CLAUS KOCH
Pubertät
war erst der
Vorwaschgang
WIE JUNGE MENSCHEN ERWACHSEN
WERDEN UND IHREN PLATZ
IM LEBEN FINDEN
GÜTERSLOHER VERLAGSHAUS
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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
Textredaktion: Dr. Peter Schäfer, Gütersloh (www.schaefer-lektorat.de)
Umschlagmotiv: © OlegDroshin − Fotolia.com
ISBN 978-3-641-19689-9
V002
www.gtvh.de
Dieses Buch zu schreiben haben mich meine vier Söhne gelehrt. Drei von ihnen konnte ich bereits in der Zeit ihres Erwachsenwerdens begleiten. Der Jüngste ist gerade dabei, diese Lebensphase in Angriff zu nehmen. Manchmal wild und gefährlich, manchmal in ruhigeren Gewässern, wird auch ihn diese Reise durch seltsame Landschaften und an bislang unbekannte Orte führen, vorbei an Begegnungen, die ein Leben lang in Erinnerung bleiben. Auf die Frage nach dem Wohin dieser Reise gibt es heutzutage keine endgültige Antwort mehr. Es ist nur gewiss, dass jedem sich irgendwann diese Frage stellt. Dann geht es darum, ob man endgültig erwachsen werden will oder ewig ein Kind bleiben. Dieses Buch ist meinen Kindern Philippe, Lucien, David und Leon gewidmet.
Inhalt
Vorwort von Prof. Dr. Klaus Hurrelmann
Einleitung
Teil 1
Auszug aus der Kindheit
1. Erwachsenwerden – die härtesten Jahre des Lebens
Gibt es ein Leben nach der Pubertät und wenn ja, welches?
Wann ist man erwachsen?
Was weiß die Psychologie?
Odysseusjahre: Irrfahrt zwischen dem 18. und 30. Lebensjahr
Pubertät: die Brücke zum Erwachsenwerden
Allein ins Leben – wohin?
In der Transitzone
2. Liebe und Arbeit – auf der Suche nach dem Sinn des Lebens
Liebe in Zeiten des Erwachsenwerdens
Arbeit und das gute Leben
3. Wir haben einen Plan für euch!
Kita, Schule, Ausbildung, Studium: Vorbereitet fürs Leben?
Krisen
Game over?
4. Kind bleiben?
Die Kidult-Gesellschaft
Sind die Eltern schuld an der Infantilisierung ihrer Kinder?
Wer zu früh gezwungen wird, erwachsen zu werden, bleibt Kind
I don’t wanna grow up - Kind bleiben in der Popmusik
5. Das geöffnete Fenster: Die Geschichte von Peter Pan, der nicht erwachsen werden wollte
Für immer Kind bleiben – Abenteuer im Nimmerland
Peter Pans Geheimnis
Das geschlossene Fenster
Verleugnete und verdrängte Mutterliebe
Gute Mütter – schlechte Mütter
Peter Pans Dilemma
Auf der Suche nach der verlorenen Kindheit
Erwachsenwerden gelingt nur bei geöffnetem Fenster
Teil 2
Wie Erwachsenwerden gelingt
6. Der Stoff, aus dem die Kinder sind
»Zu wem gehöre ich« – frühe Kindheit und die Suche nach Nähe und Bindung
Fürsorgliche Eltern: Unterschiedliche Bindungstypen
Bindung, Selbstwirksamkeit und Anerkennung
Kinder sind soziale Wesen: Das angeborene Mitgefühl
Die Geschichte vom »kleinen Prinzen«
7. Pubertät: Auf der Suche nach sich selbst
Kontrollverlust und Ängste
Trost durch Rituale
Das Ende der Kindheit: Sexualität und Identitätssuche
Abschied von den Eltern
Pubertätskrisen
Generation Selfie
Leben in der Komfortzone
Das Ende der Pubertät
8. Fünf Schlüsselqualifikationen für ein gelingendes Erwachsenwerden
Selbstwertgefühl: »Ich fühle mich wertvoll.«
Selbstwirksamkeit und Lebensoptimismus: »Ich schaffe es!«
Kommunikationsfähigkeit: »Ich kann mich mitteilen.«
Selbstkontrolle: »Ich weiß, was ich tue.«
Sinnfindung: »Ich bin ich.«
9. Was man sonst noch braucht
Empathie
Verantwortung
Die Freiheit, man selbst zu sein
10. Loslassen oder festhalten? Die Rolle der Eltern
Eltern sind keine Freunde
Tritt zurück und bleibe verbunden!
