Titel
Impressum
Widmung
Vorwort
Als die Flut kam,
Was kommt nach der Flut?
Leben nach und mit der Flut
Aus erster Hand! Erfahrungsberichte aus der Flutnacht und was danach geschah!
Vergessene Nachbarorte
Es gab kein Zurück mehr
Neuanfang, aber wie?
Vorweihnachtszeit/Advent, Advent …
Steine der Hoffnung
Über die Autorin
Mehr von Dorothe Reichling bei DeBehr
Dorothe Reichling
Nach der Flut
kam die Wut
Opfer des Hochwassers
vom Ahrtal
Autobiografischer Roman
einer Katastrophe
DeBehr
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
©2022 Dorothe Reichling,
Autorin Herstellung und Verlag: DeBehr
Umschlaggestaltung: Verlag DeBehr
Umschlaggrafik Copyright by AdobeStock by: ©SanGero
Satz und Layout: Verlag DeBehr
ISBN: 9783957539496
Widmung
Für die Opfer der Flut
und für die Hinterbliebenen,
eine Augendokumentation.
Vorwort
Es war die Nacht, die uns/mir alles nahm. Eine Nacht der Zerstörung. Der nahende Untergang von Hoffnung und Zuversicht. Der sinnlose Verlust von so vielem Leben. Es war die Nacht der Flutkatastrophe, die ohne Erbarmen über uns hereinbrach. Sich schonungslos und zerstörerisch durch das Ahrtal fraß, wie eine Meute hungriger Hyänen. Bösartig und mit nur einem Ziel: Alles zu vernichten, was sich in dieser Nacht den Wassermassen in den Weg stellte. Eine Nacht, die man niemals vergessen wird. Auch ich nicht.
Ich war nur eine von vielen, die mittendrin saß. Das ist meine Geschichte und die meiner Heimat, die ich von einem auf den anderen Tag verloren habe und nach drei Tagen verlassen musste. Mein Leben ist seitdem nicht mehr das, was es einmal war. Und mein Zuhause ist unwiderbringlich zerstört. Die Welt zeigt mir/uns allen die Aschkarte, den erhobenen Stinkefinger.
Corona wütet seit mehr als zwei Jahren durch die ganze Welt. Jetzt die Flut. Was kommt als Nächstes und können wir/ich es noch ertragen?
Es war die Nacht, die alles veränderte. Nicht nur für mich. Für viele tausende andere Menschen auch. Die Nacht vom 14.7.2021 auf den 15.7.2021, die uns wie eine Lawine überrollte. Fakten, Tatsachen, Statistiken. Sind wir gewarnt worden oder nicht. Das wurde nach der Flut, die jetzt knapp sechs Monate hinter uns liegt, zur Genüge diskutiert und mundtot geredet. Aber was ist passiert seitdem? Haben wir Grund zur Hoffnung? Können wir endlich wieder aufatmen? Bekommen wir unser Leben ein Stück weit zurück.
NEIN!
Ich selbst habe in dieser tragischen Nacht die Katastrophe so gut wie verschlafen. GOTT SEI ES GEDANKT! Ich habe gestern noch überlegt, die Schuld der Zuweisung an unsere Behörden steht immer noch im Raum. Man hätte uns warnen müssen. Was wäre passiert, hätte man uns gewarnt. Wenn die Sirenen ertönt wären. Wenn der Notstand ausgerufen worden wäre. Ich mag mich täuschen, aber noch weniger mag ich darüber nachdenken, was hätte noch passieren können. Sind wir doch mal ehrlich. Der Mensch handelt meistens in solchen Fällen sehr irrational statt mit Verstand und Logik. Jeder wäre sofort in Panik verfallen. Hätte seine Sachen gepackt und mit Sack und Pack flüchten wollen mit dem Auto zur Oma, die alleine ist. Die Mutter, die alleine nicht laufen kann. Seid ehrlich. Wäre nicht vielleicht viel, viel mehr passiert. Eine Panik wäre ausgebrochen und tausende von Autos auf den Straßen, geradewegs hinein in die Flut gefahren. Vielleicht wären dann noch mehr Opfer zu beklagen gewesen. Aber das ist nur meine ganz persönliche Meinung.
