. Nicht großartig sein · BU GUANG

7. Wichtignehmen der Benutzung der Umstände GUI YIN

8. Erforschung der Neuzeit · TSCHA GIN

Buch XVI · Siän Schi Lan
Betrachtung über das Vorherwissen

1. Das Vorherwissen · SIÄN SCHÏ

2. Ausschau in der Welt · GUAN SCHÏ

3. Begreifen können · DSCHÏ DSIÄ

4. Bereuen der Fehler · HUI GUO

5. Freude an der Vollendung · LO TSCHONG

6. Prüfung der unmeßbaren Einflüsse · TSCHA WE

7. Beseitigung der Verblendung · KÜ YU

8. Richtigstellung der Begriffe · DSCHONG MING

Buch XVII · Schen Fen Lan
Betrachtung über die Abgrenzung der Befugnisse

1. Abgrenzung der Befugnisse · SCHEN FEN

2. Was der Fürst wahren muß · GÜN SCHOU

3. Sachgemäße Beanspruchung · JEN SCHUN

4. Nicht Selbermachen · WU GUNG

5. Kenntnis des richtigen Verhaltens · DSCHÏ DU

6. Achten auf die Umstände · SCHEN SCHÏ

7. Nicht zweierlei · BU ERL

8. Festhalten am Einen · DSCHÏ I

Buch XVIII · Schen Ying Lan
Betrachtung über wohlüberlegte Antworten

1. Wohlüberlegte Antworten · SCHEN YING

2. Wichtignehmen der Worte · DSCHUNG YÄN

3. Gewandtheit im Verstehen · DSÏNG YÜ

4. Trennung des Gedankens vom Ausdruck · LI WE

5. Unsichere Worte · YIN T

6. Sich nicht unterkriegen lassen · BU TSCHU

7. Antworten · YING YÄN

8. Vorbereitung der Mittel · GÜ BE

Buch XIX · Li Su Lan
Betrachtung über die Überwindung der Weltlichkeit

1. Die Überwindung der Weltlichkeit · LI SU

2. Hochhalten der Gerechtigkeit · GAU I

3. Hochhalten der Tugend · SCHANG DE

4. Verwendung des Volks · YUNG MIN

5. Die richtige Würde · SCHÏ WE

6. Leitung der Wünsche · WE YÜ

7. Wert der Zuverlässigkeit · GUI SIN

8. Schwierigkeit der Auswahl · GU NAN

Buch XX Schï Gün Lan
Betrachtung über die Wahrung der Herrschaft

1. Über die Wahrung der Herrschaft · SCHÏ GÜN

2. Dauernder Nutzen · TSCHANG LI

3. Erkenntnis der Amtspflichten · DSCHÏ FEN

4. Heranziehung der Gleichgesinnten · DSCHAU LE

5. Befreiung aus Hemmungen · DA YÜ

6. Abhandlung über den Wandel · HING LUN

7. Übermut · GIAU D

8. Beachten der Anzeichen · GUAN BIAU

DRITTER TEIL
DIE SECHS ABHANDLUNGEN

Buch XXI · Kai Tschun Lun
Abhandlung über den Frühlingsanfang

1. Abhandlung über den Frühlingsanfang KAI TSCHUN LUN

2. Erforschung der Tüchtigen · TSCHA HIÄN

3. Hoffnung auf Tüchtige · KI HIÄN

4. Untersuchung der Handlungen · SCHEN WE

5. Liebe zum Gleichartigen · AI LE

6. Wichtigkeit der Raschheit · GUI TSU

Buch XXII · Schen Hing Lun
Abhandlung über vorsichtigen Wandel

1. Abhandlung über vorsichtigen Wandel SCHEN HING LUN

2. Ungerechtigkeit · WU I

3. Zweifel durch Ähnlichkeit · I SÏ

4. Einheitlichkeit des Wandelns · I HING

5. Das Aufsuchen von Männern · KIU JEN

6. Prüfung der Überlieferung · TSCHA TSCHUAN

Buch XXIII · Gui Dschï Lun
Abhandlung über die Wichtigkeit der Geradheit

1. Abhandlung über die Wichtigkeit der Geradheit GUI DSCHÏ LUN

2. Aufrichtige Mahnung · DSCHï GIÄN

3. Kenntnis der Veränderungen · DSCHÏ HUA

4. Handlungen wider die Vernunft · GO LI

5. Abgeschlossenheit · YUNG SE

6. Aufsuchung der Ursachen für Unruhen · YÜAN LUAN

Buch XXIV · Bu Gou Lun
Abhandlung über die Wahrung eines würdigen Benehmens

1. Abhandlung über die Wahrung eines würdigen Benehmens · BU GOU LUN

2. Lob der Tüchtigen · DSAN NONG

3. Selbsterkenntnis · D DSCHÏ

4. Gerechte Belohnungen · DANG SCHANG

5. Erweiterung der Ziele · BO DSCHÏ

6. Wert der Zuverlässigkeit · GUI DANG

Buch XXV · Sï Schun Lun
Abhandlung über scheinbares Gelingen

1. Abhandlung über scheinbares Gelingen SÏ SCHUN LUN

2. Unterscheidung der Arten · B LE

3. Das Vorhandensein von Maßstäben · YU DU

4. Unterschied der Ämter · FEN DSCHÏ

5. Die rechte Art des Handelns · TSCHU FANG

6. Achtung aufs Kleine · SCHEN SIAU

Buch XXVI · Schï Yung Lun
Abhandlung über das Äußere der Staatsmänner

1. Abhandlung über das Äußere der Staatsmänner SCHÏ YUNG LUN

2. Betonung des Großen · WU DA

3. Wichtignehmen des Ackerbaus · SCHANG NUNG

4. Benützung der Erde · JEN DI

5. Unterscheidung der Erdarten · BIÄN TU

6. Beurteilung der Zeit · SCHEN SCHÏ

ANHANG

Anmerkungen

Einige Astronomische Bemerkungen

Register der Personen- und Ortsnamen

