Vorwort

Sie sind die Kinder des Zweiten Weltkriegs, die Kinder der Flucht und der Vertreibung – und Kinder Ostpreußens. Niemand hatte sie vorbereitet auf den gewaltvollen Verlust der Mutter und der Angehörigen, den Hunger, die Kälte und schließlich das jahrzehntelange Verlassensein; auf die Traumata ihrer Kindheit, die sie ein Leben lang begleiten würden und die sich bis in die Gegenwart auswirken – so jedenfalls sieht es die Autorin dieses Buches.

In einem Vortrag anlässlich des Preußenjahrs 2001 konstatierte der Historiker Arnulf Baring, dass in Deutschland kaum öffentlich behandelt werde, was es bedeute, »dass der größere Teil des alten Preußen, das 1701 Königreich wurde, heute polnisch, auch russisch oder litauisch ist«. In einem geeinten Europa, in dem seither auch Polen und Litauen Aufnahme gefunden haben, hat sich daran mehr als zehn Jahre später wenig geändert. So wie das Schicksal dieser Gruppe erst sehr spät bearbeitet wurde, erging es auch den Ostpolen, die als Erste zwangsweise umgesiedelt, vertrieben und traumatisiert wurden.

Eines der drei baltischen Länder ist auf ganz besondere Weise mit Deutschland verbunden – Litauen. Hier fanden nach Ende des Zweiten Weltkriegs zahlreiche der Geflohenen oder Vertriebenen aus Ostpreußen eine Zuflucht, einige von ihnen blieben bis heute. Diese Tatsache spiegelt sich im öffentlichen Bewusstsein kaum wider. Wenn wir auf die dramatische Zeitenwende 1989/90 zurückschauen, sollten wir bedenken, dass sich die damaligen Ereignisse aus litauischer Sicht keinesfalls frei von Gewaltandrohung vollzogen.

Als sich Litauen auf einem Parteitag Ende 1989 von der sowjetischen Führung in Moskau lossagte, stieß das Land auf das deutliche Nein Gorbatschows zur Unabhängigkeit der baltischen Staaten. Deutschland wollte auf keinen Fall einen Konflikt mit Gorbatschow wegen der Unabhängigkeitsforderungen im Baltikum. Das hätte das Ziel der deutschen Einheit gefährden können. Wenn ich auch die Zurückhaltung Kohls und Genschers nachvollziehen konnte, suchten wir damals doch nach Wegen, wie wir die Litauer politisch und praktisch unterstützen konnten. Wir bewunderten den Mut derer, die unbeirrt auf ihren »großen Tag« zusteuerten, die Erklärung der Unabhängigkeit am 11. März 1990.

Tagtäglich die Aufbruchsstimmung in Deutschland mitzuerleben, auch die Nachrichten von den vielen Menschen zu sehen, die in Litauen für die Unabhängigkeit auf die Straße gingen, und dennoch die eher zurückhaltende Politik zu erleben und als Bundestagspräsidentin zum Teil auch mittragen zu müssen, fiel mir schwer.

Es wurde damals auch nicht gesehen, dass das Einsetzen für die Belange Litauens eng mit dem Schicksal einer dort lebenden deutschen Minderheit zu tun hatte, die, anders als etwa die Russlanddeutschen, über keine Lobby verfügte und deren deutsche Herkunft vonseiten der Bürokratie aufgrund fehlender Dokumente in Zweifel gezogen wurde. Den Lebensgeschichten dieser Kriegskinder geht die Autorin Sonya Winterberg in diesem Buch nach.

Ich kann mich noch gut erinnern, dass innerhalb der Regierung größter Druck auf uns Parlamentariern lastete. Dass ich dennoch Anfang September 1991 als erster hochrangiger Politiker nach Litauen flog, um Gespräche mit der von der Sowjetunion nicht anerkannten Regierung zu führen, stieß auf wenig Gegenliebe. Wir sollten nicht nach Litauen fahren, waren aber dennoch da. Die Eindrücke waren bedrohlich und haben sich mir tief eingeprägt. Rund um das Parlament in Vilnius waren noch die Barrikaden aus Sandsäcken zu sehen, die das Gebäude schützen sollten, um dem Angriff sowjetischer Truppen zu widerstehen. Der blutige 13./14. Januar 1991 forderte 14 Menschenleben und weit über 100 Verletzte.

Ich nahm damals unbürokratisch und ohne protokollarische Abstimmung mit Bonn einen schwer verletzten litauischen Soldaten mit zurück nach Hamburg, dem die dringend notwendige medizinische Hilfe sonst verwehrt geblieben wäre. Im Bundeswehrkrankenhaus wurde er sechs Monate behandelt und konnte danach wieder gesund in seine Heimat zurückkehren.

In außenpolitischen Belangen haben Kanzleramt und Außenministerium größeres Gewicht als der Bundestag. Mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln wurden die Parlamentarier aber dennoch sehr früh aktiv. Der Deutsch-Baltische Freundeskreis war es in erster Linie, der wichtige Hilfe im Bestreben nach Unabhängigkeit Litauens leistete. Damals gehörten ihm rund 100 Parlamentarier aller Fraktionen (außer der PDS) an. Gegründet wurde er im Frühjahr 1991 durch Wolfgang Freiherr von Stetten, der zudem den Vorsitz übernahm.

Wie kein zweiter Politiker engagierte sich fortan Wolfgang von Stetten für die neuen deutsch-baltischen Beziehungen. Sein Büro im Langen Eugen in Bonn wurde kurzerhand zum Deutsch-Baltischen Informationsbüro, einer Art Übergangsbotschaft, und seine persönlichen Beziehungen zu den führenden Parlamentariern der Region bereiteten den Boden für die vertrauensvolle Zusammenarbeit, die nicht zuletzt 2004 in den Beitritt der baltischen Staaten zur Europäischen Union und zur NATO mündete. Damit war das kollektive Trauma, die Angst vor einem erneuten Übergriff Moskaus, beendet.

In diesem Kontext muss das außerordentliche Engagement Wolfgang von Stettens für Litauen, aber auch für die deutsche Minderheit gewürdigt werden. Im Jahr 1992 kam er erstmals in Kontakt mit dem Verein »Edelweiß«, in dem sich viele Betroffene kurz zuvor zusammengeschlossen hatten. Ihre Sache machte er sich in den folgenden Jahren zu eigen. Ob es um Familienzusammenführungen, den komplizierten Staatsbürgerschaftsnachweis, Wiedereinbürgerungsverfahren oder schlicht humanitäre Hilfe ging, von Stetten wurde für viele Betroffene zum Vater, den sie nie hatten. Unermüdlich stand er ihnen zur Seite, wenn sich die Bürokratie der Ämter und Behörden unerbittlich zeigte, und unermüdlich sammelt er bis heute Spenden, um, wie er selbst sagt, »ein wenig die Not zu lindern«. Eine Not, die das Leben ohne elementarste Schulbildung und unterhalb des Existenzminimums in Litauen trotz EU-Mitgliedschaft mit sich bringt.

In seiner damaligen Rede forderte Arnulf Baring übrigens auch, unseren Schulkindern solle das Schicksal der traumatisierten Kinder und jungen Erwachsenen im Baltikum viel stärker erschlossen und vermittelt werden, als es bisher der Fall ist. Diese Notwendigkeit besteht in der Tat.

Prof. Dr. Rita Süssmuth

Berlin, im März 2012

Bundestagspräsidentin a. D.