Buch
Dr. Thea Graven hat in der Eifel ein neues Zuhause gefunden, in ihrer Arbeit als Landärztin ihre Erfüllung und – womit sie anfangs niemals gerechnet hätte – auch ihre große Liebe. Doch kurz vor der Hochzeit erkrankt Thea schwer an Polio und ist nun stark gelähmt. Sie fürchtet, dass ihre Liebe daran zerbricht, und flüchtet sich in eine Reha-Klinik im Allgäu. Dort setzt sie alles daran, ihr altes Leben zu vergessen. Auch ihr bisher immer so starker Lebensmut scheint nur noch eine schwache Erinnerung. Bis ein weiteres einschneidendes Erlebnis ihre Welt erneut ins Wanken bringt und die junge Ärztin erkennt, dass es Dinge gibt, für die es sich zu kämpfen lohnt. Und dass die Zukunft so vieles für sie bereithält.
Begleiten Sie die junge Landärztin Dr. Thea Graven auf ihrem schicksalhaften Weg, der sie von der Eifel ins idyllische Allgäu führt.
Autorin
Felicia Otten ist das Pseudonym der erfolgreichen Autorin Beate Sauer. Geboren in Aschaffenburg, studierte sie zunächst Philosophie und katholische Theologie in Würzburg und Frankfurt am Main. Nach ihrem Diplom absolvierte sie eine journalistische Ausbildung. Doch dann erkannte sie, dass sie viel lieber Geschichten erzählen wollte. 1999 erschien ihr erster Kriminalroman, diesem folgten zahlreiche weitere Krimis und historische Romane. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in Bonn, und zahlreiche Ausflüge in die malerische Eifel haben sie zu ihrer Geschichte um die junge Landärztin Thea Graven inspiriert.
Von Felicia Otten erschienen
Die Landärztin – Aufbruch in ein neues Leben
Die Landärztin – Der Weg ins Ungewisse
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FELICIA OTTEN
Die Landärztin
Der Weg ins Ungewisse
ROMAN
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Wir danken dem Verlag dotbooks für die Genehmigung der Titelnutzung »Die Landärztin« (Martina Bick, erschienen 2014 bei dotbooks).
Das Zitat stammt aus »Pippi Langstrumpf«, zitiert nach Astrid Lindgren, »Pipi Langstrumpf«, Friedrich Oetinger Verlag, Hamburg 2007.
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Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Gisela Klemt
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Umschlagmotive: Rekha Arcangel/Arcangel Images; www.buerosued.de
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WR · Herstellung: sam
Satz: KCFG – Medienagentur Neuss
ISBN 978-3-641-27453-5
V001
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Der VW-Käfer kämpfte sich die verschneite Straße hinauf, ehe sich das Dorf Eichenborn unterhalb von Dr. Thea Graven ausbreitete. Sie lenkte den Wagen an den Straßenrand und sog den Anblick in sich ein. Vier Wochen war sie nicht mehr hier gewesen, und es war so schön zurückzukommen! Ja, hier war sie zu Hause. Da, am Ortsrand, standen die ausrangierten Eisenbahnwaggons, in denen Flüchtlingsfamilien provisorisch wohnten. Dort hatte sie im Frühjahr ihrer ersten Patientin, einer jungen Mutter, unter schwierigen Umständen geholfen, ein gesundes Töchterchen zur Welt zu bringen. Diese Geburt würde immer einen besonderen Platz in ihrem Herzen haben.
Etwa in der Mitte des Dorfes lag die Kirche mit dem im Krieg zerstörten Turm. Dahinter erstreckte sich der Friedhof, wo uralte, riesige Eiben zwischen den Gräbern wuchsen. Theas Blick folgte der langen Hauptstraße, gesäumt von Fachwerkhäusern und Bauernhöfen. Am anderen Ende des Ortes, etwas außerhalb am Rand einer großen Wiese, leuchtete das barocke Schlösschen mit seiner ochsenblutroten Fassade inmitten des Schnees hervor. Die benachbarte ehemalige Remise mit dem weit heruntergezogenen Dach beherbergte die Praxis von Dr. Georg Berger, ihrem früheren Chef.
Georg. Theas Gesicht erstrahlte. Georg, Georg … Geliebter, Freund, Gefährte und in wenigen Monaten ihr Ehemann. Während der vergangenen Wochen hatte sie ihn so vermisst!
Sie startete den Wagen wieder und fuhr langsam die Hauptstraße entlang. Einige Dörfler, dick vermummt in Mäntel und Jacken, erkannten den VW-Käfer und winkten ihr zu, und Thea erwiderte lächelnd den Gruß. Als sie im vergangenen Jahr, kurz nach Ostern, die Stelle in Georgs Praxis angetreten hatte, hatten sich die Eichenborner ihr, der protestantischen Ärztin aus der Großstadt Hamburg, gegenüber alles andere als freundlich verhalten. Aber schließlich hatte sie es geschafft, sich ihren Respekt und ja, auch ihre Zuneigung zu erringen, und darüber war sie sehr froh und dankbar.
Am Ende des Ortes bog Thea von der Hauptstraße ab und passierte einige Bauernhöfe. Hühner, die trotz der Kälte draußen herumliefen, stoben hastig davon. Dann hatte sie das Gelände des Schlösschens erreicht. Ein Bach und ein Wassergraben umgaben das barocke Gebäude und seinen verwilderten Garten von allen Seiten. Wie immer strahlte das Schlösschen eine ganz eigene Anmut aus. Vier Türmchen flankierten die Fassade, ein weiteres krönte das Dach. Der Schnee lag wie eine dicke, wärmende Haube darauf. Auch das etwas entfernt gelegene kleine Fachwerkhaus, das während Theas Zeit als Georgs Mitarbeiterin ihr Heim gewesen war, schien an diesem Tag Ende Februar 1951 fast im Schnee zu versinken.
Thea stellte den VW-Käfer in der alten Wellblechgarage ab. Wie schön, dass einige ungestörte Stunden vor ihr und Georg lagen, denn ihr Nachfolger in der Praxis, ein junger Arzt, der vor Kurzem erst das Studium abgeschlossen hatte, würde die Sprechstunde und die Patientenbesuche bis zum späten Abend allein übernehmen.
Voller Vorfreude überquerte sie die Brücke über den Bach und ging die Stufen zum Portal hinauf. Der große Kronleuchter in der Halle war wie immer von einer Staubschicht bedeckt. Aber da und dort brachte die Sonne, die durch die Fenstertüren fiel, die geschliffenen Kristalle zum Funkeln.
