3 Frieden und Krieg
Das Ende des Ersten Weltkriegs brachte für West- und Ostpreußen schicksalhafte Veränderungen: große Teile Westpreußens, Danzig, die ostpreußische Stadt Soldau und das Memelgebiet wurden aufgrund des Versailler Vertrages ohne Volksabstimmung vom Deutschen Reich abgetrennt und – außer Danzig, das zur »Freien Stadt« wurde, und dem Memelgebiet, das ein Freistaat werden sollte und 1923 von Litauen annektiert wurde – dem 1916 wiedergegründeten Polen übertragen. Für andere Teile Westpreußens östlich der Weichsel und Nogat, die durch den Versailler Vertrag Ostpreußen zugeordnet worden waren, sowie das südliche Ostpreußen bestimmte der Versailler Vertrag, dass die Bevölkerung durch eine Volksabstimmung kundtun solle, ob sie in Zukunft zu Polen oder zu Ostpreußen beziehungsweise zum Deutschen Reich gehören wollte.
In den betroffenen Landesteilen wurden am 11. Juni 1920 die Volksabstimmungen über den Verbleib beim Deutschen Reich angesetzt. Die Ergebnisse hatten auch für die polnische Seite ein wenig überraschendes Ergebnis: In allen Gebieten entschieden sich über 90 Prozent der Wähler für das Reich. Das polnische Staatsoberhaupt Józef Piłsudski erklärte gegenüber dem deutschen Außenminister Gustav Stresemann: »Ostpreußen ist ein unzweifelhaft deutsches Land. Das ist von Kindheit an meine Meinung, die nicht erst der Bestätigung durch eine Volksabstimmung bedurfte. Und dass dies meine Meinung ist, können Sie ruhig Ihren Ostpreußen in einer öffentlichen Versammlung in Königsberg zur Beruhigung mitteilen.«
Mit dem Kernland vereint und doch getrennt: Die geografische Separation von Deutschland bedeutete auch eine wirtschaftliche Isolation, die nur mit großen finanziellen Hilfen aus dem Reichshaushalt auszugleichen war. So diente beispielsweise die 1920 neu gegründete Deutsche Ostmesse Königsberg zum Ausbau der Handelsbeziehungen. Die wirtschaftlich geschwächte Region wurde auf dem Seeweg durch eine neue Verbindung, die kombinierte Personen- und Frachtverbindung Seedienst Ostpreußen von Swinemünde nach Pillau, bedient, die später auf die Danziger Bucht, Travemünde, Kiel und Helsinki ausgedehnt wurde. Darüber hinaus wurde der Schienenverkehr durch den Bau eines Flughafens in Königsberg erheblich entlastet. Dieser erste deutsche zivile Flughafen wurde 1922 mit einem Jungfernflug auf der Strecke Königsberg-Rīga-Moskau eröffnet. Kurze Zeit später folgte die Anbindung an Berlin und Stockholm.
Trotz dieser Maßnahmen und dem ausdrücklichen Willen der Reichsregierung, die Ostgebiete zu stärken, gewann der Nationalsozialismus auch bei der durch die Versailler Verträge gedemütigten ostpreußischen Bevölkerung an Boden. Dabei war der Anklang nationalsozialistischer Ideale nicht ohne Weiteres vereinbar mit den preußischen Tugenden – Bescheidenheit, Gerechtigkeitssinn und Gottesfurcht. Dass eine politische Minderheit offenherzig eine totalitäre Menschenführung verkündete, wurde mit Verwunderung zur Kenntnis genommen. Doch die Menschen in der abgeschnittenen Provinz, die mit den Folgen von Versailles, der Weltwirtschaftskrise und dem Zulauf der Kommunisten konfrontiert wurden, sahen in den lautstarken Versprechungen der Nationalsozialisten einen Ausweg aus ihrer bedrohten Lage.
Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft wurde ab 1933 durch die Anfangserfolge der neuen Regierung unter Hitler genährt. Der Osthandel blühte. Die Deutsche Ostmesse Königsberg entwickelte sich rasch zur zweitgrößten Messe des Deutschen Reiches nach Leipzig. Auch außenpolitisch schien sich die Lage für Ostpreußen zu stabilisieren. So wurde 1934 ein Nichtangriffspakt, der sogenannte Freundschaftsvertrag, mit Polen geschlossen. Doch von Freundschaft mit den europäischen Nachbarn hielten Hitler und sein Drittes Reich in Wahrheit nicht viel. Das bekam die Tschechoslowakei spätestens im Herbst 1938 zu spüren, als sie in Folge massiver deutscher Kriegsdrohungen mit dem Sudetengebiet große Teile ihres Landes abtreten musste. Im März 1939 marschierte die deutsche Wehrmacht dennoch in Prag ein und errichtete das Protektorat Böhmen und Mähren – die Tschechoslowakei hörte auf zu existieren. In der verzweifelten Hoffnung, ein ähnliches Schicksal abwenden zu können, gab nun auch Litauen schon eine Woche später das Memelland an Deutschland zurück. Damit schien Hitler alle seine außenpolitischen Ziele erreicht zu haben. Für die Mehrheit der ostpreußischen Bevölkerung lag ein möglicher Krieg in weiter Ferne, und den Kindern dieser Zeit war der Gedanke daran vollkommen fremd.