Register der musikalischen Ausdrücke

Register der Sternbilder

ERSTER TEIL

DIE ZWÖLF AUFZEICHNUNGEN

BUCH I · MONG TSCHUN

Aufzeichungen des ersten Frühlingsmonats

1. KAPITEL
Der erste Frühlingsmonat
MONG TSCHUN

Im ersten Frühlingsmonat steht die Sonne im Zeichen Ying Schï. Zur Zeit der Abenddämmerung kulminiert das Sternbild Schen. Zur Zeit der Morgendämmerung kulminiert das Sternbild We. Seine Tage sind Gia und I1. Sein göttlicher Herrscher ist Tai Hau (der große Leuchtende)2. Sein Schutzgeist ist Gou Mang (der Säer)3. Seine Tiere sind die Schuppentiere4. Seine Note ist Güo. Seine Tonart ist Tai Tsu5. Seine Zahl ist acht6. Sein Geschmack ist sauer. Sein Geruch ist muffig7. Man opfert den Türgeistern8. Unter den Opfergaben steht die Milz voran9.

Der Ostwind löst das Eis. Die Tiere beginnen aus ihrem Winterschlaf erweckt zu werden. Die Fische stoßen das Eis auf. Der Fischotter opfert Fische10. Die Zuggans zieht nach Norden.

Der Himmelssohn weilt in der Tsing-Yang-Halle im linken Raum11. Er fährt im Fasanenwagen, an dem große blauschwarze Drachenpferde angespannt sind. Es werden grüne Flaggen12 aufgesteckt. Man kleidet sich in grüne Kleider und trägt grünen Nephrit. Man ißt Weizen und Schaffleisch. Die Opfergefäße sind durchbrochen, um die Luft durchziehen zu lassen13.

In diesem Monat begeht man den Eintritt des Frühlings14. Drei Tage vor dem Eintritt des Frühlings begibt sich der Großastrolog zum Himmelssohn und spricht: »An dem und dem Tag ist Frühlingseintritt; die wirkende Kraft beruht auf dem Holz.« Der Himmelssohn fastet dann. Am Tag des Frühlingseintritts begibt sich der Himmelssohn in eigener Person an der Spitze der drei Großwürdenträger, der neun hohen Räte, der Fürsten und Räte zur Einladung des Frühlings auf den östlichen Anger. Nach der Rückkehr verleiht er Auszeichnungen an die hohen Räte, die Fürsten und Räte im Schloßhof.

Er befiehlt den Ministern, Milde zu verbreiten und gütige Gebote zu erlassen, Glück zu spenden und seine Gnade der Masse des Volkes teilhaftig werden zu lassen. Belohnungen und Gaben werden ausgeteilt, jedem das Seine.

Er befiehlt dem Großastrolog, auf die Wahrung der Gesetze zu achten und Verordnungen zu erlassen, den Lauf des Himmels, der Sonne, des Mondes, der Sterne und Sternzeichen zu beobachten, damit die Mondhäuser in ihrem Rückgang ohne Irrtümer festgestellt werden, damit die Bahnen nicht falsch berechnet werden und der Frühlingseintritt als fester Punkt bestimmt wird.

In diesem Monat bittet der Himmelssohn an einem guten Tage um Getreidesegen zum höchsten Herrn. Darauf wird eine glückliche Stunde gewählt. Dann legt der König selbst eine Pflugschar an den dritten Platz des Wagens zwischen einen gepanzerten Wächter und den Wagenführer. Er begibt sich an der Spitze der drei höchsten Würdenträger, der neun hohen Räte, der Fürsten und Räte persönlich zum Pflügen auf den Acker des Herrn. Der Himmelssohn zieht drei Furchen, die drei höchsten Würdenträger ziehen fünf Furchen, die hohen Räte, Fürsten und Räte neun Furchen. Heimgekehrt, ergreift der Himmelssohn im großen Gemach15 einen Pokal, während die drei höchsten Würdenträger, die neun hohen Räte, die Fürsten und Räte alle beisammen sind, und spricht zu ihnen: »Dies ist der Wein für eure Mühe.«

In diesem Monat hat sich die Kraft des Himmels nach unten gesenkt, und die Kraft der Erde ist nach oben gestiegen16. Himmel und Erde sind im Einklang und vereinigen ihre Wirkung. Kräuter und Bäume regen sich üppig.

Der König macht die Ackerbaugeschäfte bekannt. Er befiehlt den Feldaufsehern, auf dem östlichen Anger ihre Wohnungen aufzuschlagen, die Grenzen und Scheidewege in Ordnung zu bringen, die Pfade und Kanäle gerade zu ziehen, eine genaue Übersicht anzufertigen über die Berge und Hügel, die Täler und Schluchten, die Ebenen und Sümpfe, und entsprechend dem, was an den einzelnen Plätzen am besten fortkommt, die fünf Getreidearten einzupflanzen. Um das Volk darüber zu belehren, müssen sie bei allem selbst dabei sein. Wenn die Felder im voraus genau vermessen sind und nach der Linie begrenzt, so wissen die Bauern Bescheid.