Eltern als Vorbilder und Mentoren
»Ich bleibe«: Der Nesthocker
»Bin schon wieder da«: Bumerangkinder
Die Kontrolleure: Von Helikoptern und Drohnen
Der Einfluss der Eltern zeigt sich nicht an der Oberfläche, sondern in der Tiefe
Epilog
Literatur
Anmerkungen
Vorwort von Prof. Dr. Klaus Hurrelmann
Claus Koch hat recht, wenn er in diesem Buch zu Beginn schreibt: Über den Lebensabschnitt zwischen Jugend- und Erwachsenenalter gibt es erstaunlich wenig Literatur. Es scheint so, als ob sich die meisten Autorinnen und Autoren in Wissenschaft und Praxis um diesen Lebensabschnitt herumdrücken würden. Um die »härtesten« Lebensjahre überhaupt, wie er sie nennt. Dabei wissen wir aus der Jugendforschung seit langem, dass auf der einen Seite der Eintritt in die Jugendphase heute so früh wie noch nie in der menschlichen Lebensgeschichte erfolgt, weil sich die Geschlechtsreife im Lebenslauf immer weiter nach vorne verlagert hat; junge Leute treten heute schon mit ungefähr zwölf Jahren in die Jugendphase ein. Auf der anderen Seite wissen wir aber auch, dass sich diese Lebensphase streckt und streckt und kein richtiges Ende mehr finden will, dass sie heute gut und gerne 15 Jahre, manchmal sogar 20 Jahre dauert und ihren Abschluss erst um die 30 findet.
Es wird höchste Zeit, alles Wissen zu diesem Lebensabschnitt aufzubereiten und zusammenzustellen. Das ist Claus Koch hervorragend gelungen. Er legt ein erfrischendes und auch nachdenklich stimmendes Buch zu diesem Thema vor. Er orientiert sich an der aktuellen Jugendforschung und an Wissenschaftlern wie dem amerikanischen Psychologen Jeffrey Jensen Arnett, der sich in den letzten Jahren theoretisch ausführlich mit diesem Lebensabschnitt beschäftigt hat. In einem im Jahr 2000 für den »American Psychologist« geschriebenen Aufsatz und in einem späteren Buch nennt er die Zeit zwischen 18 und 30 Jahren »Emerging Adulthood«, was so viel bedeutet wie »heraufziehendes, sich langsam herausbildendes Erwachsensein«.
Diese Idee nimmt auch Claus Koch als Ausgangspunkt für seine eigenen Betrachtungen, bei denen er das Besondere dieser Lebensphase und ihre Entwicklungsaufgaben unterstreicht und sie von dem Lebensabschnitt davor, der Phase der Pubertät, klug abgrenzt. Er konzentriert sich dabei auf die 18 bis 30 Jahre alten jungen Leute, von denen auch Arnett spricht. Die soziologische Generationenforschung, aus der ich komme, bezeichnet sie als die Angehörigen der »Generation Y«. Das sind die ungefähr zwischen 1985 und 2000 geborenen jungen Leute. Dieser Generation wurde und wird ein unverwechselbarer gesellschaftlicher Stempel aufgesetzt. Drei epochale Ereignisse prägen sie:
Erstens: Sie ist mit den interaktiven digitalen Medien groß geworden, was ihr die Bezeichnung »digitale Eingeborene« eingebracht hat. Sie ist so virtuos wie keine Generation vor ihr im Umgang mit Smartphone und Computer und entwickelt eine neue Wahrnehmung der Welt.
