WIELAND FREUND, geboren 1969, lebt mit seiner Familie in Berlin. Bei Beltz & Gelberg erschienen von ihm unter anderem drei Bände um Törtel, die Schildkröte aus dem McGrün; Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts; Ich, Toft und der Geisterhund von Sandkas sowie Wecke niemals einen Schrat!

JOËLLE TOURLONIAS, geboren 1985 in Hanau, hat Visuelle Kommunikation mit Schwerpunkt Illustration und Malerei an der Bauhaus Universität Weimar studiert. 2009 machte sie sich selbstständig und engagiert dann und wann ihren Kolorationsjoker JANN KERNTKE – wie auch für dieses Projekt. Beide leben momentan in Düsseldorf.

ERSTER TEIL

Im ERSTEN KAPITEL fällt der erste Schnee. Wer jetzt keine Vorräte hat, sammelt keine mehr. Wie Jannis.

Es war nicht zu leugnen : Hinter seinen geschlossenen Lidern war er wach.

»Pest, Pocken und Zeckenbefall«, murmelte Jannis. Er wollte weiterschlafen. Er drehte sich noch einmal um, kuschelte sich in das weiche Moos, mit dem er seinen Kobel gepolstert hatte, und kniff die Augen zu, damit sie bloß nicht versehentlich aufklappten. Aufstehen kam gar nicht infrage. Er war ja gerade erst eingeschlafen!

Er deckte sich mit seinem buschigen Schwanz zu, der, seit er sein Winterfell trug, noch ein bisschen dichter war als sonst. Durch das Dach des Kobels kroch eine klamme Kälte. Außerdem war es draußen hell. Licht drang durch das Gewirr der zu einer Kugel zusammengesteckten Zweige. Es drang sogar durch Jannis’ geschlossene Lider. Noch einer dieser trüben Wintertage hatte begonnen, der Himmel blassgrau und die Lichtung vom Nachtfrost geweißt. Hart gefrorene Grashalme knisterten unter Elfenfüßen. Elfenhände raschelten im vom Raureif steifen Laub. Die Unruhe kroch in Jannis’ Kobel wie ein Marder.

Blitz, Donner und Waldbrand, es war gar nicht das bisschen Licht gewesen, das ihn geweckt hatte! Es war die nervtötende Geschäftigkeit der Elfen! Der panische Fleiß, der immer ausbrach, wenn der Winter nahte. Plötzlich hatte niemand mehr Zeit, und alle waren Frühaufsteher. Krochen zu nachtschlafender Zeit aus ihren Kobeln. Rafften Eicheln, Eckern und verschrumpelte Kastanien zusammen, um sie überall im Wald zu verscharren. Sprachen über nichts anderes als ihre Vorräte, über diebische Eichelhäher und die besten Verstecke. Protzten mit ihren Reichtümern : Händen voll Eicheln, vergraben im Laub ; kleinen Seen aus Bucheckern in hart gefrorenen Kuhlen.

Alles, was immer so bleibt

Im Herbst verstecken die Elfen ihre Vorräte für den Winter. Um sie unter dem Schnee wiederzufinden, verfassen sie Merkverse. Die besten, weil genauesten Merkverse dichtete der weise Hyazinth vor langer Zeit. Die schlechtesten Verse (voller sinnloser Reime) stammen von Horn Pappel.

Und alle waren sie in der Sommerschule gewesen und hatten – anders als Jannis, der zweitschlechteste Sommerschüler aller Zeiten – in Vorratshaltung & Versteckkunde aufgepasst. Jannis erinnerte sich mit Grausen an eine der wenigen Unterrichtsstunden, die er nicht geschwänzt hatte. Da hatte ihr Lehrer, Eibert, der Storch, ihnen den Merkvers zu den Merkversen eingebimst. Und entgegen seiner Gewohnheit hatte Jannis diesen Vers nicht vergessen :

Den Hunger stillt bei Schnee und Eis,
der Vorrat nur, das Kind vom Fleiß.
Und willst, was du versteckt, dann haben,
hilft nur das richtige Betragen :
Du musst dir einen Merkvers dichten
und dich beim Suchen nach ihm richten.

Jannis stöhnte. Teils, weil er sich an die Sommerschule erinnerte ; teils, weil er einsah, dass er an diesem Wintermorgen keinen Schlaf mehr finden würde. Das Rascheln wurde ja immer lauter.

Und jetzt konnte er sogar den ersten Merkspruch hören.