»Georg!«, rief Thea. Als keine Reaktion erfolgte, lief sie in die riesige ehemalige Küche. Auf dem wuchtigen Eichentisch hatten Georg und sie einmal mitten in der Nacht eine Operation durchgeführt. In der angrenzenden Spülküche, die nun als Küche diente, stand ein dickwandiger Topf auf der elektrischen Kochplatte. Ihm entstieg ein wunderbarer Duft. Aber Georg war nicht da. Und auch nicht im Wohnzimmer, wo ein behagliches Feuer im Kamin brannte. Nun, sie war etwa eine Stunde früher angekommen als erwartet. Und sie ahnte, wo sie den geliebten Mann finden würde.
Wieder draußen stapfte Thea durch den Schnee in Richtung der Felder und Wiesen. Dahinter erstreckte sich das riesige Moorgebiet des Hohen Venn. Ein Raubvogel schraubte sich hoch in den klaren Himmel. Auf Anhieb hatte sie sich damals in die wilde, urtümliche Landschaft verliebt. Ganz im Gegensatz zu Georg. Ihn hatte sie am Anfang überhaupt nicht leiden können.
Wieder breitete sich ein Lächeln auf Theas Gesicht aus. Sie hatte die Stelle in der Praxis von Dr. Georg Berger aus purer Verzweiflung angetreten und nicht, weil sie ihren Chef irgendwie sympathisch gefunden hätte. Kurz vorher hatte sie ihre Stelle als Assistenzärztin an der Hamburger Universitätsklinik verloren, da sie ihren Chefarzt wegen eines Kunstfehlers mit tödlichem Ausgang angezeigt hatte. Alle ihre Bewerbungen waren vergeblich gewesen. Nicht nur ihr Traum, Fachärztin für Gynäkologie zu werden, schien beendet zu sein. Mit dreißig Jahren hatte sie auch befürchten müssen, niemals mehr Arbeit als Ärztin zu finden. Zu Besuch bei ihren beiden Schwestern in Monschau hatte sie ganz zufällig Georgs Stellenanzeige in der Zeitung gelesen, mit der er einen Mitarbeiter suchte.
Anfangs hatte sie ihren neuen Chef für einen arroganten Rüpel gehalten, der sie und die Patienten gleichermaßen unfreundlich behandelte. Erst allmählich hatte sie entdeckt, dass sich hinter seiner schroffen und zynischen Schale ein sehr großherziger, mutiger und empfindsamer Mann verbarg.
Und schließlich, fast unmerklich, war es geschehen, und sie hatte sich tief in Georg verliebt – und er sich in sie. Der Krieg hatte sie beide gelehrt, wie schnell ein Leben enden konnte. Deshalb hatten sie sich sehr rasch verlobt. Anfang August würden sie heiraten, nach Theas bestandener Prüfung zur Fachärztin für Gynäkologie – denn durch eine glückliche Wendung des Schicksals konnte sie ihre Ausbildung an der Marburger Universitätsklinik doch noch abschließen.
Thea berührte ihren Finger, wo sie unter dem dicken Wollhandschuh ihren Verlobungsring trug. Sie und Georg würden zusammen leben und zusammen arbeiten, Kinder miteinander haben … Manchmal erschien es ihr immer noch wie ein Wunder, wie sich dies alles gefügt hatte. Und hin und wieder erfasste sie auch eine jähe Angst, dass alles einfach zu schön war und es unmöglich ewig andauern konnte.
Sie hatte jetzt ihr ehemaliges kleines Häuschen erreicht, wo der Schnee an der Wetterseite fast bis an die Dachrinne hinaufreichte und eine dicke Schicht von Eiskristallen die Rosenranken an den Fachwerkwänden überzog, und folgte weiter dem Weg. Jenseits der Felder und Wiesen sah sie das Moor, eine schimmernde, weiße Fläche, und hinter einigen Büschen tauchte jetzt die Koppel auf. Ja, sie hatte richtig vermutet. Georg war dort. Er führte gerade die beiden Pferde aus dem Stall. Ihr Fell war sehr dick und zottelig, und ihr Atem bildete weiße Wolken in der Luft. Die Stute wieherte jetzt laut, irgendetwas hatte sie erschreckt, und Georg strich ihr über den Hals und redete beruhigend auf sie ein.
Thea trat an das Gatter. Ihr Herz klopfte schneller. Jedes Detail nahm sie in sich auf. Georgs dunkles Haar, das ihm in die Stirn fiel, sein kräftiges Kinn, die markanten Wangenknochen, den ausdrucksvollen Mund und die leuchtend blauen Augen. Seine Miene war ganz entspannt, wie immer, wenn er bei den Pferden war. Tatsächlich hatte sie seine weiche, empfindsame Seite zum ersten Mal im Umgang mit Kindern und den Pferden entdeckt.
Mein Geliebter …
Als hätte er ihren Gedanken gehört, sah Georg nun auf und zu ihr. Sein Gesicht spiegelte Überraschung, nur um sogleich aufzuleuchten. Einige Momente blickten sie sich lächelnd an. Dann öffnete Thea das Gatter, und sie liefen aufeinander zu, fielen sich in die Arme und küssten sich innig. Erst nach einer ganzen Weile lösten sie sich voneinander.
»Es tut mir leid, dass ich nicht im Schlösschen war, als du angekommen bist«, murmelte Georg. »Ich habe erst später mit dir gerechnet.«
»Ausnahmsweise konnte ich meinen Dienst auf der Station einmal pünktlich beenden. Und die Straßen waren frei, ich kam gut durch.«
Georg streichelte ihre Wange. Sein Blick war sehr zärtlich. »Manchmal denke ich, es war ein Fehler, dich darin zu unterstützen, deine Ausbildung als Fachärztin abzuschließen, weil wir uns deshalb ja meistens nur alle vier Wochen einmal sehen.«
»Denk immer daran, dass keine Landarztpraxis hier in der Gegend eine Gynäkologin vorweisen kann.« Thea boxte ihn spielerisch in die Seite.
»Ja, so gesehen ist das ein Vorteil. Aber hast du mich denn gar nicht vermisst?«
»Was denkst du denn? Natürlich kein bisschen …« Aber Theas weiche Stimme und ihre strahlenden Augen straften ihre Worte Lügen. Ach, es war so schön, wieder bei Georg zu sein!