Zweitens: Sie hat politische Spannungen, Terroranschläge und globale Kriege miterlebt und weiß, wie wenig die Politik wirksam handeln kann und wie unsicher das öffentliche Leben geworden ist. Sie ist auch durch 9/11 und Fukushima und die Eurokrise in gewisser Hinsicht »sozial traumatisiert« und hat erfahren, wie ungewiss der Übergang in den Beruf sein kann. Die Jugendarbeitslosigkeit machte es 20 bis 30 Prozent von ihnen unmöglich, einen Ausbildungs- oder einen Arbeitsplatz zu erhalten. Sie hat sich als »überflüssige« Generation empfinden müssen, die eigentlich gar nicht gebraucht wird. Sie hat darauf mit einer immensen Investition in eine immer länger werdende Bildungslaufbahn geantwortet.
Drittens: Sie geht nach dem Vorbild ihrer Vorgängergeneration, der Generation X, eine strategische Allianz mit ihren Eltern ein. Sie ahnt: Sie könnte die erste Generation seit dem Zweiten Weltkrieg sein, für die das Versprechen auf immer mehr Wohlstand und immer mehr Demokratie nicht mehr gilt.
Die aktuellen Jugendstudien zeigen: Die heute 15 bis 30 Jahre alten jungen Leute haben sich mit diesen Bedingungen arrangiert. Sie wissen, dass der Übergang in das Erwachsenenleben lange dauern kann, und sie gewinnen diesem Moratorium zwischen zwei Lebensphasen auch gute Seiten ab. Sie haben einen eigenen Weg gefunden, mit der Ungewissheit und Unsicherheit in ihrer Biografie umzugehen: Eine offene und suchende Haltung. Sie richten sich unauffällig bis opportunistisch mit den Gegebenheiten ein, die sie vorfinden, manövrieren und taktieren flexibel, um sich Vorteile zu verschaffen und rollen alle Lebensfragen von ihren ureigenen Bedürfnissen her auf.
Das hat ihnen in den USA das Etikett »Generation Warum«, also »Generation Why« eingebracht, womit die fragende und suchende Grundhaltung symbolisiert werden soll. Daraus ist im Deutschen das Etikett »Generation Y« geworden, die Erik Albrecht und ich als »heimliche Revolutionäre« charakterisiert haben.1
Ihre Lebensläufe sind ganz offen geworden. Ausbildung, Beruf, Hochzeit, Kinder – ihre Eltern folgten noch diesen klar strukturierten Erwartungen. Die gibt es heute kaum noch. Heute muss jeder junge Mann und jede junge Frau biografische Entscheidungen selbst fällen. Die Frage nach dem Warum, nach dem Sinn, ist für sie gewissermaßen zum Kompass ihres Lebens geworden.
Die Konsequenz: Die Generation Y lässt sich viel, viel Zeit mit dem Erwachsenwerden. Hatten in den 1960er-Jahren 70 Prozent der 30-Jährigen die Hürden zum formellen Eintritt in die Gesellschaft genommen, verfügten über eine abgeschlossene Ausbildung, eine eigene Wohnung und finanzielle Unabhängigkeit, waren verheiratet und hatten Kinder, so sind das heute in diesem Alter nur halb so viele. Von den 30-jährigen jungen Männern leben immer noch über zwölf Prozent im Elternhaus, im Hotel Mama – was allerdings auch die Eltern meist richtig gut finden, weil sie so den Anschluss an die Computerwelt nicht verlieren, den Apple-Service im Hause haben und immer über neue Trends bei Mode und Lebensstil informiert werden.
Abwarten, Improvisieren, Umdisponieren – das wurde zur zweiten Haut der »Ypsiloner«, denn so sind sie groß geworden. Diese Generation wartet einfach auf die richtige Gelegenheit und die geeigneten Umstände, um sich einzubringen und aktiv zu werden. Sie sind, so kann man etwas spöttisch sagen, »Egotaktiker«. Sie haben gelernt: Nichts ist mehr sicher. Und: Es geht immer irgendwie weiter.