Der Stimme nach zu urteilen, war es die fleißige Forsythia, die ihn sich ausgedacht hatte. Jetzt sagte sie ihn beflissen auf, um ihn sich für die Ewigkeit des Winters einzuprägen :

Von der Eiche vierzehn Schritt,
sechs nach links zur krummen Buche,
dann halb rechts ein Vierteltritt
und Erfolg hat deine Suche.

Geh weg!, dachte Jannis. Aber kaum war Forsythia raschelnd verschwunden, erklangen die nächsten Stimmen. Offenbar wollte der halbe Elfenwald seine Vorräte ausgerechnet unter Jannis’ schlanker Buche verstecken. Diesmal waren es die Zwillinge Luzern und Minze. Und weil sie Zwillinge waren, sagten sie ihren blödsinnigen Merkvers gleich zweimal auf :

Bist du erst an Jannis’ Baum,
gehst zehn Schritt zum Birkensaum.
Unterm roten Buchenblatt
findest du dann Eicheln satt!

Jetzt war es passiert! Jannis hatte die Augen aufgemacht, aus lauter Ärger. Er setzte sich auf, stieß einige halblaute Verwünschungen aus und streckte missgelaunt den Kopf aus dem Kobel, die langen Pinsel an seinen Ohren zuerst. Im Winter sind elfische Ohrpinsel viel länger als sonst.

Es war nicht eisig draußen, aber kalt genug, dass sein Atem zu einer kleinen Wolke gefror. Jannis sah sie fortschweben. Das Wölkchen waberte durch die kahlen Zweige der Buche und auf und davon wie sein Schlaf.

»Jannis? Jannis, bist du wach?« Das war Wendel – Wendel, der Schrat –, den Jannis im Sommer geweckt hatte und der ihn seitdem nicht mehr aus den Augen ließ. So wollte es das Schrat-Gesetz, dem Wendel – komme, was wolle – gehorchte.

Jannis spähte aus dem Wipfel seiner Buche hinab. Da unten stand er, der Schrat, den übergroßen, pflaumenfarbenen Kopf in den Nacken gelegt, die tellergroßen Augen genau auf den Kobel gerichtet. Seit es nachts fror, war Wendels pilzartige Haut ein wenig nachgedunkelt, besonders an den zweigdürren Armen und Beinen, die in froschähnlichen Fingern und Zehen endeten.

»Morgen, Wendel«, knurrte Jannis. Es war ja nicht so, dass ihm der Schrat gute Laune machte. Neulich hatte Wendel ihm geraten, ein paar Verstecke anzulegen, was Jannis als Zumutung empfand. Wendel selbst trocknete ekelhafte Pilze. Er verwahrte sie in seinem Laubhaufen unter Jannis’ Buche, in den er sich nachts wie ein Igel wühlte. Nicht dass er darin schlief. Wendel ruhte nur ein wenig. Solange sie dem Schrat-Gesetz folgen, schlafen Schrate nicht.

»Komm doch runter, Jannis!«, rief Wendel und machte eine wichtige Miene, indem er die pflaumenfarbene Stirn in wulstige Falten legte. »Ich will dir was zeigen. Oha!«

»Komm du doch hoch«, sagte Jannis und stützte den Kopf auf das Kobeldach. Er war so furchtbar müde.

Er könnte selbst hier draußen einschlafen, in der Kälte, unter dem frostgrauen Himmel.

Alles, was immer so bleibt

Hast du einen Schrat geweckt, hast du die Ewigkeit entdeckt.

Er bleibt dir treu, was du auch tust, selbst wenn du ihn manchmal verfluchst.

Er geht mit dir, wohin auch immer, er bleibt bei dir, wird es noch schlimmer.

Er ist dein Freund, dein guter Rat, das ist Gesetz – er ist ein Schrat.

»Du weißt, dass ich mich nicht traue. Weißt es genau! Mir wird übel da oben. Ich muss mich fürchten!«

Wendel war der schlechteste Kletterer im Elfenwald. Sogar die Kröten im Erlenbruch kamen besser einen Baum hinauf.

Jannis hob den Kopf. Es kostete ihn einige Mühe, so müde, wie er war. »Ich will aber nicht runter«, sagte er. »Keine Lust. Zu viele Streber da unten. Die haben mich mit ihren blöden Merksprüchen schon geweckt. Soll ich etwa auch anfangen, Verstecke anzulegen?« Das kam gar nicht infrage! Er ließ den Kopf wieder sinken. Aus dem Kobel stieg die Wärme seines Schlafs. Er überlegte ernsthaft, es noch einmal zu versuchen. Sich wieder hinlegen. Bis Mittag schlafen. Und dann mal sehen.

