Kapitel 1: Einleitung – Verlorene Größe
Kapitel 2: Die Geburt eines Mythos – Das Ende einer Ära
Kapitel 3: Zukunftssorge oder Größenwahn – Der Beginn der Ära Reuter
Kapitel 4: Koloss auf tönernen Füßen – Der „integrierte Technologiekonzern“
Kapitel 5: Aus der Zeit gefallen – Der Niedergang der Marke Mercedes-Benz
Kapitel 6: Scheitern ohne Lehren – Das Ende der Ära Reuter
Kapitel 7: Modernisierung und Aufbruch – Die erste Produktoffensive
Kapitel 8: Machtspiele – Der Beginn der Ära Schrempp
6Kapitel 9: Extremst global – Auf dem Weg zur Welt AG
Kapitel 10: In der Nischenfalle – Die zweite Produktoffensive
Kapitel 11: A very happy man – Das Ende der Ära Schrempp
Kapitel 12: Alte Lasten, neue Herausforderungen – Der Beginn der Ära Zetsche
Kapitel 13: „Feuern aus allen Rohren“ – Die dritte Produktoffensive
Kapitel 14: Ein Abschied in Demut – Das Ende der Ära Zetsche
Kapitel 15: Zeitenwende: Wendezeit – Ola Källenius übernimmt
Kapitel 16: Neue Horizonte – Epilog
Namensverzeichnis
Chronologie 1980 – 2021
Ausgewählte Literaturhinweise
Fototeil
8Einleitung – Verlorene Größe
„Es ist kein Naturgesetz, dass Daimler ewig besteht.“ Das Statement von Dieter Zetsche im Februar 2019 auf der Mobilfunkmesse MWC in Barcelona ließ aufhorchen. War das nur eine flapsig hingeworfene Bemerkung, wie man sie von Zetsche bei Diskussionsrunden öfter einmal hören konnte? Oder steckte mehr dahinter? Gewiss, Daimler kämpfte damals mit einer dicken Krise. Die Verkäufe schwächelten und der Dieselskandal kostete viel Geld. Schon ein paar Wochen später ließ eine Gewinnwarnung die Investoren an der Börse ebenso aufschrecken wie die Mitarbeiter im Unternehmen. Aber existenzgefährdend war das alles nicht. Das Unternehmen war über viele Jahre außerordentlich erfolgreich gewesen, mit mehr als 2,3 Millionen verkauften Fahrzeugen lag es weit vor seinen Wettbewerbern und erst im Jahr 2017 hatte man mit über 14 Milliarden Euro einen neuen Rekordgewinn erzielt. Warum also dieses öffentliche Nachdenken über den eigenen Untergang? Wusste oder spürte Dieter Zetsche etwas, was andere nicht sehen konnten oder nicht sehen wollten? Das Unternehmen war groß, wofür nicht zuletzt er selbst gesorgt hatte. Es war groß, aber hatte es auch noch „Größe“?
Im Grunde war Dieter Zetsches provozierende Bemerkung über die Zukunft von Daimler ein Plagiat. Einige Monate vorher hatte Jeff Bezos, Chef von Amazon, bei einem Meeting mit Managern und Führungskräften seines Unternehmens davor gewarnt, dass Amazon „nicht zu groß zum Scheitern“ sei und dann hinzugefügt: „Ich sage voraus, dass Amazon eines Tages scheitern wird.“ „Amazon“, so Bezos, „wird pleitegehen“. Der Satz, ausgesprochen vom reichsten Mann der Welt und Gründer eines der erfolgreichsten Unternehmen im Internet-Zeitalter, mutete merkwürdig an. Natürlich kokettieren vor allem erfolgreiche und charismatische Unternehmer schon mal gerne mit dem eigenen Untergang. Aber meinte Jeff Bezos das wirklich ernst?
Jeff Bezos war, was die Lebensdauer von Unternehmen anbelangt, pessimistisch: „Wenn ihr euch die großen Unternehmen anschaut“, erklärte er bei seinem Auftritt im Herbst 2018, „liegt die Lebensdauer bei 30 Jahren plus, nicht bei 100 Jahren plus“. Nach seiner Theorie hat jedes Unternehmen einen „Day One“ – das ist der Tag, an dem es gegründet wird. Und nach seiner Auffassung muss das Management dafür sorgen, dass der Geist und die Vitalität des „Day One“ erhalten bleiben und jeden Tag neu gelebt werden: „Every Day“, so sein Credo, „is Day One.“ Schon mit dem „Day Two“ beginnt nach seiner Auffassung das Ende eines Unternehmens: „Day Two ist Stagnation. Gefolgt von Irrelevanz. Gefolgt von einem quälend schmerzvollen Niedergang.“ Den sah er auch bei Amazon kommen – wann, darüber schwieg er sich freilich aus.
Irgendetwas ist sicher richtig an Bezos’ Unternehmensphilosophie – aber irgendetwas ist auch falsch. Tatsächlich gibt es viele Unternehmen, die weit älter als 30 Jahre sind und eine noch immer beträchtliche Größe haben. Daimler war im Jahr 2019 – nimmt man die Vorläuferunternehmen mit dazu – über 100 Jahre alt, nach der Diktion von Bezos gewissermaßen 100 Jahre plus-plus. Auch andere „große Unternehmen“ wie Ford und Siemens oder auch Coca-Cola und Procter&Gamble waren im Jahr 2019 über 100 Jahre alt und viele andere wie Toyota oder Samsung nur wenig jünger. Unmöglich, dass ein intelligenter Mann wie Jeff Bezos diese Unternehmen und ihr Alter nicht gekannt hätte. Was also sollte die Aussage, dass die Lebensdauer großer Unternehmen bei „30 Jahre plus“ und nicht bei „100 Jahre plus“ liege?