Eine Weile später fuhr sich Thea im Badezimmer des Schlösschens mit einer Bürste durch ihr modisch kurz geschnittenes, lockiges Haar. Vor dem Essen hatte sie den dicken Wollpullover und die Hose gegen einen weiten Rock, eine Bluse und eine kurze Strickjacke ausgetauscht. Früher hatte sie ihre Weiblichkeit so gut es ging versteckt – nicht wenige männliche Kollegen standen Ärztinnen immer noch ablehnend gegenüber. Deshalb hatte sie stets eine dicke schwarze Hornbrille getragen und ihre Haare zu einem strengen Knoten zurückgebunden.
Doch wie so vieles in ihrem Leben hatte sich auch das seit ihrer Ankunft in Eichenborn verändert, und sie hatte keine Scheu mehr, sich als Frau zu zeigen. Die Hornbrille war einer mit schmetterlingsförmigen Gläsern und einer gold-braun gesprenkelten Fassung gewichen. Was, wie Thea zufrieden fand, ihre Augen zum Leuchten brachte. Im Allgemeinen war sie nicht eitel. Aber an diesem besonderen Nachmittag, nach der vierwöchigen Trennung von Georg, wollte sie einfach hübsch aussehen.
In der Spülküche war der kleine Tisch inzwischen gedeckt. Teller und Gläser und Besteck waren bunt zusammengewürfelt und stammten aus dem Inventar des Schlösschens. Belustigt und gerührt sah Thea, dass Georg an ein Tischtuch gedacht und sogar zwei Kerzen aufgestellt hatte.
»Du magst doch Eintopf?« Er sah sie ein bisschen besorgt an. »Ich wollte eigentlich etwas Aufwändigeres kochen, aber in den letzten Tagen war in der Praxis so viel los. Wie immer im Winter ist die Hälfte des Dorfes krank. Grippe, irgendwelche Katarrhe, Knochenbrüche, das ganze Programm …«
»Du weißt doch, dass ich deine Eintöpfe liebe.« Georg konnte, wie Thea inzwischen wusste, tage- wenn nicht wochenlang von belegten Broten und aus Konservendosen leben. Aber wenn er einmal kochte, war das Ergebnis immer vorzüglich.
Sie setzten sich an den Tisch. Georg zündete die Kerzen mit seinem Feuerzeug an und schöpfte den Eintopf in die tiefen Teller. Einige Momente aßen sie schweigend, denn Thea war sehr hungrig. Ihre letzte Mahlzeit war das Frühstück vor ihrem Dienst um sechs Uhr gewesen. Schließlich hielt sie inne. »Ach, es schmeckt wundervoll! Aber jetzt erzähl mal, wie läuft es denn in der Praxis? Und wie ergeht es Dr. Kramer?« Thea mochte ihren Nachfolger, einen etwas schüchternen jungen Mann, wirklich gern.
»Er schlägt sich ganz wacker, und er hat einen guten Draht zu den Leuten.«
»Wahrscheinlich hilft es, dass er von einem Bauernhof stammt.«
»Ja, kürzlich hat er einer Sau beim Ferkeln geholfen, das hat ihm allgemeinen Respekt eingetragen.« Georg grinste.
»Das freut mich.« Thea meinte es ehrlich.
»Seine Zimmerwirtin mästet ihn, er hat mindestens schon zwei Kilo zugenommen, und ein paar junge Frauen aus dem Dorf haben ein Auge auf ihn geworfen.«
Dr. Kramer hatte es vorgezogen, sich ein Zimmer im Ort zu mieten und sich nicht mit dem unberechenbaren Herd, der zudem die einzige Heizquelle in Theas ehemaligem Häuschen war, herumzuplagen. Im Moment stand es leer. Vielleicht würden Georg und sie es später einmal für Gäste nutzen.
»Interessiert Dr. Kramer sich denn für eine der jungen Frauen?«
»Falls ja, dann zeigt er es nicht. Er ist einfach sehr schüchtern. Mal sehen, ob sich das im Lauf der Zeit noch ändert.« Georg erzählte weiter von den Dorfbewohnern und der Praxis. Sein Tonfall war wie üblich trocken, manchmal sarkastisch. Aber Thea wusste inzwischen ja, dass ihm die Menschen wirklich am Herzen lagen. Als er geendet hatte, berichtete sie ihm von ihrem Dienst im Universitätskrankenhaus. Sie liebte diesen Austausch. Wie immer fragte Georg präzise nach, und sie wusste sich in ihrer Freude und ihren Zweifeln und Ängsten von ihm verstanden.
Nach dem Essen gingen sie mit den Weingläsern ins Wohnzimmer. Der Widerschein des Feuers spiegelte sich auf dem glatten Leder des Punchingballs, der von der Decke hing, und auf den Covern von Georgs Schallplattensammlung.
»Da ist etwas, das ich gern mit dir besprechen würde.« Georg war neben dem Kamin stehen geblieben.
»Ja, was denn?« Irgendwie hörte er sich auf einmal ziemlich ernst an.
Er nahm ein zusammengerolltes Blatt Papier von einem Bücherregal und breitete es neben Thea auf dem Sofa aus. Es sah aus wie der Plan eines Architekten. Und das kleine Häuschen aus Pappe mit dem weit heruntergezogenen Dach und dem aufgemalten Fachwerkgebälk, das er jetzt dazustellte, war …
»Das ist doch die Praxis«, sagte Thea überrascht, »aber sie hat einen Anbau.« Fragend sah sie Georg an, der sich nun zu ihr setzte.
»Ich habe letzte Woche einen Freund getroffen, der Architekt ist. Wir kamen im Gespräch von einem aufs andere. Wie das manchmal so geht. Und, nun ja, ich habe ihm erzählt, dass du im Spätsommer anfangen wirst, als Gynäkologin hier in der Praxis zu arbeiten. Und dass das alles ziemlich improvisiert und beengt sein wird. Mit deinem Sprechzimmer in meinem jetzigen Arbeitszimmer. Da hat er vorgeschlagen, sich einmal die Praxis und das Schlösschen anzusehen. Und der Plan und das Modell sind das Ergebnis seines Besuchs.«
Georg nahm das Dach des Anbaus ab. Darunter kamen ein großer Raum mit hohen Fenstern und zwei kleinere zum Vorschein. »Das wäre dein Sprechzimmer«, er deutete auf den großen Raum, »und das dein Wartezimmer, und hier wäre Platz für ein Labor.« Er wies auf die beiden kleineren Räume.
