GIOVANNI MAIO

wurde 1964 in Italien geboren. Maio ist Philosoph und Arzt mit langjähriger klinischer Erfahrung. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Medizinethik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und leitet dort ein eigenes Institut. Seit 20 Jahren publiziert er zu medizinethischen Themen, und seine Expertise ist in zahlreichen Ethik-Gremien gefragt. So berät Maio als berufenes Mitglied die Bundesärztekammer, die Malteser Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz. Seine Publikationsliste umfasst neben dem 2012 erschienenen Standardwerk Mittelpunkt Mensch: Ethik in der MedizinEin Lehrbuch und anderen monographischen Arbeiten über 300 Veröffentlichungen. Maio behandelt medizinethische Probleme als existentielle und anthropologische Grundfragen und rückt die Frage nach dem Menschenbild in das Zentrum seines kritischen Nachdenkens.

Immer häufiger ist die Schwangerschaft von Sorgen überschattet. Alles dreht sich um die Gesundheit des heranwachsenden Kindes. Befürchtete Gefahren und Risiken bedrängen die elterliche Vorfreude. Im Falle einer diagnostizierten Behinderung wird das Kind oft als Belastung oder sogar als Bedrohung für die Eltern und für die Gesellschaft empfunden. Aus den zunehmenden medizintechnischen Möglichkeiten, ungeborenes Leben auf Herz und Nieren zu prüfen, erwächst im Handumdrehen die elterliche Pflicht, »kein Risiko einzugehen«. Immer häufiger wird den werdenden Eltern die Entscheidung abverlangt, das Kind im Falle kritischer oder nicht eindeutiger Befunde »vorsorglich« abzutreiben.

Die ethische Grundannahme, dass jeder Mensch einzigartig ist und sein Leben unverfügbar sein muss, gerät immer mehr in die Defensive. Manchen gilt sie gar als antiquiert. Der hohe seelische Preis einer Entscheidung gegen ein behindertes Kind oder überhaupt gegen das ungeborene Leben sowie die gesellschaftlichen Folgen dieser Abwehrhaltung zeigen sich oft erst sehr viel später … Giovanni Maio plädiert deshalb eindringlich dafür, in jedem Leben die ihm eigene Kostbarkeit zu erkennen. Es geht ihm darum, der technisch-diagnostischen Machbarkeit nicht blind zu folgen, sondern in Demut und Behutsamkeit den Gabecharakter allen Lebens wiederzuentdecken.

Edition Sonderwege bei Manuscriptum

© Manuscriptum Verlagsbuchhandlung

Thomas Hoof KG · Waltrop und Leipzig 2013

Satz: Achim Schmidt, Graphische Konzepte, Mettmann. Gesetzt aus Arno Pro

Umschlag: Frank Ortmann, freies grafikdesign, Berlin

Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

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Print-ISBN 978-3-937801-93-3

E-Book-Konvertierung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

E-Book-ISBN 978-3-937801-95-7

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Vielleicht ist man sogar darauf angewiesen, im Kind von Anfang an eine verborgene Überraschung zu sehen und ein Geheimnis. Das ist etwas Entscheidendes; das Kind wird nicht bestellt, geliefert und gemustert, sondern das Kind ist eine Überraschung, eine Gabe, ein Geschenk, das uns auffordert, es ohne Vorbehalt anzunehmen.

GIOVANNI MAIO

»Wir planen zu wenig, wenn wir Dinge, die in unserer Hand liegen, dem Zufall überlassen. Wir planen zu viel, wenn wir das Ganze der menschlichen Dinge in die Hand unserer Absicht nehmen und verändern wollen.«

Karl Jaspers

Wenn ein Mensch geboren wird, sind wir trotz aller Entzauberung, die die Moderne mit sich gebracht hat, ergriffen und überwältigt. Wir halten den Atem an. Die Geburt eines Menschen berührt uns in der Tiefe, sie legt – wie es Hannah Arendt bildhaft ausdrückte – einen neuen Faden in das Geflecht der bestehenden Welt, und deshalb ahnen wir, dass diese Welt eine andere geworden ist. Vielleicht ahnen wir sogar, dass wir ohne das Prinzip der Geburt, des Neuanfangs, der »Natalität«, wie Hannah Arendt auch sagt, keine Hoffnung und keine Zukunft hätten. Mit der Geburt eines Kindes wird unsere Hoffnung lebendig und unsere Zukunft leibhaftig.

