Prolog

Es ist der 21. März 1992 – eine kleine Wohnung im zweiten Stock eines Backsteingebäudes im norddeutschen Flensburg. Mit zitternden Händen hält Anna Unkat ein maschinell erstelltes Schreiben des Roten Kreuzes in Händen. Tränen rinnen über das zerfurchte Gesicht der alten Dame. Es ist lange her, dass sie zum letzten Mal geweint hat. Fast fünf Jahrzehnte sind vergangen, seit sie ihren jüngsten Sohn auf der Flucht aus Ostpreußen verlor. Endlos scheinende Jahre, die sie in Sorge um ihn war, in denen sie tagtäglich, wieder und wieder, die letzten Momente Revue passieren ließ, bevor der Zug losrollte und sie begriff, dass der kleine Günter am Bahnhof Insterburg zurückgeblieben war. Nie hat sie den Glauben verloren, dass er noch am Leben sei. In all den Jahren hat sie nichts unversucht gelassen, um ihn zu finden. Und doch mussten 50 Jahre bis zu diesem Moment vergehen. Die Greisin wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und bittet die Pflegerin, ohne deren Betreuung sie seit einigen Jahren nicht mehr zurechtkommt, um einen Stift. Mit großer Mühe bringt sie zu Papier, was ihr in diesen Minuten durch den Kopf geht:

Mein lieber Sohn!

Ich habe heute den Brief vom Suchdienst erhalten, dass Du, liebes Günterchen, noch lebst! Ich brach in Freudentränen aus. Du schreibst, dass Du einen anderen Namen angenommen hast. Ist das der Name Deiner Pflegeeltern? Bist Du allein oder hast Du Familie? Bring alles mit, was Du hast. Platz habe ich genug. Mein liebes Günterchen! Gott hat mein Gebet erhört! Komm, so schnell Du kannst. Ich schreibe nicht viel, aber ich möchte, dass wir uns bald wiedersehen. Ich bin ganz aufgeregt und kann einfach nicht mehr schreiben.

Viele herzliche Grüße aus dem fernen Flensburg.

Deine Dich liebende Mutter.

Hans Neumann steht in den späten Abendstunden des 2. September 1991 am Hauptbahnhof in Braunschweig und wird von seinen Gefühlen überwältigt. Vor ihm steht sein Bruder Gerhard, den er zuletzt an einem warmen Frühlingstag 1945 gesehen hatte. Hans war sieben, als er auf der Flucht von Mutter und Bruder getrennt wurde. Zwei Jahre schlug er sich im Grenzgebiet zwischen Königsberg und Litauen in den Wäldern entlang der Memel durch, immer in der Hoffnung, nach Deutschland zu gelangen und die Familie wiederzufinden – ohne Erfolg. Ab 1947 wohnte Hans bei einer litauischen Bauernfamilie. Aus dem deutschen Hans wurde Jonas, ein litauischer Junge. Seine deutschen Wurzeln, die Eltern und seine drei Geschwister vergaß er dennoch nie.

Erst Anfang 1991 gelang es den deutschen Geschwistern, Hans über den Suchdienst der Kirchen und des Roten Kreuzes ausfindig zu machen. Wenige Monate später sind die bürokratischen Hürden genommen, und die beiden Brüder liegen sich in den Armen. Hans Neumann ringt lange um Worte: »Der Himmel öffnet sich …« Anders, weniger pathetisch, kann er seine Gefühle nicht ausdrücken. Auch der Vater lebt noch. Hermann Neumann ist 89 Jahre alt und wohnt in einem Dortmunder Seniorenheim. Ungläubig gibt er dem verlorenen Sohn die Hand. Nur die Mutter wird Hans nicht wiedersehen. Sie ist kurz nach Kriegsende nach Sibirien verschleppt worden und 1948 in einem Lager umgekommen.

