2 Erinnerung an Königsberg
Was die ehemaligen Wolfskinder in Deutschland und die noch in Litauen lebenden verbindet, ist die Erinnerung – an Ostpreußen, an ihre Kindheit, an die Zeit, als der Krieg ihre Heimat noch nicht erreicht hatte.
Gemeinsam mit ihnen begebe ich mich auf eine Heimatsuche der Seele. Eine solche muss es bleiben, denn die Orte von einst, die wir suchen und nach denen sich die Wolfskinder sehnen, gibt es nicht mehr. Sie existieren einzig noch auf alten Fotos und Landkarten, ansonsten sind sie versunken in der unheilvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts – unwiederbringlich verloren.
Doch diese Suche nach Heimat hat auch etwas Versöhnliches. Marion Gräfin Dönhoff nannte es »lieben, ohne zu besitzen«. Wenn sie von früher erzählen, von Ostpreußen mit seiner Hauptstadt Königsberg, so haben die Geschichten der Wolfskinder eines gemein: Es sind fast ausschließlich schöne Andenken, die sie sich bewahrt haben. Von einem Land der Weite, der Stille und wohltuenden Einsamkeit, das vielleicht die preußischen Tugenden wie Aufrichtigkeit, Bescheidenheit und Disziplin hervorgebracht hat.
Berühmte wie weniger berühmte Königsberger teilen ähnliche Bilder ihrer Kindheit in der östlichsten Großstadt Deutschlands. Über Generationen hinweg ist es eine Idylle aus Romantik und Biedermeier, die das Königsberg der Kindheitstage wachruft.
Königsberg, die heutige russische Exklave Kaliningrad, liegt an der Mündung des Pregels, der mit zwei Flussarmen die Stadt umschließt. Beide bilden eine kleine innerstädtische Insel, den sogenannten Kneiphof. Etwas westlich davon vereinigen sich die beiden Pregelarme wieder und münden ins Frische Haff und somit in die Ostsee. Um den Kneiphof lag der alte Hafen der Stadt. Von den einstigen fünf Kneiphofbrücken ist einzig die Dom-, auch Honigbrücke genannt, erhalten.
Die Malerin Käthe Kollwitz erblickte 1867 in Sackheim am Alten Pregel das Licht der Welt. In ihren Selbstzeugnissen schrieb sie: »Wir lebten damals auf dem Weidendamm Nr. 9 in Königsberg. Ich erinnere mich dunkel an eine Stube, in der ich tuschte, deutlich aber besinne ich mich auf Höfe und Gärten. Durch einen kleinen Vorgarten kamen wir auf einen großen Hof, der bis zum Pregel reichte. Dort hielten die flachen Ziegelkähne, und die Ziegel wurden auf dem Hof abgeladen und geschichtet, sodass Hohlräume blieben, in denen wir Kinder spielten.«
Gut 60 Jahre später, 1928, wurde der Violinist Michael Wieck in Königsberg geboren. Für ihn war es eine »fast schon Kindertraumstadt, mit dem imposanten Schloss im Zentrum. Davor stand ein gekrönter, säbelhochreckender Kaiser Wilhelm I. Im viereckigen Schlosshof war ein Weinkeller mit dem schauereinflößenden Namen Blutgericht. Gar nicht weit entfernt davon konnte man auf einem lieblichen Schlossteich, mit Schwänen und Enten, Boote für eine Spazierfahrt mieten. Überall spannten sich malerische Brücken über den Fluss Pregel; Ziehbrücken, die uns oftmals zu spät in die Schule kommen ließen und die auf eine im Stadtzentrum gelegene Insel führten.«
Das »Blutgericht« war seinem Ruhm nach vergleichbar mit »Auerbachs Keller« in Leipzig und weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt. Hier gab es die legendären Königsberger Klopse und Königsberger Fleck, eine Art Pansensuppe, ebenso wie das sogenannte Ochsenblut, vor dem sich wegen des Namens ganze Generationen von Kindern gruselten. Dabei war es nur ein Cocktail aus Champagner mit einem Schuss roten Burgunders.