»Vielleicht wär’s gut«, sagte Wendel seltsam gedehnt. »Und Zeit wär’s auch, für Vorräte, oha. Schau zum Himmel, Jannis! Schau zum Himmel!«

»Grau«, sagte Jannis, ohne hinzusehen. »Wie ein Stein. Und auch genauso schwer.«

»Eben«, sagte Wendel. »Eben. Und riechst du’s auch? Kannst du’s riechen?« Der Schrat zog seine unmögliche Nase kraus. Er schnüffelte. Es klang wie ein Schniefen.

»Ich riech nichts«, sagte Jannis und gähnte.

Unten schoss ein erwachsener Elf vorbei, die Hände voller Eicheln. Er war auf der Suche nach einem Versteck und einem Vers: »Baum, Raum, schau’n, klau’n.« Ein stetes Murmeln. Wie kleines Wasser in einem Bach.

Jannis blinzelte und erkannte die dicke Buschbaronin von Hagebutte, eine der drei Hofdamen der Elfenkönigin Titania. Bestimmt hatte sie schon mehr Verstecke, als es Reimwörter gab. Essen war nämlich seine Leidenschaft.

»Jetzt komm doch runter, Jannis«, bettelte Wendel, nachdem die Buschbaronin im Zickzack zwischen den Bäumen verschwunden war. »Sonst komm ich doch hoch. Oha!«

»Mach nur! Traust dich ja doch nicht.«

Aber Jannis hatte sich getäuscht. Der Schrat schlang beide Arme um den Baum, als wollte er ihn ausrupfen. Jannis sah die schwarzen Borsten über Wendels Stirn.

»Oha!«, machte der Schrat, als er sich mit den Füßen abstieß. Wie eine Raupe schob er sich den Stamm hinauf. »Gleich ist es so weit«, murmelte er dabei. »Gleich ist es so weit und du wirst es verpassen.«

»Verpassen? Was?« Jannis lag jetzt bäuchlings auf dem Kobel und spähte kopfüber zu Wendel herab.

»Ui.« Der Schrat war mittlerweile den halben Stamm heraufgerobbt. Er sah nach unten, den Fehler machte er immer wieder. »Oha!«, stöhnte er und klammerte sich angsterfüllt fest. »Jetzt ist mir schwindlig. Da hast du’s!« Doch er sah gleich wieder auf, an Jannis vorbei, zum Himmel hoch. »Gleich ist es so weit«, sagte er wieder. »Ich konnte es die ganze Nacht spüren. Zieht in den Knochen. Oha!«

Unten wuselte der maulwurfsschwarze Einbeere vorbei, mit dem Jannis zur Sommerschule gegangen war. Er hatte den Arm voller Haselnüsse und sah aus, als hetzte ihn ein mordlustiger Luchs. Im Elfenwald ging es zu wie in einem Ameisenhaufen! Warum nur hatten es alle plötzlich so furchtbar eilig?

»Und jetzt … Oha!« Wendel hatte es beinahe geschafft. Er streckte einen seiner dünnen Arme aus und griff nach dem Ast, auf dem Jannis’ Kobel angebracht war. Jetzt musste er den Stamm loslassen.

»Wendel?«, sagte Jannis. Das sah mal wieder nach einem Absturz aus.

»Oooooooooo … HA!« Irgendwie hatte Wendel es geschafft. Er baumelte vom Ast, mit lang gezogenen Armen und aufgerissenen Augen. Sein Körper schwang hin und her. Jetzt würde es einen Klimmzug brauchen, um den Kobel zu erreichen.

Aber Wendel blieb hängen. »Schau, Jannis. Schau!«, rief er. »Schau zum Himmel! Jetzt!«

Jannis hob den Kopf – gerade noch rechtzeitig. Denn das war ihm noch nie passiert! Er sah die erste Schneeflocke fallen! Sie taumelte vom Himmel, durch das kahle Geäst der Buche, genau auf ihn zu! Ein winziges, weißes, zerbrechliches Ding, kaum mehr als ein Hauch, und doch brachte sie den Winter!

Jannis war wie gebannt. Die Schneeflocke tanzte. Ein unmerklicher Wind wehte sie zur einen, dann zur anderen Seite. Sie drehte sich um sich selbst, stieg, von einem sanften Luftzug gestoßen, wieder auf, sank abermals und stupste schließlich sachte Jannis’ Nase. Ein kleiner, kühler Tropfen rann unendlich langsam durch sein Fell.

»Wendel!«, rief Jannis. »Hast du das gesehen?« Er brauchte einen Zeugen.