Nicht immer gibt es nach so langer Zeit ein Wiedersehen. Ob ihre Mutter noch lebt, weiß ein anderes Wolfskind bis heute nicht: »Ich war vielleicht fünf Jahre alt. Die Bäuerin hielt mich im Stall bei den Schweinen. Als meine Mutter überraschend kam, um mich abzuholen, denn es sollte nach Deutschland gehen, schämte sich die Bäuerin. Sie belog meine Mutter und sagte ihr, dass ich gestorben sei.« So bleibt das Mädchen im litauischen Kaunas. Erst auf dem Totenbett gesteht die katholische Bäuerin ihrer Pflegetochter diese Lüge. Eine unverzeihliche Sünde, die ihr ein ganzes Leben auf dem Gewissen lastete. Sie bittet ihre Ziehtochter um Vergebung. Nach dem Tod der Bäuerin vertraut das einstige Wolfskind seine Geschichte der Historikerin Ruth Kibelka an. Doch nirgendwo in Deutschland findet sich eine Spur.

Drei Schicksale von vielen, welche von deutschen Kindern erzählen, die in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs oder kurz nach Kriegsende ihre Eltern verloren haben. Damals flohen Zehntausende Familien aus dem nördlichen Ostpreußen vor der Roten Armee. Zahlreich sind die Fälle, in denen auf der Flucht die Kinder zurückblieben. Manche erlebten die Erschießung der eigenen Familie. Andere mussten ohnmächtig zusehen, wie jüngere Geschwister verhungerten oder aus Schwäche starben, wie die Mutter einer Epidemie erlag. Diese Kinder, oft nicht älter als vier oder fünf Jahre, waren plötzlich auf sich allein gestellt und überlebten monatelang, manchmal über Jahre in kleinen Gruppen in der freien Natur Ostpreußens, Königsbergs und des Baltikums. Deshalb nennen sie sich bis heute »Wolfskinder«.

Viele Wolfskinder kamen um, verhungerten, wurden nach dem Krieg von Soldaten der Roten Armee erschossen, weil sie verzweifelt nach Nahrung suchten – oder auch nur, weil sie Deutsche waren. Einige Tausend wurden bis 1951 in Viehwaggons geladen und in die Sowjetische Besatzungszone, später die DDR gebracht, wo man sie auf Kinderheime verteilte und ihnen verbot, von ihrem Schicksal zu erzählen. Eine ebenso große Zahl verblieb in der Sowjetunion. Die meisten gelangten nach Litauen, wo sie als billige Arbeitskräfte eingesetzt wurden. Weil das verboten war, erhielten sie die litauischen Namen der Bauern, galten als Familienmitglieder. Im besten Falle wurden sie wie Pflegekinder behandelt und später adoptiert. Dennoch besuchten die meisten nie eine Schule, lernten nie Lesen und Schreiben. Manche von ihnen glaubten, Deutschland sei nach dem Krieg untergegangen und existiere nicht mehr. Sie glaubten es auch selbst noch, als sie zu Beginn der Neunzigerjahre vom Kindersuchdienst aufgespürt wurden. Über Jahrzehnte hatten sie ihre alten Namen verleugnen müssen, ihre Muttersprache nicht sprechen dürfen. Manchen gelang es, ihre Vergangenheit zu vergessen; andere zerbrachen daran. In vielen jedoch offenbarte sich eine überraschend starke und trotzige Kinderseele. Obwohl sie ihre Eltern nur wenige Jahre lang erlebt hatten, blieben sie lebenslang auf der inneren Suche nach ihren Familien – bis heute.

Das Schicksal der Wolfskinder beschäftigt mich schon lange. Im Jahr 2007 erschüttert mich eine Analyse des ehemaligen Bundestagsabgeordneten Wolfgang von Stetten: »Sie leben letztlich in erbärmlichen Verhältnissen, und es ist eine Schande für den deutschen Staat, dass es trotz aller Anstrengungen nicht gelungen ist, diesen Menschen eine kleine Rente zuzusprechen. Diese nicht einmal hundert Menschen verlieren auch nach 62 Jahren noch immer den Krieg, fühlen sich verraten, verlassen und letztlich vom Vaterland vergessen.«

Im Jahr 2011 begleite ich eine Gruppe Wolfskinder aus Litauen bei ihrem Deutschlandbesuch. Eine von ihnen ist Waltraut Minnt. »Sie ist eine Wanderin!«, raunt mir jemand zu, der sie seit Jahren kennt und damit meint, sie sei eigentlich eine Landstreicherin und nie wirklich sesshaft geworden. Und so hält sie sich stets ein bisschen abseits und ist doch auf Gruppenfotos immer gut zu erkennen – sie steht meist am Rand, ein paar Schritte neben den anderen, als gehöre sie eigentlich gar nicht dazu.