Ursula Haak wird 1935 als einzige Tochter in eine Landarbeiterfamilie auf Gut Birgen etwa fünf Kilometer von Tilsit entfernt geboren. Sie ist das siebente Kind, ihr jüngerer Bruder Horst kommt ein Jahr später zur Welt und wird das Nesthäkchen der Familie bleiben. Das Gut, auf dem sich die Eltern Anna und Albert verdingen, ist über 100 Hektar groß; zum Besitz gehören 20 Pferde und 70 Stück Vieh.
In der Gutskäserei wird der berühmte Tilsiter Käse hergestellt. Wie andere Familien, die auf dem Gut arbeiten, leben Ursulas Eltern mit ihren Kindern in einer Wohneinheit im Gesindehaus. Dazu gehört ein kleiner Garten, in dem die Familie für den Eigenbedarf Gemüse anbaut und ein paar Nutztiere hält.
Der Vater ist ein hochgewachsener Mann mit blauen Augen, seinem Äußeren nach ähnelt er dem Schriftsteller Thomas Mann. Die Mutter gleicht in ihrem Sonntagsaufzug einer Lehrerin – den Eltern ist es wichtig, dass sie bei aller Bescheidenheit sonntags ordentlich gekleidet zur Kirche gehen und auch ihre Kinder etwas hermachen. Sonn- und Feiertage sind auf dem Gut heilig, und so bäckt Mutter Anna jeden Samstag einen Kuchen, den es am Sonntagnachmittag zum Kaffee gibt. Vor Weihnachten und Ostern wird jeweils ein Schwein geschlachtet.
Die heute in Stockholm lebende Dorothea Bjelfvenstam, geborene Richard, hat eine russische Matrjoschka vor Augen, wenn sie an ihre Kindheit in Königsberg denkt: »Wenn ich sie öffne, finde ich die anderen Figuren in ihr, die immer kleiner werden. Die erste, die kleinste tief drinnen, ist das Kind in Königsberg.« Die Erinnerungen an die ersten Jahre im großbürgerlichen Stadtteil Amalienau sind fragmentarisch: Sandkasten, Laube und Apfelbaum in Großvaters kleinem Garten. Der große Bechstein-Flügel, auf dem der Großvater spielt, während Dorothea unter dem Flügel sitzt und »in der Musik verschwindet«. Dazu noch: »Weihnachten mit Oma, Mutter und Tante. Aber ohne Vati. Kindergarten und Schule, Park und Freundinnen, eine davon Nazi-Oberbürgermeisters Tochter.« Die Nachbarn im Haus gegenüber haben einen kleinen Hund – so klein wie Dorothea selbst.
Auch Eva Briskorn kommt aus Königsberg und ist ebenso alt wie Dorothea. Eva kommt im Januar 1933 kurz vor der Machtergreifung Hitlers als erstes Kind ihrer Eltern Otto und Gisela zur Welt. Es folgen in kurzen Abständen sechs Geschwister. Schon früh hilft Eva als Älteste der Mutter bei den Aufgaben im Haushalt ebenso wie bei der Versorgung der jüngeren Kinder. Das ist ihr einerseits oft lästig, andererseits hat sie ein sonniges Gemüt und freut sich über das Lob, das die Eltern ihrer Großen zuteilwerden lassen. Die Familie lebt in einfachen Verhältnissen im Stadtteil Liep, einem östlichen Vorort von Königsberg. In dem einstigen Fischerdorf aus Ordenszeiten werden die Holzflöße von der Memel über das Kurische Haff und die Deime kommend an der Stadtgrenze angelandet, was Königsberger Großkaufleute 1906 zum Bau einer Zellulosefabrik veranlasst. Der zunehmenden Industrialisierung der Region folgen Siedlungsbauten für die Arbeiter. Bereits im Jahr 1905 wird Liep ins Stadtgebiet eingegliedert, kurz darauf kommt der Anschluss an die Eisenbahn.