In diesem Monat erhält der Musikmeister den Befehl, die Schulen zu besuchen und die heiligen Tänze einzuüben.

Die Opferlisten werden in Ordnung gebracht, es ergeht der Befehl, den Geistern der Berge, Wälder, Flüsse und Seen zu opfern. Als Opfer werden keine weiblichen Tiere verwendet.

Es ist verboten, Bäume zu fällen.

Man darf keine Nester ausnehmen und keine unausgebildeten, ungeborenen Tiere und halbflüggen Vögel töten, ebensowenig Hirschkälber und Eier.

Es sollen keine großen Menschenansammlungen stattfinden, keine Stadtmauern und Türme gebaut werden.

Gerippe und Totes werden verscharrt und eingegraben.

In diesem Monat darf man nicht zu den Waffen greifen. Wer zu den Waffen greift, wird sicher von des Himmels Strafe betroffen. Wenn niemand die Waffen gegen uns ergriffen hat, so dürfen wir nicht damit anfangen. Man darf den Lauf des Himmels nicht ändern. Man darf die natürlichen Linien der Erde nicht durchbrechen. Man darf die Ordnungen des Menschenlebens nicht stören.

Wenn im ersten Frühlingsmonat die für den Sommer gültigen Ordnungen befolgt würden, so würden Wind und Regen nicht zur rechten Zeit kommen, Kräuter und Bäume vorzeitig dürr werden und die Staaten in Aufregung geraten. Wenn die für den Herbst gültigen Ordnungen befolgt würden, so würden die Menschen von großen Seuchen betroffen werden, Stürme und Platzregen würden sich häufen, und allerlei Unkraut würde wuchern. Wenn die für den Winter gültigen Ordnungen befolgt würden, so würde Unheil durch Überschwemmungen angerichtet, Reif und Schnee würden großen Schaden tun. Die Wintersaat würde nicht heimgebracht werden können.

2. KAPITEL
Anpassung an das Leben
BEN SCHONG

Alle Wesen werden erzeugt vom Himmel. Ihre Ernährung und Vollendung ist Sache des Menschen. Wer das vom Himmel Erzeugte ernähren kann, ohne ihm Gewalt anzutun, der heißt mit Recht Himmelssohn. Der Himmelssohn hat bei all seinen Handlungen das Ziel, die Natur durch Kunst zu vollenden. Das ist der Grund, warum er Beamte einsetzt. Der Zweck der Einsetzung der Beamten ist die Pflege und Vollendung des Lebens. Heutzutage gibt es betörte Herrscher, die zahlreiche Beamte haben, aber dadurch nur das Leben schädigen. Damit verfehlen sie den Sinn ihrer Einsetzung. Zum Beispiel: Man rüstet Waffen, um sich gegen feindliche Einfälle zu sichern. Wenn man nun Waffen rüstet und sie umgekehrt dazu benützt, selbst anzugreifen, so ist der Sinn der Rüstungen offenbar verfehlt.

Das Wasser ist von Natur klar. Wenn es durch Erde getrübt wird, so kann diese Klarheit nicht in Erscheinung treten. Der Mensch ist von Natur zu langem Leben bestimmt. Wenn er durch äußere Dinge getrübt wird, so kann dieses lange Leben nicht in Erscheinung treten. Die Außendinge sind dazu da, daß man sie benützt, um durch sie das Leben zu gewinnen, nicht daß man das Leben benützt, um sie zu gewinnen. Heutzutage gibt es betörte Menschen, die vielfach unter Drangabe ihres Lebens die Außendinge zu gewinnen suchen. Damit zeigen sie, daß sie wahren Wert nicht zu schätzen wissen. Wer wahren Wert nicht kennt, nimmt das Wichtige für unwichtig und das Unwichtige für wichtig. Wer das tut, wird aber in all seinen Handlungen notwendig Mißerfolg haben. Ein Fürst, der so handelt, wird zum Tyrann; ein Beamter, der so handelt, wird zum Empörer; ein Sohn, der so handelt, wird zuchtlos. Wenn in einem Staate auch nur eine von diesen drei Menschenklassen vorhanden ist, so geht er sicher zugrunde, wenn er nicht großes Glück hat.

Wenn zum Beispiel eine Musik zwar angenehm zu hören ist, aber durch ihr Anhören betäubt, so soll man sie gar nicht erst anhören. Wenn eine Gestalt zwar angenehm anzuschauen ist, aber durch ihr Anschauen verblendet, so soll man sie gar nicht erst anschauen. Wenn eine Speise zwar angenehm zu essen ist, aber durch ihren Genuß den Mund schal macht, so soll man sie gar nicht erst essen. Darum verhält sich der Weise zu den Eindrücken der Sinne des Ohres, des Auges und des Mundes also, daß er sie genießt, wenn sie dem Leben nützen, sie aber entbehrt, wenn sie dem Leben schaden. Das ist der Weg zur Pflege und Vollendung des Lebens.

