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Danksagung
Über die Autorin Johanna Ancke
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Johanna Ancke
Das Geheimnis
des alten Puppenhauses
Biografischer Tatsachenroman
DeBehr
Copyright by: Johanna Ancke
Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg
Erstauflage: 2022
ISBN: 9783957539489
Umschlaggrafik Copyright by AdobeStock Obsidian Fantasy
Der vorliegende Roman entstand nach einer wahren Erzählung.
Die Namen der Personen wurden zur Wahrung ihrer Privatsphäre auf Wunsch des Erzählers geändert, dies betrifft ebenso die Orte der Handlung. Etwaige Übereinstimmungen sind zufälliger Art und unbeabsichtigt.
1. Kapitel
„Frau Brackmann! Frau Brackmann! Ich weiß, dass Sie zu Hause sind! Nun melden Sie sich doch endlich.“
Frau Bottesi, ihre Nachbarin, stand auf der Terrasse von Henriettes Reihenhaus-Eckstück.
Sie hielt zum Schutz vor der Sonne die Hand über die Augen und versuchte, in Henriettes Wohnung zu blicken. Neben ihr stand Püppi, diese niedliche, schneeweiße kleine Wollkugel. Eine Hündin nicht definierbarer Rasse, knapp zwei Jahre alt, sehr niedlich und sehr lieb, nicht viel größer als eine kleine Katze. Sie hatte ihre Vorderpfötchen an die Tür von Henriettes Terrasse gestemmt und bellte freudig.
Henriette rührte sich nicht. Sie wollte mit niemandem sprechen, sondern nur ihre Ruhe haben. Man ist hier nie alleine, dachte sie, aber vielleicht ist das auch ganz gut so.
Es war Sonnabend, Ende Februar 1992. Sie war erst vor vier Tagen aus der Klinik entlassen worden, nachdem man sie am 3. Januar nach einem Unfall dort eingeliefert hatte. Nach Meinung der Ärzte war sie wieder gesund. Wie gesund, das musste nun die nächste Zeit beweisen. Die verletzten inneren Organe und die Schädelfraktur waren wieder geheilt. Allerdings, ihre Nerven flatterten bei der kleinsten Aufregung, wenn sie an diesen 3. Januar zurückdachte. Es war dem Neurologen, der sie auch jetzt noch weiter betreute, zu verdanken, dass Henriette nach mehreren Operationen und später einem schweren Nervenzusammenbruch überhaupt wieder auf die Beine gekommen war.
Als sie am 9. Januar nach mehreren komplizierten Operationen endlich aus dem Koma erwachte, teilte man ihr sehr schonend mit, dass das Baby, welches sie erwartete, nicht gerettet werden konnte. Henriettes innere und äußere Verletzungen nach dem schweren Sturz zwei Tage vor dem Entbindungstermin waren zu kompliziert, die Verletzungen des ungeborenen Kindes zu umfangreich. Es lebte nur 4 Stunden. Als man Henriette diese Tatsache mitteilte, brach sie zusammen, ihre Nerven versagten.
Nun waren fast 8 Wochen vergangen und die Zeit heilt ja bekanntlich alle Wunden, wie man immer so schön sagt.
Ja, sie hatte wieder Lebensmut. Ihre Eltern, die Großmutter, der Bruder und seine Familie, gute Freunde und auch ihre Nachbarin, Frau Bottesi, übrigens die Mutter des Neurologen, hatten alles getan, um ihr über die schweren Stunden, Tage, nun schon 2 Monate, zu helfen, aber sobald sie an diesen 3. Januar dachte, dann …
Durch ärztliche Kunst, verbunden mit ihrem eigenen eisernen Willen, wieder gesund zu werden, konnte sie schließlich nach Hause entlassen werden.
Henriette lag auf der gemütlichen Couch im Wohnzimmer ihrer hübsch eingerichteten Wohnung. Sie hielt einen Brief ihres Bruders Robert in Händen und hatte diesen schon mehrmals gründlich studiert. Der Brief enthielt die gut dargestellte Skizze eines Grabes auf dem hiesigen Friedhof sowie eine Fotografie von einem neugeborenen Kind, eingehüllt in ein weiches Tuch. Das kleine Gesicht war gut zu erkennen, die Augen waren geschlossen.
Das ist also mein Susannchen, dachte Henriette und ihre Augen füllten sich gleich wieder mit Tränen. Ich bin diesem Arzt ja so dankbar, dass er nach schneller Rücksprache mit dem Neurologen angewiesen hatte, mein Baby zu fotografieren, dachte sie weiter und legte das Foto auf den kleinen Beistelltisch. Wahrscheinlich hat er sofort den Zustand des Kindes erkannt. So habe ich wenigstens eine kleine Erinnerung.
Henriette las den Brief ihres Bruders nun schon zum dritten Mal. Er schrieb so liebevoll und seine Briefe endeten jedes Mal mit dem gleichen Gruß: „Ich habe dich lieb, meine Kleine, pass’ auf dich auf.“
Frau Bottesi war von der Terrassentür verschwunden und Henriette atmete erleichtert auf. Sie meint es zwar gut mit ihrer Fürsorge, dachte sie, aber sie geht mir auch ziemlich auf die Nerven. Vermutlich hat ihr Arzt-Sohn sie beauftragt, immer wieder einmal nach mir zu schauen.
Nachdenklich betrachtete sie sich Roberts Skizze vom Friedhofseingang bis zu der Stelle des Grabes, an der man den kleinen Körper beerdigt hatte und sie nahm sich vor, in den nächsten Tagen unbedingt einmal dorthin zu gehen. Hoffentlich war sie nun stark genug dazu. Sie wollte unbedingt zu ihrem Kind, sie wollte mit ihm sprechen, ihm sagen, wie sehr sie sich auf seine Ankunft gefreut hatte. Nun war es wieder schiefgegangen, zum zweiten Mal. Mit der von ihrem ehemaligen Mann verlangten Scheidung hatte sie zur Bedingung gemacht, ihren vorherigen Namen zurück zu beantragen. Sie wollte nie wieder mit dem Namen dieses Herrn Professor Doktor Brackmann, der länger als sieben Jahre ihr Mann gewesen war, in Verbindung gebracht werden. Diese Jahre waren die Hölle. Ständig hatte er sie mit anderen Frauen betrogen. Ihre erste Schwangerschaft musste sie auf sein Geheiß unterbrechen lassen. Diese zweite Schwangerschaft hatte er ihr nur erlaubt, wenn sie sich von ihm scheiden ließ und eine Erklärung abgab, dass das zu erwartende Kind nicht von ihm, sondern von einem anderen Mann gezeugt worden sei.
Henriette hatte alles unterschrieben, um nur schnellstens von ihm geschieden zu werden. Bei einem Treffen mit ihm vor seiner Villa zur Klärung einiger Unterlagen kurz nach Silvester passierte dann dieser schreckliche Sturz. Henriette war mit einem Taxi gekommen und der Fahrer wartete in unmittelbarer Nähe. Sie wusste genau, dass ihr Mann ihr während der Unterhaltung einen kräftigen Stoß gegeben hatte. Sie kam ins Rutschen und stürzte auf dem eisglatten Fußweg aus. Sie sagte allerdings nicht die Wahrheit, als sie polizeilich zum Geschehen befragt wurde. Sie hatte Angst vor ihrem Mann. Damit stand die Aussage des Taxifahrers, der alles beobachtet hatte, gegen ihre und bei der Polizei hob man bedauernd die Hände.