»Aber Georg, wir haben das doch ausführlich besprochen. Ich muss mir die gynäkologische Praxis erst langsam aufbauen. Wahrscheinlich werde ich mir in den ersten Jahren auch Räume in Monschau mieten und dort Patientinnen privat behandeln müssen, bis ich eine Zulassung als selbstständige Kassenärztin erhalte. Dieser Anbau ist viel zu groß und zu teuer. Das Dach des Schlösschens muss ja neu gedeckt werden und …«
»Das weiß ich, das Geld dafür bringe ich auch noch auf.«
»Trotzdem, der Anbau ist zu kostspielig«, beharrte Thea.
»Aber er gefällt dir?«
»Ja, schon … Er wirkt so großzügig und licht.« Es wäre wunderbar, darin praktizieren zu können, dachte sie.
»Dann sollst du dort deine Praxis haben.«
»Georg …«
»Ich möchte, dass du gute Bedingungen als Ärztin hast, wenn du dich schon hier mit mir altem Kerl in der Einöde vergräbst, anstatt irgendwo eine große Karriere zu machen.«
Thea verdrehte die Augen. »Du bist gerade mal zwölf Jahre älter als ich. Und für mich ist das keine Einöde, das weißt du genau. Außerdem lege ich keinen Wert auf eine große Karriere. Ich möchte einfach eine gute Gynäkologin sein.«
»Bitte, betrachte es als mein Hochzeitsgeschenk.«
Thea sah die Liebe und die Sorge in Georgs Augen. Sie wusste, dass er sie glücklich machen wollte. »Ein ziemlich überdimensioniertes Hochzeitsgeschenk.«
»Dann akzeptierst du den Anbau?«
»Nein, ja …«, gab Thea nach.
»Also, ja.« Georg lächelte sie an. »Und da ist noch etwas …«
»Was denn? Willst du vielleicht das ganze Schlösschen umbauen lassen?«
»Das nicht, aber bevor du hier einziehst, also vor unserer Hochzeit, würde ich gern die Spülküche neu einrichten lassen. Einen Elektroherd anschaffen statt der Kochplatte und einen neuen Tisch und Stühle kaufen und vielleicht auch ein paar Schränke. Was hältst du davon?«
»Ach, du meine Güte …« Thea begann zu lachen.
»Was ist denn an meinem Vorschlag so lustig?« Georg war irritiert.
»Gar nichts. Ein Elektroherd und ein paar neue Möbel wären wunderbar.« Der Herd in Theas Häuschen hatte mit Holz und Kohle befeuert werden müssen, was eine ziemliche Herausforderung gewesen war. Und der riesige, gusseiserne Herd in der ehemaligen Küche des Schlösschens war einfach nur Furcht einflößend.
»Wenn du in zwei Wochen wieder hier bist, können wir nach Monschau oder Aachen fahren und die Möbel aussuchen.«
Mit Georg Küchenmöbel kaufen … Was für eine seltsame, aber irgendwie auch schöne Vorstellung. Und wie gut, dass sie wegen ihrer vielen Überstunden dann frei hatte und sie sich ausnahmsweise nicht erst wieder in vier Wochen sehen würden.
»Weshalb lächelst du?« Georg sah sie fragend an.
»Ich freue mich einfach auf unser gemeinsames Leben. Und ich wünschte, dass ich mich nicht mit meinen Schwestern für morgen verabredet hätte und wir beide zusammen sein könnten.«
»Wenn du erst einmal mit Marlene und Katja durch die Düsseldorfer Geschäfte streifst, um ein Brautkleid auszusuchen, wirst du dir das nicht mehr wünschen.« Georg grinste. »Davon bin ich fest überzeugt.«
»Das stimmt nicht!«
»Doch, ganz sicher. Und jetzt erzähl mal … Was hast du privat so getrieben, seit wir das letzte Mal miteinander telefoniert haben? Hat es mit dem Kinobesuch geklappt?« Er legte den Arm um sie. Kinofilme waren eine Leidenschaft, die sie beide teilten.
»An dem Abend, an dem ich eigentlich ins Kino wollte, kam ich nicht von der Station weg. Aber zwei Tage später war ich dann in …«, Thea unterbrach sich. »Ich weiß, du wirst jetzt lachen.«
»Jetzt sag schon!«
»In ›Frauenarzt Dr. Prätorius‹ mit Curt Goetz. Ein anderer Film lief um die Uhrzeit nicht. Aber er war witzig und nicht kitschig. Das hätte ich gar nicht erwartet.«
»Ich habe Curt Goetz mal vor Jahren in Berlin am Theater in einer Komödie gesehen, und ich mochte ihn sehr.« Georg lächelte.
»Und wie hast du so deine Abende verbracht, wenn du nicht gerade bei Patienten warst und dich um die Pferde gekümmert hast?«
»Ach, ich habe Musik gehört und gelesen und versucht, mich am Punchingball in Form zu halten.« Irgendwie schwang ein gewisses Zögern in seiner Stimme mit.
»Das hört sich doch schön an.«
Georg strich über Theas Haar. »Ja, früher hätte mir das gereicht, und ich wäre damit völlig zufrieden gewesen. Aber seit wir zusammen sind nicht mehr. Irgendwie war das alles … Nicht öde, das wäre zu viel gesagt. Aber irgendwie unbefriedigend; mir hat etwas gefehlt. Du hast mir gefehlt.«
Thea wusste, dass Georg jahrelang ein einsiedlerisches und sehr selbstgenügsames Leben geführt hatte. »War das jetzt eine Liebeserklärung?«, neckte sie ihn.
»Ja, ich glaube schon.« Sein Blick war sehr innig und zärtlich.
»Eine wunderschöne Liebeserklärung.« Thea richtete sich auf und küsste ihn.
Wie so oft genügte ein Kuss oder eine Berührung, um ihre gegenseitige Leidenschaft zu entfachen. Sie wollten sich, ganz und gar. Ihr Liebesspiel war vertraut und doch auch zutiefst erregend und beglückend.
Später, während das Licht des Kaminfeuers über die Wände huschte, lag Thea in Georgs Armen, noch ganz erfüllt von seiner Liebe, und sie wünschte sich, diesen Moment für immer festhalten zu können.
»Was denkst du gerade? Ich sehe dir doch an, dass dich irgendetwas beschäftigt?« Georg streichelte sie liebevoll.
»Dass ich so glücklich mit dir bin und dass ich Angst habe, das zu verlieren. Dass ich Angst habe, dich zu verlieren.«
»Thea, der Krieg ist zu Ende.« Georgs Stimme war sehr sanft. »Ich werde nicht in einem Gefecht fallen.«
»Ja, ich weiß, aber …«
»Schsch …« Georgs Kuss vertrieb Theas unbestimmte Furcht.