Die Weltleute, die den Reichtum wichtig nehmen, sind in Beziehung auf die Genüsse der Sinne ganz verblendet. Wenn man Tag und Nacht nach Glück strebt und es erlangt, so wird man zügellos. Aber wie will ein zügelloser Mensch es machen, daß sein Leben nicht verdirbt? Wenn 10 000 Leute den Bogen ergreifen und gemeinsam nach einem Ziel schießen, so wird das Ziel sicher getroffen. Wenn 10 000 Dinge gleißen und scheinen, um ein Leben zu verderben, so wird dieses Leben sicher verderben. Wenn aber alles dazu mithilft, dieses eine Leben zu fördern, so wird dieses Leben sicher lange dauern. Darum richtet der Weise den Gebrauch aller Dinge so ein, daß sie sein vom Himmel gegebenes Leben vollenden. Wer dieses Leben vollendet, dessen Geist kommt in Harmonie, sein Auge wird klar, sein Ohr verständig, sein Geruch fein, sein Geschmack scharf, und alle seine Glieder werden gewandt und frei. Ein solcher Mann findet Glauben, ohne zu reden, trifft das Rechte, ohne sich vorher zu überlegen, findet sein Ziel, ohne sich vorher zu besinnen. Denn sein Geist durchdringt Himmel und Erde, und sein Verstand umfaßt das Weltall. Er steht den Dingen so gegenüber, daß alle zu seiner Verfügung stehen und ihm dienen müssen; er gleicht darin Himmel und Erde. Ist er hoch droben auf dem Königsthron, so wird er nicht stolz; ist er tief drunten als gemeiner Mann, so wird er nicht traurig darüber. Von einem solchen Mann kann man sagen, daß er seinen Charakter vollkommen gemacht hat. Ehre und Reichtum ohne die Erkenntnis, daß Wohlhabenheit ins Elend führt, ist schlimmer als Armut und Niedrigkeit. Denn wer arm und niedrig ist, dem fällt es schwer, die Dinge an sich zu raffen. Selbst wenn er Luxus treiben wollte, wie könnte er’s denn? Auf der Straße der Wagen und im Hause der Fahrstuhl, man sucht sie, um es sich selbst bequem zu machen, aber sie heißen Maschinen zur Herbeiführung der Lähmung. Fettes Fleisch und alter Wein, man sucht sie, um sich selbst zu stärken, aber man heißt sie Gifte, die die Eingeweide faulen machen. Zarte Wangen und weiße Zähne und die verführerischen Töne von Tschong und We, man sucht sie, um sich selbst zu ergötzen, aber sie heißen die Axt, die das Leben fällt. Aber diese drei Übel sind die Folgen von Ehre und Reichtum. Darum gab es unter den Menschen des Altertums solche, die sich weigerten, geehrt und reich zu werden, weil sie das Leben wichtig nahmen. Wer sich nicht durch eitle Namen betören lassen will, sondern die Wirklichkeit wichtig nimmt, der darf diese Mahnung nicht unbeachtet lassen.

3. KAPITEL
Das Wichtignehmen des eigenen Ich
DSCHUNG GI

Tschui17 war sehr geschickt, und doch sind den Leuten ihre eigenen Finger lieber als die des Tschui; der Grund ist, weil ihr Besitz ihnen nützt. Den Leuten sind die Nephritsteine des Berges Kun und die Perlen der Flüsse Giang und Han18 nicht so lieb wie ihr eigenes fleckiges Nephritsteinchen19 oder ihr kleines Barockperlchen20; der Grund ist, weil ihr Besitz ihnen nützt. Nun gehört mein Leben auch mir, und der Nutzen, den es für mich hat, ist ganz besonders groß. Es ist so wichtig für mich, daß selbst ein Kaiserthron dagegen nicht in Betracht kommt. Es ist so wertvoll für mich, daß ich es selbst für den Besitz der ganzen Welt nicht eintauschen kann. Seine Sicherheit ist unersetzlich, denn wenn ich es einmal verloren habe, so kann ich es mein ganzes Leben lang nicht wiederfinden. Diese drei Dinge sind es, auf die die Weisen, die die Wahrheit erkannt haben, besonders achten. Wer aber darauf achtet und es dennoch schädigt, der versteht sich nicht auf die Grundverhältnisse des Lebens. Wer sich aber auf die Lebensverhältnisse nicht versteht, was nützt dem alle Vorsicht? Der macht es wie jener blinde Musiker, der seinen Sohn zwar lieb hatte, aber ihn dennoch auf Spreu schlafen ließ21, oder wie jener Taube, der ein Kind erzog, aber mitten unter dem Donner in der Halle mit ihm scherzte22. Beide haben ihre Gebrechen und wissen daher nicht, was Vorsicht heißt. Wer nicht weiß, was Vorsicht heißt, für den existiert noch nicht einmal der Unterschied zwischen Leben und Tod, Dauer und Untergang, Möglichkeit und Unmöglichkeit. Für wen dieser Unterschied noch nicht besteht, der hält für richtig, was keineswegs richtig ist, und für unrichtig, was keineswegs unrichtig ist. Wenn aber das, was er für falsch hält, richtig ist, und das, was er für richtig hält, falsch ist, so ist er ein großer Narr. Auf solche Menschen kommt die Strafe des Himmels. Wer nach diesen Grundsätzen sein eigenes Leben führt, der stirbt sicher in der Hälfte seiner Tage. Wer nach diesen Grundsätzen einen Staat leitet, der führt ihn sicher dem Verfall und Untergang entgegen. Vorzeitiger Tod, Verfall und Untergang kommen nicht von selber, sondern sie werden durch Narrheit herbeigezogen. Andererseits verhält es sich auch mit langem Leben und dauernder Blüte ebenso. Darum bekümmert sich der Weise nicht um die herbeigezogenen Schicksale, sondern um das, was diese Schicksale herbeizieht. Dann fällt ihm alles zu, ohne daß es jemand hindern kann. Diese Überlegung muß man sich ganz klarmachen.