Als die Flut kam,
habe ich nichts davon mitbekommen. Ich war sicher im dritten Stock meiner Wohnung, rechnet man das Parterre, das Erdgeschoss und den Keller mit. Ich war in absoluter Sicherheit vor den Massen der Flut. Ich lag warm und wohl behütet in meinem Bett. So wie in jeder Nacht. Ich erinnere mich nicht einmal mehr daran, dass es Unwetterwarnungen gegeben haben soll. Bereits ein, zwei Tage zuvor sollen wir informiert worden sein, laut den Medien. Ich kann da nicht mitreden. Auch das muss ich verpennt haben. Wer rechnet auch schon damit, dass in nicht einmal vierundzwanzig Stunden in deinem Leben nichts mehr so sein wird, wie des zuvor war. Der Mensch ist naiv, weil er denkt, das Leben kann immer so unbeschwert weitergehen. Wenn es jemanden trifft, dann nicht uns. Arme Länder, Drittländer und unkultivierte Länder. Aber wir in Bad Neuenahr hatten doch immer Glück mit dem Wetter. Wir sind doch immer bisher an allem glimpflich vorbeigezogen. IMMER! Aber in dieser Nacht sollte alles anders kommen.
Es war zwei Uhr in der Nacht, als mein Mann mich aus einem tiefen, traumlosen Schlaf weckte. Wir hatten uns erst vor knapp zwei Jahren räumlich getrennt. Der Grund, unsere Gesundheit. Wir hatten beide zu unterschiedlichen Zeiten, unterschiedlich starke, aber ausgeprägte Herzinfarkte erlitten. Unser Zusammenleben wurde zusehends schwieriger. So einigten wir uns darauf, dass jeder eine eigene kleine Wohnung für sich suchte. Und wir hatten echtes Glück und fanden nicht einmal fünf Minuten Fußweg voneinander entfernt jeweils eine Wohnung. So konnte jeder mit seinem neuen Lebensrhythmus sich neu orientieren. Es funktionierte einwandfrei. Jeder gewann ein Stück weit neue Lebensqualität. Man konnte sogar wieder unbedarfter miteinander umgehen und teilte viel mehr Zeit auch intensiver miteinander. War das schon zu viel des Guten. Ging es uns/mir einfach viel zu gut. Musste das Schicksal wirklich mit dem Vorschlaghammer so massiv zuschlagen? Waren wir durch Corona nicht schon gebeutelt genug. Wir sind doch nicht die Generation Eltern und Großeltern, die so was schaffen. Wir sind die Generation Burnout und die Generation Gender-Frage. Wir sind Kriegsschauplätze nicht gewohnt. Und doch mussten wir, musste ich lernen, damit von einem auf den anderen Tag damit zu leben und umzugehen. So unterschiedlich die Zerstörung durch die Flut in den verschiedenen Regionen auch war, so unterschiedlich gehen wir als Einzelperson auch mit dieser Katastrophe um. Ich hatte so was von Glück und dennoch scheint mir immer noch mein Leben so gut wie vorbei. Und mitunter habe ich Tage, wo ich denke, alles ist so sinnlos geworden. Warum stehe ich überhaupt morgens noch auf. Ich habe versucht, mir bewusst diese Frage nicht zu stellen. Denn wenn ich das getan hätte, hätte ich durchgedreht. So habe ich einfach nur funktioniert. Das war für mich lange Zeit der einzige Zustand, der noch zu ertragen war.
Es scheint ganz unwillkürlich ein weitverbreitetes Phänomen zu sein. Es ist ganz gleich, welchen Menschen man auf der Straße trifft und fragt, jeder weiß genau, wo er am 11.9.2001 war. Die Anschläge auf das World Trade Center. Das nie zu vergessende Einstürzen der Twin Towers. Jeder Mensch hat dazu seine ganz eigene Geschichte. So wie heute die Menschen von der Ahr ihre Geschichte zur Flutkatastrophe von 14.7.2021 auf die Nacht zum 15.7 2021 haben werden.
Auch ich weiß genau, wo ich am 11.9.2001 war. Damals an dem Tag, der die Welt für immer verändern sollte. Der über Monate die Menschen in Schockstarre verharren ließ. Ich war in Bad Neuenahr spazieren. Ich bin, wie so oft, auch an diesem Tag einfach nur raus, um meine Umgebung zu genießen. Wer Bad Neuenahr kennt, der weiß, wenn man irgendwo spazieren gehen kann, dann hier. Aber irgendetwas lag an diesem Morgen in der Luft. Irgendetwas war damals anders als sonst. Die Leute waren hektischer an diesem Tag. Die Stadt wirkte unruhiger auf mich als sonst. Anfangs habe ich mich nicht beirren lassen. Habe wie gewohnt meine Runde gedreht. Wie immer habe ich mir die Schaufenster der kleinen Geschäfte angeschaut. Bin hier und da auch mal reingegangen. Ich hatte meine Rituale, meine Routine. Ich bin wie so oft zielstrebig zu Moses gelaufen. Ein großes Einkaufscenter mit mehreren Etagen. Hier findet man alles, was man (Frau) braucht und sich wünscht.