Jeff Bezos Überlegungen zur Lebensdauer von Unternehmen spielen offensichtlich mit zwei Bedeutungen von „Größe“. Was ein „großes“ Unternehmen ist, wird in der Welt der Wirtschaft üblicherweise mit Kennzahlen wie dem Umsatz, der Zahl der Beschäftigten und – in der Automobilindustrie – mit der Zahl der verkauften Autos definiert. „Groß“ ist, was eine bestimmte „quantitative“ Größe hat. Damit lassen sich wunderbare Rankings erstellen: Wer ist „Erster“, wer „Zweiter“, wer konnte sich in diesem Jahr um wie viele Plätze verbessern, wer konnte seinen Platz verteidigen und wer ist „abgestiegen“? 10Das sind Spielchen, die in der Presse gerne gespielt werden: Unterhaltsam, aber unwichtig, denn die Platzierung eines Unternehmens in einer dieser „Bundesligatabellen“ sagt – anders als im Sport – wenig bis gar nichts über deren Zukunftschancen, über deren wahre „Größe“ aus. Der über viele Jahrzehnte weltweit größte Automobilhersteller, General Motors, fiel in der Finanzkrise im Jahr 2008, ziemlich genau 100 Jahre nach seiner Gründung, wie ein Kartenhaus zusammen. General Motors war wie eine Maschine. Eine Maschine, die mehr oder weniger zuverlässig mehr oder wenig gute Autos in den Markt drückte, den Mitarbeitern und Führungskräften pünktlich Löhne und Gehälter ausbezahlte und seine Geschäftsprozesse mit der ganzen Erfahrung eines alten Unternehmens routiniert abspulte. Aber das Unternehmen wurde von keiner besonderen Idee, keinem besonderen Wissen und keiner besonderen Fähigkeit mehr getragen. Irgendwann in den 1970er-Jahren, vielleicht auch erst in den 1980er-Jahren war der Kalender vom „Day One“ auf den „Day Two“ gesprungen und offensichtlich hatte das niemand bemerkt. Das Unternehmen war, als es pleiteging, in einem rein quantitativen Sinn noch immer „groß“. Aber es hatte seine „Größe“ längst verloren. Im gleichen Jahr, 2008, in dem General Motors faktisch in Konkurs ging, brachte ein Unternehmen mit Sitz in Palo Alto seinen ersten vollelektrischen Roadster auf den Markt. Das Unternehmen hieß Tesla, war gemessen an den üblichen statistischen Kennzahlen klein, im Grunde ein „Start-up“, aber es lebte im „Day One“. Jeder redete und spekulierte über die Zukunft des Unternehmens, seine technologischen Innovationen, seine kommerziellen Pläne und natürlich auch über seinen etwas verrückten Chef. Tesla war ein kleines Unternehmen mit einer revolutionären, die Welt der Mobilität verändernden Idee. General Motors war „groß“, Tesla, die kleine Schmiede für Elektroautos aber hatte „Größe“.
Jeff Bezos’ Prognose über die Lebensdauer von „großen Unternehmen“ macht nur dann Sinn, wenn man in Rechnung stellt, dass es neben der quantitativen, durch betriebswirtschaftliche Kennzahlen definierten „Größe“ noch eine andere Art von „Größe“ gibt: eine Größe, die man als „qualitative“, „substanzielle“, vielleicht auch als „historische“ Größe bezeichnen kann. Von Jacob Burckhardt, einem der bedeutendsten Historiker des 19. Jahrhunderts, stammt die klassische Definition von „historischer Größe“: „Die Bestimmung der Größe scheint zu sein“, heißt es in seinem Basler Vorlesungsmanuskript aus dem Jahr 1868, „dass sie einen Willen vollzieht, der über das Individuelle hinausgeht.“ Besteht die wirkliche, dauerhafte und relevante Größe von Unternehmen also möglicherweise darin, dass sie nicht nur nach Umsatz oder Gewinn streben, sondern „einen Willen vollziehen, der über das Individuelle hinausgeht“?
„Apple is dedicated to leaving the world better than we found it and to creating powerful tools that empower others to do the same.“ Apples sogenanntes 11Mission-Statement steht nicht allein. Viele Unternehmen und Manager erklären heute, dass es ihnen nicht allein um Wachstum, eine starke Marktposition oder Rekordgewinne gehe, sondern um eine „bessere Welt“. Da ist davon die Rede, „andere zu befähigen, mehr zu erreichen“ (Microsoft), das Leben der Menschen „zu vereinfachen und zu ihrem Erfolg beizutragen“ (Amazon) oder auch die „Welt näher zusammenzubringen“ (Facebook). „Für mich“, erklärte Elon Musk seinem Biografen Daniel Alef, „geht es nie um Geld, sondern darum, die Probleme zu lösen und damit die Lebensgrundlagen der Menschheit in Zukunft zu verbessern.“ Unternehmen als Weltverbesserer?