Jetzt klingelte es an ihrer Haustür, immer wieder, anhaltend.
Henriette seufzte. Nun wusste sie, wohin ihre Nachbarin verschwunden war.
Ja, ja, Moment, ich höre es ja, murmelte sie ungehalten und mühte sich aus ihrer legeren Lage auf der Couch.
Sie lief zur Diele und schaute aus dem Fenster.
„Frau Bottesi“, rief sie, „was ist denn los?“
„Tun Sie bloß nicht so, als hätten Sie mich nicht an Ihrer Terrassentür bemerkt“, schimpfte diese, „man ist ja gezwungen, derartigen Lärm zu machen, damit Sie reagieren“, fuhr sie fort. „Wenn Sie in Zukunft nicht öffnen, rufe ich die Polizei oder einen Arzt, Frau Brackmann. Man muss ja denken, Sie haben sich etwas angetan!“
Sie meinte natürlich den Nervenarzt, ihren Sohn und Henriette lachte etwas. Das erste Mal übrigens seit vielen Wochen. Die Nachbarin wollte sie immer mit ihrem Sohn verkuppeln. Zugegeben, dieser Hartmut war ein sehr attraktiver, großer Mann. Ein gefragter Nervenarzt und man musste lange auf einen Termin in seiner Praxis warten. Wie Henriette wusste, liebte er aber das eigene Geschlecht, das hatte er ihr in einem Gespräch verraten, als sie wieder einmal von schweren Depressionen wegen des verstorbenen Kindes geplagt wurde. Seit dieser Zeit verstanden sie sich prächtig und seine Mutter schlussfolgerte deshalb völlig falsch. Sie wusste nichts davon, dass ihr einziger Sohn schon seit einigen Jahren einen festen Freund hatte. Bei Henriette wusste er sein Geheimnis in guten Händen, sie würde nie darüber sprechen.
Henriette blinzelte in die Sonne, die es heute so gut meinte und sagte zu ihrer Nachbarin: „Was wollten Sie denn nun eigentlich so dringend von mir?“
„Könnten Sie mal zwei bis drei Stunden auf meine Püppi aufpassen“, wollte die draußen wartende Frau wissen und hob ihr winziges weißes Hündchen in die Höhe.
„Meine Freundin, Sie wissen ja, Frau Lehmann von der Waldsiedlung 18, vorn, beim französischen Restaurant, ist auf dem Glatteis vor ihrem Haus ausgerutscht und hat sich das rechte Bein gebrochen. Der Mann kommt überhaupt nicht zurecht mit ihr und macht alles noch schlimmer, weil er sein Essen nun nicht mehr pünktlich erhält. Ich habe ihnen versprochen, mich ein bisschen um sie zu kümmern. Gehen Sie doch auch ein Stündchen an die frische Luft, man hat ja nun endlich die Wege und Straßen gestreut. Herr Wartmann vom übernächsten Haus hat auch bei uns den Schnee vom Fußweg geschippt und gestreut. Bei Gelegenheit müssen Sie sich einmal bei ihm bedanken.“
„Das mache ich, Frau Bottesi“, meinte Henriette, hob Püppi zu sich hoch und der kleine Hund kuschelte sich sofort liebevoll an sie. Sie hoffte, dass Frau Bottesi endlich verschwand und griff nach der Haustür.
„Ich gehe ja schon“, meinte ihre Nachbarin. „Meine Güte, sind Sie heute aber wieder friedlich gestimmt. Es wird Zeit, dass mein Hartmut mit Ihnen endlich einmal den versprochenen Opernbesuch in der Stadt durchführt. Bis später also.“
Aber sie ging nicht, im Gegenteil. Sie hob Püppi auf, die von Henriette auf den Fußboden gesetzt worden war und schob diese in das offene Wohnzimmer. Dann folgte sie dem Hündchen und stand auf einmal mitten in Henriettes Wohnzimmer. Sie blickte sich um, nickte anerkennend und meinte schließlich: „Ich wollte schon immer einmal bei Ihnen reinschauen, Frau Brackmann. Sie haben sich aber alles schön eingerichtet, muss ich sagen. Das sind aber auch wirklich tolle alte Möbel. Sind die aus Ihrer ehemaligen Wohnung in der Villa des Professors? Und ein Klavier haben Sie auch? Können Sie etwa spielen?“
Henriette lachte.
„Sie sind ganz schön neugierig, Frau Bottesi. Zu Ihrer Beruhigung, die Möbel sind alle mein Eigentum. Ich habe diese von meiner Großmutter aus dem Harz, auch das Klavier und ja, ich kann spielen. Sind Sie nun zufrieden? Ich denke, Sie hatten es so eilig?“
Frau Bottesi verstand den Wink, kraulte Püppi noch einmal kurz hinter den Ohren und verschwand schließlich eilig in Richtung des nächsten Hauseinganges.
Henriette atmete auf, blickte in die verschneite Umgebung und betrachtete die vom Schnee geräumten Straßen und Wege ringsum. Es war kalt und heute Vormittag hatte es auch immer wieder einige Schneeschauer gegeben. Im Moment schien zwar die Sonne und stellenweise taute diese viel Schnee weg, aber sobald die Sonne hinter einer Wolke verschwand, wurde es kalt und ungemütlich.
„Weißt du was, Püppi, ich ziehe mich jetzt an und gehe tatsächlich mit dir ein Stückchen spazieren. Wir brauchen ja nicht so weit zu gehen, vielleicht schaffen wir es bis an den See. Und wenn du nicht mehr laufen kannst, werde ich dich tragen, meine Kleine.“
Henriette zog sich sehr schnell warme Kleidung an, ihren Anorak und die gefütterten Stiefel. Um den Hals schlang sie sich den schönen molligen Schal, den der Bruder ihr aus Italien mitgebracht hatte. Auf eine Mütze verzichtete sie, ihre Haare waren stark und wärmten den Kopf und außerdem hatte der Anorak eine Kapuze. Sie schaute zu Püppi hinab, die sie aufmerksam betrachtete und dann meinte sie zu ihr: „Ich werde einen Stoffbeutel einstecken, in welchem ich dich zur Not transportieren kann“, und legte dann doch noch ihre dicke Wollmütze und Handschuhe in den Beutel hinein.
Plötzlich kam ihr eine Idee und sie griff nach der Skizze vom Friedhof. „Mal sehen, vielleicht schaffe ich es bis dorthin“, murmelte sie, verschloss die Wohnungstür und anschließend die Gartentür, versteckte den Schlüssel und begann, langsam Richtung See zu laufen, Püppi an der Leine, trippelte aufgeregt mit.