Der Schrat hing bäuchlings über dem Ast. »Das bringt Glück, Jannis«, schnaufte er, von seinem Klimmzug außer Atem. »Glück, oha! Du kannst es brauchen.«

Aber Jannis hörte schon nicht mehr hin. Überall gingen jetzt die Schneeflocken nieder. Viele, dann sehr viele, dann unendlich viele.

Der Schnee nahm den Wald in Besitz, still und unweigerlich. Die Flocken legten sich auf Äste und Zweige, sie setzten sanft auf dem Waldboden auf. Sie tupften das Herbstlaub dort unten, bedeckten ein Blatt und noch ein Blatt und noch eins und alle Blätter gleichzeitig.

Jannis streckte die offene Hand aus. Die Flocken kamen wie Geschenke. Er dachte nicht einen Moment an Dunkelheit und Kälte. Er dachte : Der Winter ist groß.

Dann sah er, am Birkensaum vorbei, zur Lichtung hinüber, die schon im Schneegestöber lag. Ein dichter Vorhang aus stürzenden Flocken und dahinter das aufgeregte Elfenvolk. Schemenhafte, geduckte Wesen, die kreuz und quer über die freie Fläche huschten, mit Vorräten beladen.

Dinge, die flüchtig sind

 Frühling, Sommer, Herbst und Winter

 die Bäume (obzwar sie lange leben)

 die Streiche des närrischen Horn Pappel

 Amsel Salamanders BUCH ÜBER ALLES

Dinge, die ewig sind

 der Wechsel der Jahreszeiten

 der Wald (obzwar die Bäume endlich sind)

 die Weisheiten des weisen Hyazinth, des weisesten aller Elfen

 Amsel Salamanders BUCH FÜR DIE EWIGKEIT

Jannis schloss seine ausgestreckte Hand und spürte nichts als Nässe.

Motte nahm den schnellsten Weg, von Wipfel zu Wipfel, in Riesensätzen. Der Schnee blies ihr direkt ins Gesicht, ihr Fell war schon dunkel vor Nässe. Mit den Vorderbeinen landete sie auf einem blanken Ast, mit den Hinterbeinen stieß sie sich gleich wieder ab, tauchte durch den Vorhang aus Flocken und landete zwischen weiß bemalten Zweigen im nächsten Baum.

Auf der Lichtung hörte sie schon die ersten Gesänge und Trommelschläge, den dumpfen Ton von Holz auf Holz, der die Elfen zum Winterfest rief. Mit dem Schnee war der letzte Tag des Jahres gekommen. Man wusste nie vorher, wann es so weit war.

Motte landete im feuchten Geäst einer schwankenden Birke. Die Zeit drängte, sie war schon beinahe zu spät. Aber erst hatte sie der alte Amsel Salamander aufgehalten, und jetzt konnte sie nicht anders : Sie musste noch nach Jannis sehen. Bestimmt hatte er den ersten Schnee verschlafen. Bestimmt lag er noch in seinem Kobel und hörte die Trommeln nicht.

»Jannis?« Im Schneegestöber machte sie seine schlanke Buche aus.

Sie war seit Wochen nicht mehr hier gewesen, Amsel Salamander hielt sie auf Trab. Je näher der Winter kam, desto geschäftiger wurde der Alte. Nur dass er nicht Eckern und Eicheln, sondern Steine sammelte – am besten flache, helle Kiesel, wie es sie im Elfenwald nur selten gab. Motte hatte sie überall gesucht und die meisten im Erlenbruch gefunden, unten im Süden, am Dunklen See, der bestimmt bald zufrieren würde.

»Jannis?« Sie rief lauter. Eine Schneeflocke wehte ihr in den offenen Mund und zerging auf ihrer Zunge.

Sie hatte für gar nichts Zeit gehabt. Denn wenn sie keine Steine sammelte, sammelte sie Vorräte für sich und Amsel Salamander, denn zum Vorrätesammeln war Amsel Salamander zu alt. Um die Schnauze herum war er mittlerweile noch ein bisschen weißer als im Sommer. Er stützte sich auch ein bisschen schwerer auf den Stock. Trotzdem wollte der Alte von Winterruhe nichts hören. Er sei zu alt, um seine Zeit noch zu verschlafen, sagte er oft und verschwand dann jedes Mal in seinem Kobel. Und obwohl Motte ihm die Steine in den Kobel hatte schleppen dürfen, durfte sie nicht hinein, wenn Amsel drinnen auf seinem Stuhl aus Birkenzweigen hockte und die Taubenfeder schwang. Mit derselben Taubenfeder hatte er das berühmte BUCH ÜBER ALLES geschrieben, aber auch vom BUCH ÜBER ALLES wollte Amsel Salamander nichts mehr hören. »Schnee von gestern«, brummte er, wenn die Rede darauf kam.