Was aber der Geburt von heute fehlt, ist die Selbstverständlichkeit. Bis das Kind wirklich auf die Welt kommt, hat es bereits einen langen und oft sehr beschwerlichen Weg zurückgelegt, der mit vielen Prüfungen gepflastert ist. Nur wenn das Kind all diese Prüfungen besteht, darf es überhaupt im Mutterleib und am Leben bleiben. Ein Kind, das schließlich geboren wird, ist oft bereits ein Kind, das »überlebt« hat. Wir sehen in einem Kind nicht mehr von vornherein den Hoffnungsträger und Zukunftsspender. In den ersten Monaten seiner vorgeburtlichen Existenz haben Sorgen und Befürchtungen ein Gewicht, das die instinktive Freude und Vorfreude beinahe erdrückt. Die Schwangerschaft nannte man früher den Zustand »guter Hoffnung«. Heute ist diese Semantik der Hoffnung längst einer Semantik der Bedrohung gewichen.

Das ungeborene Kind als Bedrohung

Die Sorgen, die wir uns um das ungeborene Kind machen, haben sich irgendwann verselbständigt. Wir merken schon gar nicht mehr, dass diese Sorge, je größer sie wird, immer weniger dem Kind gilt und immer mehr den werdenden Eltern, die sich Gedanken darüber machen, wie sie mit einem Kind zurechtkommen würden, das ihren Wünschen, Hoffnungen und Erwartungen aus irgendeinem Grund möglicherweise nicht entsprechen könnte. Die Sorge, die dem Kind zu gelten scheint, gilt in Wahrheit – oft unterstützt vom Arzt – der womöglich gefährdeten elterlichen Lebensplanung.

Das ungeborene Kind ist das radikal Neue, das unser bisheriges Leben von Grund auf verändert. Zunächst kündigt es sich uns in seiner Verborgenheit und Geheimnishaftigkeit an, einer Geheimnishaftigkeit, die eine gespannte und freudige Erwartung wecken könnte. Wenn heute ein Mensch entsteht, sei es im Mutterleib oder außerhalb desselben im Zuge künstlicher Befruchtung, dann wird dieses ungeborene Kind allerdings in zunehmendem Maße nicht als Grund zur freudigen Erwartung, sondern als potentielle Bedrohung betrachtet, wozu nicht zuletzt die vielen diagnostischen und prognostischen Möglichkeiten beitragen. Bis das Kind seinen diagnostischen »Freispruch« erhalten hat, richtet sich fast alle Aufmerksamkeit auf die Gefahr, die für das Lebenskonzept der Eltern von ihm ausgehen könnte. Die Möglichkeiten medizinischer Erkenntnis versprechen uns, unsere Sorgen zu lindern, aber zunächst passiert etwas anderes und Wichtigeres: Je mehr wir über das ungeborene Kind in Erfahrung bringen können, desto mehr fürchten wir seine vermeintlich problematischen Eigenschaften.

Objektiv betrachtet macht sich in den vorgeblich natürlichen Sorgen der werdenden Eltern eine gesellschaftliche Erwartung bemerkbar, eine vorgegebene Norm, wie Kinder sein sollen. Diese Norm kann so mächtig werden, dass sie zu einem Diktat wird, das alle Abweichungen von ihr als unerwünscht und minderwertig erscheinen lässt. Die Tatsache, dass der ungeborene Mensch sich nicht einfach den an ihn herangetragenen Erwartungen fügt und eben gerade dadurch etwas Neues und Einzigartiges in die Welt bringt, wird zunehmend negativ besetzt.