Ein berstendes Holzscheit im Kamin weckte Thea. Sie blinzelte, sie war tatsächlich in Georgs Armen eingeschlafen. In dem Wohnzimmer war es fast dunkel und das Feuer schon ganz heruntergebrannt. Hastig beugte sie sich vor und suchte auf dem Boden neben dem Sofa zwischen ihren Kleidungsstücken nach ihrer Armbanduhr.
»Was ist denn?«, murmelte Georg neben ihr und gähnte.
»Hast du eine Ahnung, wie spät es ist? Bestimmt ist es längst schon Abend.«
»Wie sollte ich? Aber ich schätze mal, so gegen acht.«
Thea hatte die Armbanduhr jetzt gefunden und hob sie hoch. »Nein, es ist schon nach neun. Ich sollte schleunigst los. Und du musst in einer knappen Stunde Dr. Kramer zum Bereitschaftsdienst ablösen.«
Georg, der sich aufgesetzt hatte, ließ sich wieder auf das Sofa zurücksinken und stöhnte. »Mein Gott, bin ich froh, wenn wir endlich verheiratet sind, du offiziell hier übernachten kannst und dieses alberne Theater ein Ende hat.«
Eichenborn war ein sehr katholisches Dorf. Wenn Thea, ohne Georg angetraut zu sein, über Nacht im Schlösschen geblieben wäre, hätte das einen großen Skandal verursacht. Deshalb hatten sie beschlossen, dass sie, wann immer sie Georg besuchte, am späten Abend nach Monschau fuhr und dort in der Villa ihres Vaters übernachtete.
»Es ist ja nur noch für ein paar Monate«, sagte Thea begütigend und schlüpfte in ihre Unterwäsche.
»Ach, das ist noch lange genug.«
»Pst, nicht schimpfen.« Thea legte Georg einen Finger auf den Mund und lächelte. Es fiel ihr schwer, sich von ihm zu trennen, und sie wäre liebend gern am Morgen in seinen Armen aufgewacht. Aber eine gewisse Anpassung an Sitte und Moral war der Preis, den sie zahlen mussten, um von den Dörflern akzeptiert zu werden.
»Wenn die Leute deinen VW vor dem Schlösschen sehen und folglich wissen, dass du hier bist, gehen sie höchstwahrscheinlich sowieso davon aus, dass wir nicht nur platonisch zusammen sind.«
»Möglicherweise ja, aber indem wir den Schein wahren, fühlen sie sich mit ihrer Lebensweise wertgeschätzt«, erwiderte Thea vernünftig. Sie mochte die Eichenborner und wollte sie nicht unnötig brüskieren. Für das Dorf war es ja ohnehin schon eine große Herausforderung gewesen, sie als Ärztin zu akzeptieren.
Nachdem sie sich angekleidet hatten, begleitete Georg Thea nach draußen zu ihrem Wagen. Die Nacht war klar und eisig kalt, und der Schnee knirschte bei jedem Schritt unter ihren Füßen. Vor der Wellblechgarage blieben sie stehen.
»Viel Spaß mit deinen Schwestern. Das Ergebnis eures Einkaufsbummels werde ich ja dann Anfang August sehen.« Georg lächelte sie an.
»Ach, ich bin so gespannt, ob ich ein schönes Brautkleid finde!« Thea war ganz aufgeregt.
»Du weißt doch, ich heirate dich auch, wenn du irgendeinen alten Fetzen trägst.«
»Ja, aber ich möchte keinen alten Fetzen.« Thea schlang die Arme um Georgs Hals. Sie umarmten sich, küssten sich noch einmal innig.
»Fahr vorsichtig nach Monschau, ja?« Georg berührte zärtlich ihre Wange.
»Pass du auch auf dich auf, wenn du später bei Schnee und Eis zu den Patienten unterwegs bist.«
»Bis in zwei Wochen.«
»Ja, bis dahin.«
Ein letzter Kuss, dann stieg Thea in den Wagen. Sie kurbelte das Fenster herunter, damit die Scheiben nicht beschlugen. Im Rückspiegel sah sie Georg ihr nachwinken. Ach, es wäre so schön gewesen, bei ihm bleiben zu können!
Auf der Hochebene hatte der Wind an manchen Stellen den Schnee wieder über die geräumte Straße geweht. Allein anhand der Stangen am Fahrbahnrand war ihr Verlauf noch zu erkennen. Im nächsten Winter würde Thea solche Wege wahrscheinlich oft zu ihren Patientinnen bewältigen müssen. Aber so war es nun einmal hier, am Rand des Hohen Venn, und um mit Georg in Eichenborn leben zu können, nahm sie das gern in Kauf. Thea fuhr langsam und konzentriert, und nach einer guten halben Stunde erreichte sie die Villa des Vaters in Monschau.
Jetzt, kurz vor zehn, schliefen ihre Nichte und der Neffe sicher schon. Deshalb benutzte Thea ihren Schlüssel und verzichtete darauf zu klingeln. »Vater, Marlene!«, rief sie leise in der geräumigen Diele.
Nach einigen Momenten öffnete sich die Tür des Wohnzimmers, und die ältere Schwester trat heraus.
»Marlene …« Thea wollte auf sie zueilen. Aber sie blieb erschrocken stehen. Die Schwester trug ein schwarzes Kleid und eine schwarze Strickjacke, und sie war totenbleich. Ganz offensichtlich war dies Trauerkleidung. Aber, wie war das möglich? Und warum hatte sie – Thea – nichts davon erfahren? Ihre Gedanken rasten. »Ist es … ist es Bernhard?«, flüsterte sie schließlich.
»Ja.« Marlene nickte.
O Gott … »Das tut mir so leid.« Thea umarmte die Schwester und hielt sie fest. Erst nach einer Weile führte sie Marlene ins Wohnzimmer und ließ sich neben ihr auf dem Sofa nieder.
»Seit wann weißt du denn, dass Bernhard nicht mehr am Leben ist?«, fragte sie sanft. Marlenes Ehemann war seit dem Ende des Krieges in Russland vermisst.