Bei jedem Schritt atmete Henriette tief ein und aus und dachte an die entsprechenden Hinweise ihrer Therapeuten. Sie freute sich über ihren Entschluss zum Spaziergang und nach langer Zeit hatte sie das Gefühl, endlich wieder klar und gewissenhaft denken zu können. Das Leben war doch wunderschön und die strahlende Sonne unterstützte ihre hoffnungsvollen Gedanken. Na ja, ehrlich gesagt, wenn Frau Bottesi nicht geklingelt hätte, wäre sie bestimmt zu Hause geblieben. Aber mit diesem Hündchen als Druckmittel fürs Spazierengehen hatte ihre Nachbarin das Richtige getan. Henriette kannte ja die Gegend, in der sie nun schon seit einigen Monaten ein eigenes Haus besaß, das heißt, ein Reihenhaus-Endstück, überhaupt noch nicht so richtig. Bisher hatte sie es nur bis in das nur wenige Meter entfernte Geschäft geschafft, in dem man das Nötigste für den täglichen Bedarf bekam. In der weiteren Umgebung war sie noch nie gewesen, und so nahm sie sich vor, bis zum See und eventuell bis zum kleinen Waldfriedhof zu laufen. Die Skizze des Bruders leistete ihr dabei gute Dienste, aber eigentlich ging es ja auch nur immer geradeaus.
Obwohl sie bereits seit August vorigen Jahres hier wohnte, war sie bisher noch nie weiter als bis zu dem kleinen Weg gekommen, der am See vorbei und um diesen herum verlief. Den Weg zum Friedhof, den ihr Bruder auf der Skizze angedeutet hatte, endete bei einer kleinen Firma, die sie schon immer einmal in ihre Spaziergänge einplanen wollte. Dahinter begann der Wald.
Nach dem Überqueren von zwei ruhigen Nebenstraßen gelangte sie bereits in die Nähe des großen Sees. Aus dieser Richtung wehte ein kalter Wind und Henriette stülpte sich vorsichtig die Kapuze über den Kopf. Die Einheimischen nannten diesen kalten Wind den „Böhmschen“, er wehte aus der früheren Tschechoslowakei über das Elbsandsteingebirge bis hinab nach Dresden.
Wahrscheinlich hatte man hier früher einmal Kies abgebaut, denn es waren immer noch große Anhäufungen dieses Materials zu erkennen. Mittlerweile hatten sich vor allem Birken und andere schnell wachsende Bäume und Sträucher rings um den See von selbst ausgebreitet. Um den See verlief ein schmaler Pfad, dieser wurde von den Hundebesitzern der Gegend oft benutzt. Mitten im See entdeckte Henriette eine größere Insel, bereits dicht bewachsen, oder ein Reststück der früheren hiesigen Landschaft. Vielleicht hatte man von dieser Stelle aus mit dem Abbau begonnen, denn es bestand noch eine schmale Landzunge, die sich nach der östlichen Seite des Sees ausstreckte. Im Wasser tummelten sich trotz des kalten Wetters etliche Wasservögel, unter anderem entdeckte Henriette ein Schwanenpärchen, welches langsam über den See dahinglitt. In Ufernähe tauchten einige Enten in dieser für sie so typischen Haltung, das Schwänzchen in die Höh`. Das Köpfchen tief im Wasser. Sie waren völlig schwarz und Henriette grübelte nach dem Namen dieser Entenart. Über dem See kreisten majestätisch zwei Bussarde und stießen ab und zu ihre Buh-, Buhrufe aus.
Die Sonne schien warm vom Himmel, es war plötzlich windstill geworden und Henriette freute sich nun richtig, dass sie an die frische Luft gegangen war. Langsam schob sie sich die gefütterte Kapuze wieder in den Nacken.
Lange hielt sie sich hier allerdings nicht auf, obwohl es verlockend war, diesen Wanderweg zu erforschen. Sie nahm sich aber vor, in den nächsten Tagen öfter einmal hierher zu laufen. Sie war noch bis Mitte März krankgeschrieben und hatte damit noch einige freie Tage, um diese Gegend zu erforschen.
Heute hatte sie einen anderen Plan. Es ging ihr gut und sie rief übermütig: „Ich komme bald wieder, See.“
Allerdings hatte Püppi keine Lust mehr, weiter zu laufen. Sie setzte sich einfach hin und knabberte immerzu an den Ballen ihrer Vorder- oder Hinterpfötchen.
„Was hast du denn?“
Henriette ging in die Hocke und untersuchte Püppis Pfötchen. „Ach du liebe Zeit, Püppi“, meinte sie überrascht, als sie die kleinen Eiskügelchen zwischen den winzigen Ballen entdeckte. Dabei dachte sie an die Hunde in der eigenen Familie zurück. Diese hatten bei losem Schnee mitunter auch unter derartigen Erscheinungen gelitten und ihr Vater, oder früher der Großvater, hatten im Winter die Hundepfoten immer gut eingecremt.
„Daran habe ich nicht gedacht, Püppi“, meinte sie bedauernd. „Komm, ich werde dich jetzt ein Weilchen tragen.“
Henriette setzte Püppi in ihre warme Wollmütze und verfrachtete das nun warm verstaute Tier im mitgenommenen Beutel. Dann schlang sie sich den molligen Schal des Bruders doppelt, mit der Öffnung nach oben, fest um ihren Leib. In diese Öffnung steckte sie den Beutel mit Püppi und diese saß nun wie ein kleines Känguru im Beutel der Mutter. Sie war ja nicht schwer und kuschelte sich sofort eng an den angebotenen Platz. Püppi verschwand völlig in dem dicken Wolltuch.
„So“, meinte Henriette, „nun geht es weiter, und auch etwas schneller“, lachte sie.
Während sie weiterlief, bemerkte sie schließlich auf der linken Straßenseite die Friedhofsmauer. Aufmerksam betrachtete sie die Umgebung, und entdeckte nach einer leichten Kurve weiter vorn den Wald aufragen. Henriette schaute auf Roberts Skizze, er hatte den Wald ebenfalls angegeben, also musste sie bald am Ziel sein.
Am Straßenrand tauchte ein Firmenschild auf: Wagner-Elektronik, ca. 200 Meter, Parkmöglichkeit für Kundenfahrzeuge und Mitarbeiter. Die Friedhofsmauer war immer noch links zu sehen und zog sich auch noch weiter fort.
„Diese zweihundert Meter müssten eigentlich bald zu Ende sein“, murmelte Henriette und dann befand sie sich plötzlich vor einer kleinen Nebenstraße, die ebenfalls in den Wald führte, genauso wie die Friedhofsmauer.
Sie hörte Hundegebell und entdeckte einen großen Hund, der direkt in der Grundstücksecke auf der anderen Seite der Nebenstraße hinter einem Zaun saß und sie aufmerksam beobachtete. In dem Grundstück, welches der Hund anscheinend bewachte, sah sie ein Gebäude mit einer Pförtnerloge davor. Auf der anderen Seite des großen Hofes entdeckte sie eine kleine Fabrik. Das Fabrikgebäude war mit neuen modernen Fenstern versehen und man hatte es frisch verputzt. „Wagner-Elektronik“ las sie auf einem Firmenschild am Zaun des Grundstückes. Alles hier war ordentlich und sauber und außer dem Hund war niemand zu sehen.
„Na, du schöner Hund, beißt du mich?“, meinte Henriette und streckte ihre rechte Hand vorsichtig gegen den Drahtzaun.
Natürlich beschnupperte das Tier gründlich ihre Fingerspitzen, die ein kleines bisschen durch das Maschengitter hindurchpassten, und rührte sich erst wieder, als es den fremden Hund roch.