Irgendwie hatte mich die Unruhe der Straße eingeholt. Ich blieb nicht lange in Moses. Schnell machte auch ich mich auf den Weg zurück nach Hause. Fast schon fluchtartig an Douglas vorbei. Noch ein Blick auf meine Lieblingsboutique. Dann noch ein wenig frisches Obst vom regionalen Obsthändler mitgenommen und schon war ich fast schon Richtung Home Sweet Home. Inzwischen war ich auf der Höhe der Adler-Apotheke – meiner Hausapotheke, als ich plötzlich von fast leergefegten Straßen umgeben war. Die wenigen Menschen, die noch unterwegs waren, eilten mit schnellen Schritten an mir vorbei. Ich spürte, dass irgendetwas nicht stimmte. Auch ich begann plötzlich schneller als gewohnt durch die herrliche Allee an der Ahr entlang zu laufen. Ich wollte nur noch nach Hause. Ich weiß nicht warum, aber ich schaltete fast schon aus einem inneren Zwang heraus den Fernseher an. Ich glaube, keiner konnte damals begreifen, was über Tage und Wochen gezeigt und berichtet wurde. Die Wirklichkeit war einfach zu grausam und hat uns ohne Vorwarnung mitten ins Herz getroffen. Man braucht nur den 11.9. zu erwähnen, schon sieht man wieder wie die Flugzeuge in die Türme rasen. Man sieht fast schon solidarisch die Hand vor den Augen nicht mehr. Ist sofort wieder in dem Geschehen drin. Sieht nur noch die Rauchwolke der kollabierenden Wolkenkratzer. Starrt wie hypnotisiert auf Menschen, die in die Tiefe fallen und sich selbst aus purer Verzweiflung herunterstürzen. Tag und Nacht sieht man eine Endlosschleife der Realität im Fernsehen und kann es dennoch nicht begreifen und kaum ertragen. Ein toxischer Schock. Damals wie heute.
Die Flut war ähnlich toxisch. Als mein Mann mich damals weckte, vermutete ich bereits Schlimmes. Er würde niemals ohne Grund um diese Uhrzeit anrufen. Es war klar, dass irgendetwas Furchtbares passiert sein musste. Bitte nur keinen erneuten Herzinfarkt oder dass er schwer gestürzt ist und sich so schwer verletzt hat, dass er Hilfe braucht. Ich hatte panische Angst, nachzufragen. Mit allem hatte ich gerechnet, aber nicht mit dem, was mich dann unverhofft und so massiv traf. Es war und ist immer noch mit Worten kaum zu beschreiben. Seine Stimme war ungewöhnlich hektisch, fast brüchig und stockend. Sein Atem ging schneller und ich konnte ihn nur schwer verstehen. Schlaftrunken, wie ich immer noch war, und auch leicht wütend, dass er mich um diese Uhrzeit störte, war ich deutlich ungehalten. Ich fragte ihn genervt, was er um diese Uhrzeit von mir wollte. Ob er nicht mal auf die Uhr gesehen hatte. Er redete und er atmete. Er schrie nicht vor Schmerzen, also ging es ihm wohl gut. Er musste schon ein gutes Argument vorbringen, um diese nächtliche Störung zu rechtfertigen.
„Geh schnell mal raus auf den Balkon“, sagte er immer wieder. Mein Hund, eine kleine Langhaar Chihuahua Hündin, war inzwischen auch wach. Ich war dermaßen angefressen. Wenn ich jetzt noch mit dem Tier raus musste, nur weil mein Mann nicht schlafen konnte und mir eventuell den Sternenhimmel zeigen wollte, würde ich auf der Stelle durchdrehen und auflegen.
Ich zog die Rollladen hoch und öffnete die Balkontür. Man muss wissen, dass ich zur Balkonseite so gut wie kein Licht habe. Nur viel Wiese und ein Waldhangstück mit Blick auf das Gebäude des Gymnasiums. Auch wenn ich kaum was sah, so roch ich doch etwas. Ein penetranter Geruch und ein Rauschen, das ich anfangs nicht zuordnen konnte, woher es überhaupt kam. „Ich bin auf dem Balkon, mir ist kalt, was soll ich jetzt tun, außer dumm rumzustehen.“ Ich hatte ja keine Ahnung, was sich nur wenige Meter unter mir zutrug.