Ja und nein. Es gibt viele Unternehmen, die groß sind, aber keine „Größe“ haben. Das sind Unternehmen, die ein gutes Produkt zu einem attraktiven Preis anbieten und damit ihr Geschäft machen. Es sind die klassischen „Bedarfsdecker“, die mit ihrem Geschäftsmodell, wenn sie es konsequent umsetzen, durchaus erfolgreich sein können. Sie haben das Ohr am Markt, achten darauf, dass ihnen ihre Wettbewerber nicht zu nahekommen und passen ihre Produktpalette rechtzeitig an technologische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen an. Es gibt Tausende solcher ganz „normaler“ Unternehmen, deren Ambitionen nicht über ihre wirtschaftlichen Ziele hinausgehen. Aber es gibt auch Unternehmen, die nicht einfach „Bedarfe decken“, sondern mit ihren Produkten und Dienstleistungen Treiber gesellschaftlicher Entwicklungen werden, die über das rein Wirtschaftliche hinausgehen. Amazon, Apple, Google und Facebook sind große Unternehmen, aber nicht, weil sie hohe Umsätze und über eine gewaltige Börsenkapitalisierung verfügen. Sie sind groß, weil sie das Leben von Milliarden von Menschen verändert haben und noch immer verändern. Politik, Wirtschaft und Kultur im vordigitalen Zeitalter waren anders als heute und auch wenn es Traditionalisten gibt, die der Auffassung sind, dass früher alles besser war, wird doch die weit überwiegende Zahl der vor allem jungen Menschen heute nicht auf Smartphone, Video-Streaming, Online-Shopping und den kommunikativen Austausch über soziale Medien verzichten wollen. Natürlich wollen (und müssen) Amazon, Apple, Google und Facebook Geld verdienen, aber indem sie das tun, vollziehen sie gleichzeitig einen Willen, der über ihr individuelles, egoistisches Profitstreben hinausgeht: den „Willen“, das Leben besser, bequemer, spannender und genussvoller zu machen. Sie überschreiten die Grenzen wirtschaftlicher Interessen und in diesem Überschreiten, in dieser – wie Philosophen sagen – „Transzendenz“ liegt ihre gesellschaftliche Relevanz und das heißt letztlich: ihre „Größe“.
Auch die großen Internet-Konzerne werden die Rolle, die sie heute spielen, nicht ewig spielen. Irgendwann werden andere kommen, die mit einer neuen Idee die gesellschaftliche Entwicklung in eine andere Richtung treiben und die damit zu Projektionsflächen für die Wünsche und Sehnsüchte der Menschen werden. Alte Unternehmen im Status der „Irrelevanz“ können noch lange existieren, aber sie schreiben keine Geschichte mehr. Sie können weiterhin „quantitative Größe“ besitzen, in Bundesligatabellen sogar vordere Plätze einnehmen, aber mit ihrer gesellschaftlichen Relevanz geht auch ihre „Größe“ verloren. Das ist kein zwangsläufiger Prozess. Unternehmen können sich neu 12erfinden, auch wenn dies den wenigsten gelingt. Der Normalfall ist, dass der Unternehmenskalender vom Management unbemerkt vom „Day One“ auf den „Day Two“ springt. Steve Jobs hat, als er im Jahr 1996 wieder in sein Unternehmen zurückgekehrt ist, den Kalender, der auch bei Apple schon den „Day Two“ angezeigt hat, wieder auf den „Day One“ gestellt. Das ist die Ausnahme. Jeff Bezos gibt Unternehmen im „Day One“ eine Lebensdauer von 30 Jahren plus, dann beginne der „quälend schmerzvolle Niedergang“. Doch auch er will diese Entwicklung verhindern oder doch so lange wie möglich hinausschieben. Daher appellierte er im Herbst 2018 an die Führungskräfte seines Unternehmens: „Every Day is Day One.“
Und Daimler?
Im Jahr 1985 erschienen – ungewöhnlich genug – im Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL in kurzer Folge gleich zwei Titelgeschichten über Daimler-Benz. Die erste Geschichte war im Heft Nr. 37 vom 9. September und hatte ein Zitat als Überschrift: „Der Stern strahlt noch in 100 Jahren“. Die zweite Geschichte folgte schon am 21. Oktober in Heft Nr. 43. Die Überschrift war auch dieses Mal ein Zitat und lautete: „Wir stehen erst am Anfang“. Die erste Titelgeschichte ist eine große Hommage an die Daimler-Benz AG und die Marke Mercedes-Benz. Das Zitat, dass der Stern auch noch in 100 Jahren strahlen werde, stammte von dem damaligen Vorsitzenden des Gesamtbetriebsrates Herbert Lucy. Anlass für die zweite Geschichte war die Übernahme mehrerer Unternehmen, darunter auch eines der ältesten Industrieunternehmen Deutschlands, der AEG, durch Daimler. Das Zitat in der Überschrift stammte vom Initiator des „großen Fressens“, dem späteren Unternehmenschef Edzard Reuter.
Tatsächlich markiert das Jahr 1985 eine Zäsur in der Geschichte von Daimler, es steht für ein Ende, aber nicht für einen neuen Anfang. Es ist das Jahr, in dem der „quälend schmerzvolle Niedergang“ der Industrie-Ikone Daimler beginnt – zuerst langsam, dann immer schneller.
Die Daimler-Benz AG, wie das Unternehmen damals noch hieß, war seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs über mehr als 30 Jahre hinweg ein erfolgreiches, kontinuierlich wachsendes und krisenfestes Unternehmen. Es war ein exklusiver, hochpreisiger Anbieter von Personenkraftwagen und gleichzeitig Weltmarktführer bei schweren LKW. Mercedes-Benz-PKW galten als die besten Autos der Welt mit langen Lieferzeiten und einer herausragenden Wertbeständigkeit: „Mercedes-Produkte“, befand DER SPIEGEL in seiner Hommage auf den Konzern im Jahr 1985, „sind unerreichtes Vorbild für die Konkurrenz. Und dabei wird es wohl noch einige Zeit bleiben.“ So falsch die Prognose war, so richtig war die Bestandsaufnahme. Es gab damals keinen Hersteller, der Mercedes bei der Qualität und Zuverlässigkeit der Fahrzeuge 13das Wasser reichen konnte. Jeder Mercedes war ein hochwertig verarbeitetes, sicheres, komfortables und gut motorisiertes Auto. Das Image der Marke und des Unternehmens war tadellos, geprägt nicht nur durch die herausragenden Produkte, sondern auch durch den Stil, mit dem die Repräsentanten des Unternehmens in der Öffentlichkeit auftraten: Die zumeist älteren Herren mit leicht angegrauten Haaren, dunklen Anzügen und gedeckten Krawatten waren der Inbegriff von Seriosität und Noblesse.