Schnee! Motte hatte ihn erwartet. Er lag seit Tagen in der Luft. Motte blinzelte, sprang zu Jannis’ Buche hinüber und krachte bei schlechter Sicht in Wendel, der ganz gegen seine sonstige Gewohnheit hier oben saß.

»Oha! Mo-te-te-te-te!« Der Schrat ruderte mit den dünnen Armen und fand im letzten Augenblick sein Gleichgewicht wieder. Aus den schwarzen Borsten auf seinem Schädel rieselte der Schnee.

Jannis hockte auf dem Dach seines Kobels und sah den Flocken beim Fallen zu. Er schien Motte gar nicht zu bemerken.

»He, Jannis! Hörst du nicht die Trommeln? Das Winterfest beginnt.«

»Oh!« Jannis schreckte auf, als würde er gerade aus einem Traum erwachen. »Hallo, Motte.« Er starrte gleich wieder in das wirbelnde Weiß. »Ich hatte vergessen, wie schön das ist : Schnee.«

»Ach ja?« Motte hockte sich neben Wendel und brachte notdürftig ihr Fell in Ordnung. »Das Winterfest hast du aber nicht vergessen, ja?«

»Hmm«, machte Jannis.

»Und Verstecke hast du auch noch rechtzeitig angelegt. Das würdest du nicht versäumen, oder?« Motte wrang ihren Schwanz aus. Er war pitschnass. Pulverschnee war das nicht gerade, was da vom Himmel fiel.

»Hmm«, machte Jannis wieder.

»Ein durchschnittlich großer Elf«, sagte Motte, »braucht wenigstens ein Dutzend Verstecke, wenn er sorglos durch den Winter kommen will. Außerdem muss er auf die Ausgewogenheit der versteckten Früchte achten. Im Winter ist der Fettbedarf erhöht, also sollten reichlich Bucheckern dabei sein. Du erinnerst dich? Vorratshaltung & Versteckkunde? Ein langes Kapitel im BUCH ÜBER ALLES.« Motte konnte das BUCH ÜBER ALLES quasi auswendig.

Jannis sah ins Schneetreiben hinaus. Der Waldboden war verschwunden. Nur ein paar störrische Zweige ragten noch aus der weißen Decke. Sie waren schwarz vor Nässe. »Ich erinnere mich, Motte«, murmelte Jannis, obwohl das eine glatte Lüge war. Fettgehalt? Das hatte er ja noch nie gehört!

»Und dann natürlich die Merkverse«, sagte Motte. Sie sprach einfach weiter. In ihrem Eifer konnte sie gnadenlos sein. »Hast du sie dir eingeprägt?«

Die Trommeln auf der Lichtung wurden lauter. Unter Jannis’ Buche huschten die letzten, verspäteten Elfen vorbei. Die Zeit drängte. Aber die Sache mit den Merkversen sollte sie noch klären, fand Motte. Jannis brachte es fertig und vergaß sie allesamt.

»Sag mir einen von deinen Versen«, sagte sie.

Jannis schaute sie verblüfft an, und eine Schrecksekunde lang glaubte Motte, er hätte überhaupt gar keine Vorräte versteckt.

Aber dann sagte Jannis :

Von der Eiche vierzehn Schritt’,
sechs nach links zur krummen Buche,
dann halb rechts ein Vierteltritt
und Erfolg hat deine Suche.

Er grinste sie an, die langen Ohrpinsel schon schneeverkrustet. »Na?«, sagte er dann. »Wollen wir jetzt gehen?«

Im ZWEITEN KAPITEL heißt es Abschied nehmen. Es beginnt die Lange Nacht.

Kopfüber ging es die Buche hinab. Motte war schneller als Jannis. Wendel rutschte hinterher, mit dem Hintern voraus.

»Wartet!«, rief der Schrat. »Wartet auf mich. Oha!«

Aber die Trommeln drängten. DOMM! DOMM! DOMM! So hallten sie durch den Wald.

Der Schnee klebte an den Pfoten. Jannis und Motte huschten zwischen den Bäumen hindurch. Am Birkensaum hielten sie einen Augenblick inne. Hinter ihnen tapste Wendel auf großen Füßen durch den Wald.