„Siehst du das denn nicht?“
„Was soll ich denn sehen. Du weißt doch, dass hier alles meist stockdunkel ist. Aber jetzt wo du es sagst. Scheiße! Stromausfall. Anscheinend in ganz Bad Neuenahr.“
„Um Himmels willen, das meine ich nicht. Alles ist überschwemmt. Es ist eine Katastrophe“, rief er immer wieder.
„Wir haben schon seit gestern keinen Strom mehr.“ Mein Mann war deutlich wütend.
„Ich hatte zwischendurch wieder Strom. Wenn der aber jetzt ganz weg ist, kann ich alles. was ich eingekauft habe, wegschmeißen.“
„Da müsstest du erst mal eine Mülltonne haben. Die sind auch alle weggeschwommen.“
Ich bin auf meinem Balkon und unter mir ist ein reißender Fluss. Die Straßen sind weg, nichts mehr zu sehen von Wegen, und die ganze untere Etage ist nicht mehr da. Ich kann nur hoffen, dass die Leute nicht mehr in den Wohnungen sind. Unser Auto ist übrigens auch abgesoffen. Hier treiben so viele Autos vor der Türe umher und Möbel und ist das eine Wand von einem Haus? Das ist unglaublich.“
Ich legte das Handy beiseite und holte eine Taschenlampe. Das Teil war aber alt und die Batterie war kurz vor dem Kollaps. Ich sah nicht viel, als ich mit dem Teil wieder auf den Balkon ging. Nur so viel, dass ich wusste, das war nicht mehr nur normaler Regen. Auch kein Starkregen. Das war schon eher das Ausmaß einer Sintflut.
Keine Ahnung! Wirklich keine Ahnung, was in dieser Nacht und überhaupt danach geschah. Wir müssen das Gespräch irgendwann beendet haben. Ich bin wohl auch erst mal wieder ins Bett. Und erst am nächsten Morgen, als es langsam hell wurde, sah ich das, was mein Mann versucht hatte, mir in der vergangenen Nacht zu erklären. Ich stand auf meinem Balkon und war sprachlos, fassungslos und absolut überfordert. Unter mir war alles flächendeckend unter einer braunen vor sich hin dümpelnden Schlammlawine und meterhohem Wasser begraben. Die Wiese, auf der Lilly so gerne spielte, war nicht mehr zu sehen. Die Wege verschlungen und das Sportfeld des Gymnasiums stand metertief unter Wasser. Autos schwammen umher und Mülltonnen schwammen mit Treibgut umher. Und dann war er wieder da, dieser Geruch und jetzt konnte ich ihn auch zuordnen. Es roch nach Benzin, Abgasen und Erdöl. Der Boden muss damit getränkt und kontaminiert sein, als die ganzen Autos ineinander krachten und somit Restbenzin austrat. Ich brauchte Kaffee. Am besten gleich literweise. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Es gab ja keinen Strom. Sofort ging ich in die Küche. Aus dem Kühlschrank tropfte es inzwischen. Es hatte immer mal wieder Stromausfall gegeben und auch das Internet fiel hin und wieder mal aus. Mal für ein paar Stunden. Aber auch schon mal für einen ganzen Tag. Das war ärgerlich, zumal mein Laptop mein Arbeitsplatz war und ich in täglich benötigte. Als Autorin war ich ohne mein Gerät so gut wie arbeitslos und somit aufgeschmissen. Ich versuchte, mich ein wenig zu beruhigen. Ging ins Bad. „Scheiße!“ Kein Licht, kein Wasser zum Waschen, nichts da, um die Toilette zu spülen. Meine Laune sank sekündlich gegen Null. Ohne Kaffee war ich nur ein halber Mensch. Ich zog mich erst einmal an. Dann musste ich dringend mit dem Hund raus.
Was mich dann erwartete, damit hatte ich nicht in meinen wildesten Träumen gerechnet. Für mich war es erst mal nur ein viel zu heftiges Unwetter gewesen mit Starkregen, der die Stromleitungen gekappt hatte und uns erst mal sehr alt hat aussehen lassen. Aber kaum, dass ich den Flur betreten hatte, ahnte ich erneut nichts Gutes.