Der große Hund war fasziniert, senkte seinen Kopf auf Höhe des so seltsam bei diesem Frauchen sitzenden Tieres und fand kein Ende, seine Nase immer wieder gegen das Köpfchen des Tieres zu drücken. Das war mühsam und er fing schließlich an zu winseln. Nun schob sich Püppis kleines Pfötchen aus der warmen Umgebung und passte natürlich durch das kleine Viereck bis direkt vor die Schnauze des Hundes.
Es war Liebe auf Anhieb zwischen den beiden so ungleich großen Tieren nach der ersten zärtlichen Berührung der Hundeschnauze des großen Riesenschnauzers mit der kleinen Vorderpfote von Püppi und sie hätten sich am liebsten nicht mehr getrennt.
Henriette betrachtete den Hund aufmerksam. Er sah etwas anders wie die Riesenschnauzer aus, die sie kannte. Man hatte ihm seinen schönen langen Schwanz und die Ohren nicht kupiert. Dadurch wirkte er völlig anders als seine Artgenossen. Aber er gefiel ihr so besser.
„Hundi“, meinte Henriette, „wir müssen leider weitergehen. Wir haben noch einiges zu erledigen. Aber wir kommen bald einmal wieder.“
Sie trat vom Zaun zurück und betrat nun die Nebenstraße. Da sich die Friedhofsmauer links weiter in den Wald zog, musste es doch hier auch irgendwo einen Eingang geben. Sie betrachtete sich noch einmal Roberts Skizze. Beim Aufblicken entdeckte sie zwischen zwei großen Nadelbäumen ein ziemlich verwittertes Schild mit einem Richtungspfeil: „Zum Eingang des Waldfriedhofes, 6 Meter“.
„Jetzt haben wir es fast geschafft, Püppi“, meinte Henriette, „und nun besuchen wir Susannchen.“
Die Nebenstraße war ziemlich schmal und endete nach wenigen Metern vor einem Schlagbaum mit dem Schild „Privatweg, Befahren nur für Forstfahrzeuge erlaubt“.
Henriette zwängte sich am Schlagbaum vorbei und schritt die angekündigten 6 Meter ungefähr ab. Das Eingangstor zum Friedhof hing etwas schief zwischen zwei Betonpfosten, den Schlüssel fand sie, wie von ihrem Bruder angegeben, in einer kleinen Blechschachtel, die hinter einem der Pfosten fest verankert war. Vermutlich hatte der Pfarrer für die wenigen Besucher, die sich an den hinteren Eingang verirrten, diese Möglichkeit des Betretens geschaffen. Der Schlüssel allerdings war bestens in Ordnung, das Schloss des Tores ebenfalls und ohne Mühe ließ es sich öffnen. Henriette schaute sich nun doch etwas ängstlich um. Es hatte gegenüber geraschelt, aber es war nur der große Hund, welcher sich jetzt zwischen Hecke und Maschendrahtzaun der Firma befand. Er hatte sich dort so eine Art Laufweg geschaffen und konnte jeden beobachten, der am Zaun entlang ging. Er bellte leise und freundlich, aber er passte auf, was dieses fremde Frauchen dort drüben so anstellte.
„Pass auf uns auf, Hundi“, flüsterte Henriette und betrat den Friedhof.
Püppi fiepte leise. Vermutlich war das eine Antwort für den Hund, denn er bellte nun etwas lauter.
„Sei still“, bat Henriette, denn es wurde ihr nun doch etwas unheimlich. Auf dem frisch gefallenen Schnee war außer den verschiedensten Spuren von Tierpfoten oder Vogelkrallen nichts zu entdecken, was auf menschliche Schuhabdrücke hinwies.
Jeder Schritt von Henriette hinterließ nun einen deutlichen Abdruck und sie bekam ein schlechtes Gewissen. „Hoffentlich schneit es heute Nacht“, flüsterte sie zu Püppi, die sich nicht rührte, aber ebenfalls neugierig ihr winziges Köpfchen aus der warmen Umhüllung streckte.
Plötzlich entdeckte sie auf der linken Seite des Weges das Familiengrab. Robert hatte es bestens beschrieben.
Eine große weibliche Engelsgestalt aus weißem Marmor hielt segnend die Hände über die vielen Toten, die hier ruhten. Es war ein Familiengrab, der Name Schienckell vorherrschend und die Verstorbenen ehrte man liebevoll.
Zwischen zwei großen Falten aus Marmor steckte ein Sträußchen mit kurzstieligen gelben Moosröschen. Die Blumen waren gefroren, die Blütenblätter sahen dadurch wie durchsichtiges gelbes Glas aus. Ansonsten konnte man nicht viel erkennen, der starke Schneefall heute Morgen hatte großzügig sein weißes Laken über die hier Ruhenden gebreitet. Eine kleine Gedenktafel erinnerte an einen im 2. Weltkrieg in Stalingrad gefallenen Edwin, 18-jährig, bestattet in unbekannter Erde.
Henriette hatte lange geweint, als sie das Foto dieses Grabes betrachtet hatte. Einige ihrer Familienangehörigen waren bei der Bestattung von Susanne dabei gewesen. Der Bruder hatte ihr später gesagt, an welcher Stelle der kleine Sarg versenkt worden war. Wie richtig doch die Ärzte alles vorausgesehen hatten!
Ihr lang ersehntes Kind verschied 4 Stunden nach der Geburt, die Verletzungen des Köpfchens nach dem verheerenden Sturz der Mutter auf Glatteis waren zu schlimm. Henriette, 6 Tage im tiefen Koma liegend, hatte deshalb nichts miterleben können, auch nicht die Beerdigung ihres Kindes am 5. Januar. Aber bei Susanne, so wurde das Mädchen getauft, waren liebevolle Familienmitglieder: die Urgroßmutter Wilhelmine, Henriettes Eltern, also die Großeltern von Susanne und Onkel Robert, Henriettes Bruder. Und einer der Ärzte hatte ein Foto von Susannchen gemacht!
Dass Susanne in dem Familiengrab der Schienckells ihre letzte Ruhestätte fand, verdankte Henriette ihrem Bruder. Dieser hatte sich mit dem alten Pfarrer der Gemeinde bei einem seiner Klavierkonzerte angefreundet und der Herr Pfarrer hatte es ermöglichen können, Susannchen auf diesem Friedhof in Henriettes Nähe und in diesem Familiengrab zu bestatten. Mit der Familie Schienckell und deren Nachfahren verband den alten Herrn Pfarrer eine treue Freundschaft aus der Kindheit.
Henriette bückte sich nach dem zarten Rosensträußchen und streichelte vorsichtig darüber.