Für Erika Morgenstern, Jahrgang 1939, war das Schloss, »in dem einstmals Preußens Könige gekrönt worden waren, das Schloss aus der Märchenwelt. Unentwegt suchten meine Blicke die hohen Fenster ab in der Hoffnung, einmal eine Prinzessin dahinter sehen zu können, die ein langes weißes Gewand trug, eine Krone auf dem Kopf hatte und ganz sicher eine ganze Tafel Schokolade essen durfte.«
Der 1932 geborene Gerhard Gudovius erzählt so von seiner Kindheit in Königsberg: »Es war eine Großstadt, in der immer etwas los war, es für Kinder auch ständig Neues zu entdecken gab. Ein Ausflug auf dem Pregel war das Höchste. An den Hafenkais konnte man die Dampfschiffe beobachten, wie sie ihre Ladung löschten. Junge Burschen mit Säcken auf den Rücken liefen geschäftig in die Fachwerkspeicher, während im Hintergrund die Straßenbahn bimmelte oder eine Dampflok schnaufte. Baulicher Mittelpunkt der Stadt waren das Schloss und der alles überragende Turm der Schlosskirche. Kastanien und Linden säumten die Wege rund um das Schloss, hier wurde sonntags spazieren gegangen, fand man im Sommer Schutz unter den Bäumen, wenn die Sonne zu sehr brannte.«
Wahrzeichen der alten Hansestadt waren die Fachwerkspeicher auf der Lastadie, wobei sie ab Mitte der Zwanzigerjahre kaum mehr wirtschaftliche Bedeutung hatten. Mit dem Bau des neuen Hafenbeckens am unteren Pregel verlor der Hafen am Hundegatt endgültig seine Funktion. Auf die Kinder übte der Umschlagplatz aber weiterhin seine Anziehung aus. So gab es hier stets güterbringende Eisenbahnen zu beobachten, die beispielsweise den legendären Tilsiter Käse verluden.
Häufig fuhr Gerhard sonntags mit der Straßenbahnli-nie 8 zum Münzplatz, wenn ihm die Großeltern wieder einmal Taschengeld zugesteckt hatten, damit er ins Kino gehen konnte: »Da kam ich mir dann richtig erwachsen vor.«
Auf dem Platz stand auch die schmucklose, obeliskartige »Normaluhr«. Dort trafen sich gerne die jungen Paare, erinnert sich Erika Sauerbaum, geboren 1928 in Königsberg. Von hier aus ließ es sich herrlich durch die Stadt spazieren. »Die linke Uferpromenade entlang des Schlossteichs war eindeutig die beliebtere. Im Café Schwärmer fand sich im Sommer kaum noch Platz auf der Terrasse, aber es war die Hoffnung eines jeden Mädchens, das von einem Kavalier ausgeführt wurde, hierher eingeladen zu werden.« Aber auch die Tanzfläche im Garten des Parkhotels am Promenadenweg war ein sommerlicher Anziehungspunkt. Am nördlichen Ende des Weges rieselte sanft das Wasser des höher gelegenen Oberteichs über die Kaskaden in den Schlossteich. Überhaupt der Oberteich! Hier lernten Generationen Königsberger Kinder schwimmen, denn nicht alle hatten die Möglichkeit, in die Sommerfrische der nahen Ostseebäder Cranz und Rauschen zu fahren.
Auch Burkhard Sumowski, Jahrgang 1936, schreibt in seinen Memoiren über den Oberteich als »dem bedeutendsten Königsberger Gewässer, groß wie ein See, von herrlichen Parks und Promenaden umgeben. In der Nähe des Hauses meiner Großeltern stand nah am Wasser inmitten dichten Gebüschs ein Trafohaus im Stil eines Knusperhäuschens. Um Großmutter ein bisschen zu ärgern, sagte mein Großvater immer, dort wohne der Boshebaubau, der gerne unartige Kinder schnappe.«
Im Süden der Stadt lag der Hauptbahnhof zwischen Haberberg und Nassem Garten, gefolgt von dem Dörfchen Ponarth, einem beliebten Ausflugsziel der Königsberger, die von hier den Ausblick über die Stadt und das Bier der örtlichen Brauerei genossen. Nicht wenige der Wolfskinder stammen aus dieser südwestlichen Ecke der Stadt.
Ostpreußen mit seiner einstigen Hauptstadt Königsberg existiert nicht mehr. Lange schon ist die Region, die an Russland fiel, zur Oblast Kaliningrad geworden. Die einstige Kornkammer Deutschlands, die Hansestadt und die umliegenden blühenden Dörfer wurden im Krieg verwüstet. Wo eben noch Deutsch gesprochen wurde, jahrhundertelang sich Ostpreußen in all seinen Facetten ausgebreitet hatte, verschwanden nach dem Krieg die letzten Spuren dieser einstigen Kulturlandschaft innerhalb kürzester Zeit. Als wir zum Abschied unseres Besuchs ein letztes Mal auf der Honigbrücke stehen, wird mir dies noch einmal bewusst. Wir blicken vom Kneiphof auf die pastellfarbenen Fachwerkhäuser des »Fischdorfes«, wo sich im Sommer die Touristen tummeln. Auf der anderen Uferseite ist ein moderner Glaspalast entstanden, dessen Blick auf Dom und die wiedererstandene historische Kulisse wohl nur dem russischen Geldadel zugänglich ist.
Doch am heutigen Tag zeigt sich Kaliningrad versöhnlich. Die Sonne blinzelt durch die Wolken und schickt ein paar goldene Strahlen, die im Pregel reflektieren. Ein Angler geht still seinem Hobby nach, ein junger Vater spielt mit seiner kleinen Tochter. Sie ist gefangen im Staunen über die Welt und die schillernden Seifenblasen, die der Vater ihr zupustet. Für einen Moment scheint uns hier die Welt wieder in Ordnung.