Wir lebten mittlerweile im zweiten Pandemiejahr. Corona hatte uns mit all seinen Mutationen immer noch fest im Griff. Ich war geimpft, die zweite Impfung brauchte ich nicht, da ich damals noch mit J&J geimpft wurde. Aber mein Mann brauchte demnächst seine zweite Impfung.
Wir waren schon viel zu lange in Isolation. Die Decke fiel einem schon manchmal auf den Kopf. Es fehlten Kontakte und es fehlte an Normalität. Es fehlte an so vielem, was wir einst für normal und selbstverständlich hielten. Eine weitere Katastrophe konnte wirklich keiner von uns gebrauchen. Aber wer fragt schon nach uns. Ich hatte Lilly auf dem Arm, den Mundschutz auf und tastete mich langsam den Flur entlang. Der Aufzug ging ja nicht. So laut und unruhig hatte ich das Haus, in dem ich lebte, noch nie erlebt. Einige bekannte Gesichter huschten an mir vorbei. Kaum und wenn überhaupt nur ein flüchtiges „Guten Morgen“ ertönte mal hier und mal da. Ich musste nicht fragen, was passiert war. Jetzt konnte auch ich nicht länger leugnen, dass nicht nur Regen und ein vorübergehender Stromausfall das Problem waren. Draußen stand der Vorplatz, der sonst aus großflächiger Wiese bestand und mit XXL-Blumenkübeln bestückt war, vollständig unter Wasser. Der Parkplatz unmittelbar davor glich einem Autofriedhof. Autos, die dort noch letzte Nacht sicher abgestellt worden waren, türmten sich jetzt ineinander zu einem einzigen Haufen Schrott. Glas barst immer noch aus den Autoleichen. Überall lag der Müll herum. Autos, Möbel, ganze Bäume flossen durch die Straßen.
Hinter dem Haus sah es nicht viel besser aus, aber ich konnte Lilly für einen ganz kurzen Moment ihr Geschäft erledigen lassen. Dann ging ich zurück in die Wohnung. Ich war schockiert über das, was in der letzten Nacht passiert war. Ich stand inmitten eines Kriegsschauplatzes. Anders konnte man den Anblick nicht beschreiben. Ich war erschrocken über die Tatsache, dass ich so tief geschlafen hatte. Während ich schlief, kämpften Menschen um ihr Leben. Ich erfuhr auch später, dass einige Menschen es nicht geschafft hatten. Einige ertranken bei dem Versuch, ihr Auto zu retten, in den Tiefgaragen und andere ertranken in ihren eigenen Wohnungen. Sie hatten kaum eine Chance, als das Wasser kam. Man sagte sogar, dass Menschen in ihrem Bett gestorben sind und es kaum wahrgenommen haben, als das Wasser sie erschlug und sie mit sich wegriss. Mir wurde richtig schlecht bei dem Gedanken, dass mich nur die Etagenwohnung im dritten Stock vor dem Schlimmsten gerettet hatte. So makaber es auch klingen mag. Ich muss geschlafen haben wie ein Toter. Das Ineinanderschieben der Autos, das Zerbersten von Fenster und Türen, das musste man doch hören. Menschen müssen doch geschrien und entsetzlich geweint haben. Um ihr Leben gebangt haben und wer weiß, vielleicht hat jemand an meiner Türe geklopft, während ich friedlich geschlafen habe. Mir drehte sich der Magen um, wenn ich nur daran dachte. Statt Kaffee gab es Saft. Keine Ersatzdroge und auch der erst kürzliche Verzicht auf Zigaretten kam heute deutlich zum Vorschein. Ich hätte alles gegeben, um jetzt eine Zigarette zu rauchen und noch eine. Aber schlimmer als wegen dem Herzinfarkt nicht zu rauchen, war die einfache und simple Sachlage, dass ich mir das Rauchen nicht mehr finanzieren konnte. Rauchen, wenn auch ungesund, war für mich zum unerschwinglichen Luxus geworden.
Lange hielt es auf dem Balkon nicht aus. Der Gestank war unerträglich und schlug sich sofort auf die Atemwege. Bei Tageslicht betrachtet, sah es wirklich unwirklich aus. Als hätte tatsächlich eine oder gar mehrere Bomben das alles verursacht und in Schutt und Asche gelegt und nicht das Wasser. Ich kann das nicht in meinem Hirn verarbeiten, dass Wasser so etwas Furchtbares anrichten kann. Dass so etwas hier im wohlbehüteten Bad Neuenahr passieren konnte, schon zweimal nicht. Immer noch hoffe ich, dass ich aufwachte und feststellte, dass alles war nur ein böser, böser Traum.