Claus Koch nimmt diese Spur auf. Er bezeichnet die »Transitzone zwischen noch nicht und schon erwachsen« treffend als die »Odysseusjahre« des Lebens. Dieser Begriff stempelt die jungen Leute nicht von vornherein als unreif oder kindisch ab, sondern sieht sie mehr als Suchende, auf ein Ziel hin orientiert, das sie vielleicht schon glauben zu kennen, von dem sie aber noch nicht wissen, wie und ob sie es jemals erreichen werden. Er nennt sie Suchende auch deswegen, »weil sie es heute – im Gegensatz zu früheren Zeiten, als der Lebenslauf quasi wie genormt und bereits ausgestanzt vor einem lag – viel schwieriger haben, in einer Gesellschaft erwachsen zu werden, die einerseits einen ausgeprägten Jugendkult betreibt und ihnen unzählige Möglichkeiten, sich zu verwirklichen, bietet, und zum anderen verlangt, sich ihren ökonomischen Erfordernissen möglichst schnell anzupassen«.
Das ist ein schönes Bild. Denn tatsächlich hat dieser Lebensabschnitt zwischen 18 und 30 Jahren mit all seinem Hin und Her etwas von einer Irrfahrt, einer gelebten Odyssee. Man bewegt sich zwischen verschiedenen Optionen hin und her und doch nach und nach auf ein bestimmtes Ziel hin – ganz so, wie es Odysseus mit seinem Schiff und seinen Gefährten im antiken Epos tut.
Koch nennt sie die »härtesten Jahre des Lebens«. Und er dürfte Recht haben mit seiner Einschätzung, dass der Übergang in das Erwachsenenleben für die Angehörigen der Generation Y ungleich schwieriger ist als für die Generationen davor. Für die 1968er-Generation, der ich angehöre, für die etwa zwischen 1940 bis 1955 Geborenen, gab es noch klare Muster für den Lebenslauf. Meine Generation fand zum ersten Mal seit dem politischen und wirtschaftlichen Zusammenbruch eine entspannte wirtschaftliche Lage vor; wir hatten beruflich hervorragende Zukunftsperspektiven. Gewiss, wir mussten uns gegen autoritäre Eltern und total verkrustete gesellschaftliche Strukturen durchsetzen. Aber wir wussten: Es geht voran.
Die Generation der Eltern der heutigen jungen Leute, die Babyboomer, zwischen 1955 und 1970 geboren, hatte eine noch bessere Ausgangslage. Sie stellen, wie ihr Name anzeigt, die bisher stärksten Jahrgänge in Deutschland überhaupt. Sie sind die Kinder optimistischer Eltern. Die hohen Geburtenzahlen drücken Zukunftsvertrauen aus. Die wirtschaftliche und politische Lage hatte sich in Ost und West zunehmend verbessert. Als junge Generation kann sie sich von der Fixierung auf das Materielle lösen. »Postmaterialistische« Werteorientierungen entstehen, der Einsatz für eine gute Lebensqualität und eine saubere Umwelt keimt auf.
Die Generation X, zwischen 1970 und 1985 geboren, konnte ebenfalls noch in Sicherheit groß werden, obwohl sich erhebliche Krisenwolken am wirtschaftlichen Horizont zusammenzogen. Florian Illies hat diese Generation für Deutschland in seinem Essay »Generation Golf« genannt und beschreibt sie als junge Leute, die vor lauter Saturiertheit und Sattheit nicht mehr wissen, was sie vom Leben wollen. Sie reagieren auf die Wohlstandsgesellschaft mit »Null Bock« und hedonistischen Orientierungen, behalten allerdings das Engagement für Lebensqualität und Umwelt bei. Die Eltern aber sichern sie fürsorglich ab, der Vater schenkt dem Sohn einen Mittelklassewagen, wie er ihn auch selbst fährt. Die frühere Spannung zwischen Eltern und Kindern, das wird hier symbolisiert, ist jetzt völlig verflogen.