»Heute Morgen rief eine Frau vom Roten Kreuz an und hat es mir mitgeteilt. Bernhard … Er ist schon vor ungefähr drei Jahren in einem Gefangenenlager gestorben. Die Frau hat mir erklärt, wie es dazu kam, dass sie mich erst jetzt informieren konnten. Aber ich habe gar nicht richtig zugehört.«
»Ach, wie furchtbar …« Thea zog die Schwester wieder an sich. Drei Jahre lang hatte Marlene gehofft, dass Bernhard doch noch zu ihr und den Kindern heimkehren würde. Dabei waren diese Hoffnungen längst vergeblich gewesen. Thea hatte Bernhard Helmholz gemocht. Er war Rechtsanwalt gewesen und auf den ersten Blick ziemlich spröde und sehr korrekt. Aber während Marlenes Verlobungszeit und dann später, als sie die frisch verheiratete Schwester in Frankfurt besuchte, hatte sie ihn näher kennengelernt. Dabei hatte er sich als ein warmherziger, fürsorglicher Mensch entpuppt. »Warum hast du denn nicht bei Georg angerufen?«, erkundigte sie sich schließlich behutsam. »Ich wäre doch sofort zu dir gekommen.«
»Du und Georg habt euch jetzt vier Wochen lang nicht gesehen.« Die Schwester schüttelte den Kopf.
»Ach, Marlene …« Thea seufzte. Das war so typisch für die ältere Schwester – immer zuerst an andere zu denken.
»Und … ich hatte so viel zu tun. Ich musste meine Schwiegereltern anrufen und es ihnen berichten. Dann habe ich Liesel und Arthur aus der Schule geholt und ihnen gesagt, dass ihr Vater nicht mehr am Leben ist. Und ich musste Trauerkleidung für uns alle kaufen …« Marlenes Stimme wurde ganz brüchig.
»Kommen deine Schwiegereltern denn nach Monschau?«
»Nein, ich fahre morgen mit den Kindern zu ihnen. In Frankfurt war ja Bernhards Zuhause. Ich bleibe mit Liesel und Arthur ein paar Tage, sie haben schulfrei bekommen.«
»Soll ich mit euch fahren? Ich mache das gern.«
»Das ist lieb von dir.« Marlene drückte Theas Hand und schenkte ihr ein schwaches Lächeln. »Aber Vater wird uns hinbringen. Er und Bernhards Eltern kennen sich ja ganz gut; sie waren schon einige Male in Monschau, und vor dem Krieg hat er mich und Bernhard gelegentlich in Frankfurt besucht. Nein, du triffst dich morgen mit Katja in Düsseldorf, und dort geht ihr dein Brautkleid kaufen. So, wie es ausgemacht war.«
»Marlene, das meinst du doch wohl nicht im Ernst! Ich werde auf gar keinen Fall mein Hochzeitskleid kaufen, während du um deinen Mann trauerst!« Thea schwankte zwischen Zärtlichkeit und Sorge um die Schwester und Fassungslosigkeit über ihren Vorschlag.
»Ich habe schon mit Katja gesprochen. Sie ist auch der Meinung, dass ihr euch morgen treffen sollt.«
»Also …« Thea verkniff sich die Antwort, dass das auch nicht anders zu erwarten war. Katja liebte Marlene aufrichtig, davon war Thea fest überzeugt. Aber die jüngere Schwester war auch sehr egozentrisch und lebenshungrig, und mit Trauer und Kummer hatte sie nicht viel im Sinn.
»Wenn du morgen auf einen schönen Tag verzichtest, wird Bernhard davon auch nicht wieder lebendig. Und aus Pietät mir gegenüber musst du es nicht tun. Im Gegenteil, für mich wäre es ein Zeichen, dass das Leben weitergeht. Bernhard hätte das auch so gesehen.«
»Aber …« Thea wollte sich nicht umstimmen lassen.
»Du hast häufig an den Wochenenden Dienst, und Katja ist oft gerade an den Samstagen und Sonntagen als Fotografin unterwegs. Es war so schwer, einen gemeinsamen Termin zu finden. Bitte, lass ihn nicht einfach verstreichen.« Marlenes Stimme wurde ganz hoch und dünn.
Thea erkannte, dass es der Schwester wirklich wichtig war, dass sie und Katja das Brautkleid kaufen gingen. Anscheinend hatte Marlene es ernst damit gemeint, dass es für sie ein Zeichen war, dass das Leben voranging und nicht bei der Trauer stehenblieb.
»Wenn dir so viel daran liegt, belasse ich es dabei«, gab sie nach.
»Das ist gut.« Marlene entspannte sich. Die Finger ihrer linken Hand strichen über ihren Ehering. »Ich müsste Schmerz fühlen und todtraurig sein«, flüsterte sie mit gesenktem Kopf. »Aber irgendwie fühle ich gar nichts. Da ist nur eine große Leere. Wie ging dir das denn, nachdem du von Hans’ Tod erfahren hast? Hast du auch erst einmal gar nichts gefühlt?«
Ach, Hans … Thea empfand tiefe Wehmut. Sie war schon einmal verheiratet gewesen, und gegen Ende des Krieges war Hans in Italien gefallen. Noch nicht einmal dreißig Jahre alt war er geworden, und sein großes Talent als Maler war unvollendet geblieben. Sie hatte ihn sehr geliebt und wegen ihm damals mit dem Vater gebrochen, der Hans’ Herkunft aus einer Arbeiterfamilie nicht akzeptiert hatte. Lange hatte Thea geglaubt, nie mehr so viel für einen Mann empfinden zu können – bis sie sich schließlich in Georg verliebte. »Der Schmerz war sofort da, so schlimm, dass ich dachte, ich überlebe das nicht. Das ist das Einzige, woran ich mich aus den Tagen nach der Todesnachricht richtig erinnere. Aber Bernhard wurde ja so lange vermisst, und du musstest immer damit rechnen, dass er tot ist. Außerdem trauert wahrscheinlich jeder Mensch anders«, sagte sie leise. Eine Weile schwiegen sie, während Thea die Schwester weiter im Arm hielt. »Wie haben es denn Liesel und Arthur aufgenommen, dass ihr Vater nicht mehr am Leben ist?«, fragte sie dann.
»Sie sind verstört und niedergeschlagen. Aber Arthur war ja noch ein Säugling, als Bernhard zum letzten Mal Heimaturlaub hatte, und Liesel war auch noch sehr klein. Sie hat nicht mehr viele Erinnerungen an ihn. Ich denke, die beiden werden das ganz gut verkraften.«
»Ja, wahrscheinlich.« Dennoch war es traurig, dass die Kinder ihren Vater nie richtig hatten kennenlernen können. »Ich stehe morgen auf jeden Fall so früh auf, dass ich die beiden vor eurer Abfahrt noch sehe.«
»Das wird sie bestimmt sehr freuen.« Marlene nickte.