„Susannchen“, flüsterte sie kaum hörbar und Tränen liefen über ihr Gesicht. „Susanne“, wiederholte sie noch einmal, „Deine Mama ist jetzt endlich bei dir. Schlafe in Frieden, mein geliebtes Kind.“
Sie studierte neugierig die große Familienruhestätte, las aufmerksam die Namen der hier Liegenden. Es waren Grabstellen, die bereits Daten aus dem 17. Jahrhundert aufwiesen, alle möglichen Berufe darstellten und sogar einige Kammerdiener des hier einmal ansässig gewesenen Grafen von Kummer hatte man erwähnt. Schließlich fand sie eine Frau Gertrude Schienckell, die als die getreue Lebenskameradin des Herrn Grafen genannt wurde und später, zum Alter passend, einen Gotthold Schienckell, ehrenwerter Sohn des Herrn Grafen. Sieh an, dachte Henriette, der Herr Graf hat den außerehelichen Sohn mit Frau Gertrude sogar als seinen eigenen anerkannt. Alle Achtung, für damalige Zeiten sehr mutig. Und dann las sie vorwiegend den Namen Schienckell und alle Schienckells waren Geschäftsleute. An der rechten Seite des fast 4 Meter breiten Grabes fand sie schließlich ein bescheidenes Kreuz. Es steckte zwischen zwei Steinen aus dieser Gegend, deren obere Rundungen aus dem Schnee hervorlugten. Berta Gertrude Wagner, geb. von Schienckell, 1906 hier im Ort geboren, 1991 bei einem Besuch in ihrer früheren Heimat verstorben, war in kleiner Schrift eng auf dem Kreuz vermerkt und Henriette staunte darüber. Sie wollte also hier beerdigt werden, nicht in ihrem späteren Wohnort, murmelte sie vor sich hin, vielleicht kann ich dazu einmal den Pfarrer fragen, falls ich ihn kennenlerne.
Sie bemerkte auf dieser Seite des Familiengrabes eine kleine Bank unter einem schützenden Dach aus wildem Wein, jetzt natürlich ebenfalls mit Schnee beladen. Die Bank war intakt und man erkannte die Pflege durch eine Person. Vielleicht war es der Pfarrer? Vielleicht kannte er diese Berta aus der Kindheit? Vielleicht waren sie sogar verwandt miteinander?
Allerlei Gedanken schossen Henriette durch den Kopf und dann beschloss sie, sich ein Viertelstündchen auf diese Bank zu setzen. Sie spürte nun doch die Anstrengung des langen Laufens, aber sie freute sich, dass sie sich dazu aufgerafft hatte.
„Püppi“, sagte sie zu der kleinen Hündin, die bisher keinen Mucks von sich gegeben hatte, „wir machen eine kleine Pause, dann gehen wir wieder nach Hause.“
Sie blickte zum offenen Friedhofstor, weil sie sich einbildete, es käme jemand. Aber es war der Hund, welcher immer noch geduldig hinter dem Drahtzaun saß und auf ihr Zurückkommen wartete. Ab und zu bellte er kurz und leise und Henriette war froh darüber, sie fühlte sich beschützt.
Vorsichtig setzte sie sich auf die Bank, nachdem sie einige Papiertaschentücher darauf ausgebreitet hatte und betrachtete rings um sich die anderen Gräber. Ihr Rücken war geschützt durch eine große Zier-Einfassungsmauer um dieses Familiengrab, die Sonne schien warm vom Himmel und es war so herrlich ruhig hier. Ab und zu flatterte ein Vögelchen von einem Baum und dann rieselte etwas Schnee auf die Erde. Püppi ruhte still in der warmen Umhüllung und schnarchte leise und als Henriette ihr ein Weilchen zugehört hatte, lachte sie, dann schloss sie ebenfalls die Augen und war wenige Augenblicke später eingeschlafen.
Mit einem leisen Schrei erwachte Henriette etwa fünfzig Minuten später. Sie sprang auf und schaute sich ängstlich um.
Das Wetter hatte sich total verändert, die Sonne war verschwunden und der böhmische Wind wehte wieder ziemlich heftig über die Wipfel der Bäume. Dadurch rieselte der Schnee ziemlich heftig von den Ästen. Aus der Nähe vernahm sie ein seltsam blechernes Geräusch und sie vermutete, dass sich der Wind vermutlich in einer Blechfigur oder etwas Ähnlichem auf einem anderen Grab verfing. Es wurde dunkel, denn am Himmel zogen schwarze Wolken auf.
„Schneewolken! Wir müssen fort, Püppi, schnellstens“, meinte sie zu ihrer vierbeinigen kleinen Begleiterin. Henriette hatte diese auf den Weg gesetzt und Püppi hatte sich schnell erleichtert. Nun sprang sie wieder an Henriette empor und wollte zurück in die warme Umgebung.
Danach traten sie den Rückweg an. Henriette schaute sich nun ständig um. Es war so dunkel geworden, zwei Krähen kreischten über ihnen, der Wind wehte ihnen den Schnee von den Bäumen ins Gesicht und die Steinfiguren ringsum sahen plötzlich auch so finster aus. Sie bekam es mit der Angst zu tun und wiederholte ständig die mahnenden Sätze ihres Therapeuten: „Ich habe keine Angst, ich bin ganz ruhig, ich bin ganz ruhig, ich habe keine Angst. Mir tut niemand etwas zuleide.“
Endlich erreichten sie das Friedhofstor. Der Wind hatte es zugeschlagen und Henriette zitterte etwas, als sie das Tor anfasste, um es zu öffnen. Zu ihrer Erleichterung bemerkte sie den großen schwarzen Hund, der sie auf der anderen Seite des Weges nun freudig begrüßte. Hatte er etwa die ganze Zeit hier gewartet?
„Du bist aber ein guter Hund“, rief sie ihm zu und weil Püppi nun in ihrer warmen Umgebung zu zappeln anfing, anscheinend spürte sie ebenfalls den Hund, verlor Henriette den Schlüssel, den sie gerade in das Torschloss stecken wollte. Lautlos verschwand dieser im Schnee.
Henriette bückte sich und wühlte im Schnee danach. Nun gelang es Püppi, sich aus der Verpackung zu winden. Sie sprang in den Schnee und sauste wie der Blitz zu dem Hund. Die beiden begrüßten sich bellend und dann beschnupperten sie sich erst einmal durch das Maschengitter des Zaunes.
Inzwischen hatte Henriette den Schlüssel gefunden, schnell das Tor abgeschlossen und den Schlüssel wieder in der kleinen Blechdose hinter dem Betonpfosten versteckt. Sie lief zu Püppi und wollte diese aufnehmen, weil das nahende Unwetter, oder was sich da am Himmel zeigte, immer näher kam und drohender wurde. Püppi ließ sich jedenfalls nicht hochnehmen, im Gegenteil, sie lief mit schnellen Trippelschritten am Zaun entlang, der Hund auf der anderen Seite folgte ihr getreu. Sie spielten miteinander und bei besserem Wetter hätte Henriette auch nichts dazu gesagt.
Als sie den Schlagbaum passierte, atmete sie auf. Die Straße war bereits zu sehen und auf dieser erkannte sie am Lichtkegel das Nahen eines Autos. Es fuhr nicht sehr schnell, offenbar war es wieder sehr glatt geworden, aber mit Fernlicht. Die gesamte Straße war taghell und es kam immer näher.
Die Hunde waren plötzlich auf die Idee gekommen, einen Wettlauf zu veranstalten und der große Hund jagte nun laut bellend im Grundstück neben dem Zaun zur Straßenecke. Dort stellte er sich auf die Hinterbeine und bellte laut und freudig. Kannte er den Klang des kommenden Autos? Kamen Frauchen und Herrchen nach Hause? Püppi versuchte, mit dem großen Tier Schritt zu halten, was natürlich sinnlos war, aber sie wurde durch das Fernlicht derart geblendet, dass sie einfach immer weiter stürmte. Gleich würde sie mit dem Auto zusammentreffen und von diesem überfahren werden.