Im Vergleich dazu ist der Übergang in das Erwachsenenleben für die 1985 bis 2000 Geborenen erheblich unberechenbarer und komplexer geworden. Claus Koch gelingt es, diese Komplexität in allen ihren Facetten auszuleuchten und zu kommentieren. Er illustriert seine Thesen mit anschaulichen Zitaten von Angehörigen der jungen Generation und vielen anderen Zeitzeugen. Und er scheut sich auch nicht, am Ende Tipps und Empfehlungen zu geben, und zwar sowohl für die Eltern der heutigen jungen Leute als auch für diese selbst. Wie kann man das schaffen, in einer derartig lang gestreckten Phase des Lebens die Übersicht zu behalten, obwohl sich doch täglich neue Herausforderungen und Perspektiven ergeben und ein fester Lebensplan praktisch unmöglich ist? Welche Maßstäbe gelten für ein gutes Leben in einer derartig offenen und unsicheren Welt, wie sie die jungen Leute heute antreffen? Und was sind die Kriterien für eine erfolgreiche Elternschaft in diesen unruhigen Zeiten? Seine Antwort: »Als Eltern können wir stolz sein, wenn unsere Kinder uns auf die Frage danach, woher sie kommen, dann antworten: ›Da, wo ich herkomme, war es gut.‹ Und auf die Frage, wer sie sind, uns sagen: ›Der, der ich immer sein wollte.‹ Und auf die Frage nach dem Wohin: ›Dorthin, wo sich das Leben für mich und meine eigenen Kinder mit einem guten Sinn erfüllt.‹ Dann ist Erwachsenwerden gelungen.« Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Prof. Dr. Klaus Hurrelmann,
Hertie School of Governance Berlin
Einleitung
»Alle Kinder, außer dem einen, werden erwachsen.
Sie wissen schon früh, dass sie erwachsen werden. (...)
Jeder weiß das, nachdem er zwei Jahre alt ist.
Zwei ist der Anfang vom Ende.«1
James M. Barrie, aus: Peter Pan
Die Geschichte von Peter Pan, dem Kind, das nicht erwachsen werden will, beginnt mit einem Paukenschlag: Zwei ist der Anfang vom Ende! Danach ist man nicht mehr süß und niedlich, rennt nicht mehr mit einer Blume in der Hand voller Dankbarkeit zu seiner Mutter. Und auch die Eltern ahnen offensichtlich, was auf sie zukommt: »Ach, warum kannst du nicht ewig so bleiben«, sagt die Mutter zu ihrer Tochter Wendy, womit das Thema Erwachsenwerden für sie erledigt ist, ein für alle Mal.2
Alle Eltern wissen, dass ihre Kinder einmal älter werden. Dass sie irgendwann nicht mehr im Sandkasten sitzen, Kuchen backen, Löcher graben oder im Garten Blumen für sie pflücken. Dass sie anfangen, NEIN zu sagen und es auch so meinen. Dass sie manchmal unausstehlich sein können. Und auch, dass ihre Kinder einen weiten Weg zurücklegen müssen, um erwachsen zu werden.
Auch alle Kinder (zumindest die meisten!) ahnen schon ziemlich früh, dass das frühkindliche Paradies nicht ewig währt. Spätestens mit sechs oder sieben Jahren wird ihnen deutlich gemacht, dass jetzt auch für sie der Ernst des Lebens beginnt. Dass das Leben kein Pappenstiel ist, wenn man älter wird. Dass irgendwann nur noch Leistung zählt. Dass ihr Gehirn, wenn sie in die Pubertät kommen, einer Großbaustelle gleicht und noch einmal alles umgebaut werden muss. Dass sie dann manchmal unendlich glücklich und manchmal unendlich traurig sein werden. Weil sie in dieser Zeit die Liebe entdecken und vor allem: sich selbst.
Und dann?
Von diesem »Und dann?«, der Zeit nach der Pubertät, handelt dieses Buch. Von der Zeit des Erwachsenwerdens. Von einer Zeit, in der es für die meisten Jugendlichen tatsächlich ernst wird, wenn es heißt: »Raus aus dem Nest!« Von einer Zeit, an die wir Älteren uns ziemlich gut erinnern können, weil wir vieles von dem, was uns zwischen dem 18. und 30. Lebensjahr passiert ist, äußerst intensiv empfunden haben. Weil diese Zeit unser Leben maßgeblich beeinflusst hat. Es wurden Brücken abgebrochen und Weichen neu gestellt. Fehler, die uns in dieser Zeitspanne unterlaufen sind, hinterlassen Spuren und Narben, die lange, und manchmal sogar für immer sichtbar bleiben. Erwachsenwerden heißt zu lernen, sich im Leben auch einmal entscheiden zu müssen. Heißt: Verantwortung übernehmen, für sich und andere.