Das Kind kann nicht mehr in seinem geheimnishaften Sosein belassen werden, weil diese Geheimnishaftigkeit plötzlich eher ein beunruhigendes als erfreuliches Potential zu besitzen scheint, alles Bisherige in Frage zu stellen. So zielen viele Bestrebungen von Eltern darauf ab, die möglichen Abweichungen von der »Norm« oder auch nur von ihren Wünschen und Bedürfnissen zu minimieren und ein »passendes« Kind zu bekommen. Solange das gentechnisch »designte« Kind noch nicht zur Verfügung steht, scheint die Lösung darin zu liegen, im Falle eines normabweichenden Befundes abzutreiben und einen zweiten Versuch zu starten. Subjektiv mögen viele das als einen Fortschritt empfinden, weil sie glauben, damit insgesamt das Wohl neugeborener Kinder zu fördern. Tatsächlich aber geschieht etwas anderes. Die soziale Erwartung wird zunehmend von einem Ideal technischer Perfektion geprägt, das wir auf die Natur übertragen, von einem Ideal, dem wir die Natur unterordnen. Die soziale Erwartung wird zum Maßstab für Wert und Unwert von Leben.

Zwar sind die Eltern angesichts eines positiven Schwangerschaftsbefundes in der Regel zunächst erfreut und glücklich; sobald aber die Außenwelt dazukommt und die Medizin einbezogen wird, kehrt sich diese spontane Freude rasch um in Angst und in ein damit verbundenes Sicherheitsbedürfnis. Die antizipierte Geburt des eben noch freudig erwarteten Kindes kommt dann nicht mehr der Enthüllung eines Geschenkes gleich.

Statt das Leben zu »empfangen«, wollen wir mit der Geburt einen Menschen »zur Welt bringen«, bei dem wir keine Risiken eingehen – einen Menschen, den wir minutiös geplant und eingeplant haben. Der Mensch, der heute geboren wird, soll vor allem keine Überraschung sein. Man will ihm das Geheimnishafte schon im Mutterleib entreißen, denn in einer Zeit, in der alles menschenmöglich zu sein scheint, können wir schließlich auch das Sosein und die Ankunft eines Menschen nicht einfach dem Zufall überlassen. Auch die Gesundheit des Kindes erscheint uns vor diesem Hintergrund als grundsätzlich machbar. Dieser Gedanke durchzieht all die Verfahren der vorgeburtlichen Diagnostik. Und so hat die moderne Medizin ganze Arsenale der Diagnostik entwickelt, mit denen sie sich des ungeborenen Lebens bemächtigt und den Eltern dabei »hilft«, nur noch die Kinder zu bekommen, die ihnen und der Gesellschaft »passen«. Sobald Eltern ihr ungeborenes Kind, sei es auch nur vorübergehend, als »Bedrohung« empfinden, werden sie plötzlich zur größten Bedrohung für das Leben dieses Kindes.

Das ungeborene Kind als Projekt

Das Kinderkriegen ist heute nicht mehr selbstverständlich. Zum einen deswegen, weil 15 % der Frauen in Deutschland irgendwann in ihrem Leben die Erfahrung einer (auch vorübergehenden) infertilen Phase durchmachen (Revermann u. Hüsing 2011, S. 28). Nach Boivin liegt die medizinisch erhobene Infertilitätsrate in den westlichen Ländern bei 9 % aller fortpflanzungsfähigen Frauen (Boivin 2007). Zum anderen ist es aber auch deshalb nicht mehr selbstverständlich, weil das Kind, das man sich wünscht, immer weniger als eine Gabe betrachtet wird, die man dankbar annimmt und ganz unabhängig von allen seinen Eigenschaften liebt. Die Möglichkeit zur Abtreibung, die rechtlich bis zur Geburt besteht, hat der potentiellen Mutter bzw. den Eltern einen immer größeren Entscheidungsspielraum gegeben, der die Fiktion nährt, dass ein Kind etwas Verfügbares, etwas Machbares sei – als ob es bestellbar wäre wie beliebige andere Produkte, die der Mensch nach eigenen Fähigkeiten und Wünschen »machen« oder »herstellen« kann. Dabei wird übersehen, dass sogar im Bereich der herstellenden Tätigkeit der Machbarkeit Grenzen gesetzt sind. Selbst dort, wo wir tatsächlich als Schöpfer der dinglichen Welt auftreten, gibt es das Scheitern und das Misslingen, gibt es ungewollte Nebenfolgen, gibt es Ermahnungen zur – Demut. Auch das sind Gedanken von Hannah Arendt aus ihrem Buch Vita activa oder vom tätigen Leben.