Die Daimler-Benz AG war hochprofitabel. DER SPIEGEL attestierte dem Konzern einen „unermesslichen Reichtum“ und jeder wusste, dass das, was der Konzern in der Bilanz zeigte, nur ein Bruchteil seines Reichtums war, denn die Daimler-Manager hatten aus dem Verstecken von Gewinnen eine regelrechte Kunst gemacht. Man war reich, aber man wollte niemandem zeigen, wie reich man war. Das hatte nicht nur etwas mit schwäbischer Bescheidenheit zu tun, sondern auch damit, dass man weder bei den Aktionären noch bei den Betriebsräten Begehrlichkeiten wecken wollte. So hielten sich in der Branche über Jahrzehnte die abenteuerlichsten Gerüchte über die Höhe der „stillen Reserven“, über die das Unternehmen verfügte. Niemand hätte damals geglaubt, dass der Daimler-Konzern einmal in wirtschaftliche Schwierigkeiten kommen könnte: In der Zeit einer allgemeinen Wirtschaftskrise, Mitte der 1970er-Jahre, hatte er sich den „Mythos der Unzerstörbarkeit“ erworben, als alle anderen Automobilhersteller mit mehr oder weniger heftigen Absatz- und Ertragsproblemen zu kämpfen hatten. Die Daimler-Benz AG überstand alle Wirtschaftskrisen unangefochten.
Doch die Daimler-Benz AG war mehr als ein erfolgreiches und profitables Unternehmen. Noch einmal DER SPIEGEL in seiner Hommage aus dem Jahr 1985: „Das Markenzeichen der Firma, der dreizackige Stern“, heißt es da, „ist längst so etwas wie ein nationales Ehrenzeichen geworden, zumindest ist er ein Symbol für deutsche Tüchtigkeit.“ Das Lob ist eher eine Unter- als eine Übertreibung. Natürlich war der „Stern“ ein „Symbol für deutsche Tüchtigkeit“, aber nicht nur das. Im Grunde war der „Stern“ ein Symbol für eine Zeit, der man den Namen „Wirtschaftswunder“ gegeben hat. Daimler-Benz galt als das deutsche Vorzeigeunternehmen, als Modell deutscher Möglichkeiten und als Zugpferd für den Wiederaufstieg Deutschlands in die erste Reihe der weltweit führenden Wirtschaftsnationen. „Mercedes-Land“, berichtete DER SPIEGEL, „nennen asylsuchende Tamilen bei der Ankunft in West-Berlin die Bundesrepublik“.
Auch Daimler hatte, als das Unternehmen nach dem Zweiten Weltkrieg faktisch neu gegründet wurde, eine Mission. Sogar eine Mission für eine „bessere Welt“, wenn man bereit ist anzuerkennen, dass sich die damalige Vorstellung der Menschen, was eine bessere Welt ist, beträchtlich von der von heute unterscheidet. Das Unternehmen schuf Arbeitsplätze, die sicher und gut bezahlt waren. Irgendwann konnten sich die Menschen Dinge leisten, die über Essen, Trinken und Wohnen hinausgingen, die das Leben einfacher und angenehmer machten: eine Urlaubsreise ins Ausland, ein Fernseher und natürlich auch ein 14Auto. Daimler arbeitete mit an dieser besseren Welt. Wo das Unternehmen ein Werk hatte oder ein neues baute, zog der Wohlstand ein.
Daimler-Benz war schon in den 1950er-Jahren, im Gegensatz zu vielen anderen deutschen Unternehmen, ein Konzern mit einer großen internationalen Ausstrahlung. Die Rennsporterfolge der „Silberpfeile“ waren ein Aushängeschild für deutsche Ingenieurskunst. Aber vor allem die Qualität der Produkte und die herausragende gesellschaftliche Stellung der Menschen, die diese Produkte kauften, sorgten für die weltweite Bekanntheit und Anerkennung der Marke. Monarchen und Politiker, Unternehmer und Manager, die Zelebritäten aus Sport und Kultur – das waren die Botschafter für eine Marke, die dabei war, ihre einstige Reputation wieder zu gewinnen, und die damit auch dazu beitrug, den Ruf Deutschlands in der Welt wieder zu stärken. Am Glanz des Sterns konnten sich viele wärmen, auch diejenigen, die keinen Mercedes-Benz fuhren.
So findet man, wenn man sich mit der Geschichte von Daimler-Benz nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt, gleich zwei Quellen für seine „Größe“: eine materielle und eine ideelle. Die materielle Quelle war die Förderung des Wohlstands, die Schaffung von Arbeitsplätzen und Einkommen sowie die Entwicklung wegweisender Technologien. Die ideelle Quelle war der Ruf des Unternehmens, seine Weltgeltung, die der schwer beschädigten deutschen Seele guttat und den Menschen, die einen Mercedes-Benz fuhren, das Gefühl gab, etwas ganz Besonderes zu besitzen – nicht nur in Deutschland, sondern überall auf der Welt. Das Unternehmen arbeitete für den Gewinn seiner Eigentümer, aber mit der Ausweitung seiner Geschäftstätigkeit vollzog es einen „Willen, der über das Individuelle“ hinausging: Es machte die Welt besser – es hatte „Größe“.