Obwohl es in den Suchmaschinen über zwölf Millionen Ergebnisse auf die Frage »Wie werde ich erwachsen?« gibt, finden sich so gut wie keine Bücher zum Lebensabschnitt zwischen 18 und 30 Jahren, in dem es auf so vieles, was unser späteres Leben ausmacht, ankommt. Stattdessen hören wir, wenn es um das Erwachsenwerden unserer Kinder geht, überall nur Klagen: Nesthocker, die ihren Eltern auf der Tasche liegen; Bumerang-Kinder, die – kaum, wird das Leben etwas härter –, zurück ins Nest flüchten; verwöhnte Bälger, die nicht erwachsen werden wollen, zu unselbstständig, zu unentschlossen, zu zögerlich, zu bequem.
Aber auch die Eltern bekommen ihr Fett weg: Man spricht von Helikopter-Eltern, die drohnengleich ihren Kindern rund um die Uhr nachstellen, unfähig loszulassen. Mal zu weich, mal zu hart. Abgesehen davon, dass es für diesen medial aufgebauschten Befund außer gern zitierten Anekdoten und Einzelbeispielen keinerlei wissenschaftlich haltbaren Nachweis gibt, geht er an dem eigentlichen Problem unserer Zeit vorbei: Wie können Eltern ihren Kindern auch in diesem Lebensabschnitt noch eine verlässliche Stütze sein, ihre Selbstständigkeit fördern und dies, ohne sie zu bevormunden oder zu kontrollieren? Denn zunächst einmal brauchen alle Kinder, gerade auch dann, wenn sie erwachsen werden, unsere Unterstützung, unsere Hilfe, unser »Entgegenkommen«. Sie brauchen unsere Aufmerksamkeit. Was sie nicht brauchen, ist unsere Dominanz.
Jede junge Frau und jeder junge Mann erlebt die Zeit des Erwachsenwerdens anders, so, wie dies für sämtliche psychologische Entwicklungsetappen gilt, die jede und jeder mit seiner eigenen Biografie ausfüllt. Natürlich schläft der eine länger als der andere, verlässt die eine ihr Elternhaus früher als die andere. Natürlich sucht sich jemand früher einen Beruf als der andere. Was aber die Zeit des Erwachsenwerdens zu einer eigenständigen und authentischen Entwicklungsetappe mit besonderen Herausforderung macht, sind nicht die Umstände, wie man sein Leben gerade gestaltet – und dies tut jede und jeder anders –, sondern die Tatsache, dass sich in dieser Zeit – und dies gilt für alle – ganz andere und neue Entwicklungsaufgaben stellen als im bisherigen Leben.
Denn das Erwachsenwerden ist die Zeit, in der sich die zurückliegenden Entwicklungsschritte zu einem einzigen und existenziell bedeutsamen Fragenkomplex bündeln: »Woher komme ich?« – »Wer bin ich?« – »Wohin will ich?« – »Wozu bin ich hier?« – »Was will ich?« – »Wie geht es jetzt mit mir weiter?«
Jetzt, wenn wir erwachsen werden, beschäftigen wir uns so intensiv wie zu keiner anderen Zeit mit dem Sinn des Lebens, und unsere bisherige Vergangenheit holt uns wieder ein: die frühe Kindheit, die Erfahrungen in der Schulzeit, unsere erste Liebe und bei dem einen oder anderen vielleicht auch die schmerzlich erfahrene Trennung der Eltern. Alles, was wir in dieser Zeit gefühlt, erlebt und gedacht haben, kommt wieder zum Vorschein. Jetzt, in dieser Zeit zwischen 18 und 30 Jahren, entscheidet sich wirklich, was aus uns werden wird: Selbstsichere, lebenshungrige, neugierige, empathische Erwachsene oder Menschen, die an sich zweifeln, die kein gutes Leben haben und dies ihre Mitmenschen oft spüren lassen. Hier, im Erwachsenwerden, müssen wir die Nagelprobe auf unsere Existenz bestehen. Erwachsenwerden bedeutet nicht nur, die dazugehörigen typischen Rollenmodelle zu übernehmen, also berufstätig zu werden, vielleicht eine Familie zu gründen und dann Mutter oder Vater zu sein, sondern es stellt uns auch vor die Aufgabe, auf die oben genannten existenziellen Fragen nach dem Sinn des Lebens eine Antwort zu finden.