Henriette erkannte die Gefahr.
Sie stürmte Püppi hinterher und kurz vor der Straße hechtete sie regelrecht nach dem Tier. Sie riss es gerade noch hoch, stürzte dabei auf die Straße und krachte auf ihre Knie. Alles geschah in Sekundenschnelle. Das Auto bremste stark, drehte sich schlitternd zur Mitte und wieder zurück an den Straßenrand. Schließlich blieb es, die letzten Meter rutschend, direkt neben der knienden Henriette stehen. Sie drückte Püppi eng an sich, flüsterte immerzu, dass der sie beinahe überfahren habe und ihr liefen die Tränen über das Gesicht. Die Kapuze war ihr vom Kopf geglitten und bei dem Sturz fiel ihr ihre Haarmasse ins Gesicht, ein Auge völlig bedeckend.
Der Fahrer des Wagens kurbelte vorsichtig die Scheibe hinab. Er konnte seine Tür nicht öffnen und der Schreck saß ihm in den Gliedern. Wo war diese Person plötzlich hergekommen? Aus dem Wald? Um diese Zeit? Mit diesem kleinen Hund?
War etwas passiert? Er atmete tief ein und aus. „Oh, Gott“, meinte er nur und dann ging das Theater los.
Sein Beifahrer stieg wie ein Wilder aus dem Auto, jagte um das Vorderteil und stand vor Henriette, die sich gerade mühsam aufrichten wollte und schrie: „Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen? Sind Sie lebensmüde oder verrückt? Was machen Sie denn hier überhaupt? Wir hätten Sie beinahe überfahren und dieses Tier dazu! Was soll das überhaupt sein? Ein Hund? Das ist doch ein starkes Stück. Nun stehen Sie doch endlich auf, Ihnen ist doch überhaupt nichts passiert. Haben Sie es auf so eine Masche versuchen wollen?“
Er tobte und schrie und wollte sich überhaupt nicht beruhigen, obwohl aus dem Auto beruhigend zu ihm gesprochen wurde. Der Hund in der Zaunecke bellte jetzt ebenfalls drohend und gefährlich. Endlich stand Henriette schockiert vor dem offenen Fenster der Fahrertür, strich sich müde das Haar aus dem Gesicht und dann trafen sich ihre Augen mit denen des Fahrers. Ein, zwei Sekunden und beide durchlief eine Welle der Überraschung.
„Nun höre doch endlich mit dem Geschrei auf, Ludwig“, sagte der Mann am Steuer, beruhige Hugo und mach das Tor auf, damit wir gleich hineinfahren können.“
Während er das sagte, blickte er Henriette an, lächelte zögernd und fragte freundlich, ob ihr etwas passiert sei.
„Nein“, sagte Henriette, „aber Sie hätten beinahe meine Püppi überfahren.“ Sie schluchzte leise und er konnte sich kaum von ihrem Anblick lösen.
Sie ist wunderschön, dachte er, diese eigenartige Haarfarbe, diese Lockenpracht und diese moosgrünen Augen. Woher kenne ich solche Augen? Ich muss sie unbedingt wiedersehen oder sie hier noch festhalten.
„Ist Ihnen auch wirklich nichts passiert? Soll ich Sie nach Hause fahren“, begann er ein Gespräch. Er wäre gern ausgestiegen, aber sie stand immer noch wie festgenagelt vor seiner Autotür.
Der Hund, den der andere Mann zur Ordnung gerufen hatte, war verstummt. Das Tor geöffnet. Da nichts passiert war, bestand eigentlich auch kein Grund mehr, hier noch länger zu warten.
Henriette drehte sich weg und wollte gehen, da hörte sie, wie aus dem Fonds des Autos eine andere männliche Stimme Moment rief. Da die hinteren Scheiben dunkel getönt waren, konnte sie niemanden erkennen, aber sie hörte jemanden mit dem Fahrer sprechen. Schließlich erkannte sie eine Hand, die dem Fahrer eine Visitenkarte übergab.
Der Fahrer reichte ihr die Visitenkarte nach draußen und dann bat er sie, ihn heute unbedingt noch anzurufen und Bescheid zu geben, ob alles in Ordnung mit ihr sei.
„Versprechen Sie mir das, Püppi“, sagte er, sie liebevoll anlächelnd. „Versprechen Sie mir das wirklich? Ich verlasse mich darauf.“
Henriette nahm die kleine Karte und nickte nur. Dann wandte sie sich ab. Püppi hat er mich genannt, dachte sie und verließ mit immer noch wackligen Schritten den Platz des Geschehens. Es wurde auch Zeit. Der Himmel hatte inzwischen seine Schleusen geöffnet und starker Schneefall hatte eingesetzt. Riesige Schneeflocken schwebten langsam vom Himmel. Man erkannte kaum die eigene Hand vor den Augen.
Das Auto stand immer noch. Der Fahrer öffnete nun endlich die Autotür, um ihr hinterherzublicken. Aber von Henriette war nichts mehr zu sehen, der Schneefall war so stark, dass man nichts mehr sehen konnte.
„Fahr los, Toni“, meinte der Vater und die Mutter seufzte: „Da hatten wir ja noch einmal großes Glück. Meine Güte, das wäre vielleicht etwas geworden, wenn Frau und Hund unter unser Auto geraten wären!“
Der mit Toni Angesprochene fuhr langsam die wenigen Meter bis zur Einfahrt in das Fabrikgrundstück, überquerte den großen Fabrikhof und blieb schließlich nach etwa 300 Metern im Wald vor einem Wohngebäude im Wald, welches sich an einen Hang schmiegte, stehen. Nun konnte er endlich aussteigen und wurde freudig von dem großen Hund begrüßt. Der Beifahrer des Wagens hatte inzwischen an der Seite des Hauses einen Aufzug geöffnet und gemeinsam trugen die jüngeren Männer etliche Gepäckstücke dorthin. Man war zu Hause, Gott sei Dank. Zum Glück war nichts passiert. Immer wieder fing einer von ihnen das Gespräch über das Ereignis von vorhin an, keiner hatte sich bislang so richtig beruhigen können. Schließlich füllte der ältere Mann, es war der Vater der beiden jungen Männer, vier kleine Gläser mit einem guten Whisky.
„Langt zu“, meinte er zu den anderen und reichte seiner Frau ein Gläschen. „Auf unser Wohl und das Wohl dieser jungen Frau. Wir werden ja sehen, wie es weitergehen wird. Wenn sie dich dann anruft, Toni, dann kannst du ja alles Weitere sachlich und korrekt mit ihr klären.“
Sie rief nicht an.