Wenn ein Athlet wie Wu Hu mit aller Kraft einen Ochsen am Schwanz ziehen wollte, so würde eher der Schwanz abreißen oder seine Kraft zu Ende gehen, als daß der Ochse ihm folgt, weil er ihn rückwärts zerrt. Wenn aber ein kleiner Knabe ihn am Nasenring führt, so folgt der Ochse ihm, wohin er will, weil’s vorwärts geht.

Die Fürsten und Herren dieser Welt, ob würdig oder unwürdig, sie alle wünschen lange zu leben und viele Tage zu sehen. Aber wenn sie täglich ihr Leben rückwärts zerren, was nützt ihnen dann ihr Wünschen? Was das Leben lang macht, ist, daß man es vorwärts gehen läßt. Was aber das Leben nicht vorwärts gehen läßt, sind die Lüste. Darum beschränkt der Weise vor allem die Lüste. Ist eine Halle groß, so ist sie zu schattig; ist eine Terrasse hoch, so ist sie zu sonnig. Hat man zu viel Schatten, so bekommt man Rheumatismus; hat man zu viel Sonne, so wird man gelähmt. Das sind die Übel, die daher kommen, wenn Schatten und Sonne nicht das rechte Maß haben. Darum wohnten die Könige des Altertums nicht in großen Schlössern. Sie bauten sich keine hohen Terrassen, sie kosteten nicht allerlei Leckerbissen, sie kleideten sich nicht dick und warm. Denn wenn man zu dick und warm gekleidet ist, so verstopfen sich die Poren. Sind die Poren verstopft, so stockt die Kraft. Kostet man allerlei Leckerbissen, so wird der Magen überladen. Wird der Magen überladen, so gibt es Verdauungsstörungen. Gibt es aber Verdauungsstörungen und stockt die Kraft, wie will man es da zu langem Leben bringen? Die heiligen Könige des Altertums hatten Parkanlagen, Tiergärten, Baumgärten und Teiche, gerade groß genug, um sich des Anblicks zu erfreuen und sich körperliche Bewegung zu machen. Sie bauten sich Schlösser und Paläste, Terrassen und Pavillons, gerade groß genug, um vor Hitze und Feuchtigkeit Schutz zu finden. Sie hatten Wagen und Pferde, Kleider und Pelze, gerade genug, um es sich bequem zu machen und den Leib zu wärmen. Sie hatten Essen und Trinken, kühlen Wein und Met, gerade so viel, um den Geschmack zu befriedigen und den Hunger zu stillen. Sie hatten Musik und Schönheit, Töne und Lieder, gerade genug, um ihrer Seele harmonischen Genuß zu verschaffen. Die heiligen Könige waren in diesen fünf Dingen darauf bedacht, ihr Leben zu pflegen. Nicht daß sie gerne sparen wollten und die Ausgaben scheuten, sondern sie wollten ihr Leben in Ordnung bringen.

4. KAPITEL
Das Werthalten der Gerechtigkeit
GUI GUNG

Die heiligen Könige des Altertums hielten, als sie die Welt beherrschten, die Gerechtigkeit für das Erste und Wichtigste. Durch Gerechtigkeit kommt die Welt in Frieden. Der Friede entspringt aus der Gerechtigkeit. Sehen wir uns einmal die alten Aufzeichnungen an. Gar viele waren es, die die Weltherrschaft erlangten. Sie alle erlangten sie durch Gerechtigkeit. Die sie verloren, verloren sie durch Ungerechtigkeit. Der feste Bestand jeglicher Herrschaft gründet sich auf die Gerechtigkeit. So heißt es im Hung Fan23:

Ohn Gunst und Neid
Ist Königs Sicherheit.
Ohn Gunst und schlicht
Ist Königs Pflicht.
Nichts tun aus Gnad
Ehrt Königs Pfad.
Nichts tun aus Haß
Ehrt Königs Maß.

Die Welt gehört nicht einem Menschen, sondern die Welt gehört der Welt24. Die Harmonie des Lichten und Schattigen begünstigt keine einzelne Gattung. Der Morgentau und der Frühregen bevorzugt kein einzelnes Ding. So darf auch der Herr alles Volks keinem einzelnen Menschen parteiisch zugetan sein.

Als Bo Kin25 im Begriffe war, von seinem Vater Abschied zu nehmen, bat er ihn um Ratschläge für die Verwaltung des Staates Lu. Da sprach der Fürst von Dschou zu ihm: »Schaffe Nutzen, suche nicht Nutzen.«

Ein Mann aus Ging26 verlor einst seinen Bogen. Er wollte ihn nicht suchen, sondern sprach: »Ein Mann aus Ging hat ihn verloren, ein Mann aus Ging wird ihn auch finden; wozu ihn suchen?« Meister Kung hörte es und sprach: »Wenn er das Ging wegließe, so möchte es angehen.« Das hörte Lau Dan und sprach: »Wenn er den Menschen wegließe, so möchte es angehen.« So war Lau Dan am allergerechtesten.

Die Natur ist groß. Sie erzeugt, aber kennt keine Kinder; sie vollendet, aber kennt keinen Besitz27. Alle Wesen werden ihres Segens teilhaftig, erlangen ihren Nutzen, und keines weiß, woher er kommt. So war die Art der drei Erhabenen und der fünf Herren.