Und die Eltern? Ist ihr Job erledigt? Nein. Weiterhin spielen sie eine bedeutende Rolle für ihre Kinder. Natürlich ist es eine andere als in der Kindheit und Pubertät. Nicht länger sind sie Beschützer, Erzieher, Kontrolleure schon gar nicht, aber sie bleiben weiterhin die Experten ihrer Kinder, die, die sie am besten kennen mit ihren Stärken und Schwächen. Sie sind diejenigen, zu denen ihre Kinder nach wie vor die tiefste Bindung haben. Deswegen bedeuten sie ihnen so viel. Deswegen bleiben sie auch immer Vorbilder. Der Sinn, den sie ihrem eigenen Leben geben, wiegt schwer.
Eltern können ihren Kindern beim Erwachsenwerden nah sein und beistehen, wenn sie den Mut haben, von sich abzusehen und das Leben ihrer Kinder aus deren Perspektive zu betrachten. Wenn sie nicht auf das schnelle Ergebnis ihrer Worte schielen. Wenn sie sich Zeit nehmen.
Zwei ist also doch nicht der Anfang vom Ende, wie es in der Geschichte von Peter Pan heißt. Es passiert noch einiges mehr. Peter Pan, auf den ich in diesem Buch noch häufiger zurückkomme, dieses von seiner Mutter so trostlos verlassene Kind, das auf verschlossene Türen und Fenster stieß, als es vom Spielen im Park nach Hause zurückkehrte, wollte ja auch gar nicht erwachsen werden. Stattdessen sammelte dieser ewig junge Held lieber »verlorene Jungen« auf, die ebenso wie er selbst von den eigenen Eltern im Stich gelassen wurden, und machte sich zu deren Anführer. Und sehnte sich dabei dennoch, wie jedes Kind, nach einem wärmenden Zuhause, das er in seiner Wut auf die Erwachsenenwelt und in seinem enttäuschten Begehren nach Elternliebe fortan nicht mehr finden konnte. Es geht in dieser Geschichte, was häufig vergessen wird, um nicht mehr oder weniger als darum, dass Eltern ihre Kinder in ihr Leben fürsorglich begleiten.
Zum Aufbau des Buches: Dass die Jahre zwischen 18 und 30 zu den härtesten Jahren im Leben zählen – mit dieser Feststellung beginnt der erste Teil dieses Buches, der in fünf Kapiteln einen neuen Blick auf die unterschätzte Lebensphase zwischen dem 18. und 30. Lebensjahr wirft. Aus dieser Perspektive ist die Pubertät nur der Vorwaschgang zu dem, was jetzt kommt: Der endgültige Abschied von der Kindheit und die ersten folgenreichen Entscheidungen stehen an. Und es stellt sich die Frage, wie viele Träume im neuen Lebensplan noch Platz haben. Darum und um die Herausforderung, seinem jungen Leben eine Richtung zu geben, geht es im ersten Kapitel.
Die Themen Liebe und Arbeit stellen die Entscheidungsfähigkeit eines Heranwachsenden besonders auf die Probe, denn der Kontinent der unbegrenzten Möglichkeiten gerät nach und nach immer weiter außer Sicht. Wie hoch der Druck ist, auf diesen Baustellen alles richtig zu machen, davon handelt das zweite Kapitel.
Um die Erwartungen derer, die schon erwachsen sind, geht es im dritten Kapitel. Die Gesellschaft liefert den jungen Leuten mit Nine-to-five-Jobs, Pünktlichkeit, Renditeerwartungen, Schuldenmachen, Zinsen, Geldanlagen, Versicherungen und Themen wie Rentenvorsorge meist nicht die Perspektive, die sie im Moment wirklich interessieren würde. Hier stellt sich die Frage: Wie weit soll man sich ins System einfügen? Oder soll man etwa Widerstand leisten? Oder keine Entscheidung fällen und Kind bleiben?