Die Haustür klappte zu. Gleich darauf erklangen Schritte in der Diele, und der Vater, Professor Wilhelm Kampen, trat ins Wohnzimmer. Er war ein großer, weißhaariger Mann mit einem scharf geschnittenen, Respekt einflößenden Gesicht. Selbst in seinem Zuhause umwehte ihn die Aura des langjährigen, erfolgreichen Chefarztes. Doch wie immer in der letzten Zeit bemerkte Thea, dass auch an ihm der Krieg und der Verlust seiner Heimatstadt Dresden nicht spurlos vorbeigegangen waren. Inzwischen sah man ihm an, dass er über siebzig Jahre alt war.
»Vater, wie schön, dich zu sehen.« Sie stand auf und reichte ihm die Hand, und er drückte sie fest. »Ich freue mich auch.« Dann wandte er sich Marlene zu und strich ihr über den Rücken. »Liebes, willst du nicht zu Bett gehen? Der Tag morgen wird sicher anstrengend.« Die zärtliche Geste und das Kosewort waren sehr ungewöhnlich für ihn und zeigten, dass er mit seiner ältesten Tochter litt.
Marlene erhob sich. »Ja, ich bin wirklich müde.« Thea umarmte die Schwester wieder. »Hoffentlich kannst du einigermaßen gut schlafen.« Sie sah Marlene besorgt nach, als diese das Wohnzimmer verließ, und setzte sich dann zu ihrem Vater.
»Tja, nun ist es also klar, dass Bernhard den Krieg nicht überlebt hat. Wahrscheinlich ist es – auf längere Sicht – eine Erleichterung für Marlene, dass sie endlich Gewissheit hat.« Der Vater seufzte. »Aber so schade um Bernhard, er war ein vorbildlicher Ehemann und Vater. Ich kann mich noch gut an die Hochzeit in der Dresdener Frauenkirche im September ’37 erinnern. Marlene war so jung und glücklich! Wer hätte damals gedacht, dass das alles einmal so enden würde? Die schrecklichen Verbrechen der Nationalsozialisten und der Krieg …«
Nun, viel hatte darauf auch 1937 schon hingedeutet. Die jüdische Bevölkerung war ausgegrenzt, verleumdet und verfolgt worden, und in den Reden der Nationalsozialisten war oft genug Rache für die »Schmach von Versailles« gefordert worden. Aber Thea stand an diesem Abend nicht der Sinn danach, mit dem Vater über Politik zu diskutieren. »Ja, ich glaube, Marlene ist, bei all der Trauer, auch froh, Bernhard nun in gewisser Weise begraben zu können. Sie ist erst Mitte dreißig, und es liegt noch so viel Leben vor ihr. Vielleicht verliebt sie sich ja noch einmal.«
»Oh, denkst du?« Der Vater wirkte von der Vorstellung etwas schockiert.
»Ich habe mich auch wieder verliebt.«
»Nun, du hast keine Kinder und wegen Hans’ Dienst als Soldat auch kaum ein Leben als Ehefrau geführt.« Er räusperte sich. »Wie geht es übrigens Georg Berger?« Seine Stimme klang etwas zu beiläufig. Aber Thea nahm es ihm nicht übel. Sie war einfach froh, dass er Interesse zeigte. Lange hatte der Vater es Thea ja nicht verziehen, dass sie Hans, der in seinen Augen nur ein Mitgiftjäger gewesen war, gegen seinen erklärten Willen geheiratet hatte. Und ihr Zerwürfnis war noch schlimmer geworden, als Thea im vergangenen Frühjahr die Stelle in Georgs Praxis antrat. Der Vater war es gewohnt, dass alle Mediziner – sofern sie nicht auch Chefärzte waren und einen Professorentitel trugen – ehrfürchtig zu ihm aufblickten. Von »einfachen« Landärzten erwartete er dies ganz besonders. Doch Georg verachtete Hierarchien, er war in seinen Ansichten und Behandlungsmethoden unkonventionell, und er dachte nicht daran, einen Professor als unfehlbare medizinische Kapazität zu akzeptieren. An Theas erstem Arbeitstag, als sie ein krankes Kind in das Monschauer Krankenhaus gebracht hatten, hatte der Vater sogar angedroht, Georg aus dem Gebäude werfen zu lassen.
Er hatte auch überhaupt kein Verständnis dafür gezeigt, dass seine Tochter ihren Chefarzt am Hamburger Universitätsklinikum wegen eines ärztlichen Kunstfehlers angezeigt hatte, und ihr dies als puren Hochmut ausgelegt. Doch dann hatte jener Chefarzt noch einen, zum Glück nur beinahe tödlich verlaufenen Fehler begangen. Die Klinikleitung konnte davor nicht länger die Augen verschließen und hatte schließlich den Vater darüber informiert, dass Thea rehabilitiert war. Als er nach der Explosion eines Blindgängers um ihr Leben fürchten musste, hatte dies seine letzten Schranken eingerissen. Völlig aufgewühlt konnte er ihr endlich gestehen, dass er sie trotz ihres Streits immer geliebt hatte. Das Zerwürfnis hatte all die Jahre auf Thea gelastet, und nur zu gern war sie bereit gewesen, sich mit ihm zu versöhnen. Der Vater hatte auch eingesehen, dass er Hans völlig falsch beurteilt hatte, und er war wirklich bestrebt, seinen Fehler wieder auszumerzen und Georg als zukünftigen Schwiegersohn wohlwollend zu akzeptieren. Aber dass Georg, wie der Vater inzwischen wusste, eigentlich Chirurg war und sich in einer dunklen Zeit seines Lebens in die Eifel zurückgezogen hatte, machte ihr Verhältnis nicht unkomplizierter. Denn einerseits stieg Georg dadurch beträchtlich in seiner beruflichen Achtung, andererseits verstand der Vater gar nicht, warum er diese Karriere aufgegeben hatte. Thea wusste es jedoch zu schätzen, dass der Vater sich aufrichtig bemühte.
»Thea …?«, hörte sie ihn jetzt fragen.
Sie war völlig in Gedanken versunken gewesen. »Ich hab dich sehr lieb, Vater«, sagte sie impulsiv.