Umso erstaunlicher ist es, dass sogar der Nachwuchs des Menschen immer mehr zum »Projekt« geworden ist, zum Projekt der Eltern, die ihr Kind minutiös planen und vorprogrammiert einbauen in ein fest umrissenes Lebenskonzept, in dem sie ihrem dann schließlich doch noch gewollten Kind (das immer öfter auch das einzige bleibt) eine ganz bestimmte Funktion zugedacht haben. Das Kind ist aber vor allem deswegen zum Projekt geworden, weil vielen werdenden Eltern suggeriert wird, dass sie beim Kinderkriegen Sorgfaltspflichten einzuhalten hätten, damit sie bloß nicht das »falsche« Kind zur Welt bringen, das Kind nämlich, das nicht gesund oder sogar behindert wäre. Ein Kind zu gebären, das eine Behinderung hat, gilt heute weithin nicht mehr als Schicksal, sondern als Fahrlässigkeit – als Fehler im »Reproduktionsmanagement«.

Eine Mutter, die ihre »Reproduktion« nicht minutiös plant, die ihren Nachwuchs nicht absolut »unter Kontrolle« hat und ein Kind mit Behinderungen gebiert, kann sich schwerlich noch auf ihre vorbehaltlose Bejahung des Lebens oder gar auf ihre mütterliche Kindesliebe berufen. Eher wird sie sich dem Vorwurf stellen müssen, bei der effizienten Planung ihrer Nachkommen »versagt« zu haben. Ein behindertes neugeborenes Kind gilt heute vor allem als Resultat menschlicher Fehlplanungen und Unterlassungen.

Frauen von heute müssen alles können. Sie sollen erfolgreich berufstätig und obendrein perfekte Mütter sein. Selbst als Schwangere unterliegen sie dem Perfektionsdruck von außen und haben dafür zu sorgen, dass sie makellose Kinder auf die Welt bringen. Tun sie das nicht, so haben sie etwas falsch gemacht oder gelten sogar als »gescheitert«, in jedem Fall als fahrlässig.

Der Wunsch nach dem perfekten Kind

Zumindest im westlichen, »aufgeklärten« Europa leben wir in einer Welt, die so viele individuelle Freiheiten einräumt wie nie zuvor. Keine Konvention scheint mehr zu gelten. Bindungen an religiöse Überzeugungen sind nur noch im Ausnahmefall von Bedeutung. Der moderne Mensch scheint machen zu können, was er will, und die Politik unterstützt ihn in diesem Glauben. Zugleich ist der Mensch aber ein Gefangener sehr subtiler sozialer Ansprüche. Womöglich wird heute vom Einzelnen sogar mehr verlangt als je zuvor. Es ist ihm nur kaum bewusst, weil das nicht offen ausgesprochen wird. Es wird nicht weniger von ihm erwartet als sein Erfolg. Er ist regelrecht dazu verdammt. Und Erfolg bemisst sich nach den Kriterien einer Wettbewerbsgesellschaft, die vor allem ökonomische Werte kennt: Leistungsfähigkeit, Effizienz, Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit. Der einzelne Mensch muss erst unter Beweis stellen, dass er zweckmäßig ist und etwas Nützliches leisten kann, um als wertvoller Mensch anerkannt zu werden. Das ist die Kehrseite der Gelingensforderung, die die moderne Gesellschaft dem Menschen auferlegt.

»Der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, und dennoch frei, weil er, einmal in die Welt geworfen, für all das verantwortlich ist, was er tut.« So hat es Sartre schon 1946 in seinem Essay Der Existentialismus ist ein Humanismus ausgedrückt. Hinzu kommt heute, dass der moderne Mensch dazu verurteilt ist, Gewinner zu sein, Gewinner des Wettbewerbs um das gelungene Leben. Kinder mit Behinderungen passen nicht in dieses Postulat des Gelingens. Und wenn man es nicht geschafft hat, Kinder mit Behinderungen zu »verhindern«, dann gehört man zu den Verlierern. Die echten Verlierer sind aber letzten Endes die schwachen Menschen, die sich gegen dieses Gelingenspostulat nicht zur Wehr setzen können; die schwachen Menschen, die dem Konformitätsdruck nicht standhalten können; die schwachen Menschen, die sich notgedrungen beugen, weil sie glauben, keine andere Wahl zu haben und im Falle eines Widerstands ganz herauszufallen aus der Gesellschaft des Wettbewerbs um das gelingende Leben.