Tatsächlich erheben Werbeleute das »Nicht-erwachsen-Werden« zum Kult und ermuntern dazu, ewig jung zu bleiben bzw. sich im Zweifel für den Spaß zu entscheiden. Wie genau Erwachsene und Kinder in dieser Atmosphäre zu einer »Kidult-Gesellschaft« verschmelzen, wird im vierten Kapitel beschrieben.
Die Angst vor dem Erwachsenwerden ist gefährlich, und das zeigt sich schon in der hundert Jahre alten Geschichte von Peter Pan, dem Jungen, der nicht erwachsen werden will und viele »verlorene Jungen« um sich schart, um mit ihnen ein Leben voller Abenteuer und Spaß zu führen. Denen, die die Details der Originalgeschichte nicht kennen, ist nicht bewusst, dass das eine alles andere als harmlose Geschichte ist. Daher werfen wir einen Blick in die vergessenen Abgründe dieser Erzählung.
Mit der ganz praktischen Frage, wie Erwachsenwerden gelingt und junge Menschen einen Platz in ihrem Leben finden, beschäftigt sich der zweite Teil des Buches.
Das sechste Kapitel stellt die Bedeutung der frühen Kindheit heraus, in der die Schlüsselqualifikationen für ein gelingendes Erwachsenwerden entstehen: Es geht dabei um die Resonanzerfahrungen des Kindes, die später Selbstwirksamkeit, Empathie und die Fähigkeit zur Teilhabe ermöglichen; und die ebenso die Übernahme von Verantwortung und das Vermögen, im eigenen Handeln einen Sinn zu sehen, vorbereiten und stärken.
Das siebte Kapitel widmet sich der Identitätssuche in der Pubertät, weil die hier gestellten Fragen wie »Woher komme ich?« und »Wer bin ich?« sich in der späteren Phase des Erwachsenwerdens zur Frage eines »Wohin will ich?« bündeln. Es geht hier auch um die Unterschiede zwischen Pubertät und Erwachsenwerden: Zwar ist die Pubertät deutlicher als andere Phasen von Schwankungen und Brüchen gekennzeichnet. Doch es ist zu prüfen, ob sie wirklich das Schreckgespenst ist, von dem in sämtlichen Medien und Elternratgebern immerzu die Rede ist.
Um die fünf Schlüsselqualifikationen für ein erfolgreiches Erwachsenwerden nach der Pubertät, worauf sie beruhen und wie sie sich beim Heranwachsen herausbilden – darum geht es in dem sich anschließenden Kapitel. Maßgeblich beeinflusst von den frühkindlichen, aber auch späteren Entwicklungsschritten sorgen sie für ein ausreichendes Selbstvertrauen und das Vertrauen in andere, für Lebensoptimismus in der Zeit, in der es zum ersten Mal im Leben richtig »ernst« wird.
Das neunte Kapitel knüpft an die fünf Schlüsselqualifikationen an, geht aber über diese hinaus, indem es die Frage aufwirft, ob das Vorhandensein aller Schlüsselqualifikationen ein Grund ist, die Suche nach der Sinnhaftigkeit des Lebens einzustellen oder zu vergessen. Es lohnt sich nämlich, tiefer zu schürfen und weiter nach der Sinnhaftigkeit und Authentizität des Lebens zu fragen, bis man sagen kann, was ein gutes Leben ist. Ein solches Leben ist erstrebenswert, auch wenn man im Prinzip weniger braucht, um erwachsen zu werden.
Ganz im Zeichen der Eltern steht das zehnte und damit letzte Kapitel des Buches. Auch wenn mit dem Auszug der Kinder eine ungewohnte Stille ins Elternhaus einzieht, reißt das Band zu den Kindern nicht ab. Trotz des Loslassenmüssens bleiben die Eltern Wegbegleiter und (alleinige) Experten ihrer Kinder. Eine der großen Fragen, um die es geht, ist, wie die Eltern von nun an ihre Kinder begleiten: als Helikopter-Eltern, die ständig ungefragt pädagogische Sondereinsätze ausführen oder als Eltern, die ihren Kindern ein Grundvertrauen in das Leben vermittelt haben, und ihnen jetzt Aufmerksamkeit schenken, wenn die Kinder sie brauchen.
Teil I
Auszug aus der Kindheit