Guan Dschung28 war einst krank. Da besuchte ihn der Herzog Huan, fragte ihn und sprach: »Vater Dschungs Krankheit ist schwer;in schweren Krankheitsfällen dürfen es sich die Volksgenossen nicht verhehlen. Wen soll ich mit der Leitung des Staates beauftragen?«

Guan Dschung erwiderte: »Ich habe schon früher mir alle Mühe gegeben und meine Weisheit erschöpft, und es ist mir nicht gelungen, jemanden ausfindig zu machen. Nun bin ich so krank, daß es jeden Augenblick mit mir zu Ende gehen kann, was soll ich da sagen?«

Der Herzog Huan sprach: »Es handelt sich um eine wichtige Angelegenheit, und ich möchte, daß Ihr Euren Rat erteilt, Vater Dschung.«

Guan Dschung erklärte sich ehrerbietig einverstanden und sprach:»Wen wünschen Eure Hoheit zum Kanzler zu machen?«

Herzog Huan antwortete: »Ist Bau Schu Ya geeignet?«

Guan Dschung erwiderte: »Nein, er ist nicht geeignet. Ich war mit Bau Schu Ya sehr befreundet. Er ist ein Mann, der einen reinen, unbestechlichen, tüchtigen und geraden Wandel führt. Aber er betrachtet die Leute, die ihm nicht gleichkommen, so, als wären sie gar nicht würdig, Menschen zu heißen. Wenn er einmal von den Fehlern eines Menschen gehört hat, vergißt er sie sein ganzes Leben lang nicht. Wenn niemand anderes da ist, wäre dann nicht Schi Pong geeignet? Schi Pong ist ein Mensch, der hohe Ziele hat, aber auch von geringen Leuten sich belehren läßt. Er ist unzufrieden mit sich selbst, daß er es nicht Huang Di gleichtut. Andrerseits hat er mitleidsvolles Verständnis für Leute, die ihm nicht gleichkommen. Er denkt nicht, er müsse im Staate alles hören; er denkt nicht, er müsse alle Vorgänge kennen; er denkt nicht, er müsse alle Menschen gesehen haben. Darum, wenn’s keinen besseren gibt, so ist Schi Pong geeignet.«

Das Kanzleramt ist ein hohes Amt. Um ein hohes Amt richtig verwalten zu können, darf man nicht kleinliches Detail wissen und sich um kleinliche Klugheitsregeln kümmern wollen. Darum heißt es: Ein großer Zimmermeister nimmt nicht selber das Beil zur Hand; ein großer Koch handhabt nicht die Schüsseln; ein großer Held schlägt sich nicht; ein großer Feldherr plündert nicht29.

Solange der Herzog Huan Gerechtigkeit übte und sich des Lasters der Selbstsucht enthielt und den Guan Dschung als Kanzler hatte, war er der größte unter den fünf Führern der Fürsten, als er aber selbstsüchtig wurde, seine Günstlinge bevorzugte und den Schu Diau anstellte, kam es dazu, daß sein Leichnam unbeerdigt blieb, bis die Würmer zur Tür herauskrochen30.

Der Mensch ist in seiner Jugend töricht und wird im Alter klug. Aber besser ist es, töricht zu sein und gerecht als klug und selbstsüchtig. Den ganzen Tag betrunken sein und dann doch die Trauerzeremonie richtig vollziehen wollen, auf eigenen Gewinn bedacht sein und dabei doch Gerechtigkeit üben wollen, habgierig und grausam sein und dabei doch als König herrschen wollen: das sind Dinge, die selbst ein Schun nicht kann.

5. KAPITEL
Entfernung der Selbstsucht
KÜ SÏ

Der Himmel beschirmt alles ohne selbstsüchtige Bevorzugung. Die Erde trägt alles ohne selbstsüchtige Bevorzugung. Sonne und Mond scheinen über alles ohne selbstsüchtige Bevorzugung. Die vier Jahreszeiten gehen ihren Gang ohne selbstsüchtige Bevorzugung. Sie wirken nach ihrer Art, und alle Wesen wachsen und gedeihen. Von Huang Di gibt es ein Wort: Bei den Tönen meide die Fülle, bei der Schönheit meide die Fülle, bei den Kleidern meide die Fülle, bei den Düften meide die Fülle, bei den Speisen meide die Fülle, bei der Wohnung meide die Fülle.

Yau hatte zehn Söhne. Aber er hinterließ den Thron keinem von ihnen, sondern gab ihn dem Schun31. Schun hatte neun Söhne. Aber er hinterließ den Thron keinem von ihnen, sondern gab ihn dem Yü. Das ist größte Gerechtigkeit32.

Der Herzog Ping von Dsïn fragte den Ki Huang Yang: »Die Stelle des Herrn von Nan Yang ist frei, wen kann man damit betrauen?«

Ki Huang Yang erwiderte: »Hiä Hu33 ist geeignet dafür.«

Der Herzog Ping sprach:»Ist denn Hiä Hu nicht Euer Feind?«

Er erwiderte: »Eure Hoheit fragen, wer geeignet sei, nicht danach, wer mein Feind sei.«

Der Herzog Ping sprach: »Gut«, und übertrug jenem darauf die Stelle, und alle Bürger des Staates waren mit ihm zufrieden. Nach einer Weile fragte der Herzog Ping wiederum den Ki Huang Yang und sprach:»Es fehlt ein Feldherr im Staate. Wer ist geeignet für die Stelle?«

Er erwiderte: »Wu ist geeignet.«

Der Herzog Ping sprach: »Ist denn Wu nicht Euer Sohn?«

Er erwiderte: »Eure Hoheit fragen, wer geeignet sei, nicht danach, wer mein Sohn sei.«

Der Herzog Ping sprach: »Gut«, und stellte ihn ebenfalls daraufhin an. Wieder waren alle Bürger des Staates mit ihm zufrieden.