Heute ist Daimler ein ganz normales Unternehmen. Wie jedes andere Unternehmen hat Daimler gute und dann auch wieder weniger gute Jahre. Die Geschäftsergebnisse folgen den in der Automobilindustrie üblichen Produktlebenszyklen und dem Kreislauf der Konjunkturen. Neue Modelle werden computerunterstützt entwickelt, nach rationellsten Methoden als Massenware produziert und professionell beworben und verkauft. Das Geschäft mit der Finanzierung und dem Leasing von Fahrzeugen bringt kontinuierlich hohe Renditen. Produktion und Absatz sind global ausgerichtet, wo verkauft wird, wird auch produziert. Das Unternehmen steht wie die gesamte Branche vor großen Herausforderungen, deren erfolgreiche Bewältigung noch nicht ausgemacht ist. Hätte man Anfang der 1980er-Jahre Volkswagen oder BMW mit Daimler-Benz auf eine Stufe gestellt, wäre man ausgelacht worden. Heute sind Vergleiche zwischen den drei großen Automobilkonzernen in Deutschland gang und gäbe und vielen gilt dabei Volkswagen als das besser aufgestellte und BMW als das effizientere Unternehmen.
In den 40 Jahren zwischen 1980 und 2020 hat Daimler seine Ausnahmestellung im Markt ebenso verloren wie seine symbolische Bedeutung für Deutschland und die deutsche Wirtschaft. Dahin ist der „unermessliche Reichtum“ und davon, dass Daimler die besten Autos der Welt baue und „unerreichtes 15Vorbild für die Konkurrenz“ sei, redet schon lange niemand mehr. Nicht erst seit dem „Dieselskandal“ ist der einstige Glanz des „Sterns“ verblasst und der „Mythos der Unzerstörbarkeit“ bröckelt. Von der einstigen „Größe“ des Unternehmens haben nur noch wenige eine Ahnung, und nur der kann sie vielleicht noch erspüren, der einen Rundgang durch das Mercedes Museum in Untertürkheim macht. Die materiellen und ideellen Quellen seiner einstigen „Größe“ sind versiegt. Neue Werte, eine neue Mission hat das Unternehmen bis heute nicht gefunden, obwohl es dazu nicht an Versuchen gefehlt hat.
Schon in einem Artikel im Sommer 1993, als der Daimler-Konzern seine erste Krise in der Nachkriegszeit durchlebt und Tausende von Arbeitsplätzen abbauen muss, konstatiert der einst so euphorische SPIEGEL in seiner Ausgabe Nr. 35, dass der „Mythos, der die Firma einst umgab“ zerstört sei: „Mercedes-Benz ist kein besonderes Unternehmen mehr, das sich den Regeln der Branche entziehen kann. Es ist nun ein ganz gewöhnlicher Konzern wie Ford oder Fiat.“ Zwölf Jahre später, die „Hochzeit im Himmel“ mit Chrysler ist gerade krachend gescheitert, spekuliert das Hamburger Nachrichtenmagazin sogar darüber, dass Hedgefonds mit dem Gedanken spielen könnten, „den Konzern zu übernehmen und dann gewinnbringend zu zerschlagen“. Weitere 15 Jahre später, im Februar 2020, Ola Källenius hat gerade seine erste Bilanzpressekonferenz abgehalten, kritisiert DER SPIEGEL, dass Daimler „im viele Jahre währenden Erfolg behäbig“ geworden sei und „ratlos in die Zukunft“ schaue. Davon, dass der „Stern“ auch noch in 100 Jahren strahlen könne, ist nicht mehr die Rede.
Die Amerikaner haben für außergewöhnliche Ereignisse und Menschen, für Situationen und Schicksale, die die herkömmlichen Maßstäbe und Erfahrungen eines Lebens sprengen, die mit gängigen Erklärungsmustern nicht fassbar, also schlichtweg inkommensurabel sind, die Bezeichnung: „Bigger than Life“. „Bigger than Life“ – das ist das Leben von Menschen, die die Welt verändern, sie aus der Angel heben wollen, dabei unvorstellbare Höhen und Tiefen durchleben und durchleiden, exzessiv in ihren Zielen, aber auch in ihren Mitteln sind, um diese Ziele zu erreichen. „Bigger than Life“ – das sind Ereignisse, die unvorstellbar sind, weil sie quer gegen jede Logik stehen, deren Gründe und Ursachen rational nicht erklärbar sind und die daher den unvoreingenommenen Beobachter Staunen machen. Die Entwicklung der Daimler AG zwischen 1980 und 2020 ist „Bigger than Life“, sie sprengt das normale Maß an Um- und Neuorientierungen, die wohl jedes Unternehmen in sich verändernden Zeiten vornimmt. Das Ausmaß und die Intensität der Strategiewechsel, der Umbrüche und Aufbrüche, der Erfolge und Misserfolge, der Triumphe und Niederlagen, die Daimler in den letzten 40 Jahren erlebt hat, suchen – jedenfalls in der deutschen Industrielandschaft – seinesgleichen. Man wird Vergleichbares weder bei Siemens, bei der BASF noch bei VW oder BMW finden.
16Daimler hat in den 40 Jahren zwischen 1980 und 2020 seine einstige „Größe“ verloren: Wie und vor allem warum das passiert ist, wird in diesem Buch erzählt. Es handelt von abenteuerlichen Visionen und strategischen Neuausrichtungen, von technologischen Fehlentwicklungen, Qualitätsproblemen und Skandalen und es erzählt davon, wie die Aufgabe eines einfachen Prinzips zu einer nicht umkehrbaren Erosion des alten Geschäftsmodells und der einstigen Ertragskraft des Unternehmens geführt hat. Natürlich erzählt dieses Buch auch von Phasen der Erholung, des Aufschwungs und des Erfolgs. Es erzählt von dem Bestreben, die alte Größe wieder zu gewinnen, und davon, wie diese Hoffnung immer wieder zerplatzt ist. Es erzählt davon, wie stolz dieses Unternehmen einmal war und wie schwer man sich bis heute damit tut, anzuerkennen, dass man kein besonderes Unternehmen mehr ist, sondern ein ganz gewöhnlicher Automobil-Konzern.