Waltraut ist in diesen Tagen in Deutschland ganz unruhig. Immer wieder hält sie die Gruppe auf, kommt nicht zu verabredeten Zeiten zum Bus zurück. Irgendwann bricht es während unseres Aufenthalts in Berlin aus ihr heraus. Sie erzählt von einem Bruder, der offenbar ganz in der Nähe lebt – Fritz. Dabei weint und strahlt sie zugleich und ist so froh, eine Adresse zu haben, zu wissen, dass es ihn noch gibt. Doch sie traut sich nicht, ihn aufzusuchen. Drei Tage und drei Nächte hat sie nun immerzu überlegt, ob und wie sie ihn doch noch treffen könnte. »Aber wie sollen wir uns verständigen?« – das ist ihre größte Sorge. Wie so viele in Litauen verbliebene Wolfskinder hat auch sie das meiste Deutsch vergessen. Erst später wird sich herausstellen, dass der Bruder Waltraut gar nicht sehen will. Sie ist ihm peinlich, war auch »nur« eine Halbschwester, und überhaupt wisse man ja nicht, »was diese Leute aus dem Osten für Ansprüche hätten«. Alles, was Waltraut bleibt, sind die guten Erinnerungen. Zumindest die kann ihr keiner mehr nehmen.

Waltraut trägt gerne blau und kleine geometrische Muster. Ihre Kleider stammen aus einer anderen Zeit und sind meist aus Polyester. Das schwarze Haar, noch nicht ganz ergraut, trägt sie in einem Knoten. Sie sieht nicht mehr gut und trägt eine markante Brille in geschwungener Schmetterlingsform, die allerdings schon bessere Zeiten gesehen hat. Wann zuletzt die Sehstärke untersucht wurde, daran kann sie sich nicht erinnern. Oft legt sie den Kopf ein wenig zur Seite, sieht ihr Gegenüber aus den kleinen braunen Augen skeptisch an und wackelt ein bisschen mit dem Haupt. In solchen Momenten denke ich, dass an ihr eine Lehrerin verloren gegangen ist. Noch ein weiteres Accessoire gehört zu Waltraut und ist untrennbar mit ihrer Person verbunden: eine ockerfarbene Bügeltasche aus den Fünfzigerjahren. Während ihres Deutschlandbesuchs essen wir gemeinsam in einer Cafeteria zu Mittag. Alles ist neu für sie. Die bunten Farben, die lichtdurchfluteten Räume und dann die Auswahl an warmen und kalten Speisen, Suppen und Salaten – sie ist sichtlich überfordert und balanciert ihr Tablett unsicher durch den Überfluss einer deutschen Kantine. Am Ende nimmt sie eine kleine Schüssel Suppe und drei Brötchen. Als sie am Tisch sitzt, lässt sie in einem unbeobachteten Moment zwei der Brötchen flugs in ihre Handtasche gleiten. »Man weiß ja nie«, erklärt sie mir hinterher. So viel Essen wie hier habe sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen. »Und so schön angerichtet! Wie im Märchen.« Doch nicht nur Vorräte finden Platz in Waltrauts Handtasche. Eigentlich, so meint sie, sei es ihr ganzes Leben, das dort hineinpasse. Als sie das sagt, will ich alles erfahren – über ihr Leben und ihre Handtasche. Mir wird klar, wie wenig ich bislang überhaupt über das Schicksal der Wolfskinder wirklich weiß. Und ich verstehe, dass ich die Antworten nicht in Deutschland finden werde.