Die Zweizimmerwohnung in einem der Siedlungshäuser am Troppauer Weg hat zwar schon ein eigenes kleines Bad und eine Küche, aber mit jedem Familienzuwachs heißt es noch ein wenig mehr zusammenzurücken. Vater Otto ist gelernter Tischler und arbeitet in einer Schreinerei. Eva ist ein Papakind. Sie liebt es, bei ihm auf dem Schoß zu sitzen und sich Geschichten erzählen zu lassen. Bei ihm ist sie nicht Eva, sondern »das Evchen« oder »mein Kindchen«. Otto Briskorn ist mit Leib und Seele Vater. Gerne verbringt er seine Zeit im Kreise der Familie und lässt sich, als der Krieg beginnt, in einer Einheit in der Nähe von Königsberg stationieren, um so oft wie möglich zu Hause sein zu können. Im ersten Kriegsjahr 1939 wird Eva eingeschult. Ein Foto vom ersten Schultag zeigt ein vergnügtes Mädchen mit dunkler Lockenpracht, die mit einem Zopf gebändigt ist. Die Schule macht ihr sichtlich Spaß, und es fällt ihr leicht, lesen und schreiben zu lernen. Sie lernt Sütterlin und erhält für ihre schöne Schrift gute Zensuren. Eva träumt davon, Ärztin zu werden.
Eva besucht die »Horst-Wessel-Schule«, wie alle Kinder hier. Vor dem Sackheimer Tor spielt sich ihr Alltag ab. In der Kupferbadeanstalt am Kupferteich lernen die Kinder beim Bademeister das Schwimmen mittels Schwimmweste an der Angel. Hier gibt es auch einen Sprungturm, von dem aus es sich herrlich ins Wasser platschen lässt.
Unweit davon befindet sich ein kleiner Rummel, dahinter liegen die Schrebergärten am Lieper Weg. Ein Kinderparadies, insbesondere in den Sommermonaten. Hier spielen sie Verstecken, hier kann Eva stundenlang Hüpfseil springen. Auf der anderen Seite der Tapiauer Straße ist der Sportplatz der »Horst-Wessel-Schule«, daneben der Garnisonsfriedhof. Ganz in der Nähe arbeitet auch der Vater. Wenn Eva von der Schule nach Hause kommt, gilt ihre erste Frage oft ihm. »Ist er noch nicht da?«, bedrängt sie die Mutter. Der Antwort folgt stets dasselbe Ritual. Eva pfeffert mit großer Lust die Schultasche in die Ecke, die Mutter seufzt, und schon ist Evchen auf dem Weg, den Vater von der Arbeit abzuholen. Die kurze Zweisamkeit mit dem Vater auf dem Heimweg ist für Eva unersetzlich. Hier hat sie den Papa ganz für sich allein und muss ihn nicht mit den jüngeren Geschwistern teilen. Hier kann sie ihm ihr Herz ausschütten und ihn um Rat fragen.
Wenn im Sommer die warmen Regengüsse Abkühlung verschaffen, läuft Eva am liebsten barfuß den kleinen Hügel bei ihrem Haus hinauf. In der Hand hat sie kleine gefaltete Papierboote, die sie mit ihren Spielkameraden den Rinnstein um die Wette hinuntersegeln lässt. Bei schlechtem Wetter spielen die Kinder oft endlos »Mensch ärgere Dich nicht«. Eva findet, dass man dabei besonders gut lernt zu verlieren. Noch Jahre später wird sie sich an diesen Gedanken erinnern. In den Wintermonaten lieben es die Kinder, Eimer mit Wasser auf die Straße zu schütten, damit es friert und sie so den kleinen Berg hinunterschlittern können.
Im Garten des Wohnblocks hat die Familie einen kleinen Schuppen, in dem sie Brennholz und Kohlen für den Winter lagert. Hier geht Otto Briskorn auch seiner großen Passion nach, der Taubenzucht. Stundenlang kann Eva dem Vater dabei zuschauen, wie er den Verschlag sauber macht, die Tiere füttert, mit ihnen spricht.
Die Mutter näht die Kleider für die Kinderschar selbst. Sie ist begabt in Handarbeit, strickt und stickt auch. Oft kommen die Mädchen, Eva und ihre Schwestern Sabine und Gisela, zur Mutter und betteln, ob sie ihnen nicht ein neues Kleidchen nähen kann. Hat sich die Mutter schließlich bereit erklärt, kräht Sabine, die Jüngste, zumeist: »Ich bin die Kleinste, du musst das erste Kleidchen für mich nähen!« Bis heute ist Eva das letzte Kleid in Erinnerung, das die Mutter für die Mädchen nähte: im Matrosenstil aus blauem Stoff mit weißem Kragen und einer Stickerei.