Vor allem aber erzählt dieses Buch von Menschen – Menschen, die Verantwortung getragen und die Entwicklung des Unternehmens in den letzten 40 Jahren beeinflusst und bestimmt haben. In der Tat war die Entwicklung – im Guten wie im Schlechten – bei keinem anderen Automobilhersteller so an bestimmte Personen gebunden wie bei Daimler. Während bei VW und BMW über die verschiedenen Vorstandswechsel hinweg strategische Kontinuität herrschte, war mit fast jedem Wechsel an der Unternehmensspitze bei Daimler auch ein Strategiewechsel verbunden, wobei man nie genau sagen konnte, ob der Personalwechsel eine Folge des Strategiewechsels war oder umgekehrt.
Als Edzard Reuter 1985 den Vorstandsvorsitz bei der Daimler-Benz AG übernahm, wollte er aus dem einstigen Autokonzern einen „Technologiekonzern“ formen. Das Ende ist bekannt. Jürgen Schrempp begrub die Reutersche Vision und wartete nur wenig später mit seiner eigenen Vision auf: Aus dem schwäbischen Automobilunternehmen sollte eine Welt AG werden. Auch das Ende dieses Traums ist bekannt. Es folgte Dieter Zetsche, der die Welt AG rückabwickelte und das seltsame Gebilde, das sich DaimlerChrysler AG nannte, gerade noch rechtzeitig vor der Finanzkrise im Jahr 2008 auflöste. Dann hatte auch er, der eigentlich ein Pragmatiker und kein Visionär war, eine Vision: Er wollte aus Daimler einen Mobilitätskonzern machen, der sowohl bei der Digitalisierung, beim autonomen Fahren, bei der „Shared Mobility“ und schließlich auch bei der Elektromobilität eine weltweit führende Position einnehmen sollte. Das war zwar etwas bescheidener als die Pläne seiner Vorgänger, aber gleichwohl zu anspruchsvoll für das, was das Unternehmen noch zu leisten im Stande war. Ola Källenius hat Dieter Zetsches Vision vom Mobilitätskonzern begraben und fokussiert sich nun wieder ganz auf das Autogeschäft.
Die Akteure, die Manager und ihre Gefolgsleute, nicht weniger als die Betriebsräte und Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat haben Großartiges geleistet, um dann, wenige Monate später, mit unvorstellbaren Fehlentscheidungen alles aufs Spiel zu setzen. Bescheiden bis zu Selbstverleugnung die einen, rücksichtslose Hasardeure die anderen – und manchmal auch die Rolle vom Saulus zum Paulus oder vom Paulus zum Saulus wechselnd. Die Geschichte von Daimler zwischen 1980 und 2020 ist ein großes Schauspiel, mal Tragödie, 17mal Komödie, aber nie langweilig. Das Stück, das gespielt wurde, war spannend und unterhaltsam, manchmal auch irritierend und abstoßend, die Schauspieler, Helden wie Schurken, alle auf höchstem Niveau agierend. Nur mit viel Akribie, manchmal auch Phantasie, ist es möglich, den Ablauf der Ereignisse korrekt nachzuzeichnen und die entscheidenden Wendepunkte, die die Handlung nimmt, zu identifizieren. Es sind viele Handlungsstränge, die sich überlagern, miteinander verketten und es so mitunter schwer machen, zu unterscheiden, was Ursache und was Wirkung, was geplant und was bloßer Zufall war.
Wenn hier die handelnden Personen in den Mittelpunkt der Darstellung gerückt werden, dann soll damit zwei weitverbreiteten und von interessierter Seite auch durchaus gepflegten Manager-Mythen widersprochen werden. Der eine Mythos lautet, dass in einem Großunternehmen jeder Manager doch nur ein Akteur unter vielen und selbst der Vorstandsvorsitzende eines Konzerns in Gremien und formalisierte Entscheidungsprozesse eingebunden sei. Richtig daran ist, dass die Struktur von Großunternehmen im Allgemeinen und von Aktiengesellschaften im Besonderen, ein System von Führungs-, Abstimmungs- und Kontrollmechanismen darstellt, die von einem Einzelnen nicht einfach übergangen oder gar ausgehebelt werden können. Doch neben den offiziellen Entscheidungs- und Kontrollorganen gibt es in jedem Unternehmen auch informelle Abstimmungs- und Entscheidungswege. Ein Kontrollsystem funktioniert nur dann, wenn diejenigen, die kontrollieren sollen, dies auch wirklich tun wollen. Was aber ist, wenn in einem Unternehmen die Kontrolle von Menschen ausgeübt wird, die kein persönliches Vermögensinteresse an diesem Unternehmen haben, sondern wenn im Endeffekt Manager Manager kontrollieren? Was ist, wenn sich der Vorstandsvorsitzende und der Aufsichtsratsvorsitzende duzen und in freundlichem Einvernehmen einander öffentlich bewundern? Was ist, wenn der Wahn eines Einzelnen über die Einsicht der Vielen siegt? Man kann den Vorstandsvorsitzenden der Daimler AG in dem hier betrachteten Zeitraum viel vorwerfen. Charisma hatte jeder von ihnen. Wenn die Geschichte von Daimler eines lehrt, so ist es, dass starke Persönlichkeiten die Mechanismen von Führung und Kontrolle auch in einer Aktiengesellschaft durchbrechen, ja außer Kraft setzen können.