Meister Kung hörte davon und sprach: »Vortrefflich fürwahr sind die Worte des Ki Huang Yang! Einerseits scheute er sich nicht, seinen Feind zu empfehlen, und auf der anderen Seite scheute er sich nicht, seinen Sohn zu empfehlen. Ki Huang Yang verdient, gerecht genannt zu werden.«

Einst lebte ein Vorsteher der Schule des Mo mit Namen Fu Tun34 im Staate Tsin als Beamter. Sein Sohn hatte jemanden ermordet. Da sprach der König Hui von Tsin: »Ihr seid schon alt, Herr, Ihr habt keine anderen Söhne. Darum habe ich die Anweisung gegeben, ihn nicht hinrichten zu lassen. Ihr müßt in diesem Stück auf mich hören.«

Fu Tun erwiderte: »In der Schule des Mo gilt es zu Recht, daß, wer einen Menschen tötet, sterben muß, und wer einen Menschen verwundet, körperlich bestraft wird, um Mord und Körperverletzung zu verhindern. Die Verhinderung von Mord und Körperverletzung ist die wichtigste Pflicht auf Erden. Obwohl nun Eure Hoheit ihm Gnade zuwenden wollen und den Befehl erteilt haben, ihn nicht hinzurichten, kann ich doch nicht anders, als nach dem Recht des Meisters Mo handeln.«

Wirklich widersetzte er sich dem König Hui und ließ seinen Sohn töten. Der Sohn steht einem Menschen am nächsten. Da er es über sich gebracht hatte, seinen Nächsten zu opfern, um der allgemeinen Pflicht zu genügen, muß dieser Vorsteher gerecht genannt werden.

Wenn ein Koch die Speisen richtig zubereitet und es nicht wagt, sie selbst zu essen, so kann man ihn als Koch brauchen. Wenn aber ein Koch Speisen zubereitet und sie selbst aufißt, so kann man ihn nicht zum Koch brauchen. Mit einem Herrscher, der der Führer der Fürsten sein will, verhält es sich ebenso. Wenn er die Übeltäter hinrichten läßt ohne Rücksicht auf persönliche Vorliebe und die Würdigen auf Erden ehrt, so ist er geeignet zum Führer der Fürsten. Wenn aber ein solcher Herrscher sich bei der Hinrichtung der Übeltäter durch persönliche Vorliebe bestimmen läßt, so ist er ebenfalls nicht geeignet zum Führer der Fürsten.

BUCH II · DSCHUNG TSCHUN GI

Aufzeichnungen des mittleren Frühlingsmonats

1. KAPITEL
Der mittlere Frühlingsmonat
DSCHUNG TSCHUN

Im mittleren Frühlingsmonat steht die Sonne im Zeichen Kui. Zur Zeit der Abenddämmerung kulminiert das Sternbild Hu. Zur Zeit der Morgendämmerung kulminiert das Sternbild Giän Sing. Seine Tage sind Gia und I. Sein göttlicher Herrscher ist Tai Hau (der große Leuchtende). Sein Schutzgeist ist Gou Mang (der Säer). Seine Tiere sind die Schuppentiere. Seine Note ist Güo. Seine Tonart ist Gia Dschung1. Seine Zahl ist acht. Sein Geschmack ist sauer. Sein Geruch ist muffig. Man opfert den Türgeistern. Unter den Opfergaben steht die Milz voran.

Der Regen beginnt zufallen. Die Pfirsiche und Pflaumen blühen. Die Goldamsel singt. Die Habichte verwandeln sich in Turteltauben2.

Der Himmelssohn weilt in der Sonnenhalle in der Tsing-Yang-Halle im Tai-Miau-Raum3. Er fährt im Fasanenwagen, an dem große blauschwarze Drachenpferde angespannt sind. Es werden grüne Flaggen aufgesteckt. Man kleidet sich in grüne Kleider und trägt grünen Nephrit. Man ißt Weizen und Schaffleisch. Die Opfergefäße sind durchbrochen, um die Luft durchziehen zu lassen.

In diesem Monat schont man die Keime und Sprossen; man pflegt das Neugeborene und Junge und sorgt für alle Waisen.

Der Himmelssohn wählt einen günstigen Tag und läßt auf den Erdaltären Gebete darbringen4.

Er befiehlt den Beamten, die Gefängnisse zu besuchen5, die Hand- und Fußfesseln zu entfernen, ungerechtfertigte Prügelstrafen zu verhindern und Prozesse und Strafsachen einzustellen.

In diesem Monat kommt die dunkle Schwalbe zurück. Am Tag ihrer Rückkunft opfert man ein Vollopfer6 für den Gott der Ehen7. Der König geht persönlich hin. Die Königin führt ihm die Frauen des Hofes zu8. Diejenige, der sich der König genaht, wird geehrt; man reicht ihr einen Köcher, Bogen und Pfeile angesichts der Gottheit der Ehen9. In diesem Monat ist die Tag- und Nachtgleiche. Der Donner erhebt seinen Laut, und der Blitz erscheint wieder. Die Tiere, die Winterschlaf gehalten, regen sich alle wieder; sie öffnen ihre Türen und beginnen hervorzukommen.