»Oh, tatsächlich? Nun, das ist schön.« Der Vater räusperte sich verlegen. »Und, noch mal, wie geht es Georg?«
»Georg hat viel Arbeit wie immer, und bei diesen Wetterverhältnissen ist es kein Vergnügen, sich zu einsam gelegenen Höfen durchzukämpfen. Aber sein Mitarbeiter entlastet ihn schon, und ja, es geht ihm wirklich gut.«
»Das freut mich zu hören. Es bleibt also bei eurem Hochzeitstermin Anfang August?«
»Ja, wir werden standesamtlich im Rathaus von Eichenborn heiraten. Eine kirchliche Trauung wird es nicht geben. Ich bin ja protestantisch, und Georg ist, zumindest auf dem Papier, katholisch, was alles sehr schwierig machen würde. Ganz abgesehen davon, dass Georg sowieso nicht gläubig ist.« Darüber würde es im Dorf ganz sicher Gerede geben, aber das mussten die Eichenborner akzeptieren.
»Oh, keine kirchliche Hochzeit also.« Der Vater war ein überzeugter Protestant und besuchte nach Möglichkeit jeden Sonntag den Gottesdienst. »Und wo werdet ihr feiern?«
»Im Schlösschen, dort ist ja ausreichend Platz, und es gibt den großen Garten.«
»Nun, das Anwesen ist durchaus …«, der Vater suchte nach Worten, »… pittoresk.« Thea und Georg hatten ihn, die Schwestern und Liesel und Arthur einmal im Sommer zu einem Abendessen dorthin eingeladen. »Falls ihr Hilfe für den Garten benötigen solltet, kann ich euch jemanden empfehlen.«
»Danke für das Angebot, Vater, ich werde es mit Georg besprechen.« Thea liebte das Schlösschen, obwohl es dringend hätte renoviert werden müssen, und auch den verwilderten Garten. Für sie besaß beides einen ganz eigenen Charme. Aber der Vater war nun einmal sehr auf Ordnung bedacht.
»Du wolltest dir doch morgen in Düsseldorf zusammen mit deinen Schwestern ein Brautkleid aussuchen?«
»Marlene hat darauf bestanden, dass ich fahre und mich mit Katja danach umsehe.« Thea nickte.
»Such dir aus, was dir wirklich gefällt. Egal, wie teuer es ist, ich bezahle dafür.«
»Aber Vater …«
»Keine Diskussion, ich möchte das wirklich.« Sein Tonfall war barsch, wie oft, wenn er seine Gefühle verbergen wollte. Thea verstand, dass er versuchte, ihr und Georg gegenüber wiedergutzumachen, was er bei Hans versäumt hatte. Sie war berührt.
»Danke, Vater.« Sie beugte sich vor und küsste ihn auf die Wange.
»Schon gut …« Er wehrte sie fast ärgerlich ab, aber für einen Moment wurde seine Miene ganz weich. »Und, wie waren die vergangenen Wochen in Marburg?«, fragte er dann knapp.
Der Vater hatte ihren Berufswunsch, Ärztin zu werden, immer unterstützt und vor ihrem Zerwürfnis gehofft, dass sie einmal seine Privatklinik in Dresden weiterführen würde. Wegen des Krieges und weil er in der sowjetischen Besatzungszone keine Zukunft mehr für sich gesehen hatte und nach Monschau gezogen war und hier die Stelle als Chefarzt am Krankenhaus angetreten hatte, war dann ohnehin alles anders gekommen. Aber er war wieder stolz, dass sie als Ärztin ihren Weg machte. Das hatte er Thea in den letzten Monaten oft gezeigt.
Sie erzählte ihm von ihrer Arbeit im Universitätskrankenhaus. Sachlicher, als Georg gegenüber, und mit Anekdoten über die vorgesetzten Ärzte hielt sie sich auch lieber zurück. Aber es war schön, dies mit dem Vater teilen zu können. Es war schon nach zwölf, als Thea ihm schließlich »Gute Nacht« wünschte und zu Bett ging.
In dem Gästezimmer im oberen Stockwerk der Villa zog sie sich rasch aus und schlüpfte in ihren Schlafanzug. Nachdem sie ihr Gesicht gewaschen und eingecremt hatte, blieb sie vor der Frisierkommode sitzen und berührte versonnen ihren Verlobungsring. Er war ungewöhnlich, wie auch Georg. Aus einem Klümpchen Eifelgold gefertigt, das ihm einmal ein langjähriger Patient geschenkt hatte, und mit einem Granat besetzt statt mit einem Diamant. Das dunkle Rot des Edelsteins passte wunderschön zum warmen Schimmer des Goldes.
Theas Gedanken wanderten weiter, zum Gespräch mit ihrem Vater und dazu, wie Georg und sie ihre Hochzeit geplant hatten. Im vergangenen Sommer hatten sie kurz überlegt, im ganz kleinen Kreis standesamtlich zu heiraten und das große Fest dann nachzuholen, wenn sie – Thea – ihre Assistenzzeit in Marburg beendet und ihre Prüfung zur Fachärztin abgelegt haben würde. Aber sie hatte sich dagegen entschieden.
Wie bei so vielen Paaren während des Krieges war ihre Hochzeit mit Hans eine Nottrauung gewesen, mit zwei zufälligen Passanten von der Straße als Trauzeugen und einzigen Gästen. Katja war damals noch ein Kind gewesen und hatte ohne den Vater nicht von Dresden nach Hamburg reisen können. Und für die hochschwangere Marlene wäre die Fahrt viel zu beschwerlich gewesen.
Bei der Trauung zählte nur Hans für Thea, und in ihrer Erinnerung war die kurze Zeremonie kostbar und schön. Aber jetzt, mit Georg, wollte sie das anders – mit vielen Gästen, die dem Ja-Wort beiwohnten und es gleich darauf mit ihnen feierten. Georg hatte sie verstanden und nicht versucht, sie umzustimmen. Aber es gab noch einen weiteren, tieferen Grund, weshalb sie sich ein großes Fest wünschte. Er war ihr ein bisschen peinlich, und sie hatte ihn Georg nicht offenbart. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie er sie ansehen würde, amüsiert und gleichzeitig bemüht, ihre Gefühle nicht zu verletzen.
Hans war viel zu früh gestorben, und irgendwie hatte sie die – zugegeben völlig irrationale und abergläubische – Angst, dass eine improvisierte Hochzeitsfeier auch Georg und ihr Unglück bringen würde.
Ob er noch wach war, im Wohnzimmer saß, Musik hörte und an sie dachte? Aber vielleicht schaufelte er sich auch gerade den Weg zu einem abgelegenen Hof frei, wo ein Patient auf ihn wartete. Morgen würde sie mit ihm telefonieren und ihm von Bernhards Tod erzählen.
Mit der Sehnsucht, in Georgs Armen zu liegen, kuschelte Thea sich ins Bett.