Der zweite weitverbreitete Manager-Mythos, der den Einfluss einzelner Personen auf die Geschicke eines Unternehmens relativieren soll, ist das Argument von den „Sachzwängen“, das schlicht lautet: Nicht Menschen entscheiden, sondern die Umstände, die diesen Menschen keine andere Wahl lassen. Vorstände werden so zu bloßen Vollzugsorganen von Sachzwängen gemacht, was natürlich auch den Vorteil hat, dass bei Fehlentscheidungen die Ausrede – „wir hatten keine andere Alternative“ – schon parat liegt. Tatsächlich gehört die Behauptung, unternehmerische Entscheidungen wären alternativlos, zu den großen Unwahrheiten in der Unternehmensführung, die erstaunlicherweise keine kurzen, sondern sehr lange Beine hat. Wahr ist, dass es zu jeder unternehmerischen Entscheidung zu jeder Zeit eine Alternative gibt – mindestens eine, manchmal auch mehrere. War die Entscheidung, den Autokonzern Daimler angesichts der Verschärfung des Wettbewerbs auf dem 18Weltautomobilmarkt in einen Technologiekonzern umzuwandeln, alternativlos, also unausweichlich? Ganz bestimmt nicht. Allein der Weg und der Erfolg von BMW in den folgenden Jahrzehnten hat gezeigt, dass ein Unternehmen, das ausschließlich Autos baut, überleben und erfolgreich sein konnte. War die Entscheidung, aus Daimler einen Welt AG zu machen, unausweichlich, alternativlos? Nahezu einhellig wurde damals argumentiert, dass langfristig nur fünf, höchstens sechs Automobilhersteller weltweit überleben würden, also müsse man einen anderen Automobilhersteller aufkaufen oder mit ihm fusionieren. Fakt ist, dass es heute weltweit mehr Automobilhersteller gibt als im Jahr 1998, als die Welt AG aus der Taufe gehoben wurde. Unternehmerisches Handeln vollzieht sich in voller Handlungsfreiheit der Beteiligten. Nur deshalb ist es gerechtfertigt, „Boni“ zu gewähren, wenn eine Entscheidung richtig war, und deshalb ist es auch gerechtfertigt, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, wenn eine Entscheidung sich als falsch herausstellt.
Auch wenn der Fokus in der vorliegenden Erzählung auf die handelnden Personen gerichtet ist, so ist die dahinterstehende Absicht doch keine denunziatorische, sondern eher eine pädagogische. Es geht nicht darum, Einzelne als Versager, Kapitalvernichter oder „Nieten in Nadelstreifen“ zu brandmarken, auch wenn Verantwortliche, Schuldige und Mitläufer der historischen Gerechtigkeit willen ebenso offen benannt werden müssen wie jene, die sich Verdienste um dieses Unternehmen erworben und es nach vorne gebracht haben. Die „pädagogische“ Absicht einer derart „personifizierten“ Darstellung ist es, Lehren zu ziehen. Die Beschäftigung mit der Geschichte von Unternehmen ist gerade deshalb so spannend, weil man im Nachhinein betrachtet viele Entscheidungen – und natürlich vor allem die Fehlentscheidungen – nicht nachvollziehen kann. Der heutige Betrachter hat es selbstverständlich leicht und kann exakt erklären, warum diese oder jene Entscheidung sich als goldrichtig oder als total falsch erwiesen hat. Doch damit ist nichts gewonnen. Ein solcher Umgang mit Geschichte dient allenfalls der eitlen Selbstbestätigung und ist ohne jeden Nutzen. Interessant ist doch allein die Frage: Warum hat man damals so entschieden? Welche Gründe haben dazu geführt, dass man die Entscheidung genau so und nicht anders gewählt hat? Konnte oder wollte man die Folgen einer Entscheidung nicht sehen? Welche Motive der handelnden Personen haben bei diesen Entscheidungen eine Rolle gespielt? Haben immer alle „nach bestem Wissen und Gewissen“ Entscheidungen getroffen oder gab es Motive, die – vorsichtig formuliert – „persönlichen“ Charakter hatten? „Man muss die Dinge zu Ende denken“, forderte einmal der frühere Aufsichtsratsvorsitzende der Daimler-Benz AG, Alfred Herrhausen. In der Geschichte wird, ob man das will oder nicht, immer alles zu Ende gedacht.
Daimler war in diesen 40 Jahren kein stilles, sondern ein lautes Unternehmen, nicht verlegen um große Ankündigungen und sensationelle Erfolgsgeschichten, aber auch geplagt von fürchterlichen Schlammschlachten und Indiskretionen. Spätestens seit Edzard Reuters Machtkampf um das Amt des Vorstandsvorsitzenden, der ganz wesentlich über die Medien ausgetragen wurde, wandelte sich Daimler von einem innengesteuerten zu einem außengesteuerten Unternehmen, in dem die Berichterstattung über das Unternehmen 19und deren Wirkung in der Öffentlichkeit Sach- und Personalentscheidungen beeinflussen, wenn nicht bestimmen konnte. Das Unternehmen stand und steht im grellen Licht der Öffentlichkeit. Die Vielzahl an Berichten und Kommentaren erleichtert und erschwert dem Chronisten seine Arbeit. Die Arbeit wird erleichtert, weil die Quellen für eine umfassende Unternehmensdarstellung leicht zugänglich sind, auch wenn die Ereignisse lange zurückliegen. Andererseits verdichten sich die Berichte über bestimmte Ereignisse zu festgefügten Meinungen, die irgendwann als Tatsachen daherkommen. Ein unverstellter Blick wird damit erschwert und man muss sich oft lösen von dem, was Zeitgenossen gesehen und als berichtenswert betrachtet haben, um zum tatsächlichen Geschehen und den zugrunde liegenden Motiven vorzudringen. Ganz zwangsläufig wird so die mediale Berichterstattung selbst zu einem Teil der Darstellung dessen, was eigentlich dargestellt werden soll.