Gleichwohl bleiben Leistungsfähigkeit, Effizienz, Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit erstrebenswerte Größen und Werte, solange sie nicht absolut gesetzt werden. Warum sollte es also erstrebenswert sein, behinderten Nachwuchs nicht von vornherein zu vermeiden? Um in dieser Frage wieder zu mehr Freiheit, Selbstbestimmung und gutem Leben zu kommen, sollten wir die Aufmerksamkeit für einen Augenblick von dem behinderten Kind abwenden und auf das Umfeld richten, in dem es lebt oder leben würde. Viele Eltern, die trotz warnender Befunde ihr Kind mit Behinderungen ausgetragen haben, erzählen später, dass sie im Lauf der Zeit froh geworden sind, dieses Kind nicht abgetrieben zu haben, dass sie froh sind, mit ihm zu leben.

Kein Leben ohne Geburt

Der kritische Blick, der in diesem Buch auf unseren Umgang mit ungeborenem Leben geworfen werden soll, ist notwendig, weil die Art und Weise, wie wir mit dem ungeborenen Leben umgehen, etwas über unser eigenes Selbstverständnis aussagt. Es sagt sehr viel über uns selbst aus, über unsere Lebensverhältnisse und über unsere Vorstellungen von gutem Leben, wenn wir das ungeborene Leben erst mustern müssen, bevor wir es annehmen und bejahen können. Es sagt sehr viel über unsere Gesellschaft aus, wenn sie das Aussortieren von ungeborenem Leben, das nicht in das heute gängige Raster der Leistungsfähigkeit passt, für rational hält und die Erlaubnis zur Selektion gar gesetzlich verankert.

Wir haben in der gesamten Geistesgeschichte den Menschen vor allen Dingen im Hinblick auf seine Sterblichkeit bedacht. Dass der Mensch sterblich ist und sterben muss, hat viele Denker zu tiefen Einsichten angeregt. Die Tatsache aber, dass der Mensch genauso wenig wie seine Sterblichkeit seine – in den Begriffen von Hannah Arendt – »Gebürtlichkeit«, seine »Natalität«, abstreifen kann, wurde meist vernachlässigt. Wer denkt, der lebt, und wer lebt, muss nicht erst geboren werden. Er ist also in einer Lage, die es ihm leicht macht, über die Voraussetzungen und Bedingungen der Möglichkeit von Leben großzügig hinwegzugehen. Seine Geburt und das, was seiner Geburt vorausging, prägen und bedingen aber den Menschen in gleicher Weise wie sein Bewusstsein um den unausweichlichen Tod. Daher ist es nicht nur für werdende Eltern von Bedeutung, wie sie mit ungeborenem Leben umgehen. Jede Entscheidung für oder gegen ein ungeborenes Kind ist von großer Tragweite für das Selbstverständnis eines jeden Menschen. Wenn menschliches Leben im Reagenzglas oder im Mutterleib bestimmten Ansprüchen genügen und erst einmal etwas »leisten« soll, bevor es weiterleben darf, wenn es erst einmal den Beweis erbracht haben muss, dass es keine Behinderung hat, um zum Weiterleben zugelassen zu werden, dann hat dies weitreichende Folgen. Dieser Umgang mit dem ungeborenen Leben hat großen Einfluss auf alle geborenen Menschen, die von chronischer Krankheit und Behinderung betroffen oder bedroht sind. Und wer wäre das nicht? Auf den Punkt bringt es Christian Judith, der bioethische Sprecher der Interessenvertretung »Selbstbestimmt Leben«, der die gendiagnostischen Möglichkeiten der Pränataldiagnostik wie folgt reflektiert: »Mir wurde mit 19 bewusst, dass ich sozusagen die Gnade der frühen Geburt erlebt habe, bevor solche Gentests möglich waren. Als mir klar wurde, dass ich aufgrund meiner Eigenschaft, behindert zu sein, möglicherweise von meiner Mutter abgelehnt worden wäre – das war eine ganz schlimme Erfahrung« (Judith 2001).