Antonius Wagner wurde von Stunde zu Stunde unruhiger. Er ärgerte sich, dass er vorhin nicht aus dem Auto gestiegen war, um sofort mit der jungen Frau die Angelegenheit zu besprechen. Wieso war er eigentlich vorhin so untätig gewesen? War es ihr Aussehen, diese wunderschönen Haare, diese traurigen Augen gewesen? Er hatte sich wirklich seltsam benommen. Wo war sein Taktgefühl, er hatte doch sonst keine Schwierigkeiten, mit Frauen zu verhandeln? Sie hatte ihn irgendwie verzaubert, an etwas erinnert, was schon viele Jahre zurücklag. Wer war sie überhaupt? Er wohnte nun schon fast zwei Jahre hier, aber er hatte diese Frau noch nie gesehen. Allerdings musste er sich sagen, dass er diese Straße, die er heute nach Hause gefahren war, sehr selten benutzte. Meistens bog er bei Francescos Gasthaus ab in die Nebenstraße Richtung Wald. Von dort ging es noch einmal rechts in die schmale Waldstraße zwischen dem Friedhof und seiner Firma bis er auf diese Straße einbiegen konnte, auf der er heute gekommen war. Des vielen Schnees wegen war er so gefahren, die Nebenstraße hatte niemand geräumt, sie gehörte ja zu seinem Besitz.
Sein Bruder Ludwig ärgerte ihn schließlich.
„Hat es dich erwischt, Brüderchen? Sie wird schon anrufen, spätestens morgen früh. Die will doch was aus der ganzen Angelegenheit herauskitzeln. Du bist schon wieder viel zu mitleidig. Was sucht die überhaupt an so einem kalten Tag im Wald, mit diesem Tier, welches man ja nun wirklich nicht als Hund bezeichnen kann!“
Er lachte und wollte ihn auffordern, mit ihm ein Fläschchen zu leeren, auf den Schreck.
„Du bist unmöglich“, meinte Antonius zu seinem Bruder. „Lass mich doch in Ruhe, ich kann jetzt nichts trinken. Vater, Mutter, ich gehe jetzt noch ein, zwei Stündchen in mein Büro.. Es ist so viel Arbeit liegen geblieben, vielleicht kann ich noch etwas erledigen.“
“Ja“, lachte Ludwig, „und vergiss nicht, an diese schöne Unbekannte zu denken. Ich komme dann mal vor zu dir, aber zuerst möchte ich etwas essen.“
Nachdem sich Henriette vom Auto weggedreht hatte, lief sie schnell davon. Der stark einsetzende Schneefall, der jede Sicht unmöglich machte, hinderte sie am Vorwärtskommen. Schon nach wenigen Metern war keine Straße mehr zu erkennen und sie lief genau am Rand des Fußweges. Ab und zu wich sie einem großen Baum aus. Im Moment musste sie sich auf Höhe des Sees befinden. Sie sah ihn nicht, aber sie erkannte am leisen Geschnatter einiger Wasservögel, wo sie sich etwa befand. Dann ertönte ein entsetzlicher Schrei durch die Stille. Der Schrei eines Tieres. Vermutlich hatte ein Raubvogel, vielleicht ein Uhu, oder ein Fuchs, ein Entchen erwischt.
“Armes Tierchen“, flüsterte Henriette und zog den Schal etwas straffer um Püppi, die sich mucksmäuschenstill verhielt. Dann bildete sich Henriette ein, es riefe jemand, aber das war nur ihre Angst. Alle paar Meter drehte sie sich unsicher um, aber es kam niemand. Und immer wieder beruhigte sie sich selbst: Bleibe ganz ruhig, Henriette, ganz ruhig, habe keine Angst und so weiter, und so weiter. Sie war ehrlich zu sich selbst, sie hatte fürchterliche Angst in dieser Einsamkeit und bei diesem Schneefall, der alles so unsichtbar und so leise machte.
„Wo bin ich denn bloß?“, dachte sie gerade, da tauchte die Kurve vor ihr auf, von der es nicht mehr weit bis zur Eigenheimsiedlung war. Sie atmete beruhigt aus und überquerte nun vorsichtig die Straße. Unter dem frisch gefallenen Schnee war es sehr glatt. Schemenhaft schälte sich endlich die lange Reihe der aneinanderliegenden Eigenheime auf. Sie war nun gleich zu Hause. Als sie vor ihrem Gartentor stand, versuchte Henriette, es leise zu öffnen. Auf keinen Fall wollte sie jetzt mit Frau Bottesi zusammentreffen. Der Gedanke kreiste ihr noch durch den Kopf, da wurde deren Haustür bereits aufgerissen und eine aufgeregte Nachbarin stand im grellen Licht.
„Sind Sie das, Frau Brackmann`“, schrie sie und kam langsam ans Gartentor. Und dann entlud sich über Henriette ein Schwall zorniger Worte: „Na, sagen Sie mal, wo kommen Sie denn eigentlich her? Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Ich warte schon seit Stunden. Wo waren Sie denn überhaupt? Lebt meine Püppi noch? Wo ist die eigentlich?“
Püppi hörte ihr Frauchen und mühte sich aus der warmen Verpackung. Henriette hielt sie fest, lief zu Frau Bottesis Gartentor und reichte ihr den kleinen Hund darüber. „Ich erzähle Ihnen morgen alles“, versuchte sie die immer noch schimpfende Frau zu beruhigen. Aber als diese nun auch noch ihren Sohn, den Neurologen, erwähnte: „Ich werde sofort Hartmut anrufen und ihm sagen, was Sie sich heute wieder so geleistet haben, Sie sind ja wirklich ein bisschen verrückt“, da antworte Henriette leise und entschieden: „Frau Bottesi, ich verbitte mir jede Einmischung in meine Angelegenheiten. Ich bin weder verrückt noch sonst irgendwie krank. Ich habe mich bisschen verlaufen und es ist nichts passiert. Ihr Sohn, der Neurologe, wäre übrigens stolz auf seine Behandlung, wenn er hören würde, wie ich mich heute verhalten habe. Gute Nacht und bitte stören Sie mich heute nicht mehr!“
Eiligen Schrittes lief sie zu ihrem Gartentor, schloss es auf, betrat den kleinen Vorplatz und schloss das Tor gleich wieder zu.
Frau Bottesi starrte ihr mit weit offenem Mund hinterher. Sie war sprachlos und murmelte zu Püppi: „Nun wird die auch noch frech, was sagst du dazu?“
Henriette war inzwischen in ihrem Haus verschwunden. Sie riss sich ihre warmen Sachen vom Leib, schlüpfte aus ihren Stiefeln und lief erst einmal in die Küche. Sie musste unbedingt etwas trinken. Dann fiel ihr diese kleine Visitenkarte ein und sie durchsuchte ihre Jackentaschen danach. Wagner-Elektronik, Goslar, las sie. Gegründet 1926, Inhaber J. & F. Wagner, Zweigstelle …stein/Sachsen, sowie mehrere Telefonnummern, unter anderem eine mit der hiesigen Vorwahl. Diese hatte man mit einem Stift zu der offiziell gedruckten Version dazugeschrieben.
Aha, dachte Henriette, die Person, welche die Karte nach vorn gereicht hatte, war also anscheinend der Chef, dieser J. oder F. Wagner. Vermutlich hatte er mit seiner Frau, der Chefin, hinten gesessen. Der Beifahrer, dieser Schreihals, war anscheinend der Sohn. Also musste dieser attraktive Fremde mit dem schmalen Gesicht und den schönen blauen Augen vermutlich der Fahrer des Chefs gewesen sein. Vermutlich hatte er sich gestern zum letzten Mal rasiert, oder sein deutlich nachgewachsener schwarzer Bartschatten ließ auf ein schnelles Wachstum schließen. Henriette verbot sich strikt, an diesen hübschen Mann zu denken, aber wer wollte ihr die Gedanken daran verbieten?