Die Lichtung wirkte verschleiert. Der Schnee war wie ein Vorhang, der im Himmel zugezogen wurde. Jetzt waren es nur noch ein paar Stunden bis zur Langen Nacht, und zum ersten Mal bereute Jannis, keine Vorräte angelegt zu haben. Plötzlich knurrte sein Magen, und er fragte sich, wo nur die Zeit geblieben war. Hätte er nicht wenigstens ein paar Steineicheln … ein paar Bucheckern … ein paar …

»Komm schon!«, drängte Motte, und sie liefen wieder los.

Am Kinderbaum, einer alten, ausladenden Eiche, in der die Sommerschüler schliefen, hatte sich das Elfenvolk versammelt. Jannis erkannte Oberon, den König und kleinsten Elf im Wald, und neben ihm Titania, die Königin, größer als jeder andere. Neben Titania wiederum standen ihre Hofdamen, das zarte Feldfräulein von Mohn (das vor Kälte bibberte), die hagere Gräfin Ginster (die so tat, als würde sie nicht frieren) und die dicke Buschbaronin von Hagebutte (die einen dicken Distelpelz trug).

Auf dem langen, glatt polierten Stamm einer vor Urzeiten umgestürzten Buche wurden die letzten Weidenkörbchen abgestellt. In den Körbchen türmten sich Eicheln, Kastanien, Eckern, sogar Haselnüsse und ein paar Walnüsse waren dabei. Jannis lief das Wasser im Mund zusammen. Am liebsten hätte er sich sofort auf die guten Gaben gestürzt. Ob er nachher ein paar davon würde mitnehmen können?

Die letzten dumpfen Schläge verhallten. Birk Wespe und der fuchsrote Kerbel traten mit ihren schweren Stöcken zurück. Unermüdlich hatten sie mit ihnen gegen den Stamm der Eiche getrommelt und mit düsterer Miene den Winter begrüßt.

Jannis und Motte drängten sich in die Traube der wartenden Elfen. Es roch nach Kälte, Neuschnee und nach nassem Fell. Überall stiegen Atemwolken auf wie Rauchzeichen. Es war auf einmal so still, dass man glaubte, den rieselnden Schnee zu hören.

Eibert, der Storch, war lange in den Süden aufgebrochen. Er hielt im Sommer die Reden, im Winter tat das Titania. Sie trat einen Schritt vor, hob die Hand, und Jannis wusste genau, wie sich die neuen Elfenschüler gerade fühlten. Er hatte beim letzten Winterfest auch einen Kloß im Hals gehabt. Fast so, als hätte er geahnt, dass er in die Fußstapfen des berüchtigten Horn Pappel treten würde, der siebenmal durch die Gefahrenprüfung gefallen war.

»Süß, nicht wahr?«, flüsterte Motte, als wäre sie zu Zeiten von Ratatosk dem Großen geboren und nicht erst im letzten Winter selbst da vorn aufmarschiert. Seit Oberon sie zu Amsel Salamanders Gehilfin ernannt hatte, tat Motte, als wäre sie so alt wie der Wald.

Einer nach dem anderen traten die neuen Schüler nun vor. Jannis kannte die meisten. Den stämmigen Eckerich mit seinem dichten, kastanienbraunen Pelz, die klapperdürre Heide und einen kleinen Kerl namens Klafter, der einen besonders großen, beinahe runden weißen Brustfleck hatte. Es folgten Linde, Molch, Moosbeere und die hoch aufgeschossene Gaspel, dann war die Reihe komplett.

Schulter an Schulter standen die Kleinen da, warfen sich Blicke zu, räusperten sich und räusperten sich noch einmal und begannen endlich zu singen. Es war ein vor langer Zeit von Amsel Salamander gedichtetes Lied, nach der Melodie einer in seiner Jugend waldbekannten Lerche.

Auf den Winter folgt der Frühling,
auf den Frühling Sommerzeit.
Dann kommt Herbst und dann kommt Winter,
schwupps, kommt er hereingeschneit.

Neben Jannis wurde mitgesungen, erst sehr leise und dann lauter. Ein paar Elfen rieben sich den Schnee aus den Augenwinkeln, aber vielleicht war es auch gar nicht der Schnee, sondern die Rührung, die ihnen in den Augenwinkeln saß. Etwas ging zu Ende, und die Lange Nacht war eine einsame und gefährliche Zeit. Es würde Tage geben, an denen es kaum richtig hell wurde, und wenn man vor Hunger erwachte und in die Kälte hinausmusste, war man fast immer allein.