Drei Tage, ehe es zum erstenmal donnert, wird die Glocke geläutet, um die Volksmenge darauf aufmerksam zu machen. Man spricht dabei: Der Donner wird nun bald seine Stimme wieder ertönen lassen, wer nicht acht gibt auf sein Benehmen, wird Kinder bekommen, die Fehler haben; sicherlich wird es Elend und Unheil geben.

Am Tag der Tag- und Nachtgleiche vergleicht man die Längenmaße, die Hohlmaße, die Gewichte, die Waagebalken, Zentner, Malter, Scheffel und Eimer. Man bringt die Gewichtsteine in Ordnung.

In diesem Monat weilen die Pflüger wenig zu Hause. Man bringt die Türen und Türflügel in Ordnung; man setzt die Gemächer und Tempel instand; man beginnt keine großen Unternehmungen10, die die Landarbeit beeinträchtigen würden.

In diesem Monat trocknet man keine Wasserläufe und Seen aus;man läßt keine Fischteiche ablaufen;man brennt keine Wälder ab11. Der Himmelssohn opfert ein Lamm und läßt die Eiskeller öffnen, aus denen er zuerst ein Opfer im Ahnentempel darbringt12.

Am ersten Ding-Tage13 erhält der Musikmeister den Auftrag, im Palast den Unterricht im Tanzen zu beginnen. Dabei werden bunte Stoffe vor ihn gebracht; der Himmelssohn geht in eigner Person an der Spitze der drei Großwürdenträger und neun hohen Räte und der Fürsten hin, um zuzuschauen. Am mittleren Ding-Tage erhält der Musikmeister wiederum den Befehl, sich zur Schule zu begeben und den Unterricht in der Musik zu beginnen.

In diesem Monat verwendet man bei den Bittopfern keine Opfertiere, sondern man verwendet Zepter und Ringe aus Nephrit, um sie zu ersetzen, und Felle und Seiden.

Wenn im zweiten Frühlingsmonat die für den Herbst gültigen Ordnungen befolgt würden, so würde im Lande große Überschwemmung entstehen, kalte Winde würden sich allenthalben erheben, Räuber und Waffen würden das Land überschwemmen. Wenn die für den Winter gültigen Ordnungen befolgt würden, so würde die lichte Kraft nicht zum Sieg kommen; der Weizen würde nicht reifen und die Leute würden einander berauben. Wenn die für den Sommer gültigen Ordnungen befolgt würden, so würde große Dürre im Lande herrschen; die Hitze würde zu früh kommen und Heuschrecken und andere Insekten würden Schaden tun.

2. KAPITEL
Das Werthalten des Lebens
GUI SCHONG

Der Weise beherzigt tief die Wahrheit, daß es nichts Wertvolleres unter dem Himmel gibt als das Leben. Ohren und Augen, Nase und Mund sind nur die Diener des Lebens. Wenn auch das Ohr nach Tönen begierig ist, wenn auch das Auge nach Schönheit begierig ist, wenn auch die Nase nach Düften begierig ist, wenn auch der Mund nach Wohlgeschmack begierig ist, wenn diese Begierden aber dem Leben schaden, so hemmt er sie. Was umgekehrt den vier Sinnen unangenehm ist, aber dem Leben nützt, das tut er14. Daraus ergibt sich dann, daß Ohr und Auge, Nase und Mund nicht nach Willkür handeln können, sondern gewissen Beschränkungen unterliegen, wie ein Beamter nicht nach Willkür handeln kann, sondern gewissen Beschränkungen unterliegt. Dies ist die Art, das Leben wertzuhalten.

Yau bot einst das Weltreich dem Dsï Dschou Dsdï Fu an. Dsï Dschou Dsdï Fu erwiderte: »Ich würde mich ja wohl ganz gut zum Weltherrscher eignen, aber ich leide etwas an Melancholie, die will ich erst kurieren; ich habe zunächst noch keine Zeit für das Weltreich.« Das Weltreich ist etwas sehr Wichtiges, und doch wollte er um seinetwillen sein Leben nicht schädigen; wieviel weniger um anderer Dinge willen. Nur wer nicht um der Welt willen sein Leben schädigt, dem mag man die Welt anvertrauen15.

Die Leute von Yüo hatten dreimal hintereinander ihren Fürsten getötet. Prinz Sou nahm das zu Herzen und entfloh nach dem roten Loch. Da sie nun keinen Fürsten in Yüo hatten, suchten sie nach dem Prinzen Sou, fanden ihn aber nicht. Sie folgten ihm nach dem roten Loch, aber Prinz Sou weigerte sich herauszukommen. Da trieben ihn die Leute von Yüo heraus, indem sie die Höhle mit Beifuß ausräucherten. Darauf setzten sie ihn auf den königlichen Wagen. Prinz Sou ergriff die Halteleine, bestieg den Wagen, indem er zum Himmel aufblickte, und seufzte: »Ach, das Fürstsein! Warum konnte es mir nicht erspart bleiben!« Prinz Sou haßte es nicht, Fürst zu sein, aber er haßte die Leiden, die mit dem Fürstsein verbunden sind.

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