Energisch pinnte sie die kleine Karte an die kleine Korktafel über dem Kühlschrank in der Küchenecke, an der schon etliche andere Kärtchen mit Arztterminen und ähnlichen Hinweisen zu sehen waren. Anschließend duschte sie, ziemlich heiß und lange, zog sich nach dem Abtrocknen gemütliche Kleidung an und machte sich etwas zu essen. Inzwischen war es 21 Uhr geworden. Sie schaute aus dem Fenster, verunsichert durch lautes Motorengeräusch, und bemerkte einen vorüberfahrenden Schneepflug. Es schneite immer noch.
Henriette überlegte kurz, dann setzte sie sich an ihr Klavier. Heute war sie endlich in der Lage, wieder zu spielen. Jetzt freute sie sich, dass sie sich aufgerafft hatte, den Friedhof aufzusuchen, Zwiesprache mit ihrem verstorbenen Kind zu halten und nun endlich zu wissen, wo Susannchen ihre letzte Ruhestätte gefunden hatte. Das beruhigte Henriette ungemein und verhalten begann sie das schöne Abendlied „der Mond ist aufgegangen, die goldnen Sternlein prangen …“ zu spielen. Sie sang leise mit und dabei flossen ihr die Tränen über das Gesicht. Henriette spielte ohne Noten, denn sie war eine gute Klavierspielerin. Ein später Spaziergänger, der im Schnee noch eine Abendrunde drehte, lauschte überrascht dem fehlerlosen Spiel und meinte zu sich selbst: „Da spielt jemand ganz ausgezeichnet dieses wunderschöne Abendlied. Ich hätte auch gleich Lust, mitzuspielen.“
Am anderen Tag war die gesamte Umgebung in ein märchenhaftes Weiß eingehüllt. Während hier in der ländlichen Gegend keiner Anstoß an diesem Ereignis nahm, wurde der späte Schnee Ende Februar für die nahe Stadt zum Chaos.
Familie Wagner fuhr am Montag wieder nach Goslar zurück, nachdem sie sich erkundigt hatten, ob die Autobahnen verlässlich befahrbar waren. Diesmal saß Ludwig, der Schreihals, am Steuer.
Die vier Personen, die am Sonnabend im Auto gesessen hatten, warteten umsonst auf den Anruf der Frau, die ihnen beinahe ins Auto gelaufen wäre. Sie wunderten sich darüber. Offensichtlich hatten sie diese Person doch falsch eingeschätzt. Doch Antonius, der Fahrer vom Sonnabend, fand keine Ruhe. Immerzu dachte er an die schöne Unbekannte mit den traurigen Augen, forschte in der Umgebung nach einer jungen Frau mit einem kleinen Hündchen, aber es konnte ihm keiner helfen. Sein Freund Francesco, der Inhaber des kleinen französischen Restaurants, drei Straßen in der entgegengesetzten Richtung, versprach ihm, nach der schönen Unbekannten ebenfalls Ausschau zu halten. Aber er winkte nach wenigen Tagen, als Antonius zum Abendessen zu ihm kam, bedauernd ab: „Es gibt so viele schöne Frauen, mein Freund, ich finde die Richtige einfach nicht“, und er lachte herzlich, dieser Charmeur. „Such dir eine andere, mon dieu, sie wird dir auch gefallen.“
Er hatte diesen Auftrag völlig vergessen.
So vergingen die Tage. Die Sonne schien mit jedem Tag etwas kräftiger vom Himmel. Der viele Schnee taute nach und nach weg. Antonius arbeitete von früh bis in die Nacht. Er war dabei, eine neue Spule für einen kleinen Elektromotor zu entwickeln, die Unterlagen dazu sollten in den nächsten Tagen beim Patentamt eingereicht werden. Da ihn seine langjährige Sekretärin und Buchhalterin plötzlich verlassen hatte, sie war nach einem Urlaub in Amerika einfach dort geblieben, hatte er sich auch noch mit Buchhaltungsarbeiten abzugeben und suchte schon geraume Zeit eine entsprechende Fachkraft. Außerdem quälten ihn Unstimmigkeiten bei seinen Kupferdrahtlieferungen, sein Gewinn sank, und er konnte sich nicht vorstellen, woran das lag. Sein Lagerist war ein sehr gewissenhafter junger Mann aus Weißrussland, der mit seinem Vater vor einigen Wochen nach Deutschland umgesiedelt war. Der Vater, ein deutscher Soldat, war 1952 nach der Entlassung aus der Gefangenschaft in Russland geblieben, der Liebe wegen. Er hatte eine Russin kennengelernt, sie 1956 geheiratet und sie hatten zwei Kinder bekommen, eine Tochter 1965, einen Sohn 1968. Nach dem Tod seiner Frau bekam er Sehnsucht nach Deutschland und stellte für sich und seine inzwischen erwachsenen Kinder den Antrag auf Umsiedlung. Die Tochter sprach sehr gut Deutsch und fand schnell eine Arbeit in Deutschland.
Michael, ein sehr talentierter Bastler, hatte nicht so viel im Sinn, die schwere deutsche Sprache zu erlernen. Aber er wurde von der Firma Wagner eingestellt, weil er als äußerst gewissenhaft in seinem Zeugnis beschrieben wurde. Nun, seine Einstellung im Betrieb hatte der Chef nicht bereut. Er beobachtete gut, notierte sich alles, was ihm irgendwie seltsam vorkam und seine Lagerbestände waren stets in Ordnung. Seit kurzer Zeit nervte er den Chef mit einer Beobachtung bei der Lieferung von Kupferkabelpaletten. Weil er aber so schlecht mit der deutschen Sprache zurechtkam, glaubte ihm der Chef nicht so richtig. Also schrieb Michael alles auf, was ihm schleierhaft vorkam, natürlich in Russisch und außerdem fotografierte er jede Lieferung und jede Unstimmigkeit beim Wiegen. Auf diese Art und Weise schuf er umfangreiches Beweismaterial, welches dem Chef vielleicht einmal von Nutzen sein konnte. Er verehrte nämlich den Chef dieser Firma, weil dieser ihn immer anständig behandelte. Michael verstand auch jedes deutsche Wort, was um ihn herum gesprochen wurde, aber er traute sich nicht zu, entsprechend deutsch zu antworten. Einige aus der Firma hatten ihn anfangs ständig ausgelacht, wenn er ein Wort falsch aussprach. Seit dieser Zeit hatte er es unterlassen, mit ihnen zu sprechen.
2. Kapitel
Mittlerweile war es Mitte März geworden und Henriette ging wieder zur Arbeit. Sie hatte sich schließlich darauf gefreut und war deshalb über die eigenartige Stimmung im Betrieb überrascht. Es klärte sich schnell, woran es lag. Der Betrieb wurde abgewickelt, das heißt, er wurde in Kürze geschlossen. Der neue Besitzer war der frühere Eigentümer, den man 1946 enteignet hatte. Er konnte seinen ehemaligen Privatbetrieb zurück