Wer die 40 Jahre zwischen 1980 und 2020 überblickt, wundert sich nicht, dass dieses Unternehmen seine einstige Ausnahmestellung verloren hat. Schon eher grenzt es an ein Wunder, dass es dieses Unternehmen überhaupt noch gibt. Wahrscheinlich wäre jedes andere Unternehmen an den Fehlschlägen, Verwerfungen und Kapriolen, die es bei Daimler innerhalb einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne gegeben hat, zugrunde gegangen. Der finanzielle Aderlass war enorm, der personelle nicht minder. Die Überlebensfähigkeit, die das Unternehmen an den Tag gelegt hat, die Sanierungsphasen, die – mit Blessuren zwar – überstanden wurden, zeigen, dass es in diesem Unternehmen auf allen Ebenen immer Menschen gegeben hat, die kreativ und fleißig, kompetent und umsichtig waren und die in schwierigen Phasen der Unternehmensentwicklung viele richtige Entscheidungen getroffen haben. Die Rückkehr zur einstigen Größe haben sie nicht geschafft, aber den Niedergang verlangsamt und den langen Phasen bedrückender Erfolglosigkeit Phasen der Erholung und des Aufschwungs folgen lassen. Und doch ist das Ergebnis all der Pläne und Visionen, die über die Jahrzehnte entwickelt und umgesetzt wurden, verblüffend: Im Grunde entspricht der Konzern heute strategisch und strukturell ziemlich genau dem Konzern, wie er im Jahr 1980 ausgesehen hat – mit dem Unterschied, dass er nicht mehr so reich und auch nicht mehr so angesehen ist wie damals. Joachim Zahn war der letzte Vorstandsvorsitzende des Unternehmens, der im vollen Glanz seiner Erfolge Ende 1979 in den Ruhestand ging. Sein Nachfolger, Gerhard Prinz, starb zu früh, um Spuren zu hinterlassen. Werner Breitschwerdt wurde unsanft aus dem Unternehmen gedrängt. Edzard Reuter scheiterte mit seiner Vision vom integrierten Technologiekonzern und wurde zuletzt arg gedemütigt. Jürgen Schrempp schied zwar nach seinen eigenen Worten als „a very happy man“ aus dem Unternehmen, geblieben ist ihm aber nur der Ruf als „größter Kapitalvernichter aller Zeiten“ – einen Ruf, den er von seinem Vorgänger erbte. Dieter Zetsches große Erfolge wurden zuletzt überschattet vom Dieselskandal und sich schnell zuspitzenden Ertragsproblemen. Seine geplante Berufung zum Aufsichtsratsvorsitzenden wurde gestoppt. Auch er ist Geschichte. Und jetzt Ola Källenius.
Als Ola Källenius im Mai 2019 den Vorstandsvorsitz der Daimler AG von Dieter Zetsche übernahm, musste er zunächst den Krisenmanager spielen. Es galt vier Gewinnwarnungen innerhalb eines Jahres zu verdauen und dabei nicht den Überblick zu verlieren. Im Herbst des Jahres 2019 meldete sich erstmals der Stratege oder sollte man besser sagen: der „Visionär“ Källenius zu Wort. In einer ungewöhnlichen Mischung aus Traditionsbewusstsein und Zukunftsorientierung erklärte er, aus Mercedes-Benz wieder eine „Luxusmarke“ machen zu wollen. Der „Stern“ solle künftig für „sustainable luxury“ stehen und Daimler damit wieder zu alter Ertragskraft zurückgeführt werden. Er stutzte Dieter Zetsches Vision vom „Mobilitätsanbieter“ zurecht und gewann damit an Profil. Ist er der Hoffnungsträger, der Daimler seine verlorene Größe zurückgeben und neue Horizonte erschließen kann?
„Größe“, substanzielle Größe, basiert auf gesellschaftlicher Relevanz. Ist „Luxus“ ein gesellschaftlich relevanter Wert? Gewiss, es wird auch in Zukunft Menschen geben, die Freude an schönen und wertvollen Produkten haben, in China und anderen asiatischen Ländern vielleicht mehr als in Europa und Nordamerika. Aber ist Luxuskonsum nicht auch eine verpönte Attitüde in einer Zeit des Klimawandels und anderer ökologischer Verwerfungen? Immerhin soll es nicht einfach Luxus, sondern „nachhaltiger“ Luxus sein, für den die Marke Mercedes-Benz künftig stehen will. Das stellt hohe Anforderungen – nicht nur an die technische, sondern auch an die moralische Qualität eines Produktes. Woher soll das eine wie das andere kommen? „Elektromobilität“ und „Klimaneutralität“ werden nicht reichen, um eine Alleinstellung im Markt zu erzielen. Doch die ist notwendig, wenn Källenius’ Strategie aufgehen soll. Ist die Position im Markt, die der Daimler-Chef anstrebt, nicht längst durch einen anderen Stuttgarter Automobilhersteller besetzt?
Zum „Luxus“ gehört Knappheit. Ein Produkt, das es im Überfluss gibt, wird nie ein Luxusprodukt werden. Nur das Seltene, schwer Erreichbare wird von den Konsumenten mit einer hohen Preisbereitschaft geadelt. Kann man mehr als zwei Millionen Autos als Luxusautomobile verkaufen? Der Automobilmarkt ist ein reifer, weitgehend gesättigter Markt und selbst in China werden die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Erfordert also eine konsequent angelegte Luxusstrategie nicht einen Rückbau von Produktionskapazitäten? Wie soll der ohne einen massiven Abbau von Arbeitsplätzen gelingen?
Die schon seit den 1980er-Jahren immer wieder diskutierte Trennung des PKW- vom Nutzfahrzeuggeschäft war ein Paukenschlag. Ola Källenius macht die Prognose von Dieter Zetsche, dass es kein Naturgesetz gebe, dass Daimler ewig existiert, wahr, schneller und konsequenter, als sich das wahrscheinlich viele gedacht haben. Die Daimler AG ist Geschichte. Wird jetzt der Kalender vom „Day Two“ auf den „Day One“ zurückgeblättert? Für den Weg zu neuer Größe gibt es viele Möglichkeiten. Die erste und wichtigste dabei ist: aus der eigenen Geschichte zu lernen.