Jannis dachte an seine Vorräte, die es nicht gab. Unruhig sah er auf die Lichtung zurück, als käme dort der Hunger persönlich, um ihn zu holen. Aber es war nur Amsel Salamander. Zu spät und auf seinen Stock gestützt, das maulwurfsfarbene Fell weiß gestichelt, von Alter und Schnee. Ein ganzes Stück von den singenden Elfen entfernt, blieb er stehen, rammte seinen Stock in den Boden, stützte sich darauf und vergrub den Hals zwischen den Schultern.

Motte hatte gesagt, dass der Alte es hasse, schlafen zu gehen, und Jannis konnte ihn gut verstehen. Auch er kam morgens schlecht aus dem Kobel und genauso schlecht kam er abends hinein. Und jetzt sollte er Tag um Tag und Nacht um Nacht verschlafen, bis der Frühling wiederkam. Er wollte das so wenig wie Amsel Salamander.

Die Elfenschüler hatten die erste Strophe zweimal wiederholt. Jetzt begannen sie mit der zweiten, wobei jeder von ihnen nur einen Halbvers sang. Ihre Stimmen klangen dünn und unsicher, fast so, als glaubten sie dem launigen Versprechen ihres Liedes nicht.

Frostig wird’s jetzt und sehr dunkel,
doch wer würd darüber klagen?
Denn der Winter kommt ja nur,
um den Frühling anzusagen.

Es wurde geklatscht und »Jawohl!« gerufen, und alle stampften mit den Füßen, um nicht einzufrieren. Geschäftige Elfenhände fegten den Schnee von den Schultern, und wer einen Umhang hatte – aus Laub oder aus Baumbart, wie er nur in den Wäldern der Moosleute wächst –, zog ihn fester zusammen.

Birk Wespe schlug mit seinem Stock zweimal gegen den Eichenstamm. Titania erhob die Stimme. Oberon war bekannt dafür, nicht allzu viel zu reden.

»Es ist so weit«, sagte Titania in das verebbende Gemurmel hinein. »Das Jahr geht zu Ende. Der Schnee deckt den Elfenwald zu. Wir nehmen heute Abschied voneinander. Aber wir wollen uns im Frühling wiedersehen. Wenn der Schnee taut, wenn die Schneeglöckchen blühen, wenn die Bäume knospen und uns die Sonne wieder wärmt, wird es so weit sein. Dann werden wir uns wieder hier versammeln und euch, ihr Sommerschüler, vom Kinderbaum herabrufen.« Titania hatte sich den Elfenschülern zugewandt, die frierend vor der Eiche standen. »Und jetzt seid ihr die Ersten, die in die Kobel kriechen. Ich wünsche euch eine gute Lange Nacht. Und bevor ihr geht, sagt ihr, was ihr uns wünscht! Auf, auf!« Titania klatschte in die Hände.

»Weißt du noch?«, flüsterte Motte in Jannis’ Ohr. »Letztes Jahr? Du hattest deine Fürbitte vergessen!« Sie kicherte und Jannis unter-

drückte ein Grinsen. Motte hatte ihm die Fürbitte im letzten Augenblick eingesagt, um ihm das Schicksal Horn Pappels zu ersparen, der sich vor langer Zeit einfach eine Fürbitte ausgedacht hatte.

Unverrückbare Tatsachen (Folge 7)

Die schlechtesten Sommerschüler aller Zeiten waren :

1. Horn Pappel (mit großem Abstand)

2. Jannis (bestand die Gefahrenprüfung später ehrenhalber)

3. Klee Eulenspinner (wollte nur malen und tat auch nichts anderes)

Angeblich hatte er sich gewünscht, dass die Sommerschule im nächsten Jahr ausfiele.

Als Erste trat die dünne Heide vor. »Ich wünsche euch, dass ihr nicht einen Tag Hunger leidet«, sagte sie, wandte sich ab und erklomm in Windeseile die Treppe aus Baumpilzen, die ins kahle Geäst des Kinderbaums führte. Dort oben verschwand sie in einem Kobel, der einmal Mottes Kobel gewesen war.

Als Nächstes war Klafter an der Reihe. »Ich wünsche euch Wärme«, sagte er. »Und den besten Kobel gegen Frost.« Dann verschwand auch er auf dem Kinderbaum. Er hatte es nicht ganz so eilig.

Und so ging es weiter, Schüler für Schüler, während der Schnee unablässig fiel.

»Ich wünsche euch Sicherheit«, sagte Gaspel. »Kein Marder, kein Luchs, keine Wildkatze soll euch finden.«

»Ich wünsche euch einen tiefen Schlaf«, sagte Moosbeere. »Nie sollt ihr euch einsam fühlen.«

»Ich wünsche euch einen frühen Frühling«, sagte Molch, bevor er als Letzter über die Baumpilztreppe verschwand. »Und den mildesten aller Winter.«

Dann griffen Birk Wespe und der fuchsrote Kerbel wieder zu ihren Stöcken. DOMM-DOMM-DOMM!, machte es, als riefe der Wald zum Weltuntergang.

»Esst noch einmal!« Titania breitete die Arme aus, ihre Stimme übertönte das Trommeln. »Esst! Schlaft! Und wenn es taut, sehen wir uns alle wieder!«

Sie griff nach Oberons Arm und die beiden setzten sich in Bewegung. Die Elfen bildeten eine Gasse und Arm in Arm schritt das Königspaar hindurch, dicht gefolgt von den tuschelnden Hofdamen. Ohne sich noch einmal umzudrehen, strebte der Hofstaat auf die Königsesche zu, den höchsten Baum im Elfenwald. Bald waren sie alle zwischen den wirbelnden Flocken verschwunden, ihr Bild vom Schnee wie ausradiert.

»Jannis?« Motte fuhr herum. Sie sah Wendel, dessen großer Kopf aus dem Pulk der Elfen herausragte. Sie entdeckte auch Amsel Salamander, der sich offenbar vorgenommen hatte, allein auf der Lichtung einzuschneien. Nur Jannis war auf einmal wie vom Erdboden verschluckt.

Die Elfen standen in Grüppchen zusammen. Die Unruhe der letzten Tage war vergessen. Man plauderte noch ein bisschen, schüttelte sich zum Abschied die Hände, die Ersten strebten schon auseinander. Wer die Lichtung verließ und in den Wald eintauchte, winkte noch einmal.

»Jannis?« Motte drängte sich durch die Menge, an Ellbogen, nassen Rücken, tropfenden Umhängen vorbei, und stieß auf Wendel. Seine großen, im Schnee seltsam dunklen Füße sah sie zuerst.

»Hast du …«, fing sie an, aber die Frage erübrigte sich gleich. Denn da stand Jannis doch, am Baumstamm mit den Weidenkörben, den Mund prallvoll und in den Händen lauter Haselnüsse.

»Mm-mm. Moppe«, nuschelte er. Er schluckte, schluckte noch einmal, erst dann war sein Mund wirklich leer. »Ich hatte noch nicht gefrühstückt«, murmelte er und knabberte in Windeseile die nächste Haselnuss auf.

Dann und wann kam ein Elf vorbei, fischte sich eine einzelne Eichel aus dem Korb und trug sie wie einen Glücksbringer davon. Jannis nahm sich noch eine ganze Handvoll Bucheckern. Wie hatte Motte das genannt? Fettbedarf? Jannis kam sein Hunger plötzlich unstillbar vor.

Es wurde langsam dunkel. Motte sah zum Himmel auf : Er war milchig und der Schnee fiel nun in größeren Flocken, wie Wolle. Jetzt würde es schnell gehen, dachte sie. Die Lange Nacht kam mit Riesenschritten näher. Es wurde Zeit.

Die Lichtung hatte sich fast vollständig geleert. Im Elfenwald wurde gerufen, letztes Gelächter erklang, und aus den Wipfeln der umstehenden Bäume rieselte Schnee, wenn jemand dort in seinen Kobel kletterte.

Amsel Salamander stand immer noch auf der Lichtung. Motte sah ihm seine Ungeduld an. Sie würde jetzt zu ihm gehen, um ihm in den Kobel zu helfen.

»Wenn du …« Sie sah den heftig kauenden Jannis an. »Wenn du aufwachst und Hunger haben solltest …«

»Mmpff?«, machte Jannis.

»Du weißt, wo du mich findest.« Sie drehte schon ab.

»Gute Nacht, Motte. Oha!« Wendel kratzte sich aus lauter Verlegenheit die nassen Borsten auf dem Kopf.

Jannis und Wendel sahen sie über die Lichtung laufen und Amsel Salamander unterhaken. Motte und der Alte verschwanden zwischen den Birken, die die Lichtung säumten.

»Tja«, sagte Jannis, wobei nicht ganz klar war, was er meinte : Motte und Amsel Salamander oder die leeren Körbchen auf dem glatt polierten Buchenstamm.

»Kannst auch von meinen Pilzen essen«, sagte Wendel in die Stille. »Birkenporlinge. Pfifferlinge. Maronen. Fein getrocknet. Oha!«